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Dreiundzwanzigstes Kapitel.
Die Apotheose Sammy Potts

Während Herr Potter seine Vorbereitungen traf, um den Knoten zu zerhauen, verlebten seine Freunde eine aufregende Zeit in Boulogne, wo Lady Annerley, obgleich sie selbst Höllenqualen litt, alles that, um ihnen, soweit sie ihr in den Weg kamen, Kummer und Herzeleid zu bereiten.

Sie hatte eine entsetzliche Nacht hinter sich und jedenfalls mehr gelitten, als ihr Abgesandter, Sergeant Brackett, unter den Händen der französischen Gendarmen und des wütenden Texaners.

Mit jedem Pendelschlag hatte ihr Gewissen ihr zugerufen: »Du hast einen unschuldigen Mann in der Verbannung schmachten lassen, du siehst zu, wie vielleicht ein zweiter ins Gefängnis geworfen wird zur Schande ihrer Familien und zum Verderben aller, die ihnen angehören! Und weshalb? Um dir die Achtung eines Mannes zu erhalten und vielleicht seine Liebe zu gewinnen, eines Mannes, den du jetzt folterst und demütigst durch seines Vaters Schande und Verzweiflung!«

Sie durfte nur den Mund aufmachen, und alle waren glücklich – ausgenommen sie selbst. Aber dann sieht sie im Geist Errol und Ethel am Altar und schreit wild hinaus: »Nein, nein! Das Schicksal hat uns in Aegypten zusammengeführt! Ich will seine Achtung nicht verlieren – nicht die Möglichkeit seiner Liebe! Obgleich es eine Qual ist, schweigen zu müssen, so wäre die Pein, zu reden, doch noch größer. Ich habe meine Schiffe hinter mir verbrannt – ich muß schweigen für immer!«

So kam der Morgen heran. Etwa um zehn Uhr brachte ihr der unterwürfige Lubbins Herrn Charley Errols Karte, und sie sagte: »Für ihn zu Hause, hierher in mein Privatzimmer.«

Der junge Mann hatte durch Arthur das Gerücht von der Flucht Potters, des Texaners, und deren Ursachen erfahren. Er hatte Lord Lincoln noch nicht gesprochen, der mit dem Frühboot gekommen war und im Hotel du Pavillon mit seinem Sohn und seiner Tochter eine Beratung hielt. Diese Mitteilung erhielt er durch ein kleines Briefchen Ethels, etwa des Inhalts:

 

»Du hast versprochen, nicht mehr mit mir zu reden; ich aber habe versprochen, Dich bis ans Ende meines Lebens zu lieben, und dies will ich halten. Ida ist die einzige Ruhige in unserer Gesellschaft; sie scheint für ihren Vater gar nichts zu fürchten, ist aber sehr in Sorge um den Detectiv, der versuchen soll, ihn zu verhaften. Ihr Vertrauen in ihres Vaters Ehre hat bei meinem Vater die größte Bewunderung erregt. Versichere Deinen Vater meiner Liebe und sage ihm, ich wünsche nur, ihn recht bald auch Vater nennen zu dürfen.«

 

Ein solcher Gruß würde jeden Liebhaber mit neuer Hoffnung erfüllen, und Charley Errol hätte sich diesen Morgen ruhiger gefühlt, wäre nicht sein Vater gewesen.

Dreißig Jahre lang hatte der alte Errol, fern von dem Lande seiner Geburt, mit Gleichmut und Würde seine Verbannung ertragen. Nachdem er aber erst einmal wieder den Fuß auf die Muttererde gesetzt hatte, sehnte er sich über alles nach ihr zurück und verbrachte ganze Stunden damit, nach den kaum sichtbaren weißen Klippen hinüber zu starren und mit gebrochener Stimme zu seinem Sohn zu sagen: »Charley, bringe meine Gebeine in die alte Heimat zurück, man wird ihnen wohl die letzte Ruhe dort gönnen! All die Schmach und Schande der letzten dreißig Jahre brechen jetzt wieder über mich herein. Ich kann keinem Menschen mehr ins Gesicht sehen. Es ist mir gerade zu Mute wie damals, als ich zum erstenmal die Sträflingskleider an meinem Leib und die Ketten an meinen Gliedern fühlte!«

Derartige Reden hatten den jungen Errol ganz in Verzweiflung gebracht, und er war zu Lady Annerley gegangen, um zu versuchen, ihr die Wahrheit zu entreißen, denn er hatte in der Nacht viel nachgedacht und durch den Schmerz aufgestachelt, erwachten seine Fähigkeiten wieder, so daß er sich an manches erinnerte, was sie in Aegypten gesagt hatte.

