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Der Philosophie des jüdischen Hellenismus ist erst im Mittelalter wieder eine neue philosophische Bewegung innerhalb des Judentums gefolgt. Diesmal aber war ihr eine ungleich größere Lebensdauer beschieden als im Altertum. Ihr Beginn liegt spätestens im Anfang des neunten nachchristlichen Jahrhunderts, und in kontinuierlicher Entwicklung reicht sie bis zum Ausgange des Mittelalters und erfüllt mit ihren Nachwirkungen noch die beginnende Neuzeit.
Während dieser ganzen Zeit hat die Philosophie das geistige Leben des Judentums auf das tiefste beeinflußt. Für die Teile des Judentums, deren geistiges Leben sich nicht auf die Versenkung in Bibel und Talmud beschränkt, sondern einem universellen Bildungsideal zustrebt, steht die Philosophie als die Krone der Wissenschaften im Mittelpunkte dieser Bildung. Die philosophische Erkenntnis ist die höchste Erkenntnisform, der nicht nur die profanen Wissenschaften untergeordnet sind, sondern die auch dem religiösen Gesetzesstudium gegenüber als die höchste Form religiösen Wissens den Vorrang hat. Diese zentrale Stellung der Philosophie ist nicht bloß theoretisches Programm, ihr entspricht auch die Realität des geistigen Lebens. Alle Gebiete der religiösen Literatur stehen unter dem Einfluß der Philosophie, die Bibelerklärung sucht den tieferen Sinn der Bibel philosophisch zu erfassen, die religiöse Dichtung nimmt die Ideen der Philosophie auf und die philosophische Predigt des späteren Mittelalters sucht sie in die Gemeinde hineinzutragen. Aus der philosophischen Interpretation des Judentums erwächst eine philosophische Bildungsreligion, die bei strenger Anerkennung der Autorität der göttlichen Offenbarung doch eine starke Umbildung des Gehalts biblischer und talmudischer Religion darstellt, und dringt in eine breite Schicht gebildeter Juden.
Die mittelalterliche jüdische Philosophie ist innerhalb der islamischen Kulturwelt entstanden und steht ganz unter dem Einfluß der islamischen Philosophie. In ihren Anfängen schließt sie sich vorwiegend den religionsphilosophischen Gedanken des islamischen Kalams an. Aber auch nachdem sie später mehr und mehr unter den Einfluß des Neuplatonismus und weiterhin des Aristotelismus getreten ist, bleibt der Zusammenhang mit der islamischen Philosophie bestehen. Die jüdischen Neuplatoniker schöpfen ebenso stark wie aus den ins Arabische übertragenen neuplatonischen Quellen selbst aus der Literatur des islamischen Neuplatonismus, insbesondere der Enzyklopädie der »Lauteren Brüder« von Baṣra, und die jüdischen Aristoteliker schließen sich in der Deutung des Aristoteles an die Autoritäten des arabischen Aristotelismus, an Alfarabi und Ibn Sina und später an Ibn Rošd an. Im späteren Mittelalter greift die jüdische Philosophie auch auf die in christlichen Ländern lebenden Juden über. Ihre Hauptsitze werden die christlichen Teile Spaniens und die Provence, neben denen auch Italien an der philosophischen Gedankenarbeit teilnimmt. Allein auch dort bleibt der Einfluß der islamischen Philosophie herrschend, und wenn es an Einwirkungen der christlichen Scholastik auch nicht gänzlich fehlt, so treten sie der islamischen Philosophie gegenüber doch völlig zurück und gewinnen erst im Ausgang des Mittelalters größere Bedeutung. Wie stark die Bindung an die islamischen Vorgänger ist, läßt sich gerade bei der Verpflanzung der Philosophie in die christlichen Länder an einer charakteristischen Tatsache beobachten. Unter den hebräischen Übersetzungen, welche die philosophische Literatur den der arabischen Sprache nicht kundigen Juden der christlichen Länder zugänglich machten, sind die Werke der islamischen Philosophie unvergleichlich stärker vertreten als die Originalwerke der Griechen. Aristoteles, auf dem die ganze spätere jüdische Philosophie ruht, war hauptsächlich durch die Übersetzungen der Kommentare des Ibn Rošd, die freilich große Partien des Textes enthielten, bekannt.
