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Dreizehntes Kapitel.
Der heimgekehrte Australier

Nachdem Potter und Lady Annerley fort waren, bestellte Arthur alsbald den Wagen, der Ethel, Ida, van Cott und ihn selbst nach seines Vaters Hause bringen sollte, denn Errol hatte beschlossen, wenigstens bis zur Ankunft seines Vaters im West Cliff Hotel zu bleiben.

Während der Wagen angespannt wurde, bemerkte der Australier im Antlitz seiner Liebsten einen Ausdruck, der ihm völlig fremd war. Er zog sie in eines der Nebenzimmer und fragte: »Ethel, was gibt's? Du siehst bekümmert aus.«

Da die Eifersucht eine geheime Leidenschaft ist und das Licht scheut, erwiderte Fräulein Lincoln rasch: »Nichts, gar nichts! Ich – ich dachte nur, ich hätte meinen Verlobungsring besser ausgezogen, damit Papa ihn nicht sieht. Er hat mir immer so voll vertraut und könnte sich gekränkt fühlen, daß ich so selbständig über meine Hand verfügt habe!« und damit zog sie die funkelnden Brillanten vom Finger und ließ sie in der Tasche verschwinden, was Errol einen Stich ins Herz gab.

»Aber dein Bruder hat doch gesagt, er habe mit deinem Vater gesprochen, und es sei alles in Ordnung.«

Der Ton ihres Liebhabers war so traurig, daß Ethel erwiderte: »Dann wird es wohl auch so sein, vorausgesetzt, daß du dich nicht unterdessen in Lady Annerley verliebt hast!«

Der Versuch, zu diesen Worten zu lachen, mißglückte gänzlich und ihre Stimme klang weinerlich.

»Was willst du damit sagen?«

»Nun, du willst sie ja in Boulogne besuchen.«

»Gewiß, nach allem, was sie für mich gethan hat, bin ich ihr wenigstens Höflichkeit schuldig. Außerdem habe ich es versprochen.«

»Ah, das war das Versprechen, das ich sie erwähnen hörte. Charley, gehe nicht! Es war unrecht von ihr, dies zu verlangen, da sie ja wußte, daß der morgige Tag zu unserer feierlichen Verlobung bestimmt war,« rief Ethel.

»Aber ich bin ihr zu großem Danke verpflichtet.«

»Sie dir noch viel mehr! Wie nahe solche Scenen, wie die in Alexandria, euch einander gebracht haben müssen! Hör nicht auf mich, ich rede Unsinn!« stammelte das Mädchen und ging von ihm weg.

Er aber ging ihr nach, drehte sie um und versuchte, ihr ins Gesicht zu sehen: »Ethel, du fürchtest doch wohl nicht im Ernst, ich könne mich in Lady Annerley verlieben?«

»Sie ist eine junge Witwe, und das ist das Aergste in der Welt!«

»Aber sie ist alt genug –«

»Um der Kunst, Männer zu bezaubern, völlig Meister zu sein! Sie ist fünfundzwanzig, das Alter Kleopatras! Wie du dich für sie wehrst!« rief Fräulein Ethel verdrießlich.

Hier setzte der junge Herr die junge Dame in einige Verwunderung, denn er sagte: »Mein Ein und Alles, ich weiß jetzt wenigstens gewiß, daß du mich liebst, denn ich sehe dich zum erstenmal eifersüchtig!«

Die Verwunderung sollte aber nicht einseitig bleiben, denn sie erregte nun sein Staunen, indem sie ihm zum erstenmale ihr Temperament zeigte. Sie schlug alle gesellschaftlichen Formen in den Wind und rief: »Du hast recht, ich bin eifersüchtig, aber es ist unrecht von dir, mich so weit zu bringen! Bedenke nur, wie sie dich für sich allein in Anspruch nehmen will, wie sie dich immer Charley nennt! Du bist mein Charley! Was würdest du sagen, wenn Fräulein Potter dich Charley nennen wollte?«

»Lady Annerley hat sich daran gewöhnt, während wir in Aegypten um unser Leben kämpften.«

»Das macht die Sache ja gerade so schrecklich! Ich zittere bei dem Gedanken, wie sehr sie den Mann bewundern muß, der wie ein Paladin für sie gefochten hat!«

»Zittern! Ethel! Wenn du an meiner Beständigkeit zweifelst, mußt du mich verachten!« und damit wandte sich Errol von ihr ab.