Ohne auf den flehenden Blick des Weibes zu achten, dessen Schönheit einen rührenden Charakter angenommen hatte, sagte er kalt, mit einem strengen Ausdruck: »Sie haben wohl nicht erwartet, mich noch einmal zu sehen, Lady Annerley?«

»Sprechen Sie nicht in diesem Ton mit mir!« flehte sie. »Ich verdiene ihn nicht – von Ihnen nicht! Charley, Sie sind gekommen –«

»Um Ihnen die Anerkennung der Unschuld meines Vaters abzuzwingen!«

»Mir? Ich – habe nie gesagt, daß ich Ihren Vater für schuldig halte!«

»Nicht? Dann beweisen Sie seine Unschuld! Ich habe ihm ins Auge gesehen, in das Auge, das meinen Blick nicht ertragen kann, weil man ihn einen Verbrecher nennt. Sie können die Schande von ihm nehmen, Lady Annerley, und Sie sollen es!«

»Und was weiß ich denn?« wirft sie ihm entgegen. »Doch nur, daß Ihr Vater ein Sträfling ist; und wenn ich diese Kenntnis dazu benützte, Sie von Ethel Lincoln zu trennen – so kennen Sie den Grund –« Dann ruft sie ihm zu: »Charley, warum sind Sie so grausam gegen mich? Sie – Sie wären anders, wenn Sie sich erinnerten, wie Sie für mich gekämpft haben – wenn Sie sich an Aegypten erinnerten.«

Er aber erwidert: »Ich erinnere mich an Aegypten! Was enthielt das Briefpaket, das Sie mich wie mein Leben, wie meinen Augapfel hüten hießen, das Sie mir gaben, um es meinem Vater zu schicken? In diesem Paket war die Wahrheit enthalten. Sagen Sie sie mir! Diese Wahrheit will ich haben!«

Dies erstaunt und erschreckt sie – er beginnt, sich zu erinnern – aber es macht sie auch kühler. Sie richtet sich hoch auf und sagt schneidend: »Ach ja, man hat nach Lord Lincoln telegraphiert und er ist hier, um seine Tochter von dem Sohn des Sträflings zu trennen, deshalb soll ich nun Ihren Vater durchaus unschuldig machen!«

Erstaunt blickt er sie an, denn dies ist das erste grausame Wort, das sie während all der Leiden, die ihr ihre Leidenschaft für ihn bereitet hat, ihn je hat vernehmen lassen; er flüstert: »Lady Sarah, Sie sind eine ganz andere Frau als die, von der ich vor drei Monaten in Italien wieder gesund gepflegt worden bin.«

»Das war, ehe sie mit ihrem Kindergesicht zwischen uns trat!« ruft ihre Herrlichkeit heiser.

Die Verzweiflung in ihrem Ton macht ihn reumütig, denn er erinnert sich an ihre liebevolle Pflege und fürchtet, er habe ihr damals Grund zu dem Glauben gegeben, sie besitze sein Herz. Halb entschuldigend sagt er: »Sie – Sie haben doch nie glauben können, daß ich Sie liebe?«

Diese Bemerkung fügt zu der Verzweiflung der Liebe noch die Verzweiflung der Scham. Sie stöhnt: »Ach, welch großmütige Frage!« Dann läßt sie den Kopf sinken und antwortet traurig: »Nein, sie vermochte eine Leidenschaft zu erwecken, die für mich unerreichbar war – und deshalb hasse ich sie!«