Diese Erscheinung ist nicht auf das philosophische Gebiet beschränkt; die Kultur der islamischen Völker hat vielmehr in allen ihren Richtungen eine tiefe Wirkung auf die Juden geübt. Während in den christlichen Ländern die lateinische Gelehrtensprache den Juden nur ausnahmsweise bekannt war, gab es in der islamischen Welt, in der die arabische Sprache das Leben wie die Literatur beherrschte, eine entsprechende sprachliche Scheidung nicht, und die weniger straffe und enge religiöse Bindung der Kultur erleichterte dem Andersgläubigen den Zugang zu ihr.
An dem wissenschaftlichen Leben der islamischen Völker, insbesondere an der Pflege der Mathematik, Astronomie und Medizin nahmen die Juden unmittelbaren Anteil. Andere Richtungen der islamischen Kultur wurden ihnen zum Vorbild, dem sie in ihrem eigenen Kreise nachstrebten. Die so entstandene jüdisch-arabische Kultur hat eine Fülle glänzender Schöpfungen hervorgebracht und ist eine der fruchtbarsten und wirkungsreichsten Erscheinungen der jüdischen Geistesgeschichte.
Dasselbe Interesse, das zur Teilnahme der Juden an dem Gesamtgebiet islamischer Bildung führte, macht es somit erklärlich, daß auch die islamische Philosophie bei ihnen Eingang fand. Die Entstehung der jüdischen Philosophie aber ist nicht auf ein solches rein theoretisches Interesse allein zurückzuführen. Die Selbstbehauptung des Judentums inmitten der islamischen Welt verlangte, daß das Judentum sich philosophisch rechtfertigte. Die starke religiöse Erregtheit der ersten Jahrhunderte nach dem Erscheinen des Islam griff auch auf die jüdische Welt über. Wie innerhalb des Islams äußerte sie sich auch im Judentum in einer Fülle von Sektenbildungen. Die meisten damals entstandenen Sekten waren rein ephemere Erscheinungen, die in der jüdischen Geschichte keine bleibende Spur hinterlassen haben. Nur der in der Mitte des achten Jahrhunderts entstandene Qaräismus, der lediglich die Bibel als religiöse Autorität anerkannte und die sogenannte mündliche Lehre, die als Grundlage der talmudischen Weiterbildung des biblischen Religionsgesetzes galt, ablehnte, hat sich auf die Dauer behauptet. Auch er hat allerdings schon im elften Jahrhundert seinen Höhepunkt überschritten und an innerer Regsamkeit wie an propagandistischer Kraft immer mehr verloren, um schließlich zu einer wenig bedeutenden Sekte zusammenzuschrumpfen. In seinen ersten Jahrhunderten aber hat er eine starke Stoßkraft entfaltet und eine ernste Gefahr für das talmudische, oder wie die Qaräer es nannten, rabbanitische Judentum bedeutet. Dieses mußte sich seiner innerjüdischen Gegner in andauernder, leidenschaftlich geführter Polemik erwehren, die von dem bibelexegetischen und religionsgesetzlichen Gebiet auf das dogmatische überging und hier zum Teil mit philosophischen Argumenten geführt wurde.
