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Der jüdische Hellenismus ist in der Entwicklung des Judentums eine vorübergehende Erscheinung. Die Form jüdischer Religion, die seit den letzten Jahrhunderten des Altertums die Herrschaft besitzt und für die mittelalterliche und neuzeitliche Entwicklung des Judentums die Grundlage bildet, ist das in Palästina und Babylonien entstandene talmudische Judentum. Bis zum Ende des ersten nachchristlichen Jahrhunderts standen sich auch im palästinensischen Judentum die mannigfachsten religiösen Richtungen gegenüber, und die in Palästina entstandenen Teile der Apokryphenliteratur zeigen, wie stark auch die dortigen Juden von dem religiösen Synkretismus des ausgehenden Altertums ergriffen waren. Seit der Zerstörung des zweiten Tempels durch Titus (70 n. Chr.) verschwanden jedoch die dem pharisäisch-talmudischen Judentum gegenüberstehenden Richtungen sehr schnell, und dieses selbst schloß sich fester in sich ab als zuvor. Die Bedeutung des Talmuds für die Folgezeit liegt in erster Reihe auf dem uns hier nicht interessierenden religionsgesetzlichen Gebiet. Die gottesdienstlichen, zeremonialgesetzlichen und rechtlichen Bestimmungen des Talmuds haben dem religiösen Leben des Judentums in der Folgezeit seine feste Form gegeben, die bis ins ausgehende achtzehnte Jahrhundert unerschüttert geblieben ist. Die religiösen Grundvorstellungen des Judentums haben in ihm niemals eine ähnlich feste und abschließende Formulierung erfahren. Der Talmud macht niemals den Versuch, die Glaubenswahrheit des Judentums in eine feste Form zu bringen, und die Grenze zwischen dem Allgemeingültigen und dem Individuellen bleibt überall fließend. Weit mehr noch als auf religionsgesetzlichem Gebiet unterscheiden sich hier die Einzelnen und die Zeiten. Von den letzten vorchristlichen Jahrhunderten, in denen die Anfänge der talmudischen Entwicklung liegen, bis zum Abschluß des Talmuds am Ende des fünften Jahrhunderts, treten sehr verschiedenartige religiöse Vorstellungen auf. Auch von den in der synkretistischen Zeit in das Judentum eingedrungenen fremden Vorstellungen kehrt ein guter Teil in der talmudischen Literatur wieder, wenn auch vieles davon, wie etwa die aus den Apokryphen bekannten phantastischen Ausmalungen der Eschatologie, nur noch als Phantasiespiel gilt oder nur im Volksglauben weiter wuchert. Dennoch läßt sich ein gemeinsamer Grundbestand des Glaubens mit Sicherheit feststellen, und auch er hat für die Folgezeit maßgebende Bedeutung besessen.
Der Glaube des talmudischen Judentums ruht ganz auf biblischem Grunde. In seinem Mittelpunkt stehen die einfachen großen Gedanken der biblischen Religion, ihr überweltlicher Gott und sein in der Tora verkörpertes sittliches Gebot, die sittliche Gemeinschaft von Gott und Mensch, die Weisheit und Gerechtigkeit der göttlichen Weltregierung, die Erwählung Israels und die Verheißung des kommenden Gottesreichs. Die lebendige Realität Gottes wird durch keine Reflexion abgeschwächt. Was sich an Spekulationen über Hypostasen und Mittelwesen findet, hat keinerlei Tendenz, die unmittelbare Gegenwart Gottes anzutasten und ihn in eine unnahbare Ferne zu rücken. Er wirkt in der Gegenwart so unmittelbar wie in der Vergangenheit. Prophetie und Wundertaten der biblischen Zeit gehören freilich der Vergangenheit an und das von den Propheten verheißene Heil soll erst die Zukunft bringen. Dieser Abstand der Gegenwart von den großen Gottesoffenbarungen der Vergangenheit und der Zukunft folgte notwendig aus dem geschichtlichen Offenbarungsbegriff des Judentums und seiner geschichtlichen Heilserwartung; und dieselben Ursachen haben im Christentum und Islam zu der gleichen Unterscheidung der Gegenwart von der Zeit der Offenbarung geführt. Aber auch ohne solche große geschichtliche Offenbarung fühlte man Gott im eigenen Leben unmittelbar gegenwärtig, das persönliche Leben des Einzelnen stand unter derselben göttlichen Vorsehung wie das der Väter, und den auserwählten Frommen wurden auch Wunder zuteil, die freilich mit denen der Propheten nicht vergleichbar waren [R56]. Um das Bewußtsein dieser Gottesnähe auszudrücken, scheute das Spiel der religiösen Phantasie vor den kühnsten Anthropomorphismen nicht zurück: um die Bedeutung des Torastudiums zu kennzeichnen, ließ sie Gott selbst sich mit der Tora beschäftigen; den Glauben an die durch die Verfolgungen Israels nicht aufgehobene Innigkeit der Gemeinschaft zwischen ihm und Gott kleidete sie in die Form, daß Gott über die durch ihn verhängten Leiden Israels klage, ja daß er mit seinem Volke in die Verbannung ziehe [R57]. Aber nicht nur diese Äußerungen der religiösen Phantasie, auch die biblischen Anthropomorphismen wurden als solche klar erkannt. Man wies darauf hin, wie sich Gott je nach der besonderen geschichtlichen Situation in einem anderen Bilde offenbare, wie sich in den Schilderungen der Propheten ihre Individualität geltend mache, ja wie bei der Offenbarung am Sinai jeder Einzelne Gott in besonderer Weise erblickt habe [R58]. Diese Gedanken sind niemals systematisch durchgeführt worden und haben nirgends zu dem Versuch geführt, die bloß anthropomorphen Ausdrucksformen von dem eigentlichen Sinn der Gottesvorstellung streng abzuscheiden. Ihr Sinn ist gleichwohl klar: der Gedanke des persönlich-sittlichen Wesens Gottes bleibt von aller Kritik unangetastet, er ist es, der den mannigfaltigen Bildern als ihr einheitlicher Sinn zugrunde liegt.
