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Die Bibliothek der Lincolnschen Villa befindet sich im Erdgeschoß, und große Flügelthüren machen sie von der in den Garten führenden Terrasse aus leicht zugänglich. Kurze Zeit nach der Abfahrt Herrn Potters trat seine Tochter in das Gemach, weil Arthur mit seinem Vater beschäftigt war. Da sie an den dicken juristischen Büchern, mit denen die Regale überfüllt waren, kein Interesse fand, trat sie in ein kleineres Gemach, das mit dem größeren Raume durch eine nur mit einer Portiere verhängte Thür in Verbindung stand und wo Romane und leichtere Litteratur zu finden waren. Sie setzte sich nieder, um zu lesen, sollte aber schon nach wenigen Minuten zuerst eine Ueberraschung und dann einen Schrecken erleben.
Lord Lincoln trat in die Bibliothek. Durch Herrn Potters Bemerkung aufgeregt, hatte er gerade eine kurze Unterredung mit Arthur gehabt und ihm einige etwas spitze Fragen über Errol vorgelegt, bei denen sein Sohn die Zähne zusammenbiß, indem er an die bleichen Wangen und traurigen Augen seiner Schwester dachte; denn er schrieb die Verspätung Errols nur Lady Annerley zu.
Diese Unterredung wurde aber durch Fräulein Ethel selbst unterbrochen, die zu ihrem Vater gelaufen kam und ihm hübsch errötend zuflüsterte: »Papa, geh in die Bibliothek, er kommt über die Wiese herauf. Ich habe ihn mit dem Opernglas gesehen.«
»Ihn – wen?« fragte der Peer, der ihre Worte nicht gleich begriff.
»Nun, meinen – den Herrn, von dem ich dir gesprochen habe. Papa, wie kannst du denn so schreckliche Fragen stellen? Ich befinde mich doch nicht auf der Zeugenbank,« lachte das Mädchen, das nun wieder so glücklich war wie ein Vogel im Sommer.
»O! ha – Herr Errol!«
»Und ich möchte dir nur noch ein Wort über meinen Charley sagen – ich liebe ihn!« Damit schob sie Lord Lincoln scherzend in die Bibliothek, und ihr Vater wußte, daß sie die Wahrheit sprach, und flehte zu Gott, Herr Potter möchte sich getäuscht haben.
»Das hast du mir gestern etwa zwanzigmal gesagt!«
»Wirklich? Nun, dann sag' ich dir's eben noch einmal! Ich hoffe, daß du ihm ein bißchen vorwärts hilfst; du weißt doch, daß ein junger Mann sehr in Verlegenheit kommt, wenn er den Vater fragt.«
»Mehr, als wenn er die Tochter fragt?« gab der Vater zurück und klopfte ihr auf die Wange.
»O, viel mehr!« versetzte sie in nachdenklichem Ton. »Weißt du, er hat dann seine Begeisterung nicht bei sich – das bin nämlich ich!«
»Dann wäre es besser, die Begeisterung bliebe dabei!«
»O nein! Daran ist gar nicht zu denken! Aber warte nur, bis du meinen Charley siehst, niemand könnte meinem Charley widerstehen. Wenn er sagt: Mein Herz, ich liebe dich, so küssest du ihn, ich meine, ich küsse ihn, ach, ich weiß selbst nicht, was ich spreche!« rief Fräulein Ethel errötend.
»Hältst du es für wahrscheinlich, daß er mich in dieser Weise ansprechen wird?«
»Nein, nicht, wenn du so ein feierliches Gesicht machst. Aber bitte, Papa, halte ihn nicht lange fern von mir. Gib ihm rasch deinen Segen und schicke ihn zu mir in den Garten, und dann will ich das übrige schon besorgen. Sieh einmal, ist sein Verlobungsring nicht sehr hübsch?« Und über ihre Kühnheit selbst erschrocken, läßt Ethel Errols Diamanten ihrem Vater vor den Augen blitzen.
»Und du trägst den Ring, ehe ich meine Einwilligung gegeben habe?« fragte der Vater mit leicht zitternder Stimme.