»Ich hätte gedacht, Ihr Stolz –« stammelt Errol, doch er kommt nicht weiter, denn sie unterbricht ihn händeringend und klagt: »Stolz ist für die, die denken, nicht für solche, die nur fühlen! Der Stolz war gut für gestern, heute kenne ich nur Leidenschaft und Verzweiflung. Charley, verzeihen Sie mir den Kummer, den ich wieder über Ihren Vater gebracht habe!« Und schluchzend liegt Lady Annerley zu seinen Füßen: »O, wenn Sie wüßten, was ich leide, wenn ich sehe, wie Sie sich von der abwenden, die Ihnen das Leben zurückgegeben hat.« Der Anblick ihrer Not hatte ihn veranlaßt wegzusehen. »Sie selbst haben dies gesagt, in Venedig, ehe sie kam!« Bei diesen Worten steht sie auf und tritt zu ihm hin, und da sie in seinen Augen keine Antwort findet, bricht sie in einen Sturm der Verzweiflung aus und ruft laut: »Gott! Wie grausam sind Sie gegen mich! Eines Tages werden Sie den Unterschied kennen lernen zwischen der vergänglichen Leidenschaft eines jungen Mädchens und der Liebe einer Frau, die ihr Leben lang nach Liebe gedürstet und sie nirgends gefunden hat – weder bei ihrem Vater – noch bei ihrem Gatten – noch bei sonst jemand! Eines Tages werden Sie es erfahren – eines Tages, eines Tages!«

Die letzten Worte werden mit einem herzbrechenden Seufzer ausgestoßen. Ueber ihrem Leiden vergißt er sein eigenes, aber er wagt nicht, sie anzusehen, aus Angst, sie könne das Mitleid in seinen Blicken für Liebe halten. Sie bemerkt dies, sinkt in einen Stuhl und verbirgt ihr Haupt in den zitternden Händen.

Diese Stille wird durch Fräulein Potters Stimme unterbrochen, die durch die Thür dringt und in scharfem Ton sagt: »Lubbins, es ist vergeblich, zu sagen, Lady Annerley sei nicht zu Hause – ich habe ihre Stimme deutlich gehört.«

Dieser Zwischenfall kommt ihrer Herrlichkeit sehr gelegen. Sie fürchtet sich vor sich selbst – fürchtet, daß der Kummer des Mannes, den sie liebt, sie in ihrem Entschluß wanken machen könnte. Sie springt nach der Thür, öffnet sie und sagt: »Bitte, treten Sie ein, Fräulein Potter!«

Ida tritt unbefangen ein, glänzend, sorgfältig und schön gekleidet wie immer, nur wäre sie vielleicht einen Ton blasser gewesen, wenn ihr nicht die Aufregung eine etwas erhöhte Farbe verliehen hätte. Arthur Lincoln folgt ihr auf dem Fuße nach, er sieht sehr angegriffen aus und bittet sie, ruhig zu bleiben.

Fräulein Potter ist übrigens ruhig; sie verbeugt sich kühl vor ihrer Herrlichkeit, reicht Errol die Hand und sagt: »Lady Annerley, es geht in Boulogne die Rede, Sie seien die Quelle eines Gerüchtes, das behauptet, mein Vater sei der Gerechtigkeit entflohen!« Dies sagt sie in eisigem Ton, obgleich Fräulein Potters Augen Funken sprühen.

»Nun, und?« bemerkt ihre Herrlichkeit ebenso kühl, denn sie fürchtet sich an diesem Tag vor nichts, als vor dem unglücklichen Gesicht des Mannes, den sie liebt.

Aber ehe sie mehr sagen kann, wendet sich Charley Errol mit einem letzten, flehenden Blick zu ihr und flüstert: »Sie – Sie wollen es mir nicht sagen, Lady Sarah?«

Sie sieht ihn nicht an und stöhnt nur: »Warum quälen Sie mich mit Fragen?« Dann macht sie ihrer Verzweiflung auf Fräulein Potters Kosten Luft und ruft: »Fragen Sie sie! Sie hat gesagt, sie könne Ihnen Hoffnung geben! Fragen Sie die Tochter des entflohenen Verbrechers!«

»Sie sprechen von meinem Vater?« fragte Ida mit blitzenden Augen.

»Ja!«

»Ich bin nicht die Tochter eines Verbrechers!«

» Noch nicht!« höhnte ihre Herrlichkeit.

»Sie haben nichts zurückzunehmen?«

»Nein, aber mehr als genug Beweise! Ihr Vater selbst lieferte den besten Beweis durch seine Flucht!«

»Flucht? Mein Vater ist in seinem ganzen Leben noch vor nichts geflohen!« Und Fräulein Potter lachte etwas gezwungen.