Gleichzeitig aber war das Judentum heftigen Angriffen von außen her ausgesetzt, denen es seine Apologetik entgegenzusetzen hatte. Der Islam erkannte zwar das Judentum als geoffenbarte Religion an, behauptete aber, daß die biblische Offenbarung durch ihn ihre Geltung verloren habe. Überdies sei der Text der Bibel in späterer Zeit vielfach verfälscht und entstellt worden; wie die anthropomorphistischen Aussagen des Talmuds zeigten, hätten die Juden auch den biblischen Gottesbegriff nicht in seiner Reinheit bewahrt. Für die Juden bestehe ebenso wie für die Bekenner aller anderen Religionen die Pflicht, die endgültige und abschließende göttliche Offenbarung durch Muhammed anzuerkennen und den Islam anzunehmen [R94]. Von jüdischer Seite wurde nicht nur die angebliche Superiorität der Offenbarung Muhammeds, sondern ihre Glaubwürdigkeit überhaupt bestritten. Muhammed galt als falscher Prophet und die von ihm gestiftete Religion als bloß menschliche Schöpfung. Bei der weitgehenden Übereinstimmung der dogmatischen Grundanschauung beider Religionen stand in der religiösen Polemik diese gegenseitige Bestreitung des Geltungsanspruches im Vordergrund. Aber von diesem beschränkten Ausgangspunkte aus führte eine kontinuierliche Entwicklung zu einer Fragestellung von prinzipieller Bedeutung. In dem Kampf um die Authenzitität der islamischen Offenbarung blieb es auf beiden Seiten nicht bei bloß dogmatischer Behauptung. Die islamische Theologie suchte für, die jüdische gegen den göttlichen Ursprung des Islam Beweise zu erbringen. Die Beweise als solche waren historischer Art. Dabei aber galt es, die Kriterien festzustellen, die über die Glaubwürdigkeit historischer Überlieferung zu entscheiden hatten. Die Theologie jeder der beiden Religionen ging dabei ihren besonderen Weg, aber bei aller Verschiedenheit im Einzelnen war doch die Richtung der Fragestellung gemeinsam, und in primitiver Form traten die Grundsätze historischer Kritik in dieser Konkurrenz der Offenbarungsansprüche heraus. Die islamische Theologie dürfte auf diesem Wege vorangegangen sein. Indem die jüdische ihr folgte, wurde sie notwendig zu einer rationalen Rechtfertigung ihres Standpunktes und damit zu religionsphilosophischer Fragestellung getrieben. Noch unmittelbarer führte eine andere Seite der Kontroverse in die Philosophie hinein. Der Islam behauptete, daß die älteren Formen göttlicher Offenbarung, unter ihnen auch das Judentum, durch die Offenbarung Muhammeds aufgehoben waren. Diese Vorstellung von einer Offenbarungsreihe, deren frühere Glieder durch die späteren aufgehoben wurden, schien eine Wandlung des göttlichen Willens vorauszusetzen. Die Vorstellung von einem Gott, der erst das Eine, dann das Andere gebietet, schien mit einem geläuterten Gottesbegriff unverträglich. Aus der anscheinend rein historischen Frage ergab sich so ein metaphysisches Problem, das mit allem Aufgebot scholastischer Subtilität umstritten wurde [R95].
Von weit radikalerer Schärfe waren die Angriffe, die sich gegen die durch Judentum, Christentum und Islam gemeinsam repräsentierte monotheistische Offenbarungsreligion als solche richten. Sie gingen zunächst von den vorderasiatischen Religionen aus, die außerhalb dieser Form des Religionsbegriffes standen. Nachdem das Sāsānidenreich dem Ansturm der Araber erlegen war und der Islam seine Herrschaft auf dessen Boden aufgerichtet hatte, blieb die parsische Religion noch Jahrhunderte hindurch eine Macht und führte einen langen, heftigen Kampf um ihre Existenz. In der dualistischen Auffassung der Wirklichkeit waren die gnostischen Systeme mit ihr verwandt, denen der junge Islam ebenfalls nach seinem Vordringen nach Asien begegnete. Neben ihnen traf er dort endlich auch Ausläufer indischer Religionen an. Was die Dogmatik und mehr noch die Mystik des Islams diesen Faktoren verdankt, darf hier außer Betracht bleiben. Denn für das Judentum haben diese synkretistischen Bewegungen keine ähnliche Bedeutung gewonnen. Um so stärker wurde die Polemik dieser Religionen auch für das Judentum