»Nur weil ich wußte, du würdest sie geben.« Und da sie sah, daß sie ihn verletzt hatte, suchte sie es durch Küsse wieder gut zu machen. Im nächsten Augenblick rief sie: »Er kommt! Vergiß nicht, daß ich im Garten bin!« Und mit einem letzten Kuß entfloh sie.
Nun ist Fräulein Potter, die von der eben stattgehabten, im Flüsterton gesprochenen Unterredung nur wenig gehört hatte, im Begriff, herauszutreten, doch im nämlichen Augenblick schwankt jemand zu der Glasthür herein und sie hört eine Stimme, die sie kennt, die aber heiser und fremd klingt, und dann antwortet Percy Lincoln und auch seine Stimme tönt rauh und scharf, denn auch er ist schwer bedrückt. Die Worte, die sie sprechen, halten Ida zurück und sie steht voll Mitgefühl und Entsetzen hinter den Thürvorhängen und lauscht.
Errols Stimme spricht zuerst: »Sie sind Percy Lincoln, der ehemalige Richter?«
»Und wer sind Sie?« ruft der Peer, denn der Mensch vor ihm ist unrasiert, und seine Kleidung ist die eines Mannes, der die Nacht außer Bett verbracht und sein Weißzeug nicht gewechselt hat, und sein Haar ist verwirrt und seine Augen sind mit Blut unterlaufen.
»Ich bin Charles Errol, der Sohn Ralph Errols, des Sträflings, den Sie vor dreißig Jahren wegen Einbruchs und Diebstahls verurteilt haben, aber ich habe es nicht gewußt bis gestern abend!«
»Mein Gott, wie elend sehen Sie aus, mein armer Junge!« und Lincoln will um Hilfe und Erfrischungen klingeln, aber der andre hält ihn zurück und sagt: »Nein – sie würde kommen, und ich kann ihren Anblick nicht ertragen!«
»Meine Tochter!« seufzt der Lord, aber Errol scheint es nicht zu hören, denn er fährt fort: »Darum habe ich mich hier hereingestohlen. Ich habe nicht geschlafen. Ich habe die ganze letzte Nacht nachgedacht – nachgedacht darüber, daß ich eines Sträflings Sohn, daß ich beim Licht des neuen Tages weder Ihnen noch irgend einem andern Mann mehr ins Antlitz blicken könne, denn ich bin an die Schande noch nicht gewöhnt. Mein Vater hat es mir verheimlicht. O! Hätte er es nicht gethan!« Dann verteidigt sich der arme Bursche: »Ach, ich hätte gewiß keinen Kummer in Ihre Familie gebracht, aber nun flehe ich Sie an, nicht als Vater, sondern als Jurist. Sie haben den Richterstuhl verlassen. Mein Vater sagt, er sei unschuldig, und ich glaube ihm! Helfen Sie mir, seine Unschuld beweisen, um meinetwillen – um Ihrer Tochter willen!«
»Guter Gott! Ethel!« stöhnt der Richter zitternd. Dann sagt er, sich um ihretwillen zur Ruhe zwingend: »Kennen Sie die näheren Umstande von Ihres Vaters Verurteilung?«
»Nein!«
»Um welche Zeit war es?«
»Etwa vor zwei- oder dreiunddreißig Jahren.«
Percy Lincoln schwankte an einen seiner Bücherschränke und fand schließlich ein gebundenes Aktenheft mit der Jahreszahl 1850 und der Aufschrift: » Die Königin contra Ralph Errol«. Er ging an sein Pult zurück, las in diesem Memorandum und fing an, sich des merkwürdigen Falles teilweise zu erinnern. »Einbruch und Diebstahl«, murmelte er; dann gibt er dem armen Menschen, dessen Blicke an seinen Lippen hängen, einen Schimmer von Hoffnung durch die Worte: »Ich habe mein Urteil zu gunsten des Gefangenen abgegeben!«
»Gott segne Sie dafür!«
»Aber die Geschwornen sprachen ihn schuldig! Versuchen Sie, ruhig zu werden, und hören Sie mir zu!« Lincoln bezwang seine eigne Erregung und las Errol folgende Notizen über den Fall seines Vaters vor: »Ralph Errol, fünfundzwanzig Jahre alt, verheiratet, Kommis bei Jaffey und Stevens, Bankiers, Fleetstraße, London. Angeklagt, am 6. Januar 1850 hundert Sovereigns, extra gezeichnet, um den Dieb zu entdecken, gestohlen zu haben! Meine Notizen sind ganz vollständig. Ich habe hier sogar eine Beschreibung der bezeichneten Münzen. Sehen Sie!«
Der Richter legte das Buch vor Charles Errol und las weiter: »Alle diese Sovereigns sind im Jahr 1849 geprägt und waren zwischen den Ziffern acht und vier der Jahreszahl mit einem Kreuz bezeichnet worden.«
Bei diesen Worten hätten sie, wären sie nicht so vertieft gewesen, einen leichten Schrei aus dem Zimmer vernommen, in dem Ida Potter stand und verwundert auf die Münze an ihrem Armband sah.