Allein er kam nicht weit. Sein Schatz lief ihm nach und schluchzte an seinem Hals: »Dich verachten? O, Liebling, rechte nicht mit mir! Geh und besuche Lady Sarah. Gewiß kann ich dir vertrauen. Ich muß dir ja vertrauen – was wäre mir das Leben sonst noch wert?«

Charley Errol sah in ihre blauen Augen, die ihm bisher stets gelacht hatten und die nun voll Thränen standen; die Thränen besiegten ihn, und er stammelte: »Wenn ich jetzt noch Lady Annerley besuchte, dann würde ich verdienen, verachtet zu werden –«

»Du – du – du willst wirklich?«

»Natürlich, du hast mein Wort,« und er küßte sie zu seiner Belohnung.

In dem nämlichen Augenblick huschte sie nach der Thür, denn ihr Bruder rief in der Halle laut nach ihr. Doch auf der Schwelle zauderte sie, lachte und flüsterte: »Dein Vater wird dich trösten! Lebe wohl, mein Charley, bis morgen!« Sie warf ihm noch einen Kuß zu und saß im Nu neben van Cott im Wagen, während Ida vorn neben Arthur, der kutschierte, Platz genommen hatte.

Als der Wagen schon im Abfahren war, sprang ihm Errol noch nach und rief, er werde wahrscheinlich noch diesen Abend mit seinem Vater zu ihnen kommen, was ihm ein Lächeln von der Dame auf dem Rücksitz eintrug.

Sie hatten nur wenig über eine Meile zu fahren, und Fräulein Potter und Arthur befanden sich in fröhlicher Unterhaltung, als sie in das Gatterthor einbiegen wollten, das den Eingang zu den Lord Lincolns kleine Villa umgebenden Gärten bildete.

Auf diesem Thor saß ein Knabe von etwa zwölf Jahren mit großen, ehrlichen Augen und lichtem Flachshaar, der Ethel zum Verwechseln ähnlich sah.

»Wie, da ist ja Teddy! Halt an, Arthur, da ist Teddy!« rief seine Schwester, als der ehrenwerte Teddy Lincoln dem Wagen entgegengelaufen kam.

»Seit einer Stunde warte ich schon auf euch!« sagte der Knabe.

»Aber Teddy, das hast du doch sonst nie gethan,« sagte Ethel und küßte den Jungen, der sie gar nicht einmal ansah. »Welch artiger Junge!«

Als der Junge die Insassen des Wagens näher besichtigt hatte, erregte er allgemeines Erstaunen, denn er fragte mit Thränen der Enttäuschung in den Augen zornig: »Wo ist denn Potter, der Texaner? Seit einer Stunde warte ich auf ihn. Unser Haushofmeister Crabbe ist in der Stadt gewesen und sagt, er sei eine Sehenswürdigkeit.«

Arthur suchte das tiefe Schweigen der Gesellschaft zu unterbrechen und der Sache eine scherzhafte Wendung zu geben, indem er sagte: »Nun, Teddy, hier ist Herrn Potters Tochter, die du kennst. Thut sie's nicht auch?«

»Sie? Wie soll sie's denn thun? Sie ist nicht skalpiert worden, oder?« rief der Junge und warf zornig mit einem Stein nach einem vorüberfahrenden Wagen.

Während der Fahrt nach dem Haus hinauf sprach Fräulein Potter nichts mehr, aber hinter ihnen ließ sich das unterdrückte Kichern van Cotts vernehmen, was Arthur dadurch zu verdecken suchte, daß er auf die Pferde einhieb, obgleich er die Peitsche lieber in entgegengesetzter Richtung gebraucht hätte.

Zwei Minuten später waren sie zu Hause, und Ethel flüsterte in der Bibliothek dem berühmten Juristen weinend ihre vertraulichen Mitteilungen über ihren Charley ins Ohr, während Arthur draußen wartete, um seinen Vater auf das Kommen des alten Potter vorzubereiten.

Errols Augen folgten, nachdem er allein geblieben war, seiner Braut; als diese aber seinen Blicken entschwunden war, nahmen sie naturgemäß die entgegengesetzte Richtung, von wo er seinen Vater erwartete.