Die leidenschaftliche Gewalt des religiösen Ethos der Propheten ist der ruhigeren, gehalteneren, manchmal vielleicht nüchternen Stimmung einer an Geschichte und Tradition gebundenen Frömmigkeit gewichen, ohne daß darum der aktivistische Charakter der Religion verlorengegangen wäre. Im Mittelpunkt des religiösen Lebens steht das göttliche Gebot, das sich an den Willen des Menschen richtet und ihm den Weg zur Gemeinschaft mit Gott vorzeichnet. Die religiöse Bestimmung des Menschen wird in verschiedenen Formen gefaßt. Die Frömmigkeit ist nicht nur Befolgung des göttlichen Gesetzes, sondern Nachahmung des göttlichen Vorbildes. Sowohl das Gebot der Bibel, heilig zu sein, wie Gott es ist, als auch ihre Mahnung, in den Wegen Gottes zu wandeln, wird als Aufforderung zur Nachahmung der göttlichen Liebe und Barmherzigkeit gedeutet [R59]. Die Liebe zu Gott und die vertrauende Hingabe an ihn gelten als die Grundlage der rechten Gebotserfüllung. So sehr die religiöse Gesinnung damit über einen starren Willensgehorsam hinauswächst und so sehr die religiöse Aktivität in der inneren Ergriffenheit von Gott verwurzelt ist, die Frömmigkeit bleibt deshalb doch eine Frömmigkeit des Gebots und der Aufgabe. Demgemäß wird die sittliche Freiheit nachdrücklich behauptet und das Tun des Menschen auch im Verhältnis zur göttlichen Allmacht als sein eigenes Werk betrachtet. Die Verkörperung des göttlichen Willens ist die Tora und die Erfüllung ihrer Gebote ist die Israel von Gott gesetzte Aufgabe. Die Universalität des göttlichen Gebots wird durch den Gedanken einer »noachidischen« Uroffenbarung aufrechterhalten, welche die Grundlagen der Sittlichkeit enthält und sich an alle Völker richtet [R60]. Die vollendete Form der göttlichen Offenbarung aber ist doch die Israel gegebene Tora. Als gottgegebenes Gesetz hat sie in allen ihren Teilen, in ihren ritualen wie in ihren sittlichen Vorschriften, gleich unverbrüchliche Geltung, und die religiöse Aufgabe Israels umfaßt die einen so gut wie die anderen. Diese aus dem biblischen Gedanken der offenbarten Gesetzgebung notwendig folgende Konsequenz der gleichen formalen Autorität aller Teile des biblischen Gesetzes vertrug sich durchaus damit, daß inhaltlich zwischen Zentralem und Peripherem, zwischen Zweck und Mittel unterschieden wurde. Die zeremonialen und kultischen Teile der biblischen Gesetzgebung werden oft im Talmud als Mittel für die letzten sittlichen Zwecke des göttlichen Gesetzes gedeutet und diesen, unbeschadet ihres gemeinsamen göttlichen Ursprungs, grundsätzlich untergeordnet [R61]. Psychologisch freilich kann bald die eine, bald die andere Seite des Sachverhaltes in den Vordergrund treten und im einen Falle die Durchdringung aller Gebotserfüllung mit sittlicher Gesinnung, im anderen eine Verwischung der Unterschiede zwischen Ethischem und Ritualem zur Folge haben.
Die messianischen Verheißungen der Propheten bildeten den Halt und die Stütze der jüdischen Gemeinde. Die Umbildung der einfacheren prophetischen Zukunftserwartung durch die in den letzten vorchristlichen Jahrhunderten entstandenen komplizierten eschatologischen Vorstellungen, die Verschiedenheit zwischen den mehr nationalen und den mehr universalen Fassungen des messianischen Ideals, die wechselnden Vorstellungen von der Nähe oder Ferne der messianischen Zeit brauchen hier, so wichtig und konsequenzenreich sie zum Teil sind, nicht erörtert zu werden. Der geschichtliche Charakter der prophetischen Zukunftserwartungen bleibt in allen diesen Abwandlungen erhalten. Eine Zukunftshoffnung grundsätzlich anderer Art ist dagegen im Auferstehungs- und insbesondere im Unsterblichkeitsgedanken gegeben. Der Auferstehungsglaube schließt sich seinen Motiven und seinem Inhalte nach eher noch an die geschichtliche Zukunftserwartung an. Die Auferstehung soll in der Endzeit eintreten und die Auferstandenen sollen an ihren Wundern Anteil haben. Mit der Ewigkeitshoffnung des Individuums verbindet sich so der Gedanke, daß auch die vergangenen Geschlechter an dem verheißenen Gottesreich teilnehmen. Im Rahmen der geschichtlichen Heilserwartung der Gemeinschaft wird auch die persönliche Hoffnung des Einzelnen auf ein ewiges Leben befriedigt. In dem reinen Unsterblichkeitsglauben dagegen rückt beides ganz auseinander. Vielfach freilich tritt der Gedanke der Unsterblichkeit hinter dem der Auferstehung zurück. Ähnlich wie in der apokryphischen Literatur findet sich auch im Talmud die Vorstellung, daß sich die Seele vom Tode bis zur Auferstehung in einem Zwischenzustand befindet, und daß die eigentliche Vergeltung erst nach der Auferstehung eintritt [R62]. Daneben aber fehlt nicht der Glaube an eine dem Tode unmittelbar folgende Vergeltung und ein Heil der Seele in einer jenseitigen Welt [R63]. Bei dieser Vorstellungsweise hat die Zukunftshoffnung des Individuums keine Beziehung mehr zur Geschichte. Die zukünftige Welt der jenseitigen Vergeltung ist eine andere als die des kommenden Gottesreiches auch in seiner eschatologischen Umbildung. Sie folgt nicht zeitlich auf die gegenwärtige Weltordnung, sondern ist eine von Ewigkeit bestehende überzeitliche Wirklichkeit, die sich der Seele erschließt. Die Weltbetrachtung steht jetzt vor dem doppelten Gegensatz der geschichtlichen Gegenwart und des kommenden Gottesreiches einerseits, des irdischen und überirdischen Lebens andrerseits. Beides braucht sich nicht zu beeinträchtigen. Die ursprünglich jüdische, geschichtliche und gemeinschaftsbezogene Zukunftserwartung hat an Kraft und Intensität durch den individuellen Unsterblichkeitsglauben nicht verloren, ja dieser läßt auch den Auferstehungsgedanken neben sich bestehen. Aber die religiöse Weltdeutung als Ganzes hat doch eine entscheidend neue Wendung erfahren und die spätere Entwicklung des jüdischen Denkens findet hier Ansatzpunkte zu sehr verschiedenartiger Weiterbildung.
