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XXII. Kapitel

Legenden über die Tragödie / Was Graf Nigra wußte / Gräfin Larisch' Darstellung / Fortbestehende Zweifel / Selbstmord oder Mord? / Ein Motiv / Vermutungen / Allerlei Gerüchte / Franz Josephs Schmerz


Wie schon angedeutet, haben sich um Meyerling unzählige Legenden gebildet. Die meisten sind ganz und gar phantastisch, und eine ganze Reihe von ihnen entstammt einer späteren Zeit.

Die in Meyerling zur Zeit des Unglücks anwesenden Jagdgäste Rudolfs waren Prinz Philipp von Sachsen-Koburg, Graf Hoyos und Graf Bombelles; jedenfalls haben diese die Zeitungen niemals in ihr Vertrauen gezogen. Zugegen waren ferner des Prinzen Leibkammerdiener Loschek und sein Leibkutscher namens Bratfisch, welch letzterer sich durch seine Pfeif- und Jodelkünste einer besonderen Beliebtheit bei seinem Herrn erfreute. Es ist die Nachricht verbreitet worden, Bratfisch sei nach Amerika gebracht worden und in einem New Yorker Irrenhaus gestorben. Tatsächlich starb er jedoch 1892 an Lungenentzündung in Wien. Es ist nicht ausgeschlossen, daß er etwas ausgeplaudert hat, aber keine bestimmte Aussage läßt sich auf ihn zurückführen. Ganz anders verhält sich die Sache bei Loschek.

Loschek war ohne allen Zweifel ein Schwätzer. Es gibt eine Menge Menschen, welche behaupten, aus seinem Munde die Wahrheit über Meyerling erfahren zu haben. So hat der verstorbene Schriftsteller Robert Barr dem Schreiber dieser Zeilen versichert, daß er mit Loschek gelegentlich einer Bergtour über diese Dinge zu sprechen Gelegenheit hatte. Es ist möglich, daß er dann und wann einmal die Wahrheit erzählte, aber es ging über den Witz der Journalisten, zu konstatieren, wo dies der Fall gewesen war. Die Zeugenschaft Loscheks mag darum mit gutem Grunde als fragwürdig zurückgewiesen werden.

Insbesondere eine Geschichte, die Loscheks Stempel trägt, möge hier mit Berufung auf Gräfin Larisch zurückgewiesen werden. Sie wurde dem Berliner Lokalanzeiger aus Wien telegraphiert mit der Angabe, daß sie auf Mitteilungen beruhe, aus einem Brief des »Baron Ludwig Vetsera, eines Bruders der Mary Vetsera, welcher vor kurzem in Venezuela verstarb«. Ludwig Vetsera, so hieß es da, war einer von denjenigen, welche die Türe erbrochen und die Leichen entdeckt hatten. Dieser Zeitungsausschnitt wurde Gräfin Larisch vorgelegt, welche in zuvorkommender Weise nachstehenden Kommentar dazu gab:

»Mary Vetseras Bruder hieß nicht Ludwig, sondern Franz (Ferry). Ihr ältester Bruder Laszlo war einer von denen, welche Jahre vorher bei dem Brand des Ringtheaters ums Leben kamen. Ferry Vetsera war zur Zeit der Tragödie erst 14-15 Jahre alt. Er war nicht in Meyerling und gehörte auch nicht zu denen, die nachher dahin gerufen wurden.«

Dies spricht deutlich genug und zeigt, wie bisweilen die Geschichte gemacht wird. Die anderen Quellen, die wir zur Erkundung besitzen und die als vertrauenswürdig gelten müssen, soweit sie in ihren positiven Angaben gehen, sind die sogen. »Confidences« des Grafen Nigra, des damaligen italienischen Botschafters in Wien, und des Großherzogs Ferdinand.

Beide sahen Rudolfs Leichnam, als er vor der Bestattung ausgestellt war, und beide brachten von dem Anblick wenn nicht eine Geschichte, so doch zum mindesten eine Theorie und den Stoff zu einer Geschichte mit heim.