Eigentlich wollte er nach der Bahn gehen und ihn dort treffen, dann überlegte er sich aber, daß gar viele Züge von London ankommen und er vielleicht lange warten müßte und schließlich seinen Vater unter der Menge dort verfehlen könnte. Deshalb begab er sich in den Gasthof zurück, um alles für die Ankunft seines Vaters vorzubereiten und ihn dort zu erwarten. Nachdem er die besten Schlafzimmer und eine Mahlzeit bestellt, auch seinen eignen und seines Vaters Namen in das Fremdenbuch eingetragen hatte, machte sich's der junge Mann mit einer Cigarre und etwas Trinkbarem am Kamin behaglich und lief von Zeit zu Zeit unter die Hausthür, wenn er einen Wagen fahren hörte.

Sein Vater hatte ihm schon als Knaben sehr nahe gestanden und war ihm sehr teuer gewesen; je mehr Charley heranwuchs, desto mehr hatte sich dies Gefühl vertieft, und Vater und Sohn standen in einem innigen, vertrauten Verhältnis zu einander. Darüber nachdenkend, versäumte es Charley, zur rechten Zeit an die Thür zu gehen, und plötzlich hielten ihm zwei Hände die Augen zu, während eine herzliche, ehrliche, männliche Stimme sagte: »Rate, wer's ist, mein Junge!« Im nächsten Augenblicke war Charley Errol mit einem Schrei emporgesprungen und lag in seines Vaters Armen.

»Du bist wieder ganz wohl?« fragte der ältere Errol nach der ersten, stürmischen Begrüßung und blickte seinen Sohn etwas ängstlich an. »Spürst du keine Nachwehen von deiner Verwundung?«

»Ich bin so gesund, wie der Fisch im Wasser,« sagte Charley lachend; dann sah auch er seinen Vater forschend an und sagte: »Und du bist auch nicht um eine Minute älter geworden. Du bist noch immer der gleiche, liebe, alte pater. Weißt du, daß ich einmal gefürchtet habe, dein Gesicht nie mehr sehen zu dürfen?«

»Ja, ich weiß – ich – ich wäre damals zu dir gekommen, aber ich erhielt brieflich bessere Nachrichten über dich und erfuhr dann durch ein Kabeltelegramm, daß du außer aller Gefahr seiest,« erwiderte Ralph Errol sehr ernst. Dann klopfte er seinem Sohn auf die Schulter und sagte mit Stolz: »Ich freue mich, daß mein Sohn in jener schrecklichen Zeit seine Pflicht so edel gethan hat. In den australischen Zeitungen wurdest du als wahrer Held geschildert. Lady Annerley, die du gerettet hast, ist, wie ich glaube, die Tochter eines Mannes, der einstens sehr gut gegen mich war. Man sagt, sie sei sehr schön. Ist sie die Dame, die –«

Hier ergriff Charley die langersehnte Gelegenheit zu näheren Mitteilungen über seine Verlobung und zog eine Photographie Ethels hervor, die er seinem Vater unter die Nase hielt.

»Was ist dies?« fragte der alte Herr, seine Brille abwischend.

»Das Bild des Mädchens, das ich liebe!«

»Nun, wenn ich das Bild des Mädchens betrachten soll, das du liebst, so wäre es besser, du würdest nach Licht klingeln. In dieser Abendbeleuchtung sehen ihre Augen ja aus, als ob sie schielte!«

»Papa, du hast stets deine Freude dran, mich zu foppen,« rief der Sohn lachend, befahl aber gleichzeitig dem Kellner, er solle Licht bringen.

Nachdem er dies gethan, benützte er die Zeit, in der sein Vater Ethels Bild mit kritischen Blicken besichtigte, sich diesen selbst näher anzublicken, und war ganz glücklich, ihn so gut aussehend zu finden. Ralph Errol hatte auch wirklich Haltung und Benehmen eines Gentleman von guter Erziehung und machte weit mehr den Eindruck eines Mannes von Welt, als man in Anbetracht seines langen und ununterbrochenen Aufenthalts bei den Antipoden hätte erwarten können. Er mochte etwa zehn Jahre älter sein als Herr Potter und hielt sich leicht gebückt, da er beinahe sechzig Jahre alt war. Sein Wesen zeigte die gleiche harmlose Fröhlichkeit, die sein Sohn stets an ihm gekannt hatte, doch bemerkte dieser mit Sorge, daß seines Vaters Augen einen unruhigen, fast scheuen Ausdruck angenommen hatten, als ob er irgend etwas oder irgend jemand fürchtete.