Hier wird sie doch durch Lady Annerley überrascht, denn da diese Dame in einer Stimmung ist, in der sie vor nichts zurückbebt, lügt sie und sagt: »Ich sah Ihren Vater nach Paris entfliehen.«

»Sie haben ihn entfliehen sehen?«

»Ja, in dem Augenblick, in dem er hörte, daß durch Sie sein alias bekannt geworden ist und daß Sie ihn verraten und zu Grunde gerichtet haben!«

»Aber Sie, Sie haben die Enthüllung gefürchtet!« ruft Ida, deren Augen den Blick annehmen, den die des alten Potter hatten, als er den Detectiv verhaftete. »Lady Sarah, mein Vater wird zurückkommen und Ihnen noch einmal Angst einjagen. Das schwöre ich Ihnen!« Da sie nutzlose Erörterungen zu vermeiden wünscht, wendet sich die junge Dame der Thür zu, aber Lady Annerley zischt ihr zu: »Wenn er es thut, so schwöre ich Ihnen, daß ich Ihren Vater in ein englisches Zuchthaus bringen werde.«

Bei diesen Worten fahren Errol und Arthur auf, und dieser sagt: »Lady Annerley, solche Worte sind nicht statthaft, wenn Sie nicht sichere Beweise haben.«

»Beweise? Ich habe den sicheren Beweis!« erwidert ihre Herrlichkeit, deren Augen nun auf Fräulein Potters Handgelenk haften. »Seine Tochter trägt ein Stück des Raubes an ihrem Arm!«

Nun aber überrascht Ida die beiden Männer noch mehr, als Lady Annerley; denn leicht, unbefangen, beinahe lachend kehrt sie wieder um und sagt nachlässig: »O, Sie meinen meine Glücksmünze, den gezeichneten Sovereign,« und hält ihr blendend weißes Handgelenk hoch auf und läßt die Münze vor Lady Annerleys Gesicht herumtanzen.

Dies überrascht Lady Annerley, entsetzt aber die beiden Männer, denn sie erkennen in dem Anhänger, den sie zur Schau stellt, eine der gezeichneten Münzen.

Arthur stöhnt: »Ida, was hat dies zu bedeuten?«

Lady Sarah ruft: »Wagt sie, zu sagen, wer ihr das gestohlene Gut gegeben hat?«

»Ja,« antwortete Ida stolz. »Mein Vater! Mein Vater! Verstehen Sie mich? Mein Vater! Mein Vater aber schmückt seine Tochter nicht mit Dingen, über die sie erröten müßte! Mein Vater –«

Allein Arthur unterbricht sie, indem er mit juristischer Vorsicht warnt: »Um deines Vaters willen, sag ihr nichts weiter!«

Und Charley Errol seufzt: »Fräulein Potter, es thut mir herzlich leid um Sie!«

Diese Worte und die Art und Weise, in der die beiden sie ansehen, verwundert und empört das Mädchen; mit entrüstetem Blick keucht sie: »Wahrhaftig, ihr alle scheint meinen Vater für schuldig zu halten!«

Und mit Blicken, aus denen Begeisterung und Vertrauen strahlen, bricht sie los: »Ich habe zwanzig Jahre lang seine Liebe erfahren dürfen, und wenn alle Gerichtshöfe und Richter der Welt riefen: › Schuldig! Schuldig!! Schuldig!!!‹ so würde mein Urteil doch unerschütterlich lauten: › Unschuldig!‹«

Während die drei noch das junge Mädchen erstaunt ansehen, wendet Ida sich plötzlich um und ruft: »Mein Vater!« Denn draußen sagt eine Stimme: »Hierher, Peer.«

Schluchzend lief sie nach der Thür: »Endlich!«

Nachdem die Spannung vorüber war, gab etwas nach in dem gequälten Herzen, das in all der Angst und Ungewißheit der letzten zwölf Stunden das Banner der Unschuld ihres Vaters so tapfer hochgehalten hatte, und Fräulein Potter, die sich seit ihres Vaters Flucht so stolz gezeigt hatte, lag nun weinend und schluchzend an ihres Vaters Brust, der gekommen war, um seine Sache selbst auszufechten.

Der alte Potter aber küßt sie nicht; er klopft ihr nur tröstend auf die Schulter, dann sieht er Lady Annerley an und sagt strenge: »Wer hat dich zum Weinen gebracht, Ida?«

»Vater, diese Frau hat gesagt, du seiest ein Dieb!«

»Ida Potter,« sprach ihr Vater, sie von sich schiebend und fest anblickend, in feierlichem Ton, »hast du ihr geglaubt?«

»Nein!«

»Dann küsse deinen alten Vater!« was dieser Abgott der Gesellschaft in einer Weise that, als empfange sie mit dieser Erlaubnis die größte Wohlthat.

