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Das Urteil über den Praktikanten Anton

Der Praktikant Anton trat im Frühling in die Dienste der Firma Schönberger & Comp. Die eigentliche Saison war schon vorüber, im Geschäft war nicht mehr viel zu thun, je länger die Tage wurden, desto weniger.

Am 1. Mai ging der Chef, Herr Schönberger, auf Reisen. Die oberste Leitung führte jetzt Herr Engländer, der Prokurist. Aber er hatte nicht viel zu leiten. Das Geschäftslokal in der Grabengasse lag leer und stille da. Trat ein Kunde durch die weitgeöffneten Thüren – es war schon ziemlich heiß – so erblickte er anfangs gar niemanden. Endlich kam hinter dem Ladenpult ein halbwüchsiger Junge zum Vorschein – Anton. Die erwachsenen Angestellten lungerten rückwärts in dem schattigen kühlen Magazin und Comptoir herum. Einer las. Ein anderer trank Bier. Zuweilen wurden Karten gespielt. Der einzige, der verhältnismäßig etwas zu thun hatte, war Anton, der Praktikant. Er war kaum über 14 Jahre alt, ein aufgeschossener magerer Junge mit immer etwas zu kurzen Beinkleidern. Er mußte Bier holen, er mußte Geld wechseln gehen, er mußte vorn im Lokal auf der Lauer sitzen, bis eine Kundschaft eintrat, und alle Viertelstunden mußte er den Boden mit Wasser bespritzen, damit die wohlige Kühle des Lokals erhalten blieb. Stillschweigend that er, was ihm geheißen, keinen Dienst versagend, willig, anstellig, nur von der einen Hoffnung beherrscht, ab ersten kommenden Monats bereits einen wirklichen Gehalt, wenigstens fünf Gulden monatlich, zu beziehen. Die Erfüllung dieses Wunsches hing von Herrn Engländer, dem Prokuristen ab. Dieser war aber so selten und immer nur so kurze Zeit im Geschäft, daß er sich kein rechtes Urteil über den Praktikanten bilden konnte. Um so mehr bemühte sich Anton, in den kurzen Stunden seiner Anwesenheit sich hervorzuthun. Meist kam der Prokurist nur vormittags ins Comptoir, nachmittags saß er im Kaffeehaus und spielte Karten.

Plötzlich kam eine Nachricht ins Geschäft, welche die Gemüter aller in Erregung brachte. Herr Schönberger, der momentan in Karlsbad weilte, war dort nicht unbedenklich erkrankt. An diesem Tage kam Herr Engländer auch Nachmittag ins Bureau. Er setzte sich zu den anderen in die schattige Kühle des Magazins, stand aber zehnmal in der Minute wieder auf und ging herum.

»Ich bin so aufgeregt,« sagte der kleine, dicke Prokurist, »ich kann gar nicht sitzen.«

Die Angestellten sahen ihn teilnahmsvoll an.

»Hoffentlich,« sagte der Prokurist, »ist er bei gutem Humor. Ich sage Ihnen, meine Herren, die schwerste Krankheit besteht man leicht, wenn man den Humor nicht verliert. Die Autosuggestion« – Herr Engländer war ein gebildeter Mann – »ist von höchster Bedeutung. Wenn ich daran denke, wie lustig er bei seiner Abfahrt war! Erinnern Sie sich, meine Herren, wie er noch am letzten Tage, Ultimo April, hier auf dieser Kiste saß und die Geschichte von dem Mann erzählte, der den Buchhalter bei seiner Frau entdeckt? Erinnern Sie sich? Unnachahmlich war er in der Erzählung solcher Geschichten. Da hat man gesehen, daß mehr als ein Manufakturgroßhändler in ihm steckt. Dieser Mann hätte alles werden können, er hätte eigentlich Schauspieler werden sollen, so großartig hat er die Menschen beobachtet. Seine Gestalt war allerdings nicht für die Bühne geschaffen.«

»Na,« warf der Korrespondent tröstend ein, »wir wollen das beste hoffen.«

Eine halbe Stunde später kam das Telegramm: »Schönberger – soeben sanft verschieden. Elsa Schönberger.«

Der Prokurist gab das Telegramm, ohne ein Wort zu reden, dem Korrespondenten. Herr Engländer selbst ging in sein Comptoir und verschloß die Thür deutlich hinter sich, zum Zeichen, daß er allein sein wolle.