Mehr konnte er nicht wahrnehmen, denn der alte Mann bemerkte: »So, dies ist also die, um derentwillen du telegraphiert hast. Sie ist ganz nett!«

»Ganz nett?« wiederholte der Sohn in hellem Hohn. »Ganz nett? Papa, deine Augen haben in der letzten Zeit doch nicht etwa nachgelassen?«

»Nein, sie sind noch so gut, wie vor zwanzig Jahren!« sagte der Vater lachend, und dann fügte er trocken hinzu: »Sie hat eine hübsche Nase!«

»Eine hübsche Nase?«

»Nun, findest du dies nicht?« sagte Ralph, aus vollem Halse lachend.

»Sie hat eine hübsche Nase! Hübscher als irgend eine Nase in Australien. Wie steht's übrigens in Australien?«

»O, so ziemlich wie immer. Melbourne ist ein wenig größer und ein wenig reicher geworden – aber ich habe seit London nichts zu essen gehabt!«

»Ich habe schon dafür gesorgt,« sagte der junge Mann, klingelte und befahl: »Sofort das Essen bringen!«

Während dies geschah, blickte der ältere Mann aus dem Fenster auf sein Heimatland, wandte sich dann zu seinem Sohn und flüsterte: »Also dies ist die Heimat! Kann ein Mensch je die Stätte seiner Geburt vergessen? Morgen will ich das Haus besuchen, in dem ich geboren wurde. Vor vierzehn Stunden bin ich gelandet und stand endlich wieder auf englischem Boden. Jetzt, Charley, habe ich England und dich zusammen!« Und Thränen traten in Ralph Errols Augen, als er sich seinem Sohn gegenübersetzte und ihn mit Liebe und Stolz betrachtete. Einen Augenblick später fragte er, als ob es ihn dränge, auf den Gegenstand zurückzukommen: »Charley, wer ist die junge Dame?«

»Die künftige Frau Errol?« fragte der junge Mann, als ob ihn diese Bezeichnung glücklich machte.

»Ich – ich hoffe, du hast noch nicht mit ihr gesprochen,« erwiderte sein Vater zögernd.

»O ja, das habe ich gethan!«

»Aber du erhieltest doch mein Telegramm?«

»Gewiß, aber ich hatte sie schon um ihre Hand gebeten.«

»Das thut mir leid!«

»Und warum?« fragte sein Sohn angstvoll.

»Weil – weil ich es für richtiger halte, solche Schritte erst nach reiflicher Ueberlegung zu thun.« In des Vaters Wesen lag ein an Verlegenheit grenzendes Zögern. »Wie heißt sie?«

»Aber ich habe dir doch vier Seiten lang über sie geschrieben!«

»Der Brief muß sich auf der See mit mir gekreuzt haben, und in deinem Telegramm nanntest du sie nur das Weib deiner Liebe. Wer ist sie?«

Diese Frage klang so aufgeregt, daß Charley entgegnete: »Du kannst an dem Mädchen meiner Wahl nichts auszusetzen haben. Ihr Vater ist jetzt Lord Lincoln und hat erst kürzlich sein Richteramt niedergelegt.«

»Richter Lincoln?« Dies klang wie ein Ausruf des Erstaunens. Dann fragte der Vater mit offenbarem Zweifel weiter: »Und er hat seiner Tochter erlaubt, deine Bewerbung anzunehmen?«

»Gewiß. Warum nicht? Ich werde morgen mit ihm sprechen.«

»Ah, du hast noch nicht mit ihm gesprochen?«

»Nein, aber ich habe nicht den mindesten Zweifel, daß er seine Einwilligung gibt, besonders wenn er dich sieht!«

»Du mußt morgen nicht mit ihm sprechen!«

»Und warum nicht?«

»Weil ich – ich bin herübergekommen, um ein Geschäft in Ordnung zu bringen, und ehe dies erledigt ist, solltest du nicht zu Richter Lincoln gehen,« erwiderte der Vater aufstehend.