Des Großherzogs Tochter, die bekannte Prinzessin Luise von Toscana, schreibt darüber:

»Papa sagte, daß bei seiner Ankunft in Wien Rudolf kaum acht Stunden tot war. Beim Betreten des Zimmers in der Hofburg, wo die Leiche aufgebahrt war, sah er zu seinem Entsetzen, daß der Schädel zertrümmert war und Splitter einer zerbrochenen Glasflasche herausragten.«

Vergleichen wir mit dieser Schilderung die ausführlichere Darstellung des Grafen Nigra, wie er sie einem Vertreter des italienischen Blattes »Corriere della Sera« gab:

»Er wurde getötet – und auf eine gräßliche Weise. Durch einen glücklichen oder unglücklichen Zufall – ich weiß nicht, wie ich es nennen soll – war ich als erster unter den Botschaftern an diesem Unglücksmorgen in Meyerling angekommen. Der Kaiser war noch nicht zugegen. Der Kronprinz lag auf dem Bett. Eine breite weiße Binde bedeckte ihm Stirn und Schläfe. Loschek kam mir entgegen und geleitete mich bis in die Nähe des Leichnams. Mit Blicken mehr als mit Worten fragte ich nach der Ursache dieser Tragödie, und um das Gerücht des Selbstmords Lügen zu strafen, das schon verbreitet worden war, hob der treue Diener die Binde von der Stirne. An der rechten oder linken Schläfe – genau vermag ich dies nicht anzugeben – war ein Loch so groß, daß man seine Faust hätte hineinlegen können.

Der Schädel schien zertrümmert, wie von dem Schlag mit einer Flasche oder einem dicken Prügel. Es war entsetzlich. Haare und Knochensplitter waren in das Gehirn eingedrungen. Die Wunde klaffte unter und hinter dem Ohr derart, daß sie unmöglich von einer Selbstverletzung herrühren konnte. Ein Selbstmord? Gänzlich ausgeschlossen. Es war ein Mord, davon bin ich absolut überzeugt.«

Es kann nicht behauptet werden, daß Graf Nigras Beschreibung der Wunde als Wahrheitsbeweis für die eine oder die andere dieser Erzählungen gelten dürfe. Er nahm keine wissenschaftliche Untersuchung der Schädelverletzung vor, sondern warf nur einen raschen Blick darauf und die Schlüsse, die er aus dieser oberflächlichen Besichtigung zog, können sehr leicht irriger Natur gewesen sein. Aber er hatte gesprochen, und seine Äußerung war offensichtlich die erste Ursache zu diesen Champagnerflaschenlegenden. Sie beruhen alle auf dieser Aussage, und es ist keine andere Bestätigung derselben aufzufinden.

Sogar dafür fehlt jede Bestätigung, daß überhaupt ein solches Trinkgelage in Meyerling stattfand, und wenn man schon ein Zusammensein der Gäste des Kronprinzen so bezeichnen will, so fehlt dennoch jeder Anhaltspunkt dafür, daß Mary und Rudolf daran teilnahmen. Im Gegenteil. Die Gäste sagten aus, daß die Tragödie hinter verschlossenen Türen stattfand, und auch die Ärzte kamen zu dieser Annahme. Rudolf hatte sich unter dem Vorwand großer Müdigkeit sehr zeitig in sein Schlafgemach zurückgezogen, wo ihn Mary Vetsera erwartete, deren Anwesenheit den anderen Gästen verheimlicht worden war. So erzählt Gräfin Larisch unter Berufung auf Professor Wiederhofer, und ihre Erzählung stimmt in allen wesentlichen Punkten mit derjenigen überein, welche der Spezialberichterstatter des französischen Blattes l'Eclair diesem nach der Katastrophe zusandte. Dieser Zeitungsbericht lautete folgendermaßen:

»Die Jagdgäste kehrten spät ins Schloß zurück und begaben sich bald darauf in ihre Appartements, da der Kronprinz über Müdigkeit klagte. Er verabschiedete sich von ihnen, um sich in sein eigenes Gemach zurückzuziehen, wohin Mary Vetsera heimlich durch Bratfisch gebracht worden war. Es fand kein gemeinsames Souper statt und sonst war niemand in Meyerling in dieser Nacht. Am nächsten Morgen wunderten sich der Herzog und der Graf, daß der Kronprinz nicht erschien, und klopften schließlich an seine Türe. Als indessen keine Antwort erfolgte, wurden sie besorgt und erbrachen die Türe mit Gewalt. Da sahen sie die beiden Leichen auf dem Bett liegen – augenscheinlich handelte es sich um einen Doppelselbstmord. In ihrer Bestürzung und in der Hoffnung, einen Skandal zu vermeiden, bemühten sie sich, die Sache zu vertuschen. Sie wünschten den Glauben zu erwecken, daß ein Jagdunfall den Tod des Kronprinzen herbeigeführt hätte. So verbreiteten sie ein dahin gehendes Gerücht, und um es glaubhaft zu machen, veranlaßten sie, daß Mary Vetseras Leiche in voller Toilette auf eine mysteriöse Weise fortgeschafft wurde.«

Die Verschiedenheiten zwischen diesem Bericht und dem, was Gräfin Larisch erzählt, sind von ganz untergeordneter Bedeutung. Die Ähnlichkeiten aber fallen stark ins Auge. Insbesondere ist es wichtig, Notiz davon zu nehmen, daß wir in dem Bericht des französischen Journalisten eine zeitgenössische Bestätigung dessen besitzen, was Gräfin Larisch über die mysteriöse Veranstaltung zur Entfernung und Bestattung der Leiche Mary Vetseras aussagt.

Wir können es als erwiesen annehmen, daß – gleichviel ob sie sich als Mord oder Selbstmord darstellt – die Tragödie hinter verschlossenen Türen stattgefunden hat. Was sich dort abspielte, dafür gibt es keinen Zeugen, und der Indizienbeweis liegt, wie wir sehen, nicht ohne weiteres klar auf der Hand. Zwei Erwägungen müssen da sorgfältig gegeneinander abgewogen werden.

1. Sowohl Rudolf als Mary Vetsera sollen Briefe hinterlassen haben, die ihre Absicht kundgeben, gemeinsam in den Tod zu gehen.

2. Die in dem ärztlichen Gutachten gegebene Beschreibung der Verletzung des Kronprinzen schließt die Annahme eines Selbstmordes aus; und diese Ansicht wird durch das Zeugnis des Grafen Nigra bekräftigt.

Im allgemeinen flößt hier die Zeugenschaft der Ärzte größeres Vertrauen ein. Es wurden damals verschiedene Einwendungen gegen die Gutachten erhoben, woraufhin die betreffenden Ärzte ihre Standesehre verpfändeten, daß sie nichts unterzeichnet hätten, was sich im Widerspruch mit den Tatsachen befände – obgleich sie natürlich nicht verantwortlich wären für die Schlüsse, die aus den Tatsachen gezogen würden. Die Briefe andererseits sind durchaus nicht als echt erwiesen, und sogar die an Gräfin Larisch gerichteten Zeilen sind höchstenfalls nur ein Beweis für das, was die Liebenden beabsichtigten, oder was Mary Vetsera glaubhaft zu machen wünschte, keinesfalls aber ein endgültiger Beweis für den Hergang dessen, was wirklich geschah, so daß wir bei der Annahme eines Doppelselbstmordes zwei Möglichkeiten zu erwägen haben: hat Mary Vetsera ihren Liebhaber und hierauf sich selbst getötet, nachdem sie vorher noch einen Brief geschrieben, um der Welt Sand in die Augen zu streuen? Können wir ein Motiv ausfindig machen, das sie möglicherweise dazu gebracht hat, eine solche Tat zu begehen?