Respektvoll ließen ihn die Herren allein. Sie zogen sich wieder in die hinteren Teile des Geschäftes zurück, ins Magazin und ins große Comptoir. Der Praktikant wurde als Posten aufgestellt und nur mit gedämpfter Stimme wurde heute »ein Unterer« oder »Contra« angesagt. Die Stimmung der Spielenden war – wenigstens zu Anfang – sichtlich gedrückt.

Um fünf Uhr mußte Anton vom benachbarten Café die Jause holen. Um seine Aufgewecktheit zu beweisen, holte Anton auch für den Prokuristen eine Theeschale Kaffee und eine Semmel. Zaghaft, um den Trauernden nicht zu stören, trat der Praktikant ein, um den Kaffee auf den Schreibtisch zu stellen. Der Prokurist hörte ihn gar nicht. Er stand da – und hatte den Finger in ein Nasenloch gesteckt. Mit einer instinktiven Vertieftheit bohrte er in der Nase, als ob er dort förmlich einen Kampf gegen einen geschickten entschlüpfenden Gegner aufführen müßte. Sein ganzes Gesicht trug sichtbar die Spuren dieser instinktiven Anspannung aller Kräfte, gleichmütig glotzten seine Augen vor sich hin ...

Er bemerkte den Praktikanten plötzlich, zog blitzschnell den Finger aus der Nase und sagte unwillig: »Ich brauche heute keinen Kaffee. Habe ich Ihnen das angeschafft?« Mit einem Male war wieder die Trauerphysiognomie sichtbar ...

Beklommen trug der Praktikant den Kaffee wieder weg.

Am Abend sagte der Prokurist zum Korrespondenten: »Der Anton kommt mir nicht offenherzig vor. Nicht? Ich glaube, er hat so etwas Schleicherisches an sich.«

Die Tage der Trauer vergingen. Anstandshalber ging aber Herr Engländer noch nicht ins Kaffeehaus. Er blieb auch nachmittags im Geschäft und plauderte. Es zeigte sich wieder, daß Herr Engländer selbst ein hochgebildeter Mann war. Er konnte über alles sprechen. Als einmal zufällig ein entfernter Verwandter, ein Universitätsdocent, vorsprach, sagte ihm der Prokurist, indem er ihm lächelnd auf die Schulter klopfte: »Eigentlich sind wir ja Kollegen. Auch ich wollte Litteratur und Philosophie studieren. Es ist leider anders gekommen ...« Von Zeit zu Zeit hielt Herr Engländer seinen Angestellten kleine Vorträge. Das heißt, keine eigentlichen Vorträge, sondern er redete eben so lange und so hitzig er es vermochte. Da setzte er sich auf eine Kiste, die Angestellten sammelten sich um ihn, sie wußten, er sah es gerne, wenn sie ihm zuhörten. Nur Anton fehlte, er war draußen, im äußeren Geschäftslokal. Engländer sprach über alles, über den Verkehr mit Agenten und über die Tortajada, über Sozialismus und über das Essen im Winterbierhaus, über Goethe (sprich: Geethe) und das Parlament, kurz über alles. Eines Tages hielt er einen Vortrag über Nietzsche (sprich: Nitttsche): »Das ist für Sie, meine Herren, eigentlich keine Lektüre. Will man Nitttsche begreifen, so muß man seine öffentlichen Äußerungen mit seinen privaten Zuständen vergleichen. Wollte er sich selbst aus einem Zustand der Weichheit reißen, redete er den anderen zu: werdet hart. Er selbst war moralisch ängstlicher Natur, daher hat er anderen die moralische Kühnheit (sprich Kiinheit) empfohlen.« Das waren wirklich, wenigstens für einen Geschäftsmann, ganz gescheite Dinge, die er da sagte. Alle sahen ihn bewundernd an.