fühlbar. Wenn Christentum und Islam die Offenbarungsgrundlage des Judentums anerkannten, so wurde hier das Faktum der biblischen Offenbarung, ja diese ganze Form des Offenbarungsbegriffs, in Frage gestellt. Zugleich aber richtete sich die Polemik auch gegen den Inhalt der biblischen Religion. Die Bestreitung des biblischen Offenbarungsgedankens wird speziell den Anhängern der indischen Religion zugeschrieben. Auf Grund von Mißverständnissen, die der Aufklärung noch bedürften, gelten die Barâhima (Brahmanen) als die Vertreter der Lehre, daß es einer Prophetie nicht bedarf, weil die menschliche Vernunft aus sich heraus alles zu erfassen vermag, was der Mensch zum rechten Leben braucht. Daneben werden die gewaltigen Zeiträume, mit denen die indische Kosmologie rechnet, der biblischen Lehre entgegengestellt, nach der die Welt erst vor wenigen tausend Jahren erschaffen worden sei. Der Schöpfungsgedanke der Bibel, der die Welt mit ihrem Guten und Bösen als Werk eines gütigen Gottes betrachtete, wurde vom Standpunkte des Dualismus aus stark angegriffen. Die ausführliche Polemik des islamischen und jüdischen Kalams gegen den Dualismus hatte keinen bloß literarischen Sinn, sondern war von aktueller Bedeutung. Diese in anderer Form schon von den nachexilischen Propheten wie von den Lehrern des Talmuds zurückgewiesene dualistische Bestreitung des biblischen Gottesbegriffs tritt jetzt mit neuer Schärfe auf und begnügt sich nicht damit, die biblische Gottesvorstellung im Allgemeinen anzugreifen, sondern sucht ihre niedrige Stufe durch eine eingehende Kritik der biblischen Erzählungen nachzuweisen. Eine aus dem neunten Jahrhundert herrührende polemische Schrift greift den biblischen Schöpfungsbericht scharf an, teilweise von den speziellen Voraussetzungen der Zoroasterreligion aus, teilweise aber auch mit Gründen, die von ihnen unabhängig sind [R96]. Eine Schöpfung durch das bloße Wort Gottes hätte in einem einzigen Akt vollendet sein müssen und sich nicht auf sechs Tage zu erstrecken brauchen, und ebenso hätte ein Gott, der die Welt durch sein bloßes Wort schuf, nicht nachher der Ruhe bedürfen können. Gegen die Erzählung vom Sündenfall der ersten Menschen wendet sie ein, wenn Gott gewollt habe, daß die Menschen sein Gebot erfüllen, sei es unverständlich, warum er ihnen die Möglichkeit gegeben habe, es zu übertreten, und in der Frage Gottes an Adam: »Wo bist du?« sieht sie das Eingeständnis, daß Gott nicht gewußt habe, wo Adam sich befinde, also von der Bibel nicht als allwissend vorgestellt werde. Die Anschauung der Bibel von dem Zorn und der Rache Gottes ist ihr ein Beweis für die sittliche Minderwertigkeit der jüdischen Gottesvorstellung.
Der Zusammenstoß der Religionen, die Zwistigkeiten der Sekten hatten eine Erschütterung des naiven Autoritätsglaubens zur Folge. Für den erweiterten religiösen Horizont rückten die miteinander rivalisierenden Religionen auf eine Ebene und die von allen Seiten erhobenen exklusiven Wahrheitsansprüche schienen sich gegenseitig aufzuheben. Als ein Symptom solcher Denkweise darf schon die Ausbildung der Religionsvergleichung innerhalb der islamischen Literatur betrachtet werden, welche die Religion zum Gegenstand theoretischer Betrachtung machte und in wissenschaftlicher Nüchternheit die Fülle der religiösen Erscheinungen zu beschreiben und klassifizierend zu ordnen bemüht war. Die hier latente Loslösung von dem naiven Autoritätsglauben tritt uns anderweitig unverhüllt entgegen, am eindruckvollsten in dem bekannten Bericht aus dem Ende des zehnten Jahrhunderts über die freundschaftlichen Religionsgespräche, die in Bagdad zwischen Anhängern der verschiedenen Religionen stattfanden. In ihnen herrschte völlige gegenseitige Toleranz, und jede dogmatische Berufung auf die Autoritäten des eigenen Glaubens war aus ihnen ausgeschlossen. Als die einzige Instanz, die der Ermittlung der wahren Religion zugrunde gelegt werden durfte, sollte die »menschliche Vernunft« gelten. An Stelle der Autorität trat die Ratio als das Kriterium religiöser Wahrheit [R97].