Dann übergibt er seine Tochter Lord Lincoln, der mit ihm gekommen ist, und dieser Herr sucht das nun furchtbar aufgeregte Mädchen mit Hilfe seines Sohnes zu trösten, während Potter auf Lady Annerley zugeht, die seit seinem Eintritt wie versteinert dasteht, eine Statue mit glühenden Augen, und nur ab und zu, wie unwillkürlich, auf den schweigenden Charley Errol blickt.

»Lady Annerley,« sagt Potter, »haben Sie gewagt, diesem Mädchen zu sagen, ihr Vater sei ein Dieb?«

»Gewiß!« erwidert ihre Herrlichkeit, obgleich mit leisem Beben in der Stimme.

»Dann wird entweder er oder Sie den Hals dabei brechen, und ich glaube, Sie werden es sein!« gibt Potter zurück, der sich dann nach Lord Lincoln umwendet und entschuldigend flüstert: »Peer, es ist das zweite Mal, daß ich einem Frauenzimmer drohe.«

»Und soll auch das letzte Mal sein,« sagt Lady Annerley, die entschlossen ist, diesen Mann zu vernichten, weil er ihr Geheimnis verraten kann, ob die andern ihm nun glaubten oder nicht. »Sobald Sie dies Zimmer verlassen, sind Sie verhaftet!« Sie schreitet durch das Zimmer und drückt auf die Glocke.

Der Texaner geht auf sie zu und sagt scharf: »Lady Saharah, Sie machen mich wahrhaftig zu einem Comanche-Indianer!«

Da trat Lubbins ein und Lady Annerley höhnt: »Wenn Sergeant Brackett zurückkommt, so sagen Sie ihm, der Verbrecher, gegen den er einen Haftbefehl habe, befinde sich hier im Zimmer!«

Bei der Erwähnung Bracketts brach Potter in ein so krampfhaftes Gelächter aus, daß er alle in Verwunderung setzte.

Dann ruft er: »Also so steht's, Lady Annerley? Ich habe es Ihnen leicht machen wollen, nun sollen Sie aber haben, was Sie verdienen! Charley Errol, ich habe Ihnen etwas mitgebracht!« langt in seine Brusttasche und zieht ein Schriftstück heraus. Sobald der Australier es erblickt, ruft er: »Mein Gott, das Briefpaket, das sie mir in Aegypten gegeben und mir wieder genommen hat, als ich verwundet war!« Damit wollte er es nehmen.

Allein bittend, flehend, beschwörend, steht Lady Annerley zwischen ihnen: »Denken Sie an Ihr Versprechen, Charley, aus Barmherzigkeit, aus Mitleid mit dem Weib, das Sie liebt; denken Sie an Ihr Versprechen: Wenn wir beide am Leben bleiben, sollten Sie es mir zurückgeben.«

»Ein Versprechen? Dann will ich das Ding lieber selbst behalten,« murmelt Potter und steckt das Paketchen wieder in seine Brusttasche.

Aber Errol ruft: »Es gehört mir! Es enthält meines Vaters Ehre!«

»Und die meinige enthält es auch!« erwidert Potter. »Ich habe eine abenteuerliche Zeit verlebt, bis ich es glücklich in Händen hatte, und ich werde es mit meinem Leben verteidigen, es aufmachen und Ihnen vorlesen, Ihnen und dem Richter – bitte um Verzeihung, Peer, meine ich – und jeder, der mich daran verhindern will, ist ein toter Mann!«

Damit nimmt er das Briefpaket ganz langsam wieder aus seiner Tasche und ist im Begriff, es zu öffnen, als Lady Annerley sich plötzlich an ihn klammert und mit thränenlosem Schluchzen ruft: »Seien Sie barmherzig! Der Mann, den ich liebe, würde mich für schlechter halten, als ich bin. Geben Sie mir das Schreiben zurück, und ich will ihm alles sagen – alles – die reine Wahrheit, aber auf meine Weise, denn – denn jetzt bricht mir das Herz.«

»Das ist nicht mehr als billig,« sagt Potter mit einem beinahe erleichterten Seufzer.