Aus dem Jenseitsglauben ergab sich eine veränderte Beurteilung der diesseitigen Welt. Es blieb nicht dabei, daß diese im Jenseits ihre Ergänzung findet, und daß die Härten des irdischen Weltlaufs dort ausgeglichen werden, vielmehr wurde oft die letzte Bestimmung des Menschen in das Jenseits verlegt und dieses Leben wurde zur Vorbereitung für die kommende Welt, mochte diese nun im Sinne des Auferstehungs- oder Unsterblichkeitsgedankens verstanden werden. Im Vorgemach dieser Welt soll sich der Mensch nach einer bekannten Talmudstelle für den Eintritt in das Festgemach des Jenseits rüsten [R64]. Die Seligkeit des Jenseits soll darin bestehen, das die Frommen den Anblick der göttlichen Herrlichkeit genießen [R65]. Das muß indessen von der dualistischen Abwertung der sinnlichen Welt, wie sie sich unter dem Einfluß Platons bei Philon findet, wohl unterschieden werden. Der Talmud hält an der biblischen Bejahung der diesseitigen Welt nachdrücklich fest und bezieht das Wort der Schöpfungsgeschichte »Gott sah Alles, was er geschaffen hatte, und es war sehr gut« gleichmäßig auf beide Welten [R66]. Die sinnlichen Lebensgüter werden mit Unbefangenheit genossen, und nur ganz vereinzelt macht sich eine Neigung zu asketischer Enthaltsamkeit geltend. Wichtiger noch ist, daß die Auffassung des Sinnes der Sittlichkeit sich von der Wendung zur Asketik frei hält. Das sittliche Tun wird wohl als Bewährung für das Jenseits aufgefaßt, aber es hat nicht den negativen Sinn einer Loslösung von der Sinnlichkeit, sondern hat als Dienst Gottes in dieser Welt, als Verwirklichung seines Willens und als Aufbau der Gemeinschaft unter den Menschen seinen durchaus positiven Sinn. Der religiöse Wert der sittlichen Tat behauptet sich auch der jenseitigen Gemeinschaft mit Gott gegenüber, die Erfüllung des göttlichen Willens ist ebenso Gemeinschaft mit Gott wie die Seligkeit des Jenseits. Derselbe Lehrer, der das Diesseits nur als die Vorhalle der kommenden Welt betrachtet, sagt, daß zwar eine Stunde jenseitiger Seligkeit schöner sei als alles diesseitige Leben, daß aber eine Stunde der Buße und guter Werke schöner sei als das ganze Leben der künftigen Welt.