Dieser Rationalismus nahm vielfach eine ausgesprochen religionsfeindliche Gestalt an. Wie bei den erwähnten Disputationen auch »Materialisten« zugegen waren, so führten auch islamische und jüdische Theologen jener Zeit eine lebhafte Polemik gegen die Dahrîja, die jedes göttliche Prinzip leugneten. Daneben gab es Anhänger eines rein rationalen Gottesglaubens, die alle Offenbarung ablehnten. Man wird den interessanten Bericht des orthodoxen islamischen Theologen Ibn Ḥazm [R98], der im elften Jahrhundert in Spanien lebte, auch für die Verhältnisse des Orients in etwas älterer Zeit verwenden dürfen. Er zeigt, wie die mannigfachsten Formen der Skepsis gegenüber dem Offenbarungsglauben verbreitet waren. Neben grundsätzlicher Ablehnung jeder Offenbarungsreligion findet sich auch die relativistische Anerkennung der verschiedenen Religionen. Die letztere Anschauung verlangt, daß sich jeder Mensch zu irgendeiner Religion bekennt, weil es ohne Religion kein sittliches Leben gibt, sieht aber das Wesentliche an den Religionen in den ihnen gemeinsamen sittlichen Forderungen, die ebenso wie durch die Übereinstimmung der positiven Religionen auch durch ihre rationale Evidenz beglaubigt sind. Gegenüber diesem gemeinsamen rationalen Kern der positiven Religionen gelten ihre Differenzen als relativ bedeutungslos, und die Vorstellung von der Gleichwertigkeit der Religionen findet ihren charakteristischen Ausdruck in der Verwerfung des Religionswechsels und der Forderung, daß jeder bei der ihm von Gott zugewiesenen Religion verbleibe. Ähnlich nahmen die Lauteren Brüder an, daß den Volksreligionen eine identische religiöse Wahrheit zugrunde liegt, die in ihnen dem Fassungsvermögen der Volksmenge angepaßt ist und in ihrer reinen Gestalt nur von dem Vernunftglauben erfaßt werden kann. Dieser tiefere Gehalt der Religion wird von ihnen im Sinne einer freilich populär gewendeten neuplatonischen Mystik verstanden.
Der hier unmittelbar zutage tretende Einfluß der griechischen Philosophie ist in der Bestreitung der Offenbarungsreligionen sicherlich auch sonst wirksam. Sowohl der Naturalismus, der den Gottesglauben grundsätzlich ablehnt, wie der Rationalismus, der ihn allein auf die Vernunft gründet, stützt sich in seiner uns vorliegenden Gestalt vielfach auf Argumente griechischer Philosophie und tritt in Verbindung mit den Lehren griechischer Systeme auf. Jedoch sind sie keineswegs von hier allein abzuleiten. Noch in den relativ späten Formen, in denen wir diese Tendenzen zu beobachten vermögen, ist deutlich zu erkennen, wie stark die Skepsis den positiven Religionen gegenüber durch die Rivalität der Religionen untereinander genährt ist. Diese Grundgesinnung ist von der Philosophie unabhängig, so sehr sie auch nach dem Bekanntwerden der griechischen Philosophie hier eine Stütze und Rechtfertigung sucht. Soweit wir sie in ihrer Reinheit rekonstruieren können, liegt sie in der Richtung einer naiven und elementaren, aber kräftigen und selbstsicheren Aufklärung, welche die historischen und dogmatischen Differenzen der Einzelreligionen für unwesentlich gegenüber ihren gemeinsamen sittlichen und religiösen Grundüberzeugungen ansieht. Zu dieser Vorstellung eines gemeinsamen Kerns der Religionen, der das Wesentliche an ihnen darstellt, tritt dann die aus griechischer Philosophie stammende Anschauung hinzu, daß diese Grundlehren aller Religionen ihre Wurzel in der Ratio haben, und vielfach verbindet sich mit ihr die spezifisch stoische Lehre, daß der Gottesglaube dem Menschen von Natur aus innewohnt. Wenn es auch nicht zu dem Begriff einer natürlichen Religion kommt, wie ihn die neuzeitliche Aufklärung ausgebildet hat, so sind doch die Elemente dieses Begriffes hier im wesentlichen beisammen und die religiöse Gesinnung jedenfalls ist die gleiche wie die der modernen Aufklärung.