Der Ton, in dem er sprach, erschreckte den Sohn und dieser rief: »Hast du am Ende pekuniäre Schwierigkeiten? Sag mir's, alter lieber Papa, und ich stehe dir zur Seite!«

»Nein, wir sind reicher als je!«

»Dann kann ich dich nicht verstehen! Erkläre es mir!« sagte Charley etwas ärgerlich.

Aber der alte Mann sagte eigensinnig: »Laß uns jetzt essen – wir sprechen morgen weiter darüber!«

»Nein, ich habe viel zu viel Angst, als daß ich essen könnte. Bitte, erkläre es mir jetzt gleich,« bat Charley, mit einem verunglückten Versuch, zu lachen.

»Ich kann es erst in einigen Tagen – nach einiger Zeit erklären!«

»Vater, höre mich an!« rief der Sohn, wieder zu ihm tretend, lebhaft und aufgeregt. »Ich habe mein Wort gegeben, morgen um sie anzuhalten; lieber alter Papa, sie müßte mich ja für einen Schurken halten!«

»Und dennoch darfst du es nicht thun!«

»Aber Vater, warum denn nicht? Wenn du in Schwierigkeiten steckst, muß dein Sohn es doch zu allererst erfahren. Sage es mir; ich habe gewiß das Recht, nach dem Grunde zu fragen, wenn du etwas von mir verlangst, was das Mädchen, das ich liebe, an meiner Aufrichtigkeit zweifeln lassen muß. Sage mir deinen Grund, lieber, alter Papa!«

Nun aber wandte ihm der Vater sein Antlitz zu und sagte leiser: »Ich will es thun!« Und sein Gesicht zeigte einen Ausdruck, bei dessen Anblick sein Sohn erbebte. »Ich habe die weite Reise von Australien gemacht, um es dir zu sagen; ich – ich –« Der arme alte Mann stöhnte, und sein schmerzverzerrtes Gesicht erglühte vor Scham.

In diesem Augenblick wurde die Thür des bis dahin leeren Kaffeezimmers geöffnet; Sergeant Brackett trat ein und setzte seinen Hund in eine Ecke, als ob er das kleine Geschöpf in Sicherheit bringen wolle.

Während er dies that, flüstert Ralph Errol vor sich hin: »Nein, nein, mein Gott! – Meinem eigenen Sohn sagen – ich kann es nicht!« Und damit sank er in einen Stuhl und rang verzweifelt die Hände.

Nun trat der Detectiv mit einer Verbeugung auf die beiden zu und sagte: »Bitte die Herrschaften um Verzeihung. Entschuldigen Sie, mein Herr, ich habe den Auftrag erhalten, diese Sache höflich zu erledigen. Einer von Ihnen ist Herr Ralph Errol, gerade aus Australien gekommen. Mein Name ist Brackett, Polizei-Sergeant!«

»Polizei-Sergeant!« Mit diesem Ausruf springt Ralph geisterbleich auf und stöhnt: »Sie – Sie kommen –«

»Vater, du bist wohl an Bord bestohlen worden?« fragte der Sohn. »Ich will die Sache besorgen.« Dann sieht er, daß sein Vater schwankt, eilt ihm zu Hilfe und sagt: »Dir ist schwach, ich hätte dich nicht so lange fasten lassen sollen.«

Allein Brackett, dem sein Geschäft selbst nur halb gefällt, fährt fort: »Ich habe vom Ministerium des Innern den Befehl erhalten, Ralph Errol zu verhaften!«

»Verhaften? Meinen Vater?« ruft Charley, dann bricht er in Lachen aus. »Sie sind wohl betrunken! Er ist der angesehenste Mann in ganz Melbourne.«

Herr Brackett erwidert nichts, zieht aber ein Dokument hervor – doch schon steht Ralph zwischen seinem Sohn und dem Beamten und bittet und fleht weinend: »Sagen Sie es ihm nicht! Er ist mein Sohn. Seien Sie barmherzig und sagen Sie es ihm nicht.«

Allein Brackett sagt scharf: »Als beurlaubten Sträfling!«

»Ein beurlaubter Sträfling?« schreit der Sohn. »Mein Vater! Sprich! Sag ihm, daß er lügt!« Aber ohne die Antwort abzuwarten, will er sich auf den Beamten stürzen und zischt: »Du verlogener Schurke! Du wagst, dies von meinem Vater, von meinem geliebten, alten Vater zu sagen! – Ich werde –«