»Der Gefangene wurde an Bord des australischen Paketbootes verhaftet und an ihm oder bei ihm fand man siebzig Stück von den hundert gezeichneten Sovereigns. Die übrigen dreißig waren, wie man annahm, im Besitz seines Mitschuldigen, des Lehrlings Sammy Potts!«
Hier taumelte das lauschende Mädchen zurück und unterdrückte mit Mühe einen Schreckensschrei.
»Sammy Potts,« sagte Errol heiser; »das ist der Knabe, den mein Vater erwähnt hat.«
Der Richter fuhr fort zu lesen: »Jonas Stevens, der Geschäftsführer von Jaffey und Stevens, bezeugte, die Sovereigns seien bezeichnet worden, um die Diebe zu entdecken, da die Firma durch ähnliche Diebstähle, offenbar von jemand aus ihrer Bank begangen, fünftausend Pfund verloren hatte. Er schien dem Angeklagten freundlich gesinnt und sagte, so viel wie möglich, zu seinen Gunsten aus.«
»Sie sehen, er hielt ihn für unschuldig.«
»Das steht hier nicht,« bemerkte der Rechtsgelehrte, der fortfuhr, zu lesen: »Die innere Thür des Geschäftslokales war erbrochen worden. Die Geschwornen erkannten auf Einbruch. Der Angeklagte machte folgende merkwürdige Aussage: Er hatte beabsichtigt, nach Australien auszuwandern, da er aber wußte, daß die Eltern seiner Frau es nicht gestatten wollten, daß ihre Tochter England verlasse, sicherte er sich im geheimen einen Platz zur Ueberfahrt nach Melbourne, machte seine Ersparnisse von einhundert Sovereigns flüssig, kündigte seine Stellung bei Jaffey und Stevens und verwahrte sein Geld in einem Beutel in seinem Privatpult auf der Bank, ging nach Hause, kam am nächsten Morgen zurück, fand die Thür offen, nahm seinen Beutel mit Sovereigns und begab sich an Bord des Schiffes, wo er mit seiner Frau zusammentraf, wurde vor der Abfahrt verhaftet und eingebracht, wegen Diebstahls seines eigenen Geldes oder was an dessen Stelle untergeschoben worden war. Er schloß mit den Worten: ›Finden Sie Sammy Potts, den Lehrling, der in dem Hause schlief und so geheimnisvoll verschwand und gegen den, als meinen Mitschuldigen, eine Anklage erhoben worden ist – finden Sie die dreißig andern gezeichneten Sovereigns, und Sie haben den Schlüssel dazu, wodurch ich zum Verbrecher gestempelt und als Sträfling aus dem Lande meiner Geburt getrieben werde!‹« Damit schließt Percy Lincoln das Buch.
»Wo ist dieser Jonas Stevens, der für meinen Vater sprach?« bricht Errol los.
»Tot!«
»Ah! Der Tod schneidet mir jeden Weg ab.«
»Er ist ein großer Bankier geworden, der verstorbene Sir Jonas Stevens.«
»Der Vater der Lady Annerley! Deshalb hatte sie so viel Interesse für mich; sie könnte vielleicht helfen –«
»Sie kann nichts von Bedeutung wissen,« erwidert der Richter ruhig, aber bekümmert. »Ihre Sache ist nach so langer Zeit so gut wie ganz hoffnungslos.«
»Sie soll aber nicht hoffnungslos sein!« ruft der Australier mit dem ganzen Feuer der Jugend. »Verlangen Sie jedes Honorar, das Sie wollen, aber helfen Sie mir beweisen, daß meinem Vater unrecht geschehen ist.«
»Jedes Honorar?« flüstert Lord Lincoln und versinkt in Nachdenken.