Was eben für die Auffassung der Welt ausgeführt wurde, gilt in gleicher Weise auch für die Auffassung des Menschen. Schon in der Bibel wird dem Geist des Menschen göttlicher Ursprung zugeschrieben. Nunmehr aber kommt es zu einem durchgeführten Dualismus. Seele und Körper werden einander scharf gegenübergestellt. Durch seine zum ewigen Leben bestimmte Seele gehört der Mensch der höheren Welt des Geistes, durch seinen Körper der irdischen Welt an. Durch seine Seele gleicht er den Engeln, durch den Körper den Tieren. Das Verhältnis der Seele zum Körper wird, wie schon in der Stoa und bei Philon, mit dem Verhältnis Gottes zur Welt verglichen [R67]. Auch die Vorstellung der Präexistenz der Seele ist dem Talmud nicht fremd [R68]. Die höheren Kräfte des Menschen, Erkenntnis und sittliches Bewußtsein, werden seiner Seele, seine niederen Eigenschaften dem Körper zugeschrieben. Aus seiner Mittelstellung zwischen höherer und niederer Welt wird es abgeleitet, daß er, wenn er dem Gebote Gottes folgt, sich zur Stufe der Engel erheben, wenn er es übertritt, auf die Stufe des Tieres sinken kann [R69]. Aber dieser Dualismus hält sich davon fern, in der Sinnlichkeit des Menschen als solcher das Böse zu sehen. Der Körper ist nicht das Prinzip des Bösen, und demgemäß besteht auch die sittliche Aufgabe nicht in der Loslösung vom Körper. Der Kampf zwischen Gut und Böse spielt sich in der Seele selbst ab. In ihr stehen der gute und böse Trieb einander gegenüber [R70]. Beide sind zwei Richtungen des Willens, zwischen denen der Mensch sich zu entscheiden hat. Als die Quelle der Versuchung wird die Sinnlichkeit wohl manchmal mit dem bösen Trieb identifiziert, ist aber als solche sittlich indifferent und hat in ihrer Sphäre ihr gutes Recht. So sehr der Talmud die Bedürfnislosigkeit des Frommen rühmt, gilt ihm doch die sittlich gezügelte Sinnlichkeit für unbedenklich und der Körper als ein Bestandteil der gottgewollten Natur des Menschen. Selbst der böse Trieb gehört notwendig zur menschlichen Natur, und es findet sich die eigentümliche Forderung, Gott mit beiden Trieben, dem guten wie dem bösen, zu lieben [R71]. Auch von dieser Seite her betrachtet ist die sittliche Aufgabe nicht Loslösung von der sinnlichen Welt, sondern Dienst Gottes in ihr, der das Ganze der menschlichen Kräfte in Anspruch nimmt. Körper und Sinne werden der Seele untergeordnet und sollen von ihr in ihren Dienst genommen werden, stehen ihrer Bestimmung aber nicht als feindliche Mächte gegenüber. Der ganze eben entwickelte Vorstellungszusammenhang aber, der Glaube an eine sich über der Sinnenwelt erhebende Welt des Geistes, die Bestimmung der Seele für das Leben im Jenseits und der Dualismus in der Auffassung des Menschen ließ sich nicht allzuschwer nach der Seite einer asketisch-kontemplativen Religiosität hin umbiegen, und es war damit die Einbruchspforte gegeben, durch die in der mittelalterlichen Philosophie die neuplatonische Religiosität auch ins Judentum eindringen konnte.
Mit dieser inhaltlichen Weiterbildung verbindet sich ein nicht weniger bedeutungsvolles formales Moment, die Herausbildung eines theoretischen Denkens, das sich auf den Inhalt der Religion richtet. Die Reflexion über die religiösen Grundfragen ist nicht, wie etwa in den späteren Propheten und im Buche Hiob, nur ein Moment des religiösen Bewußtseins selbst, das sich mit ihrer Hilfe aus seinen Zweifeln und Nöten zu befreien sucht, sondern gewinnt selbständige Bedeutung. Wie das biblische Religionsgesetz werden auch die religiösen Grundvorstellungen der Bibel in der talmudischen Literatur zum Gegenstand theoretischen Denkens. Besonders auf ethischem Gebiet wird vielfach eine hohe Stufe der Abstraktion erreicht. Interessant ist hier schon der Versuch, den ganzen Inhalt der biblischen Gebote auf ein oberstes Prinzip zurückzuführen. Genau wie im Neuen Testament wird auch im Talmud die Frage nach dem »größten Grundsatz« der Tora gestellt, und ein Talmudlehrer findet ihn in dem Gebote: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst« (Leviticus 19, 18), ein anderer in dem Satz »Dies ist das Buch der Entstehung des Menschen, am Tage da Gott den Menschen erschuf, hat er ihn im Ebenbilde Gottes erschaffen« (Genesis 5, 1). In gleichem Sinne läßt eine bekannte Legende einen der hervorragendsten Talmudlehrer, Hillel, sagen, die Regel: »Was du nicht magst, tue auch deinem Nächsten nicht«, sei die ganze Tora und alles übrige nur ihre Erläuterung [R72]. Mit dem Gedanken, daß die Liebe zum Nächsten das höchste sittliche Gebot ist, geht der Talmud über den Inhalt der Bibel nicht hinaus, neu ist nur die theoretische Form, in der er hier auftritt; die Auszeichnung des Liebesgebotes als des obersten Grundsatzes, der das Ganze des biblischen Gesetzes umfaßt, oder die Behauptung, die ganze Tora sei nur die Erläuterung der obersten sittlichen Regel, der in beiden Stellen stillschweigend mit den sittlichen Geboten auch die ritualen Vorschriften untergeordnet werden. An anderer Stelle wird im Anschluß an das biblische Gebot: »Meine Rechte sollt ihr erfüllen und meine Satzungen beobachten« (Leviticus 18, 4) der Unterschied zwischen sittlichen und ritualen Geboten scharf herausgehoben. Die Rechte, welche die sittlichen Gebote der Bibel umfassen, werden als Gebote bezeichnet, die, auch wenn sie nicht geschrieben ständen, hätten geschrieben werden müssen. Der Mangel an Evidenz der ritualen Satzungen wird dahin ausgedrückt, daß sie den Einwendungen des »bösen Triebes« und der heidnischen Völker ausgesetzt seien [R73]. Wiederum ist der Gedanke von der inneren Evidenz der sittlichen Gebote, die Gott dem Menschen gibt, durchaus biblisches Erbe. Das Neue ist auch hier seine theoretische Form. Die in der Bibel implizite vorausgesetzte Evidenz des sittlichen Gesetzes wird hier unter ersichtlicher Anlehnung an den griechischen Begriff des ἄγραφος νόμος auf die pointierte Form gebracht, daß die sittlichen Gebote ihrem Wesen nach den Anspruch hatten, niedergeschrieben zu werden. Zugleich freilich wird hinzugefügt, daß die solcher Rationalität entbehrenden biblischen Satzungen als göttliche Gebote ebenso unbedingt gültig seien wie die Rechte Gottes. Der oben dargelegte Sachverhalt, daß für den Talmud das Ganze des biblischen Gesetzes seines göttlichen Ursprungs wegen mit gleicher Unbedingtheit gilt, trotzdem aber sittliches und zeremoniales Gebot ihrer inhaltlichen Bedeutung nach scharf voneinander geschieden werden, ist hier mit voller Klarheit ersichtlich.