Schon will der Arm niedersinken, der sich für den Vater erhoben hat, da schwankt eben dieser Vater auf ihn zu und lähmt ihm alle Kraft des Körpers und der Seele, indem er mit gebrochener Stimme spricht: »Halt! Der Mann thut nur seine Pflicht und sagt dir, was ich dir nicht zu sagen gewagt habe, daß dein Vater ein auf Urlaubschein freigelassener Sträfling ist, zu lebenslänglicher Verbannung aus seinem Vaterland verurteilt um des Verbrechens eines Einbruchs und Diebstahls willen!« und zitternd und händeringend steht er mit gesenktem Haupt vor seinem Sohn.

Bei diesen Worten scheint für Charley Errol die ganze Welt aus den Fugen zu gehen, aber da blickt er in seines Vaters Antlitz, aus dem ein paar blutunterlaufene Augen um ein Wort flehen, das dem armen Mann die Schmach und Verzweiflung dieses Augenblicks ertragen helfen soll, da zuckt etwas durch des Sohnes Geist, und er gibt seinem Vater Trost und Hoffnung zurück, denn er ruft mit heiserer Stimme: »Aber unschuldig!«

»Du glaubst es! Gelobt sei Gott!« und Ralph Errol liegt schluchzend in Charleys Armen.

»Ich weiß es, lieber, alter Papa! Dein Sohn, der dich kennt und liebt, könnte dich doch nie und nimmer für einen Dieb halten!« antwortete der junge Mann.

»Ich bin ein Opfer des Indizienbeweises,« flüstert der Vater. »Auch andre haben dies gesagt und gelogen, aber ich sage es, und es ist die reinste Wahrheit; so gewiß, als ich deine Mutter im Himmel wiederzusehen hoffe!« Dann blickt er noch einmal in seines Sohnes Augen, und Ralph Errol steht wieder aufrecht da, und Sergeant Brackett, der sich etwas zurückgezogen hat, sieht durch die Thränen, die des alten Mannes Schande in seine Augen getrieben haben, daß des Vaters Blick wieder ruhig und sicher geworden ist, und daß er nur die eine Angst gehabt hat, sein Sohn könne ihn für schuldig halten.

Nach einem Augenblick führt der ältere Errol mit ernster Würde fort: »Schon mehrmals habe ich versucht, es dir zu sagen, aber – es war mir allzu demütigend, meinem Sohn zu sagen, daß mich die Gesetze meines Landes als Verbrecher ausgewiesen und als Sträfling und Dieb gebrandmarkt hatten.« Er spricht rasch, denn er bemerkt, daß Sergeant Brackett unruhig wird und auf seine Uhr sieht.

Der Sohn, durch die Art und Weise seines Vaters gestärkt, erwidert: »Aber irgend etwas oder irgend jemand in der Welt muß doch deine Unschuld beweisen können!«

»Nur ein einziger Mann kann dies, und um ihn zu suchen, bin ich herübergekommen, aber nun wird mir dies nicht gestattet,« antwortete Ralph traurig. »Seit jener Nacht hat man ihn nicht wieder gesehen und vielleicht ist er selbst der Schuldige.«

»Sein Name?«

»Sieh die Anzeigen der Times und des New York Herald von 1850 bis heute nach und du wirst dem Namen des Lehrjungen von Jaffey und Stevens oft begegnen – er heißt Sammy Potts!«

»Sammy Potts? Das ist also der Mann, den du finden mußt. Sammy Potts, ich werde mich dessen erinnern,« sagte der Sohn.

Hier unterbricht Herr Brackett die Unterhaltung mit den Worten: »Bitte die Herrschaften um Entschuldigung, aber das Nachtschiff geht gleich ab. Sie kennen meinen Befehl schon,« und er zieht ein Schriftstück hervor, das Ihrer Majestät Siegel trägt und Charley wie ein großer Fleck erscheint, aus dem nur die Worte hervortreten: Ralph Errol, – beurlaubter Sträfling Nr. 29 341.

Dies bringt ihn zur Verzweiflung, denn diese Worte machen ihm die Wahrheit völlig klar und graben mit glühenden Lettern in sein Gehirn, daß er der Sohn eines Sträflings ist.

»Ihre Instruktion!« stöhnt Ralph.