Ein solches Motiv ist da, und zwar finden wir es in dem Bericht der Gräfin Larisch. Jene Geschichte, die sie erzählt, von einer Verschwörung des Kronprinzen zur Usurpierung des ungarischen Thrones, mag uns vielleicht den Schlüssel dazu bieten.

Nehmen wir an, es ist da wirklich etwas gewesen, vielleicht gar nicht einmal ein Komplott im eigentlichen Sinn des Wortes, sondern nur etwas leichtes Gerede und etwas kompromittierende Korrespondenz. Nehmen wir ferner an, Mary war »eingeweiht« und glaubte in der Tat felsenfest, was sie zu glauben wünschte, nämlich, daß es die Verschwörer ernst mit ihrem Vorhaben meinten und Rudolf wirklich darauf hinarbeitete, sie zu Ungarns gekrönter Königin zu machen. Nehmen wir an, Rudolf hatte wirklich Dinge gesagt – und Dinge geschrieben –, welche diesen Glauben unterstützten. Gehen wir weiter in unserer Annahme: Rudolf hatte die Unmöglichkeit und Untunlichkeit des Unternehmens eingesehen, ehe er den ersten entscheidenden Schritt zu dem Ziel tat, und er hatte diese geheime Zusammenkunft in der Absicht betrieben, um Mary zu sagen, daß er sich außerstande sähe, sein Versprechen einzulösen – daß sie nur seine Geliebte sein könne unter den Bedingungen, wie sie eben für solche Fälle üblich sind – und von ihr etwelche schriftlichen Beweise seiner überwundenen illoyalen Absichten zurückzufordern.

Nehmen wir all dies an – und wir müssen es annehmen, wenn wir Rudolfs Beteuerungen der Gräfin Larisch gegenüber irgendwelche Bedeutung zumessen wollen (den Beteuerungen nämlich, daß die Unterredung mit Mary Vetsera ihm die Möglichkeit biete, einer geheimnisvollen Gefahr zu entrinnen) – nehmen wir all dies an, so haben wir das ganze Material beisammen für eine glaubhafte Rekonstruktion des Dramas: Wir haben Mary vor Augen, wie sie zu dem Stelldichein geht, strahlend und von stolzen Hoffnungen geschwellt; wir erleben mit ihr den Augenblick, wo sie den Freudenkelch von ihren Lippen gerissen sieht und wo die Bitterkeit der plötzlichen Enttäuschung ihre Liebe für eine Weile in Haß verkehrte. Wir sehen, wie sie mit Rudolf rechtet und ihn mit Vorwürfen überschüttet, und wie Rudolf auf der anderen Seite seine Liebe beteuert, aber nichtsdestoweniger all ihren Bitten einen hartnäckigen Widerstand entgegensetzt. Und das übrige vollzieht sich wie in einem Melodrama.

Auf dem Tischchen neben Rudolfs Bett liegt die Pistole – die Pistole, die er immer mit sich führt. Mary ergreift sie in einem Anfall von Raserei – oder vielleicht auch Eifersucht, denn es ist durchaus möglich, daß sie ebensowohl wie Stephanie Grund zur Eifersucht besaß – schwört Rache und drückt los. Rudolf fällt, und Entsetzen ergreift sie, als sie das Bewußtsein ihrer Tat erlangt. Im Affekt hatte sie nicht daran gedacht, aber nun schreit ihr die Wirklichkeit grausig in die Ohren und zu Herzen, was das bedeutet und was ihr Verbrechen für Folgen nach sich ziehen muß. Liebe und Furcht zwingen ihre Gedanken in eine und dieselbe Bahn, treiben sie zu einer Tat. Sie fühlt, daß sie keine Wahl hat, als Rudolf in die Ewigkeit zu folgen. Nur der Weg steht ihr frei, ein zweiter Schuß aus der Pistole, oder eine Dosis Gift!