»Ich flehe Sie nicht an um meinetwillen, auch für Ihre Tochter bitte ich Sie, für ihr Glück.«
»Ihr Glück,« stöhnt der Vater und dann sagt er langsam: »Junger Mann, ich will Ihre Sache in die Hand nehmen.«
»Der Himmel segne Sie.«
»Aber Sie müssen mir mein Honorar bezahlen.«
»Wie viel?«
»Kein Geld.«
»Kein Geld?«
»Ich verlange das Glück meiner Tochter!« ruft der Peer heiser. »Ich werde eine Schrift aufsetzen und Sie müssen sie unterschreiben!« Dabei setzt er sich nieder und schreibt sehr rasch.
»Mein Gott! Ich weiß, was Sie thun wollen – Sie verlangen von mir, daß ich sie aufgebe!« schreit der junge Mann, sinkt in einen Stuhl und starrt auf den Vater der Geliebten, der sie ihm für immer entreißen will.
Und während er so dasitzt, mit dem Rücken gegen das Fenster gewendet, streckt Ethel ihren Kopf herein und ruft: »Papa, du hältst Charley furchtbar lange auf!«
Beim Klang ihrer Stimme schaudern die beiden Männer und blicken einander an, aber keiner wagt, sie anzusehen. Aber obgleich sie nicht hereinkommt, martert sie ihres Liebsten Herz, denn sie wirft ihm scherzend einige Rosen zu und ruft: »Man kann mich im Garten finden!« und läuft singend davon, in lustigem Gegensatz zu dem armen Unglücklichen, der nach den Rosen hascht und stöhnt: »Vielleicht ist dies schon morgen alles, was mir von ihr geblieben ist!« Dann bedeckt er die Blumen mit Küssen und birgt sie auf seiner Brust.
Unterdessen ist seine Herrlichkeit mit Schreiben fertig geworden und sagt: »Hören Sie!« und liest dann feierlich das, was Errol wie sein Todesurteil erscheint: »Ich, Charles Errol, entbinde hiermit Fräulein Ethel Lincoln von jedem Versprechen, das sie mir gegeben hat, und verpflichte mich, nie mehr mit ihr zu sprechen.«
»Unterschreiben und halten Sie dies,« rief der Peer, »und ich will für Ihren Vater arbeiten bis an mein Ende!«
»Sie – Sie wünschen mich ganz von Ihrer Tochter zu trennen?«
»Völlig!«
Aus des alten Mannes Ton hört er kein Mitleid klingen, und verzweifelt bricht Errol los: »Vor dreißig Jahren haben Sie meinen Vater zur Verbannung verurteilt; heute verdammen Sie mich, weil ich sein Sohn bin, zu weit Schlimmerem. Ihre Tochter liebt mich!«
»Dies ist gerade der Grund!« sagt Lincoln tief aufseufzend. »Ich will ihr Leben nicht dadurch verpfuscht sehen, daß sie den Sohn eines Verbrechers heiratet. Die Aussicht, Ihres Vaters Unschuld zu beweisen, verhält sich nicht einmal, wie eins zu tausend.«
»Dann lassen Sie es den Sohn daraufhin wagen!« schreit Errol auf. »Ich besitze alles auf der Welt, Ihr Kind glücklich zu machen – die Familienehre ausgenommen; gewinne ich diese wieder und verliere Ethel, so habe ich nichts als die Ehre. Haben Sie Mitleid mit mir, lassen Sie mir die eine Möglichkeit!«
Er sagt dies in einer Weise, die des Vaters Herz so ergreift, daß er anfängt, sich zu erinnern, daß seine Tochter diesen jungen Mann liebt, der hier so gebrochen und vernichtet vor ihm steht, als hätte er ihm sein Todesurteil verkündigt. Er sieht ihn an und stellt sich seine Ethel vor, wie sie mit der gleichen Verzweiflung im Auge zu ihm aufblickt, und sagt dann nach kurzer Ueberlegung: »Ich will Ihnen diese eine Aussicht lassen!« und zerreißt das Papier. Dann fährt er fort: »Denn ich glaube, Sie lieben mein Kind, aber nun geben Sie mir Ihr Ehrenwort, daß Sie nicht mehr mit ihr sprechen, bis ich es erlaube.«
»Gott segne Sie! Ich gebe Ihnen mein Wort! Aber Sie wollen an meines Vaters Rechtfertigung arbeiten helfen!«
»Ja, und an dem Glück meiner Tochter!« Und er klingelte und befahl seinen Wagen.
