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Einer der drei Stunden lang »hoch« rief

Menschen mit Fischblut in den Adern – höflich nennt man das eine Gelehrtennatur – finden das Hochrufen nicht ganz ästhetisch. Das Hochrufen ist eine Explosion der von Enthusiasmus angeschwellten Seele. Wie sollten Fischblutnaturen etwas von solchen Explosionen wissen? Sie sind nicht heiß und nicht kalt, sondern immer unbewegt. Wenn die Gefühle von Kämpfern reißenden Gießbächen und sicher dahinflutenden Strömen gleichen, so sind dafür die Gefühle dieser Anderen stillstehende Teiche, welche von Tag zu Tag mehr vertrocknen und versumpfen ...

Jeder von uns macht ja nicht nur die Explosionen der Begeisterung durch, es giebt auch Stunden der Verzagtheit, der Ermattung, der Kleinmütigkeit. Das sind nun einmal die seelischen Leiden all derer, die in die Zukunft schauen ... Dafür giebt's wieder Tage, die uns innerlich stärken, kräftigen, befestigen, Siegesgefühle, die unser blasses Blut röter machen.

Ich habe jemanden gekannt, dem ich es ansah, daß seine Hoffnung auf die Zukunft eine Zeitlang ziemlich schwach geworden war. Das war ein Schneidergehilfe in Kagran jenseits der Donau. Der saß tagsüber mit vier Kollegen in seiner Werkstätte. Der Sozialismus war damals auch schon nach Kagran gedrungen! Darüber ist nicht zu lachen; man ahnt gar nicht, wie weit, wenigstens in dieser Hinsicht, Kagran von Wien entfernt ist. Obzwar es ja kaum eine Stunde weit von Wien entfernt liegt, ist Kagran von Wien förmlich losgetrennt, ein ländliches Gebirgsdorf neben einer brausenden Großstadt. Die »Seuche des Sozialismus«, wie die vom heiligen Geiste Umnachteten sagen, hat rascher, im Fluge, den großen Weg über Favoriten, Meidling, Mödling, Baden, Wiener-Neustadt, Neunkirchen zurückgelegt, als daß sie die kleine Strecke über die Donaubrücke nach Kagran gekommen wäre ... Endlich kam sie doch. In der Seele dieses Schneidergehilfen hakte sie sich fest. Er saß tagsüber da, in dieser engen, verpesteten Werkstätte, wo alle Betten, Tische und Sessel mit zugeschnittenen Hosen und Gilets bedeckt waren, und redete so gut wie gar nichts. Er sprach schlecht deutsch. Wollte er einen Gedanken äußern, so kam er in seinem mühseligen Deutsch ganz verdreht heraus. Natürlich verhöhnten ihn die Kollegen. Im Anfang sah er seine Arbeitsgenossen mit einem ganz wehmütigen Blick an, wie wenn er sagen wollte: »Oh, Ihr Verblendeten, wie könnt Ihr einen Bruder verhöhnen?« Aber da er nicht gut deutsch konnte, sagte er bloß kurz und gut: »Arme Hund!«. Allmählich wurde er immer schweigsamer. Die Werkstätte war so dumpf! Die Arbeit dauerte bis spät in die Nacht! Er war immer so ermüdet! Vielleicht war er damals der einzige Sozialist in Kagran? ... Warum regte sich keine andere Stimme in ganz Kagran? ... Diese Gedanken bedrückten ihn. Wie außerhalb der Welt schien ihm dieser kleine, ewig stille Ort. Alles ging hier seit Jahren denselben Gang. Der Marktplatz lag in friedlicher Stille da, und jeden Tag fuhr der Postwagen nach Wien, wie vor fünfzig Jahren. Die Kollegen höhnten den Schweigsamen noch mehr: »Na, was is's denn mit Rettung von Menschheit, Wenzel?«, trotzdem er gar nicht Wenzel hieß. Er wurde immer wortkarger. Eines Tages böhmelten die Kollegen: »Weißt, was in Zeitung stehen sull?« Nein, er las keine Zeitungen mehr. »Am 1. Mai geht's los,« sagte einer lachend. Er erwiderte nichts auf diesen blöden Scherz. Aber als er im Laufe der Woche immer wieder vom 1. Mai reden hörte, beschloß er für sich, an diesem Tage nach Wien zu gehen. Er kündigte es, aus Furcht vor schlechten Witzen, nicht erst an, sondern blieb mittags einfach weg. In seiner Sonntagskleidung ging er über die lange, staubige Reichsstraße, über die Reichsbrücke nach Wien. Etwas Besonderes ging wirklich vor, das merkte er gleich, nachdem er die Brücke passiert hatte. Es begegneten ihm ganze Gruppen von Arbeitsleuten. Endlich war er auf dem Praterstern. Hier fluteten die Leute in den Prater. Die Polizei hatte auf dem Platz, rund um das Tegetthoffdenkmal, einen Kordon aufgestellt. In einem glücklichen Moment schlüpfte er durch. Ein Wagen fuhr knapp am Denkmal vorüber, es entstand ein Gedränge, und er wurde einige Stufen des Monumentes hinaufgeschoben. Da stand er nun auf einem erhöhten Platze und sah vor sich die Praterstraße in ihrer ganzen Länge, übersät mit Menschen ... Die Straße schien ihm endlos ... Immer dichter, gedrängter wurde der Zug ... Die Arbeiterschaft der ganzen Welt schien ihm hier entgegenzumarschieren. Jeden, dem sie auf ihrem Wege begegnete, nahm sie in ihrer Mitte auf; sowie einem Riesenstrome hundert Bäche sich ergeben, so mußte dieser Zug mit jedem Schritte anwachsen. Hinter sich aber ließ der allumfassende Menschenstrom eine ganz verödete, verlassene Stadt, ein Häusermeer, dem seine Bewohner untreu geworden waren ... Kein Wort kam noch über seine Lippen. Plötzlich rief knapp vor ihm eine Gruppe: »Hoch die ...« Er hörte den Ruf gar nicht zu Ende, aber er wußte, alle hier sind Freunde, Auswanderer, wie er, aus dumpfen Werkstätten. Als alles um ihn »Hoch« zu rufen begann, da konnte er nicht mehr an sich halten, er packte seinen Hut, schwang ihn in die Luft und rief das brausendste gellendste »Hoch« von allen. Von nun ab rief er jedem neuen Zuge ein schrilles »Hoch« entgegen, er konnte nicht anders, er mußte! Alle Entmutigung, Schwachheit, Verzagtheit wurde er los, indem er diese Tausende vor sich sah. Dafür mußte er danken. Drei Stunden lang stand er vor dem Tegetthoff-Monument und seine tollen Hochrufe befeuerten alle Vorüberziehenden. Schließlich sagte ihm jemand freundlich: »Warum bleiben S' denn da stehen, Ginosse? Schließen S' sich doch den anderen an.« Da stieg er wie ein Trunkener die paar Stufen hinunter und verschwand unter den anderen ...

Am nächsten Morgen war er wieder in seiner Werkstätte. Ein Kollege böhmelte die alte Frage: »Na, was is's mit Rettung von Menschheit, Wenzel?« – »Es wird schon geh'n«, antwortete er diesmal mit einem Lächeln, das keiner je an ihm bemerkt hatte, »es sind noch ein paar Leut' dabei.« Der ungeheure Zug von gestern stand ihm vor den Augen ...

Es giebt Tage, von denen mancher ein Jahr lang Leben kann!


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