Trotz starker und bis ins einzelne hinein kasuistisch durchgebildeter Betonung des Vergeltungsgedankens fordert der Talmud die uneigennützige Erfüllung des göttlichen Gebotes. Die Forderung als solche hat uns in unserem jetzigen Zusammenhange nicht zu beschäftigen. Wichtig ist nur die theoretische Bestimmtheit, mit der der Gedanke auftritt. In dem bereits erwähnten Spruch: »Schöner ist eine Stunde der Buße und guten Werke in dieser Welt als alles Leben der künftigen Welt, und schöner eine Stunde der Seelenerquickung der künftigen Welt als alles Leben dieser Welt«, ist es das religiöse Pathos, das sich der Sprache des Begriffes bedient. Anderwärts wird die Forderung in nüchterner Theorie behandelt. Im Anschluß an das biblische Gebot der Gottesliebe wird der Unterschied zwischen dem, der Gott aus Liebe, und dem, der ihm aus Furcht dient, dargelegt, und in der Form religionsgesetzlicher Diskussion wird die Frage, ob die Erfüllung des göttlichen Gebotes nur dann einen Wert habe, wenn sie um seiner selbst willen geschehe, oder auch, wenn dies nicht der Fall sei, erörtert und dahin entschieden, daß die Gebotserfüllung auch dann einen Wert habe, wenn sie nicht um des Gebotes selbst willen erfolge, weil man von hier aus dazu gelange, es um seiner selbst willen zu befolgen [R74]. Mit dem Ideal der Gesetzeserfüllung verband sich das des Torastudiums, das als göttliches Gebot galt und zugleich dem Bildungsstreben die höchste Erfüllung bot. In dieser speziellen Anwendung erwuchs so dem Talmud die Frage nach dem Primat von Theorie oder Praxis. Wird einmal das Studium der Tora der Erfüllung aller Gebote gleichgestellt, ein andermal erklärt, nicht die Forschung, sondern die Tat sei die Hauptsache, so findet sich daneben auch der Versuch, beide Gesichtspunkte zum Ausgleich zu bringen. Die Frage, ob das Studium oder die Gesetzeserfüllung höher stehe, wird zugunsten des Studiums entschieden, aber mit der Begründung, daß es zur Gesetzeserfüllung führe [R75].
An einigen mit dem ethischen Gebiet zusammenhängenden Fragen sei auch die theologische Behandlung dogmatischer Probleme beleuchtet. Der Glaube an die menschliche Freiheit, der in der Bibel als unmittelbare religiöse Überzeugung herrscht, nimmt im Talmud die Gestalt eines Lehrsatzes an. Mit der Vorliebe des Talmuds für pointierende Zuspitzung der Gedanken heißt es: »Alles kommt von Gott, außer der Gottesfurcht« [R76]. Die Schwierigkeit, die menschliche Freiheit mit der göttlichen Allwissenheit zu vereinen, wird deutlich erkannt, eine Lösung freilich nicht versucht, sondern an beiden Glaubenssätzen festgehalten: »Alles ist vorhergesehen, die Freiheit gegeben, die Welt wird mit Güte gerichtet und alles geht nach der Mehrheit der Taten« [R77]. Der Schluß dieses Satzes betrifft eine Frage, die ebenfalls das Denken des Talmuds viel beschäftigt hat. Wo liegt die Grenze zwischen dem Guten und dem Bösen, wenn wir bedenken, daß auch der Gute nicht ohne Sünde und der Böse nicht ohne Gutes ist? Die Antwort lautet, freilich primitiv genug, daß der Mensch je nach dem Überwiegen guter oder böser Handlungen als gut oder böse zu betrachten ist [R78]. In mannigfachen Formen wird das biblische Thema vom Leiden der Frommen und Wohlergehen der Frevler erörtert. Der Jenseitsglaube hatte der Frage zwar ihre Schärfe genommen, aber sie theoretisch nicht erledigt. Der Sinn des Leidens blieb nach wie vor ein Rätsel. Der Talmud antwortet mit dem Gedanken der läuternden Kraft des Leidens und dringt mit dem, was er über den Sinn des Leidens sagt, bis in letzte religiöse Tiefen [R79]. Daneben aber steht die mechanisierende Lösung, daß das diesseitige Leiden des Frommen die Strafe für die von ihm begangenen Sünden, das Wohlergehen des Frevlers die Belohnung für seine guten Taten ist, während beide die eigentliche Vergeltung erst im jenseitigen Leben zu erwarten haben [R80].