»Wohin gehen Sie?« frägt Errol, der seit gestern nacht jetzt zum erstenmale wieder zur Besinnung zu kommen scheint.
»Nach London, um die Akten dieses Falles gründlich zu studieren. Wo kann ich mich mit Ihrem Vater in Verbindung setzen?«
»In Boulogne, er wurde gestern nacht aus England ausgewiesen.«
»Gestern nacht? Hm! Sonderbar, woher das Ministerium so schnell unterrichtet wurde? Das muß ich feststellen,« sagte Lincoln, der nun anfing, sich als Jurist für die Sache zu interessieren.
In diesem Augenblick trat ein Diener ein und sagte: »Ein Mann, Namens Brackett, wünscht Herrn Errol zu sprechen.«
»Dies ist Herr Errol,« erwiderte der Peer, nahm Charley beiseite und fragte: »Wer ist Brackett?«
»Der Detectiv, der meinen Vater aus England fortschaffte. Ich beauftragte ihn, festzustellen, ob irgend jemand das Ministerium des Innern von meines Vaters Ankunft benachrichtigt hat.«
»Ganz recht,« erwiderte der Richter. »Wenn er etwas entdeckt hat, lassen Sie es mich sofort wissen. Meine Londoner Adresse ist der Carletonklub.«
»Wollen Sie ihn nicht sprechen?« fragte Errol.
»Nein, wenigstens nicht jetzt. Ich möchte vorläufig noch nicht als Ihr Berater in dieser Angelegenheit bekannt werden. Selbst wenn Sie Ihres Vaters Unschuld beweisen, so kann er doch vor der Welt nur durch einen Gnadenakt Ihrer Majestät wieder zu Ehren kommen, und meine Fürsprache als Richter, der die Verhandlung leitete, wird mehr Wert haben, wenn ich nicht öffentlich als sein Anwalt auftrete. Sprechen Sie hier mit diesem Mann und telegraphieren Sie mir, was er sagt. Dann entfernen Sie sich um Gotteswillen von hier, ohne daß meine Tochter Sie sieht.«
Damit wandte er sich an den Diener und sagte: »Führen Sie Herrn Brackett herein!«
»Was soll ich dann thun?« fragte Errol.
»Verwenden Sie alle Ihre Zeit darauf, jene dreißig Sovereigns zu finden und Sammy Potts, wenn er noch lebt,« sagte seine Herrlichkeit eilig. »Ich fürchte, dies ist Ihres Vaters einzige Chance.«
Dann ging Lord Lincoln an Brackett vorbei nach seinem Wagen, wo er zu dem Bedienten sagte: »Auf den Londoner Zug! Sagen Sie, daß ich heute nacht zurückkomme!« Während der Fahrt überlegte er hin und her, wie er seiner Tochter die Nachricht am besten beibringen könne; zum erstenmale im Leben fürchtete er, mit ihr zusammenzutreffen.
»Nun?« sagte Charley eilig, als der Sergeant mit seinem Hunde eintrat und diesen auf einen Stuhl setzte, »wo haben Sie meinen Vater verlassen?«
»In Boulogne, im Hotel d'Angleterre. Er schien so glücklich, als dies den Umständen nach möglich war, und trug mir auf, Ihnen dies zu sagen.«
»Ja, er denkt immer an mich, der liebe, alte Mann,« flüsterte Errol vor sich hin, »aber fahren Sie fort!«
»Ich kam gestern nacht nach London zurück und heute morgen warf ich mit Hilfe eines Schreibers im Ministerium des Innern einen Blick auf die Briefe.«
»Auf die Briefe?«
»Ja, es sind deren zwei vorhanden, und dann brachte ich heraus, wer die Nachricht sandte, daß Ihr Vater von Australien erwartet werde.«
»Sein Name?«
»Nicht sein, sondern ihr Name: Lady Annerley!«
»Lady Annerley? Sie ist die liebste Freundin, die ich habe. Sie irren sich!« erwiderte Errol streng.