Unter dem Einfluß dieser Tendenzen bildete sich die islamische Glaubenslehre zur Religionsphilosophie weiter. Hatte sich die Theologie der Muʿtaziliten in ihren Anfängen damit begnügt, den Inhalt der Glaubensvorstellungen zu rationalisieren und sie den Forderungen der theoretischen und sittlichen Vernunft anzupassen, so schritt sie weiter dazu fort, ihre Geltung zu begründen. Der Bestreitung des Gottesgedankens gegenüber bemühte sie sich, das Dasein Gottes zu beweisen, die Kritik des Offenbarungsglaubens wehrte sie durch den rationalen Nachweis der Notwendigkeit der Offenbarung und die historische Beweisführung für die Authentizität der islamischen Offenbarung ab. Dem offenbarungskritischen stellte sie einen offenbarungsgläubigen Rationalismus entgegen, der, im letzten religiösen Ideal mit seinen Gegnern einig, dennoch in der islamischen Offenbarung seine alleinige wahrhafte Verwirklichung erblickte.
Dieselben Notwendigkeiten, die zur Entwicklung der islamischen Religionsphilosophie führten, haben auch die jüdische Religionsphilosophie erzeugt. Dieser Ursprung hat den Charakter der mittelalterlichen jüdischen Philosophie in ihrem ganzen Verlaufe bestimmt. Sie ist in einem weit ausschließlicheren Sinne als die Philosophie der islamischen Völker Religionsphilosophie geblieben. Während die islamischen Neuplatoniker und Aristoteliker die Philosophie in ihrem ganzen Umfange behandeln, setzen die jüdischen Denker zumeist für die allgemeinen philosophischen Probleme die Arbeit ihrer islamischen Vorgänger voraus und beschränken sich auf die Behandlung der speziell religionsphilosophischen Fragen. Das gilt gewiß nicht ausnahmslos; unter den jüdischen Neuplatonikern haben Isaak Israeli und Salomo ibn Gabirol die Naturphilosophie und Metaphysik losgelöst von allen spezifisch religionsphilosophischen Interessen behandelt, und von den Aristotelikern des späteren Mittelalters haben z. B. Levi ben Gerson und Mose Narboni die logischen und naturwissenschaftlichen Schriften des Ibn Rošd eingehend kommentiert. Allein die überwiegende Mehrzahl der jüdischen Denker macht die philosophische Begründung und Rechtfertigung des Judentums zu ihrer eigentlichen Aufgabe und behandelt die Probleme der Metaphysik nur unter diesem religionsphilosophischen Gesichtspunkt. Diese Begrenzung ihres Arbeitsgebiets tut der geschichtlichen Bedeutung der jüdischen Philosophie keinen Eintrag. In der philosophischen Deutung der Religion entfaltete die mittelalterliche Philosophie ihre stärkste Originalität. Sonst von der antiken Tradition abhängig und produktiv nur in der Durcharbeitung und Fortführung der überkommenen Denkmotive, hat das mittelalterliche Denken hier ein neues Problemgebiet erschlossen. Auch die grundsätzlichen Umbildungen, die es an den Konzeptionen der antiken Metaphysik vornimmt, entspringen dem Bedürfnis, das Weltbild der antiken Metaphysik der personalistischen Religiosität der Bibel anzugleichen. Dieses zentrale Gebiet mittelalterlicher Philosophie ist es, dem die Arbeit der jüdischen Philosophen gilt und dem ihre geschichtliche Leistung angehört.