Für die Art dieser Gedankenbildung ist auch die Form, in der sie sich ausspricht, bezeichnend. Die Schärfe und Prägnanz der Formulierung, auf die wir mehrfach hingewiesen haben, zeigt, in wie hohem Maße dieses Denken des Begriffes mächtig war. Auf ihrer Höhe offenbart sich diese Fähigkeit begrifflichen Formulierens in den Sentenzen, in denen die Lehrer des Talmuds zentrale ethische und religiöse Gedanken in konzentrierter Form zusammenfassen. Die Kunst solcher sentenziöser Formulierung ist in den Schulen der Talmudlehrer ersichtlich gepflegt worden. Ein Traktat der Mišna bringt von den bekanntesten Gelehrten eine Anzahl solcher Sprüche, die sogenannten Sprüche der Väter (Pirqe Abot), von denen einige oben angeführt sind. Vergleicht man sie etwa mit der biblischen Spruchweisheit, so sieht man auf den ersten Blick die völlige Verschiedenheit nicht nur der Themen und Motive, sondern fast mehr noch der Denkform. Die talmudische Sentenz ist ganz auf die Schärfe der Abstraktion gestellt und hat ihren Reiz in der schlagenden Pointierung oder der gedrungenen Knappheit der Form. Der vorhin angeführte Spruch über das Verhältnis von göttlicher Vorsehung und menschlicher Freiheit klingt fast wie eine Theologie in zwei Sätzen und steht mit dieser Kraft der Konzentration keineswegs allein. Auch wo diese Kunstform der Sentenz aber nicht beabsichtigt ist, hat die Fassung des Gedankens vielfach einen ähnlichen Charakter. Das Wort von den Geboten, die niedergeschrieben werden müßten, auch wenn sie nicht niedergeschrieben wären, oder der Satz, daß alles von Gott ist außer der Gottesfurcht, stehen an Schärfe der Zuspitzung hinter den eigentlichen Sentenzen kaum zurück. Eine genauere formale Analyse, wie sie bisher noch kaum versucht worden ist, würde über dieses Allgemeinste hinaus eine Reihe typischer Formen der Begriffsbildung aufzeigen können, die bei der Behandlung religiöser Grundfragen dauernd wiederkehren.
Für unseren Zweck müssen diese andeutenden Hinweise genügen. Sie lassen zugleich auch die Schranke erkennen, innerhalb deren dieses Denken sich bewegt. Schon seine Form zeigt, daß es nicht auf systematische Betrachtung der religiösen Probleme gerichtet ist. Es findet sein Genügen in dem Einzelspruch oder der Bemerkung zu einer Bibelstelle und geht von hier aus allenfalls zu der Diskussion einer Einzelfrage weiter. Das Fehlen jedes systematischen Zuges ist in der Tat auch sachlich für die Behandlung der theologischen Probleme im Talmud charakteristisch. Das talmudische Denken ergreift die Probleme nur als isolierte und macht nirgends den Versuch, seine Ergebnisse in einem größeren gedanklichen Zusammenhange zusammenzufassen. Dabei dringt es, wie die angeführten Beispiele zeigen, durchaus bis zu den grundlegenden Problemen vor und ist sich ihrer grundsätzlichen Bedeutung voll bewußt, aber auch das Prinzipielle wird nur als ein Einzelnes behandelt und nicht systematisch in seine Konsequenzen verfolgt. Die Nächstenliebe wird als der oberste Grundsatz der Tora proklamiert, aber es bleibt bei der abstrakten Aussprache des Gedankens; weder werden die sittlichen Einzelgebote auf dieses Grundprinzip zurückgeführt, noch wird der grundsätzlich angenommene sittliche Zweck des Ritualgesetzes anders als an gelegentlichen Beispielen konkret aufgewiesen. Daß neben der Forderung der uneigennützigen Erfüllung des göttlichen Gebotes auch der Vergeltungsgedanke in der talmudischen Ethik eine beherrschende Rolle spielt, ist an sich kein Widerspruch, aber die Probleme, die sich aus dem Nebeneinander beider Motive ergeben, bleiben im wesentlichen unerörtert. Die wichtigsten Gedanken, die in der Geschichte des Theodizee-Problems auftreten, lassen sich auch im Talmud aufweisen, aber es wäre eine vergebliche Mühe, aus ihnen eine in sich geschlossene Lehre von der Theodizee aufbauen zu wollen. In erhöhtem Maße gilt das gleiche für die rein metaphysische Seite der Theologie. Daß die anthropomorphistischen Aussagen der Bibel über Gott nur bildliche Bedeutung haben, hebt der Talmud mehrfach hervor, spricht sich aber nicht darüber aus, wo die Grenze zwischen bildlichen und eigentlichen Aussagen verläuft. So kann man wohl von einer einheitlichen religiösen Gesamtanschauung, aber nicht von einer einheitlichen gedanklichen Erfassung der zentralen religiösen Fragen im Talmud reden. Er hat nicht sowohl eine Theologie als theologische Einzelreflexionen hervorgebracht. Damit hängt es zusammen, daß Gedanken der verschiedensten Höhenlage nebeneinanderstehen. Neben Gedanken von größter Tiefe finden sich Zeugnisse eines mühsam mit den Problemen ringenden primitiven Denkens. Solche sachliche Unfertigkeit ist oft mit voller Schärfe der begrifflichen Formulierung verbunden. Wir erwähnten, daß der Unterschied des Frommen von dem Frevler in dem Überwiegen der guten oder bösen Taten gesehen wird. Diese atomisierende Auffassung des Menschen charakterisiert nicht sowohl die sittliche Anschauungsweise des Talmud als die Unzulänglichkeit seiner begrifflichen Mittel, die das Überwiegen des Guten oder Bösen im Menschen nur von der Zahl der Einzelhandlungen aus zu erfassen vermag. Mit gleicher Naivität wird das tiefe Problem des Primats von Theorie oder Praxis dahin ausgeglichen, daß das Gesetzesstudium das Höhere sei, weil es zur Gesetzeserfüllung führe. Das Denken sucht sich des religiösen Gehaltes zu bemächtigen, aber es hat noch nicht die Kraft, ihn in seiner Ganzheit und Einheit zu erfassen.