Dann läßt sie ihr schönes Haupt sinken und flüstert: »Schicken Sie alle hinaus.«

Der Texaner erwidert: »Der Richter bleibt hier, um die Interessen seiner Familie zu wahren; ich bleibe wegen der meinigen und Sie können Ihre Sache mit dem jungen Mann ausmachen!« Und in der nächsten Sekunde hat er Arthur und Ida aus dem Zimmer geschoben. Dann flüstert er Lord Lincoln hastig zu: »Sie sagten, Sie könnten hier eine Zeugenaussage aufnehmen und eidlich erhärten lassen, so daß sie in England Gültigkeit hat? Schreiben Sie um Gotteswillen alles nieder, was sie sagt!«

Im Hintergrunde des Zimmers schreibt Percy Lincoln eilig die Worte nieder, die nun die Frau zu dem Manne spricht, der sie bisher schweigend angeschaut hat.

Nach einigen vergeblichen Versuchen, zu sprechen, zwingt sie die versagenden Lippen und spricht mit einer Stimme, die seltsam verändert klingt: »Ich – ich stand an dem Totenbette meines Vaters, Sir Jonas Stevens, und vernahm die Bekenntnisse eines sterbenden – Diebes!«

Zwei der Männer springen auf.

Errol ruft verwundert: »Ihr Vater! Meines Vaters Freund!«

Lincoln springt auf und murmelt: »Sind Sie bei Sinnen? Ihr Vater – Sir Jonas Stevens – der große Finanzmann, der geachtete Bankier?«

Sie aber ruft ihnen zu: »Unterbrechen Sie mich nicht. Sie lenken seine Aufmerksamkeit ab. Wenn er mich nicht anhört, wie kann er mir dann vergeben?« Und wieder blickt sie Errol an, als wolle sie ihm ihre Worte ins Herz bohren.

»Um unser aller willen,« flüstert Potter dem Richter zu, »thun Sie nichts, als ihre Worte zu Papier bringen!«

Wieder beginnt sie zu sprechen, nur ab und zu unterbricht sie ihre Enthüllungen durch thränenloses Schluchzen.

»Mein Vater hat mir geschworen, daß er als junger Mann der Bank, in der er damals als Angestellter thätig war, große Summen Geldes gestohlen hat. Die Bank war entschlossen, den Schuldigen zu entdecken. Um seiner eignen Sicherheit willen schlug er vor, man solle eine gewisse Anzahl Sovereigns mit einem Zeichen versehen, so daß sie, falls sie gestohlen würden, leicht wieder zu erkennen wären. Er wußte, daß Ralph Errol heimlich nach Australien ging; am Morgen vor dessen Abreise war er im Begriff, die gezeichneten Sovereigns alle in Errols Pult zu legen – an Stelle der Ersparnisse, Charley, die Ihr Vater mitnehmen sollte. Er hatte dies noch nicht vollendet, als er von dem Laufjungen gesehen wurde, dem er dreißig Sovereigns gab, damit er nach Amerika auswandern könne. Dieser Knabe, Samuel Potts, nahm sie unschuldig in Empfang, als ein Darlehen meines Vaters, das er später zurückerstattet hat. Dies war meines Vaters Verbrechen.«

Errol schweigt. Seine Augen scheinen in weite Fernen zu blicken und stehen voll Thränen, seine Lippen beben. Er denkt an die Jahre voll grenzenloser Schmach und grausamer Strafe, die sein Vater verlebt hat. Lady Annerley scheint er gar nicht mehr zu hören.

Dann flüstert sie heiser: »Sie kennen jetzt die Wahrheit. Geben Sie mir das Paket,« und wendet sich gegen Potter, um es ihm aus der Hand zu nehmen.

Allein dieser raunt Lincoln zu: »Lassen Sie sie dies beschwören, Richter. Lassen Sie sie auf die Bibel schwören, um Gotteswillen!«

Des Texaners Drängen macht Eindruck auf Lord Lincoln, der ihr das Protokoll hinreicht und sagt: »Lady Annerley, unterzeichnen Sie dies mit Ihrem Namen.«

Sie thut, wie ihr geheißen, und er läßt sie beschwören, daß es die Wahrheit sei.