Die ersten uns erhaltenen Werke der jüdischen Philosophie des Mittelalters stammen aus dem Anfange des zehnten Jahrhunderts. Allerfrühestens könnte man die Werke Isaak Israelis in den Ausgang des neunten Jahrhunderts setzen. Vor ihnen liegt jedoch eine philosophische Entwicklung, die wenigstens bis in den Anfang des neunten Jahrhunderts zurückreicht. Das Wenige, was wir über sie wissen, bestätigt die entscheidende Wichtigkeit der religiösen Kontroversen für die Entstehung der jüdischen Philosophie. Wir erfahren aus dem religionsphilosophischen Hauptwerke Saʿadias, das an Mitteilungen über ältere jüdische Philosophen besonders reich ist, wie subtil die Polemik zwischen jüdischer und islamischer Theologie über die Möglichkeit einer Mehrheit einander aufhebender göttlicher Offenbarungen zu seiner Zeit bereits durchgebildet war [R99]. Er berichtet von jüdischen Gelehrten, welche die Unveränderlichkeit eines einmal von Gott gegebenen Gesetzes auf begrifflichem Wege nachzuweisen suchten. Sie erklärten, ein göttliches Gesetz werde entweder ausdrücklich für die Dauer erlassen und könne dann nicht aufgehoben werden oder es werde von vornherein nur für eine bestimmte Zeit, für einen bestimmten Ort oder für bestimmte Umstände gegeben, so daß keine Aufhebung vorliege, wenn das Gesetz außerhalb der von vornherein festgesetzten Grenzen keine Geltung mehr besitze. Daß aber bei der Verkündung des Gesetzes seine Geltungsdauer unbestimmt gelassen werde und sich erst nachher herausstelle, ob ihm ewige oder zeitlich begrenzte Dauer zukomme, erklärten sie für ausgeschlossen, weil die Genauigkeit, mit der sonst der Geltungsbereich jedes Gesetzes bestimmt werde, offenbar den Zweck habe, keine Unklarheit über die Art der Geltung jedes Gesetzes aufkommen zu lassen. Aus den von Saʿadia angeführten Gegenargumenten der islamischen Theologie ergibt sich, daß der letzte Grund, der von jüdischer Seite für die Unaufhebbarkeit eines göttlichen Gesetzes angeführt wurde, die Unveränderlichkeit des göttlichen Willens war. Wenn sich der Islam darauf beruft, daß der Wille Gottes im Leben der Menschen Leben und Tod, Reichtum und Armut aufeinander folgen läßt und ebenso in der Natur alles einem ständigen Wandel unterwirft, so setzt das voraus, daß seine jüdischen Gegner die Unveränderlichkeit der Offenbarung aus der Unwandelbarkeit des göttlichen Willens erschlossen hatten. Da Saʿadia die Widerlegung dieser Einwände im eigenen Namen gibt, ohne sich auf seine jüdischen Vorgänger zu berufen, können wir den von ihm vorgefundenen Stand der Polemik im einzelnen nicht mehr rekonstruieren. Offenbar bildet er aber bereits vorgefundene Argumente weiter, und nicht nur die philosophische Fassung des Problems im allgemeinen, sondern auch die dialektische Zuspitzung der Beweisführung geht bereits auf die früheren jüdischen Polemiker zurück.
Wie tief das Judentum durch die mannigfachen Formen der Religionskritik der ersten Jahrhunderte des Islams aufgewühlt war, lassen die Berichte über den jüdischen Ketzer Ḥiwi aus Balḫ (im heutigen Afġanistan) deutlich erkennen. Von seinem in der zweiten Hälfte des neunten Jahrhunderts verfaßten Werk, das zweihundert Einwände gegen die Bibel enthält, ist nichts auf uns gekommen. Wir kennen es nur aus der leidenschaftlichen Bekämpfung, die es in der späteren jüdischen Literatur fand. Aber wir können uns aus dieser Polemik und insbesondere aus dem neuerdings aufgefundenen umfangreichen Fragment der Gegenschrift Saʿadias ein ziemlich deutliches Bild von seinem Inhalt machen [R100]. Ḥiwi griff die Bibel von allen Seiten her an. Er wies auf die Widersprüche der biblischen Erzählungen hin, erklärte die Wunder, wie z. B. die Spaltung des Roten Meeres und das Manna, auf natürlichem Wege [R101], übte vor allem aber an dem religiösen Gehalt der Bibel eine rücksichtslose Kritik, die sich mit besonderer Schärfe gegen die anthropomorphe Gottesvorstellung der Bibel wandte. Aus der Paradiesesgeschichte, in der Gott den Adam fragt: »Wo bist Du?