»Sie können sich auf Witwen und Weiber nie verlassen,« äußerte Herr Brackett ehrerbietig, aber fest, »und ich werde es beweisen.«
»Daß sie mich mit Ueberlegung so grausam verwunden könnte – dies werde ich Ihnen nie glauben!« sagte der Australier sehr warm.
»Aber Sie werden es dennoch glauben müssen!« rief Brackett starrköpfig. »Da ich die Wichtigkeit dieser Frage kannte, habe ich in Ihrem Namen an sie telegraphiert; ich erhielt dies Telegramm als Antwort und folgte Ihnen damit hierher, weil es von Wichtigkeit ist.«
Dann händigte ihm der Detectiv folgende Botschaft ein:
»Ihr Telegramm erhalten. Kommen Sie sicher heute, da ich morgen Boulogne verlassen werde.
Sarah Annerley.«
Nachdem er es zweimal gelesen hatte, warf Charley das Blatt achtlos auf den Schreibtisch des Richters und sagte: »Dies beweist Ihre Behauptung nicht im geringsten.«
»Gehen Sie nach Boulogne, Herr Errol, gehen Sie zu ihr und pumpen Sie sie persönlich aus,« schlug Brackett vor, und als er sah, daß Errol zauderte, fuhr er lebhaft fort: »Ich schwöre darauf! Noch vorgestern hat sie von Paris geschrieben. Ich habe eine Abschrift des Briefes erhalten, ehe ich nach Folkestone ging, um Ihren alten Vater abzufassen, ich habe sie in meinem Taschenbuch.«
Damit zeigte er Errol folgendes: »Der beurlaubte Sträfling Ralph Errol wird morgen nachmittag in Folkestone eintreffen.«
Dann sagte er: »Der Brief zeigte den Poststempel Paris, den 14. Oktober. Befand sich Lady Annerley damals in Paris?«
»Gewiß! Wir waren gerade von Venedig gekommen.«
»Und der erste Brief an das Ministerium ist in Venedig am 9. Oktober aufgegeben worden. Wo war ihre Herrlichkeit um diese Zeit?«
»In Venedig!«
»Sehen Sie? Diese beiden Orte weisen schon auf sie hin. Wer könnte außerdem so von Ihren Bewegungen unterrichtet gewesen sein? Bitte, gehen Sie hinüber und pumpen Sie die Dame aus, und ich folge Ihnen in ein paar Stunden mit einem Facsimile des Briefes, den sie von Italien schrieb.«
So gedrängt, erwiderte Errol: »Gut also, aber bis es bewiesen ist, beschuldigen Sie Lady Annerley nicht eines solchen Verbrechens gegen mich. Lassen Sie uns gehen, Brackett!«
»Ganz recht,« sagte der Detectiv und verließ, von seinem kleinen Liebling gefolgt, das Zimmer.
Errol biß die Zähne zusammen, ging hinter ihnen drein und seufzte innerlich: »Was wird Ethel sagen, wenn ich ohne ein Wort der Erklärung von ihr gehe?«
Er verließ die Bibliothek, ohne in seiner Erregung an Lady Annerleys Telegramm zu denken und ohne das Rauschen eines Kleides zu hören. Fräulein Potter eilte mit blassem, aber entschlossenem Gesicht aus dem kleinen Zimmer, las die Notizen des Richters über den Prozeß Errols und verglich die Beschreibung der Goldstücke mit dem Sovereign an ihrem Armband. »Identisch! Ganz dasselbe!« Dann schrie sie auf: »Der Name in meines Vaters Bibel – Sammy Potts! Es liegt eine Anklage gegen ihn vor wegen eines Verbrechens!« Und dabei legte sie die Hand auf ihr Herz, als ob es verwundet wäre. Aber nach einem Augenblick schon flüsterte sie: »Mein Vater ein Dieb? Abgeschmackt! Ich gehe ihm nach und frage ihn, wie es kommt, daß ich einen Teil des Raubes trage, durch den Ralph Errol zum Verbrecher gestempelt wurde.«
Sie verließ das Gemach, rief ihre Jungfer, schrieb Arthur ein paar Zeilen, in denen sie ihm mitteilte, daß geschäftliche Angelegenheiten sie nötigten, ihrem Vater nach Boulogne zu folgen, schritt die Allee hinab, traf Lord Lincolns zurückkehrenden Wagen, rief den Kutscher an und ließ sich in Begleitung ihrer Zofe nach Folkestone fahren. Dort entdeckte sie, daß das Boot von Dover nach Calais früher fuhr, setzte sich in den Zug nach Dover und machte sich so auf den Weg nach Boulogne.