Wieder stöhnt sie: »Geben Sie mir das Paket.« Potter entspricht nun ihrem Verlangen mit einem triumphierenden Kichern, das sie aber nicht beachtet, denn sie ruft Errol zu: »Nun vernehmen Sie auch meine Buße!«

»Noch an meines Vaters Sterbebett telegraphierte ich und erfuhr, daß Sie sich auf der Rückreise nach Australien in Aegypten befanden. Ohne Rücksicht auf die Warnungen meiner Freunde und meine persönliche Sicherheit eilte ich nach Alexandria. Dort wartete ich, als alles floh – ich gefährdete mein eignes Leben, um Ihnen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Sie erinnern sich, ich habe versucht, es Ihnen zu sagen, aber Sie wollten nichts hören, Sie dachten nur daran, wie Sie mein Leben retten könnten. Ach, und wie haben Sie es gerettet! Wie haben Sie für mich gekämpft! Haben Sie es ganz vergessen? Charley, mein Charley, können Sie sich nicht mehr erinnern? Mein Gott, wie edel, wie mutig haben Sie für mich gekämpft, und wie konnte ich anders, als Sie lieben

Als sie sieht, daß er ihr keine Antwort gibt, tritt sie bittend, bettelnd, flehend vor ihn hin, und zitternd aus Angst, er könne sie zurückstoßen, berührt sie seinen Arm und sagt demütig in einem langgezogenen, seufzenden Flüstern: »Charley – können Sie – sich denn gar nicht – mehr – erinnern?«

Ihr ganzes Wesen und ihre tiefe Verzweiflung treiben Thränen in die Augen des Richters, der Nebenmenschen zum Tod verurteilt hat, und in die des wilden Grenzlers, der seine Feinde ohne Bedauern und ohne Gewissensbisse niedermetzelte.

Allein Errol sagt, ohne sie anzusehen, einfach: »Ich habe meine Pflicht gethan! Wie haben Sie die Ihre erfüllt?« Dann blickt er sie strenge an, denn sie antwortet nicht auf diese furchtbare Anklage, und er ruft noch einmal: »Wie haben Sie die Ihre erfüllt?«

Und nun wird die Scene qualvoll und grausig, denn sie ruft ihm zu: »Mein Gott! Sehen Sie mich nicht so an! Haben Sie doch etwas Mitleid mit mir! Wie konnte ich dem Mann, den ich mehr liebte als mein Leben, sagen, daß mein Vater den seinigen dreißig Jahre lang als verbannten Verbrecher hat leben lassen? Sie hätten mich um meines Vaters willen verachtet und gehaßt, wie Sie es jetzt thun! Halten Sie mich nicht für ganz schlecht! Die andern Sünden habe ich erst begangen, als mich die Eifersucht wahnsinnig machte. Himmel! Er glaubt mir nicht einmal!«

Dann ergreift sie Errols Arm und zwingt ihn, ihren Jammer und ihr Elend anzusehen, indem sie ihm zuflüstert: »Ich hatte von vornherein die Absicht, Ihnen diese entsetzliche Geschichte zu enthüllen, das will ich Ihnen beweisen. Durch diesen Brief werden Sie es glauben lernen; ich hatte gewünscht, daß Sie ihn lesen sollten, wenn ich in Alexandria getötet worden wäre. Dieser Brief, den niemand lesen sollte, als Sie, weil er verrät, wie sehr ich Sie schon damals bewunderte, der einzige Liebesbrief, den ich je schreiben werde, er soll es Ihnen beweisen. Hier!«

Und sie reißt das Paket auf, das Potter ihr gegeben hat, und ist im Begriff, es Errol einzuhändigen, allein sie wirft einen Blick darauf und ihr Gesicht nimmt statt dem Ausdruck hoffnungsloser Verzweiflung den eines grenzenlosen Staunens an. Sie stöhnt: »Er würde es nie erfahren haben, wenn ich nicht bekannt hätte; nun wird er nimmermehr alles glauben! Zuguterletzt noch überlistet! Betrogen durch Sie!« und auf den Texaner zuschwankend, stößt sie noch einen markerschütternden Schrei aus und stürzt wie tot zu seinen Füßen nieder, während die losen Blätter des geöffneten Pakets um ihre leblose Gestalt herum zerstreut liegen.

Lincoln hebt eines der Blätter auf und sagt erstaunt: »Aber die sind ja alle leer!«

»Ja,« bemerkte Potter. »Wissen Sie, Richter – bitte um Vergebung, Peer wollte ich sagen – ich bekam nicht genug von den Ueberresten mehr zusammen, um etwas daraus machen zu können. Lady Annerleys Abgesandter hat das ganze Schriftstück vernichtet und nur den Umschlag ganz gelassen. So blieb mir nichts übrig, als sie zu überlisten und die Sache so zum Klappen zu bringen!« Damit beugte er sich nieder und wollte Lady Annerley aufheben.