Daß das rabbinische Judentum von der wissenschaftlichen Philosophie der Griechen nicht beeinflußt ist, braucht nach alledem nicht gesagt zu werden. Nur in der popularisierten Gestalt, in der die Lehren griechischer Philosophen mündlich und schriftlich in die breiten Massen hineingetragen wurden, haben sie auch im Talmud einen Widerklang gefunden. Manches in der talmudischen Ethik erinnert an die Gedanken stoischer Populärweisheit. Hier wie dort findet sich der Gedanke, daß aller Besitz des Menschen ihm nur von Gott geliehen ist, und daß er nicht murren darf, wenn Gott seine Gabe zurückfordert. Hier wie dort gilt die Seele nur als ein Gast in dieser Welt, wird die Genügsamkeit als der wahre Reichtum gepriesen, soll jeder Tag so betrachtet werden, als ob er der letzte sei [R81]. Auch von den Sätzen, die ein von aller Hoffnung auf Lohn unabhängiges sittliches Handeln fordern, erinnern manche in ihrer Fassung stark an stoische Aussprüche. Im einzelnen kann es zweifelhaft sein, ob solche Parallelen auf stoischen Einfluß zurückzuführen sind; daß er vorhanden ist, steht außer Frage. Stoischer Metaphysik entstammt der Vergleich zwischen Gott und der Seele, die den Körper erfüllt und belebt, wie Gott die Welt, und gleich ihm sieht, ohne gesehen zu werden [R82]. Wie aus der Stoa sind auch aus Platon Gedanken in den Talmud eingedrungen, die, aus ihrem systematischen Zusammenhang gelöst, der allgemeinen griechischen Bildung angehörten. Der Talmud weiß nicht nur von einer Präexistenz der Seele, sondern berichtet auch, daß sie vor ihrer Geburt die ganze Tora gekannt und sie erst im Augenblick der Geburt vergessen habe. Ebenso wie hier tritt die Tora an die Stelle der Platonischen Idee auch in der Erzählung, daß Gott auf die Tora hingeblickt und nach ihrem Muster die Welt erschaffen habe. Mit einem Platonischen Gleichnis verdeutlicht der Talmud die Unsichtbarkeit Gottes, indem er darauf hinweist, daß schon der Lichtglanz der Sonne von dem menschlichen Auge nicht ertragen werden kann [R83]. Er bedient sich solcher Gedanken, um Angriffe heidnischer Gegner und jüdischer Freigeister zurückzuweisen. Die Mahnung: »wisse, was du dem Epikureer – dem typischen Repräsentanten freigeistiger Anschauungen – zu erwidern hast« [R84], zeigt, daß apologetische Rücksichten die Kenntnis außerjüdischer Ideen forderten. Aber wie die Angriffe mehr populärer Bildung als strenger Wissenschaft entstammten, so reichte auch für die Abwehr die Kenntnis griechischer Populärweisheit aus.
Tiefer als die Philosophie hat wohl die gnostische Spekulation die Lehrer des Talmuds beeinflußt. Vor allem im ersten und im beginnenden zweiten nachchristlichen Jahrhundert hat sie eine Reihe der führenden Gelehrten in ihren Bann gezogen. Dann gewann das von Anfang an vorhandene Mißtrauen gegen diese Richtung die Oberhand, und die Mišna spricht über sie das Verdammungsurteil: »Wer sich mit vier Dingen befaßt, was oben und was unten ist, was vorher war und nachher sein wird, der wäre besser nicht zur Welt gekommen« [R85]. Diese Feindschaft gegen die Gnosis, wenigstens in ihren extremen Formen, hat sie zwar nicht zum Verschwinden gebracht, aber ihre Macht gebrochen. Von Anfang an galt sie als Geheimlehre, die nur in einem engen Kreise der Berufenen fortgepflanzt werden durfte. Für die dualistischen und antinomistischen Lehren der Gnosis war selbstverständlich auf jüdischem Boden kein Platz. Mit ihrer Lehre, daß die Weltschöpfung und die alttestamentliche Gesetzgebung nicht das Werk des obersten guten Gottes, sondern des ihm feindlichen Demiurgen sei, wollte die Gnosis das von ihr leidenschaftlich gehaßte Judentum vernichtend treffen. Die Lehre von den »zwei Mächten« galt darum in jüdischen Kreisen als ärgste Häresie [R86]. Ebensowenig wie sie, konnte die dem gnostischen Pessimismus entspringende Auffassung der Materie als eines von Gott unabhängigen, seinem Wesen nach bösen Prinzips für die jüdische Gnosis in Betracht kommen. Aber auch nach Ausscheidung dieser Elemente blieben entscheidende Züge gnostischen Denkens in der jüdischen Spekulation erhalten. Die beiden Gebiete der jüdischen Geheimwissenschaft, die Lehre von der Schöpfung (Maʿasse Berešit) und die Lehre von dem von Ezechiel geschilderten göttlichen Thronwagen (Maʿasse Merkaba) [R87] entsprechen den Hauptthemen der Gnosis. Die Welt der Merkaba, der Gottesthron und die ihn umgebenden Engel, entspricht der obersten geistigen Sphäre, dem Pleroma der Gnostiker. Sie ist das Ziel der Himmelfahrt der Seele, welche die jüdische Gnosis ganz ähnlich wie die außerjüdische beschreibt [R88]. Die Schöpfungslehre gibt in mystischer Ausdeutung des biblischen Schöpfungsberichts eine Spekulation über die Weltentstehung, welche zwar die gnostischen Vorstellungen dem biblischen Schöpfungsgedanken anpaßt, aber so mit ihm verschmilzt, daß der Schöpfungsakt nur der Ausgangspunkt eines stark mythologisch gefaßten kosmogonischen Prozesses wird. Im Sinne der gnostischen Lichtmetaphysik umkleidet sich Gott mit dem Lichtglanze, der die Welt erfüllt [R89]. Als Gott die Welt erschafft, strebt sie, sich ins Unendliche zu dehnen, bis Gott ihr Halt gebietet [R90]. In Anlehnung an die biblische Vorstellung von dem oberen und unteren Wasser wird über das Wasser als den Urstoff der Welt spekuliert, und in ganz mythologischer Form heißt es: »Drei Schöpfungen gingen der Welt voran, Wasser, Luft und Feuer. Das Wasser ward schwanger und gebar das Dunkel, das Feuer ward schwanger und gebar das Licht, die Luft ward schwanger und gebar die Weisheit« [R91]. Die Anschauungen dieser Gnosis haben ihre Fortführung in der nachtalmudischen jüdischen Mystik gefunden. Im Ganzen der religiösen Entwicklung des Judentums stellen sie nur eine Nebenlinie dar. Sowohl in talmudischer wie in nachtalmudischer Zeit sind sie nur in engeren Kreisen gepflegt worden, und wenn sie auch zeitweilig stärkere Wirkung ausübten, wird doch das Gesamtbild des Judentums zu keiner Zeit durch sie bestimmt.