Nachdem Errol eine Viertelstunde finster neben Brackett dahingeschritten war, blieb er plötzlich stehen und sagte: »Brackett, gehen Sie nach Folkestone voraus und nehmen Sie mir eine Fahrkarte, ich komme Ihnen in ein paar Minuten nach.«
»Sie werden das Boot verfehlen.«
»Das kann ich nicht ändern,« erwiderte der junge Mann. »Ich habe Lady Annerleys Telegramm liegen lassen und muß es um jeden Preis wieder haben!« Und ohne auf die Vorstellungen des Detectivs zu achten, eilte er an dem Wagen, in dem Fräulein Potter saß, vorüber nach der Villa zurück. Sie sahen einander beide nicht. Errol hatte nur den einen Gedanken: »Mein Gott, was wird Ethel denken, wenn sie das Telegramm von Lady Annerley zu Gesicht bekommt?«
Nach Lord Lincolns Haus zurückgekehrt, trat Errol vorsichtig in die Bibliothek, um das Telegramm zu holen.
Während er es sucht, was nicht so rasch geht, weil Fräulein Potter in ihrer Aufregung alle Papiere auf Lord Lincolns Tisch durcheinander geworfen hat, hört er mit Entsetzen den ehrenwerten Teddy rufen: »Komm, Ethel, schnell! Dein junger Mann hat dich im ganzen Garten vergeblich gesucht und ist jetzt in der Bibliothek.«
Um der furchtbaren Verlegenheit, mit ihr zusammenzutreffen, vorzubeugen, läßt er das Telegramm im Stich und stürzt auf die Glasthür zu, allein in demselben Augenblick tritt Arthur ein und fragt: »Nun, Charley, mein Junge! Wie hat dich der Alte empfangen? Alles in Ordnung, wie?« Worauf Errol erwidert: »Ja, aber ich muß jetzt gehen, doch bevor ich gehe –« als er aber dem jungen Mann eine weitere Erklärung geben will, kommt auch schon Ethel hereingelaufen und ruft: »Warum bist du nicht zu mir in den Garten gekommen?«
»Du wolltest gehen, ohne meine Schwester gesehen zu haben?« bemerkte Arthur etwas herausfordernd, denn er ist schlechter Laune, weil er soeben das Briefchen seiner Verlobten empfangen, und van Cott sich über seinen Schwiegervater lustig gemacht hat in einer Weise, die er nicht rügen konnte, etwa so: »Meiner Six, ist Fräulein Potter nicht ein edles Mädchen? Sie liebt diesen Vater wirklich und ist stolz auf ihn!« etc. etc.
All dies beachtet Fräulein Ethel nicht; sie fragt mit Augen und Mund: »Was hat Papa gesagt?«
»Er ist nach London gegangen,« stammelte Errol.
»Charley, was hat's gegeben?« ruft das Mädchen. »Warum antwortest du nicht? O, Papa kann dich nicht abgewiesen haben.«
»Ich – ich habe gar nicht bei ihm angehalten,« sagte Errol, zur Verwunderung der Geschwister in verdrießlichem Ton.
»Nicht angehalten?« Ethels Lippen zitterten, und in ihre Augen, die vorwurfsvoll blickten, traten Thränen.
»Zum Henker, wozu bist du dann hergekommen?« fragte Arthur heftig, denn er hatte nun etwas gefunden, an dem er seinen Aerger auslassen kann; außerdem war er am Tage vorher von Errols Benehmen gegen Lady Annerley auch nicht erbaut gewesen.
»Ich – ich kann euch nichts sagen,« stammelte der Australier, dessen ganze Seele sich gegen den Gedanken empörte, dem Weib seiner Liebe zu sagen, daß er der Sohn eines Sträflings sei.