In dieser Weise würde sich ein Untersuchungsrichter bei dem vorliegenden Tatbestand die Dinge zurechtlegen, um – »das Verbrechen zu rekonstituieren« – und den Brief zu erklären.

Zweifellos eine melodramatische Rekonstitution, aber diese Tatsache tut der Glaubwürdigkeit keinen Abbruch. Melodramen kommen im wirklichen Leben nicht minder vor als auf der Bühne. Wir lesen in Zeitungen ebenso häufig davon, als wir sie auf den Brettern an uns vorüberziehen lassen.

Mehr läßt sich nicht darüber sagen, und vielleicht läßt sich auch niemals mehr darüber erfahren. Was hinter verschlossenen Türen geschah, ist nur durch Schlußfolgerungen ausfindig zu machen, das liegt in der Natur der Sache. Und man kommt immer wieder auf die Tatsache zurück, daß alle sich nicht direkt auf die Tragödie beziehenden dokumentarischen Nachweise verdächtig sind, oder wenigstens nicht unanfechtbar dastehen. Die Schwierigkeiten mögen hier in Kürze noch einmal aufgeführt werden:

1. Zwei ärztliche Gutachten geben zwei verschiedene Beschreibungen der Verletzung.

2. Die Beschreibung der Wunde in beiden ärztlichen Gutachten weicht von der Schilderung des Grafen Nigra ab, der doch jedenfalls keinen Grund hatte, jemanden irreführen zu wollen.

3. Während die genannten Beschreibungen mit der Annahme eines Selbstmordes unvereinbar sind, wurden Briefe veröffentlicht, welche die Selbstmordabsicht deutlich ausdrücken; indessen:

4. Der einzige von diesen Briefen, der auf Echtheit Anspruch erheben darf, ist möglicherweise in der Absicht geschrieben worden, die Welt irrezuführen.

5. Der Text der betreffenden Briefe wurde von den verschiedenen Personen, die sie zitieren, nicht gleichlautend angeführt. Die hier gegebenen Fassungen sind keineswegs die einzigen, welche sich im Umlauf befinden. Selbst wenn also die Briefe authentisch wären, so bliebe immer noch die Frage offen, ob sie nicht vielleicht zugestutzt worden sind.

So müssen wir das Geheimnis sich selber überlassen, aber indem wir unsere Rekonstruktion des Dramas der Beurteilung des Lesers anheimgeben, lehnen wir zugleich rückhaltlos jene andere Geschichte ab, die da besagt, daß die volle und endgültige Lösung des Geheimnisses in einer eisernen Kassette in der Hofburg schlummere, wo sie ihrer Befreiung nach Ablauf von 50 Jahren harre. Und doch, sogar diese Geschichte entbehrt nicht aller und jeder Wahrscheinlichkeit, denn da sind zwei Gerüchte, und es ist wohl möglich, daß die dahinter stehende Wahrheit also gehütet und unter Verschluß gehalten werde, um erst dann veröffentlicht zu werden, wenn die Ereignisse, auf welche sie Bezug haben, weit genug zurückliegen, um geschichtlich gefaßt und gewertet zu werden.

1. Es gab zu einer Zeit viel Raunens darüber, die Tragödie von Meyerling hätte ihre Ursache in der Entdeckung gehabt, daß Rudolf und Mary in Wirklichkeit Geschwister wären; d. h. Franz Joseph wäre somit als der eigentliche Vater Mary Vetseras zu betrachten, und die erwähnte eiserne Kassette in der Hofburg könnte möglicherweise eine Bestätigung dieser Tatsache enthalten.

2. Da ist das Gerücht von dem Komplott, auf welches Gräfin Larisch so viel gibt: es ließe sich immerhin denken, daß jene Kassette irgendeinen Bericht der Geheimpolizei in bezug darauf enthielte.