Der Korrespondent freilich konnte sich nicht enthalten, während des Vortrages seinem Nachbar etwas ins Ohr zu sagen. Dieser mußte unwillkürlich lächeln. Später saßen sie beisammen, die Angestellten, rückwärts im kühlen Magazin. Der Korrespondent schlug sich auf die Schenkel und schrie: »Ich sage Euch: was gilt die Wette, heute ist in der Presse ein Feuilleton über Nitttsche! Ich könnte darauf schwören.«

Nach der Pause trug Anton das Geschirr wieder ins Kaffeehaus zurück. Er nahm auch die Schale aus dem Comptoir des Prokuristen. Dort lag auch eine dem Café entliehene »Presse«.

»Soll ich die auch mitnehmen?« frug Anton bescheiden.

»Nein. Thun Sie nur, was man Ihnen schafft! Gerade der Übereifer ist verdächtig.«

Anton, welcher die ganze Zeit im äußern Geschäftslokal auf der Lauer gelegen war, begriff den harten, strengen Ton in der Stimme des Prokuristen absolut nicht ...

Der Sommer war da, mit fürchterlich schwülen Tagen. Ein Teil des Personals war auf Urlaub. Der Prokurist war in Wien geblieben, es war ja niemand zur Unterschrift da! Er verbrachte die Abende gewöhnlich im Prater. Alltäglich, um 7 Uhr, schlenderte der kleine dicke Herr die Praterstraße hinunter. Oft blieb er stehen und sah den jungen Mädeln nach, die – an ihm vorüber – aus der Arbeit nach Hause eilten. Zuweilen, wenn eine weibliche Gestalt stehen bliebt, lenkte er mit strategischer Unauffälligkeit seine Schritte in diese Richtung. Erst wenn es Abend wurde, ging er ein wenig aus sich heraus. Eines Abends beispielsweise sprach er auf der Praterstraße ein Fräulein an. In der Nähe betrachtet und nach der ersten Antwort erkannte Engländer, daß er hier leichtes Spiel habe. Es handelte sich hier nach einigen Wechselreden nicht mehr um Differenzen seelischer Natur. Trotzdem zögerte der Prokurist ...

»Na?« fragte das Mädchen resolut, »was ist's?«

Der Prokurist hustete, dachte nach, räusperte sich und war offenbar mit sich selbst im Zweifel ...

In diesem Momente gingen drei Knaben, Arm in Arm, an ihnen vorbei. Engländer sah hin: einer von ihnen war Anton.

Sofort grüßte er das Mädchen, entfernte sich und ging rasch vorwärts. Bald hatte er die drei Jungen eingeholt. Er ging hinter ihnen. Die Knaben sprachen eifrig mit einander. Es dauerte drei, vier Minuten bis sich die Buben zufällig umdrehten, Anton erkannte den Prokuristen und zog sofort tief den Hut.

»Gehen Sie auch in den Prater?« fragte der Prokurist, und sah ihn scharf an, um durch den Blick die Antwort auf eine andere stumme Frage zu erhalten.

»Ja,« antwortete der Praktikant selbstverständlich.

»Was thun Sie denn drunten?«

»Spazieren gehen.«

»So?« sagte Herr Engländer mit gespielt heiterem Mißtrauen, »Sie treiben doch nichts Schlechtes im Prater?«

Anton lachte bescheiden – wie in allem – und wußte keine Antwort.

Der Prokurist hielt sich an dieses Lachen. Nachdem er sich von den Knaben getrennt hatte, begann er sich in Gedanken über dieses Lachen immer mehr zu ärgern. Es war ein verdächtiges Lachen. Vielleicht war es nur ein Lachen aus Verlegenheit, aber wahrscheinlich nicht. Es war ein direkt heimtückisches, höhnendes Lachen! Der Bursche lachte so, wie wenn er jedes Wort des Gespräches mit dem Mädchen gehört hätte ...

Am 1. Juli avancierte Anton nicht.

Als der besorgte Vater beim Prokuristen fragte: »Sind Sie denn nicht zufrieden mit ihm?« antwortete Herr Engländer: »Na. So so. Er ist fleißig, aber – wissen Sie – er hat etwas Schleicherisches an sich. Ich glaube, er ist nicht aufrichtig. Man fühlt sich geniert in seiner Nähe, weil er einem heimtückisch vorkommt.«

Der Vater, der über seinen guten, dummen Anton ein anderes Urteil erwartete, konnte diese Antwort gar nicht begreifen.


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