»Ich bestehe darauf, alles zu erfahren!« erwidert Arthur. »Deine Anwesenheit hier ist, wenn du nicht gesprochen hast, eine Beleidigung für meine Schwester.«
Aber Ethel ruft: »Nein, nein, Arthur! Charley liebt mich und beleidigt mich nicht.«
»Ich dich beleidigen,« stöhnt ihr Geliebter, denn das Mädchen fährt fort, ihn bei seiner Liebe zu beschwören, er solle ihr sagen, warum er nicht gesprochen habe.
Errol rafft sich zusammen und sagt, ihr fest ins Auge blickend: »Ich flehe euch an, mir zu glauben, auch ohne daß ich rede. Ethel, willst du mir vertrauen, auch wenn ich schweige, bis ich wiederkomme?«
Hier tritt aber Arthur zwischen sie und sagt: »Als der Bruder dieser jungen Dame fordere ich jetzt eine Erklärung. Du gehst – wohin?«
»Nach Boulogne!« erwidert Errol heiser.
Diese Worte entsetzen seine Liebste und sie ruft: »Nach Boulogne? Trotz deines Versprechens? Du hast mir doch dein Wort gegeben, Lady Sarah nicht zu besuchen!«
Ihr Bruder wird blaß vor Wut und verächtlich sagt er: »Und du hast dich so tief erniedrigt, Ethel, ein Versprechen zu verlangen, das ganz überflüssig gewesen wäre, wenn er dich liebte?«
Errol antwortet nicht auf diese Beschuldigung, sondern nimmt Arthur beiseite und flüstert ihm zu: »Wenn du darauf bestehst, alles zu wissen, so wirst du durch das Buch auf deines Vaters Pult erfahren, warum ich nicht mit deiner Schwester sprechen darf, aber sage ihr um Gotteswillen nichts!« Damit wendet er sich um und will gehen.
Allein nachdem er eine Sekunde gesucht hat, findet Arthur statt des Buches, das Ida hat zur Erde fallen lassen, das Telegramm, liest es und ruft: »Hier ist kein Buch, aber dies Telegramm von Lady Annerley beweist, daß du ein Schurke bist!«
»Ein Schurke?« wiederholt Errol und geht auf ihn zu; aber Ethel schreit: »Nein, nein!« und wirft sich zwischen die beiden, während ihr Bruder sagt: »Schwester, dieser Mann hat deine Liebe gewonnen und sollte heute bei deinem Vater um deine Hand anhalten! Trotzdem reist er heute Lady Annerley und ihrem Gelde über den Kanal nach! Dies Telegramm beweist es!«
Bei diesen Worten stöhnt Ethel: »Charley!« und blickt ihn mit unsäglichem Vorwurf an.
Dieser Blick macht Bruder und Liebhaber toll, und die Leidenschaft tritt an die Stelle der Vernunft.
»Ethel, glaube ihm nicht,« flüstert Errol, und dann schreit er auf: »Arthur, du wirst dies noch bereuen!«
»Dann sprich!« ruft ihr Bruder.
»Sag ihr, ich sei – ich kann nicht!«
»Dann werde ich auch dies nicht bereuen!« und damit schlägt er dem Australier seinen Handschuh ins Gesicht und höhnt: »Bist du ein Feigling?«
Denn Errol schwankt auf seinen Füßen bei dieser furchtbaren Beschimpfung in Gegenwart des Mädchens, das er liebt, obgleich er zu wachsen scheint, und seine Augen den Ausdruck annehmen, den sie zeigten, als er in Aegypten den Armenier und den Griechen zum Tode verurteilte.
»Nein!« schreit er heiser und stürzt auf Arthur los, aber obgleich von Wut geblendet, sieht Errol doch noch das Antlitz der verlornen Geliebten, die sich zwischen ihn und seinen Feind stürzt und weinend ruft: »Arthur, mein Bruder! Charley, mein Geliebter!« und ihre kleinen Hände aufhebt gegen die beiden Männer, die sich in wilde Tiere verwandelt haben. Geläutert durch die Leiden des letzten Tages blickt Errol Arthur an und beschämt ihn: »Du bist ihr Bruder!« keucht er, schwankt aus dem Zimmer und verläßt das Haus.