Dies sind die einzigen Möglichkeiten – es lassen sich keine anderen auftreiben – und alle beide sind in höchstem Maße abliegend, so daß man sie wirklich kaum in Betracht ziehen kann. Das erste der beiden Gerüchte, welches an sich schon gar nicht glaubhaft ist, fällt einem jeden auf als absolut unvereinbar mit der nachweisbaren Willigkeit der Baronin Vetsera, eine »Liaison« zwischen ihrer Tochter und dem Kronprinzen zu »arrangieren«. Nicht nur hätte der Gedanke an eine solche Verbindung ihre volle Empörung und ihren stärksten Widerspruch hervorrufen müssen, sondern sie hätte auch gefühlt, daß sie Ansprüche an den Kaiser besäße, welche sie vor der Notwendigkeit bewahrten, ihre Tochter in dieser Weise auszubeuten. Das andere Gerücht ist aus dem Grunde als unwahrscheinlich zu erachten, weil jenes Komplott, falls es wirklich bestanden haben sollte, sein Geheimnis eine so lange Zeit hindurch zu bewahren, kaum imstande gewesen wäre.

Und doch ist diese Vermutung, wiewohl unwahrscheinlich, nicht ganz und gar unmöglich. Die Geheimpolizei von Wien ist sehr argwöhnisch und wachsam, und sie ist in eben demselben Maße skrupellos als sie verbindlich auftritt. Daß es sich um ein tatsächliches Komplott handelte, um ein Komplott, das auch wirklich diesen Namen verdiente, dieser Gedanke muß um der bereits auseinandergesetzten Gründe willen aus dem Spiel gelassen werden. Aber der Gedanke, daß da etwas leichtes Gerede und kompromittierende Korrespondenz von quasi-empörerischem Charakter im Spiele war, hat durchaus nichts Phantastisches. Die Geheimpolizei hat vielleicht Briefe geöffnet, oder Gespräche behorcht, oder sonst irgendwelche Informationen erhalten. Wenn dem so war, dann hat sie natürlich über ihre Entdeckungen Bericht erstattet, selbst wenn es sich um noch Ungreifbares gehandelt haben sollte. Und wenn wirklich in der Hofburg jene eiserne Kassette existiert, die zu ihrer Zeit die Wahrheit über die Meyerling-Tragödie herausläßt, so ist höchstwahrscheinlich ein solcher geheimer Polizeibericht alles, was da zutage kommen wird.

Was er auch darüber wissen oder nicht wissen mochte, für Franz Joseph war dieser Schlag ein entsetzlicher. Als Graf Hoyos ihm am Morgen die Nachricht überbrachte, brach er schluchzend zusammen. Stark wie er war, raffte er sich indessen bald wieder auf, gab in seiner gewohnten Beherrschung die nötigen Befehle und erließ folgende Proklamation an sein Volk:

»Tief erschüttert von namenlosem Schmerz beuge ich mich demütig vor dem unerforschlichen Ratschlusse Gottes, der mich und mein Volk heimgesucht hat, und bete zu dem Allmächtigen, er möge uns allen die Kraft verleihen, unseren unersetzlichen Verlust zu tragen.«

Und dem ungarischen Ministerpräsidenten schrieb er:

»Ich habe alles verloren. Alle Hoffnung und allen Glauben hatte ich in meinen Sohn gesetzt. Nun bleibt mir nichts als der Gedanke an meine Pflicht, der ich treu zu bleiben hoffe, so lange mich meine alten Gebeine tragen.«

In jener Stunde, so sollte man wohl meinen, wäre sein Leidenskelch bis an den Rand gefüllt gewesen, und es hätte sich sein Fluch damit erschöpft. Aber dem war nicht so. Ungeachtet der treuen Pflichterfüllung, der er sein ganzes Leben weihte, sollte sich Jammer über Jammer auf seinem Haupte häufen. Und unserem Bericht über die Tragödie von Meyerling hat gleich eine andere tragische Geschichte zu folgen – die Geschichte von dem geheimnisvollen Verschwinden des Erzherzogs, welcher unter dem Namen Johann Orth in weiten Kreisen bekannt geworden ist.

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