So viel breiter und dauernder auch die Wirkung der aus den genuinen Motiven der jüdischen Religion erwachsenen theologischen Reflexionen gewesen ist, so hat doch auch sie die Entwicklung des Judentums nicht in dem Sinne beeinflußt, daß sie zu einer bindenden Festlegung seines Glaubensgehaltes geführt hätte. Die Grenzen, innerhalb deren sich die theologische Reflexion im Talmud hält, werden durch keine Tatsache deutlicher bezeichnet, als durch das Fehlen jeden Versuchs einer dogmatischen Festlegung des Inhalts der jüdischen Lehre. Wohl werden von außen kommende Angriffe auf einzelne Lehren, wie den Auferstehungsglauben, zurückgewiesen und ihren Leugnern die Zugehörigkeit zum Judentum abgesprochen [R92], aber eine systematische Festlegung des Inhalts des jüdischen Glaubens findet sich in dem Talmud nirgends. Es ist darum unmöglich, scharf zu bestimmen, wo die Grenze zwischen dem Allgemeingültigen und der persönlichen Ansicht des Einzelnen verläuft. Das hat für die Fortentwicklung des Judentums Folgen von eingreifender Bedeutung [R93]. Die labile und dehnbare Form, in der der Glaubensbesitz des Judentums verblieb, gab dem späteren religiösen Denken eine relativ große Bewegungsfreiheit. Die mittelalterliche jüdische Philosophie konnte mit einer Freiheit die überlieferten Glaubensvorstellungen umdeuten, die der einem festen Dogma gegenüberstehenden christlichen Scholastik von Hause aus versagt war. Es hat im Mittelalter an Versuchen nicht gefehlt, diese Freiheit einzuschränken und die im Talmud versäumte dogmatische Fixierung des jüdischen Glaubens nachzuholen. Aber da die mittelalterlichen Autoritäten des Judentums nur als Interpreten des Talmuds für ihre Entscheidungen allgemeine Anerkennung fordern konnten, mußten diese Versuche ohne durchgreifende Wirkung bleiben. Freilich war die Freiheit der Glaubensüberlieferung gegenüber von vornherein an bestimmte Grenzen gebunden. Auch ohne dogmatische Systematisierung waren die Grundzüge des jüdischen Glaubens eindeutig bestimmt. Der Glaube an den göttlichen Ursprung der Bibel und der sie ergänzenden mündlichen Überlieferung involvierte auf dogmatischem Gebiet ebenso wie auf religionsgesetzlichem eine grundsätzliche Bindung des Einzelnen. Die religiöse Wahrheit war in Bibel und Überlieferung ein für allemal gegeben, und die Glaubensüberzeugung hatte in ihr ihre feste Norm. Alle Freiheit war nur eine Freiheit des Deutens dieser ihrem Wesen nach für jeden verbindlichen Wahrheit. Auch inhaltlich war sie an einen in seinen Grundzügen feststehenden Glaubensgehalt gebunden. Der Offenbarungsglaube des Judentums schloß eine ganze Reihe religiöser Voraussetzungen in sich, die an seiner autoritären Geltung Anteil hatten und ebensowenig, wie er selbst, der ausdrücklichen dogmatischen Hervorhebung bedurften, um den Glauben der Gemeinde zu beherrschen. Die Gedanken der Vorsehung, der Vergeltung, des Wunders waren durch ihren Zusammenhang mit dem Offenbarungsglauben als feste Elemente des jüdischen Glaubens in selbstverständlicher Geltung. Ihre Tatsächlichkeit stand außer jedem Zweifel, und nur in ihrer Auffassung blieb der philosophischen Interpretation ihr Spielraum. Andere religiöse Ideen, die nicht in dem gleichen formalen Zusammenhang mit dem Offenbarungsgedanken standen, hatten in dem Gemeindegebet des Judentums einen so beherrschenden Ausdruck gefunden, daß auch sie unbestrittene Verbindlichkeit besaßen. Das Ganze dieser religiösen Überzeugungen, das sich im talmudischen Zeitalter herausgebildet hatte, war für das spätere Judentum und seine Philosophie die unanfechtbar gültige Glaubensnorm. Daß es eine solche Glaubensnorm gab und daß sie keine begriffliche Formulierung und feste Umgrenzung gefunden hat, ist für die spätere Zeit gleich wichtig. Die Freiheit und die Gebundenheit der mittelalterlichen jüdischen Philosophie haben in diesen Tatsachen ihre Grundlage.