»Lautet, ich solle höflich sein,« erwidert Brackett, der wohl weiß, daß der Mann vor ihm, wenn auch ein Schurke, doch in den Kolonieen eine Person von Bedeutung ist, »aber dafür Sorge tragen, daß Sie England noch heute nacht wieder verlassen!«

»Ich stehe zu Ihrer Verfügung!« sagt der einstige Sträfling und schwankt, auf Charley gestützt, aus dem Hause; er sieht um zehn Jahre älter aus, als vor einer Stunde. So kommen sie an den Hafen, wo das Dampfboot bereit liegt und nur noch die Ankunft des Londoner Zuges abwartet.

»Du kommst doch mit mir?« fragt der alte Mann seinen Sohn.

»Nein, ich bleibe hier, um deine Unschuld zu beweisen. Du warst arm, als du verurteilt wurdest – jetzt sind wir reich, und ich werde die Wahrheit schon irgend jemand abkaufen!« gibt Charley Errol zurück, der immer am entschlossensten ist, wenn sich die Sachen am verzweifeltsten anlassen; jetzt zeigt er dasselbe Wesen und Benehmen, wie während der letzten Nacht in Aegypten. Dann wendet er sich an den Detectiv: »Sie haben noch fünf Minuten Zeit! Beantworten Sie meine Fragen! Ist es nicht auffallend, daß das Ministerium sofort von meines Vaters Anwesenheit Kenntnis erhielt?«

Brackett gibt zu verstehen, daß wahrscheinlich eine Anzeige erfolgt sei.

»Ah!« ruft der junge Mann, »sicher von jemand, der deine Anwesenheit hier zu fürchten hat. Vielleicht von dem Dieb selbst!« Und durch diesen Gedanken erregt, sagt er zu Brackett: »Sie sind Detectiv, um den Menschen zu beweisen, daß sie schuldig sind, helfen Sie mir jetzt einmal beweisen, daß jemand unschuldig ist! Dies hier für Ihre Auslagen! Erfüllen Sie Ihre Pflicht, dann aber ermitteln Sie mir, wer die Anzeige gemacht hat, durch die mein lieber, armer, mißhandelter Vater wieder aus England getrieben wird!«

»Wohin soll ich Ihnen berichten?« fragte Brackett eifrig, denn der junge Mann hat die Hände des Detectivs mit Gold gefüllt.

»Morgen hierher ins West Cliff Hotel!«

»Gut, aber jetzt müssen wir an Bord gehen!«

Und, während Charley seinen Vater nach dem Dampfboot führt, flüstert der alte Mann: »Ach, mein Junge, ich hätte so gern meinen Geburtsort gesehen, aber wenn ich jetzt wieder über die Fallreepstreppe gehe, verlasse ich mein Vaterland für immer – und du – meine Schande fällt auf dich!«

Der Sohn fühlt eine Thräne auf sein Antlitz fallen, die ihn ganz tollkühn macht. »Vater, du sollst nach England zurückkehren; nicht als beurlaubter Sträfling, sondern geachtet und geehrt von der Welt, die dich vertrieben hat! Das schwöre ich dir!« Dann fragt er noch eilig, denn Brackett drängt sie über die Fallreepstreppe: »Wer kann mir die Einzelheiten deines Prozesses mitteilen?«

»Es war vor dreißig Jahren. Mein Anwalt ist tot!«

»An welchen lebenden Mann, der gerecht und von der Sache unterrichtet ist, kann ich mich wenden?«

»An den Richter, der mich verhört und verurteilt hat!«

»Sein Name?« ruft der Sohn, denn die Menge, die nach dem Schiff hindrängt, hat ihn von seinem Vater weggerissen und schiebt ihn auf den Damm zurück, aber Ralph Errol zögert und antwortet nicht.

»Sein Name?« schreit der Sohn verzweifelt, denn die Fallreepstreppe wird aufgezogen, die Signalglocke ertönt und das Schiff dampft in die Nacht hinein, Frankreich zu; dann dringt die Stimme seines Vaters aus der Dunkelheit herüber, übertönt das traurige Plätschern der See und erfüllt seine Seele mit Verzweiflung: »Percy Lincoln!«

Und der junge Mann stöhnt: »Mein Gott, ihr Vater! Wie soll ich es ihr sagen?«

 


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