Allein Errol kam ihm zuvor und hob sie sehr sanft und sorgsam auf, denn die Erinnerungen an Afrika waren in seinem Herzen wieder lebendig geworden und er flüsterte: »Armes Weib!« Als er ihre regungslose Gestalt auf das Sofa legte, hielt er das Weib, dessen Herz von ihm gebrochen worden war, zum ersten- und letztenmal in seinen Armen.

Auf Lady Annerleys lautes Reden waren Arthur und Ida herbeigeeilt, und Potter rief seine Tochter zu sich heran und sagte: »Sie war einst sehr freundlich gegen dich, Ida; sorge so gut für Mylady, als du kannst. Hier ist eben ein Herz zu Grabe getragen worden.«

Fräulein Potter trat zu ihr und rief: »Wie grenzenlos muß sie gelitten haben! Sie ist alt geworden in der kurzen Zeit, in der ich sie nicht sah. Vater, was habt ihr der armen Frau gethan?«

»Nur, was die Gerechtigkeit verlangte,« gab der alte Mann zurück. »Laß das Moralisieren und bringe sie wieder zu sich.«

Auf den mitleidigen Armen des amerikanischen Mädchens wurde Lady Annerley aus dem Zimmer getragen. Sie sollte nie erfahren, daß der Mann, den sie geliebt und an dem sie gesündigt hatte, ihr vergeben habe.

Unterdessen hielten die Männer eine eilige Beratung, bei der Lord Lincoln versicherte, die eidlich erhärtete Aussage Lady Annerleys genüge völlig, um die Anklage gegen Samuel Potts zu entkräften und durch das Ministerium des Innern von der Königin die Begnadigung Ralph Errols zu erlangen und ihm auch jede Genugthuung zu verschaffen, die ein Mann verlangen konnte, der dreißig Jahre lang unschuldig geduldet hatte.

Zum Schluß sagte Lord Lincoln: »Der Richter, der Ihren Vater verurteilt hat, soll auch der erste sein, der ihm sein Bedauern ausdrückt und sein Mitgefühl entgegenbringt. Und für das Unrecht, das Ihnen, Herr Errol, von einem der Meinen zugefügt worden ist, kann ich Ihnen eine Genugthuung bieten, die Sie wenigstens für genügend halten werden, denn meine Tochter, bisher die Freude meines Lebens, soll, so Gott will, der Segen des Ihrigen werden. Sie sind ein guter Sohn gewesen, und dies ist die beste Bürgschaft dafür, daß Sie auch ein guter Gatte sein werden!«

Damit legte Lord Lincoln seinen Arm um Charley Errols Schulter.

Potter unterbrach ihn hier durch die Bemerkung: »Peer, ich gehe nicht nach England zurück, ehe die Anklage zurückgezogen ist! Ich will nicht eingesponnen werden. Ich nehme meine Doochter mit mir und will eine ruhige Zeit in Paris zubringen!«

Fräulein Potter lief zu ihrem Vater hin und sagte: »Natürlich gehe ich mit dir! Lieber Papa, ich trenne mich nicht mehr von dir, bis –«

»Bis zur Hochzeit,« rief der alte Sampson Potter. »Wir wollen in Paris die Aussteuer besorgen. Paris ist der rechte Ort für Aussteuern. Peer, es wäre am besten, Sie schickten Ihre kleine Doochter auch mit uns!«

Nun aber flüsterte Errol Lord Lincoln zu: »Denken Sie an meinen Vater – an seine Ungewißheit – seine Angst! Kommen Sie, wir müssen es ihm sofort sagen.«

Die beiden waren im Begriff, miteinander fortzugehen, als der Richter plötzlich an der Thür stehen blieb, sich an den Texaner wandte, der von seiner Tochter umschlungen dastand, und fragte: »Entschuldigen Sie die Frage eines Juristen, aber wie und wann haben Sie Ihren Namen geändert?«

»Wie?« gab Potter stolz zurück. »Durch ein Dekret des gesetzgebenden Körpers in Texas! Warum? Weil die demokratische Partei dachte, Sampson Potter sei ein wohlklingenderer Name für einen Mann, der in den Kongreß gewählt werde, als schlechtweg Sammy Potts. So bin ich Herr Potter aus Texas geworden!«

Ende.

 


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