«, und aus der Erzählung, daß Gott den Abraham geprüft habe, folgerte er, daß die Bibel Gott nicht als allwissend denkt [R102]. Ferner wandte er gegen den biblischen Gottesbegriff ein, Gott habe den Menschen aus Furcht gehindert, vom Baume des Lebens zu essen, habe bereut, daß er den Menschen geschaffen habe, habe durch die Sintflut mit dem schuldigen Menschen auch die unschuldige Kreatur vernichtet und verlange die Opfer zu seiner Nahrung [R103]. Gegen die monotheistische Gottesvorstellung als solche richtet sich sein Einwand, warum Gott dem Menschen den bösen Trieb eingepflanzt hat, warum er Leid und Elend über ihn kommen läßt und ihn dem Tode preisgibt [R104]. Das Material zu seiner Kritik hat Ḥiwi von den verschiedensten Seiten her gesammelt. Manche seiner Fragen erinnern an Schwierigkeiten, die schon in der talmudischen Literatur aufgeworfen werden. Bestimmenden Einfluß aber hat vor allem die Polemik, die von parsischer Seite gegen die Bibel gerichtet wurde, auf ihn geübt [R105]. Einzelne seiner Einwände, wie der Hinweis, daß Gott in der Paradieseserzählung nicht als allwissend vorgestellt wird, und die Frage, warum Gott dem Menschen die Möglichkeit zur Sünde gegeben habe, stimmen genau mit den Argumenten persischer Polemiker (oben S. 60) überein. Darüber hinaus erinnert die ganze Richtung und Art seiner Polemik deutlich an sie. Über seinen eigenen religiösen Standpunkt läßt sich aus unseren Quellen kein deutliches Bild gewinnen. Gelegentlich wird er als ein Anhänger des persischen Dualismus bezeichnet, und es scheint, daß er die Stelle des biblischen Schöpfungsberichtes: »Und die Erde war wüst und leer, und Finsternis war über der Tiefe« im Sinne eines letzten Dualismus von Licht und Finsternis gedeutet hat [R106]. Die Bemerkung Saʿadias, daß er in seiner Streitschrift gegen Ḥiwi Beweise für die Weltschöpfung erbracht habe [R107], läßt darauf schließen, daß dieser die Weltschöpfung geleugnet hat. Beides läßt sich zur Not miteinander vereinen, da Saʿadia die dualistische Lehre in Gegensatz zu der Lehre von der Weltschöpfung stellt. Wenn Ḥiwi aber von Saʿadia in seiner Streitschrift als ein Anhänger der christlichen Abendmahlslehre bezeichnet wird, und wenn ein anderer seiner Gegner ihm vorwirft, daß er die Willensfreiheit leugne [R108], so muß jeder Versuch, aus alledem einen einheitlichen Standpunkt zu erschließen, aufgegeben werden. Das braucht nicht allein an der verzerrten Wiedergabe seiner ketzerischen Ansichten in unseren Quellen zu liegen. Es erklärt sich naturgemäß aus der Art seiner Polemik, der es wesentlich nur um die Zerstörung der Autorität der Bibel zu tun war, die darum ihre Waffen nahm, wo sie sie fand, und einmal nachwies, daß die Lehren der Bibel zu dualistischen, ein anderes Mal, daß sie zu christlichen Konsequenzen führten, ohne selbst diese Anschauungen teilen zu müssen [R109]. Auf dieser destruktiven Tendenz beruht offenbar auch die Wirkung, die von seinem Buche ausgegangen ist. Auch wenn wir die im Namen Saʿadias mitgeteilte Angabe, daß die Kinderlehrer seine Lehren verbreitet hätten, nicht allzu wörtlich nehmen, zeigt doch die Fülle und Heftigkeit der gegen ihn gerichteten Angriffe, wie stark der Eindruck seines Werkes gewesen sein muß.
Neben solcher Polemik weist das neunte Jahrhundert auch die Anfänge metaphysischer Spekulation unter den Juden auf. Einem der hervorragendsten Führer der qaräischen Sekte, Benjamin ben Moses Nahawendi, der vor der Mitte des neunten Jahrhunderts wirkte, wird die Lehre zugeschrieben, die Weltschöpfung sei nicht unmittelbar von Gott ausgegangen, sondern Gott selbst habe nur einen Engel geschaffen, der dann erst die Welt schuf und der ebenso den Propheten ihre Offenbarungen zuteil werden ließ. Ähnliches soll auch die Sekte der Maġarija, für die sich in anderen Quellen auch die Namen Maqarija und Maqariba finden, gelehrt haben. Man hat darin seit langem die Philonische Logoslehre wiedergefunden. Diese Identifizierung hat sehr an Wahrscheinlichkeit gewonnen, seit wir wissen, daß die Juden des Orients während der ersten Jahrhunderte des Islam eine allerdings nicht sehr tiefgehende Kenntnis Philons besaßen [R110]. Nach dem, was uns von Benjamin Nahawendi überliefert wird, ist von dem tieferen Gehalt der Philonischen Logoslehre bei ihm wenig zu finden. Nicht nur, daß die charakteristische Stellung des Logos zu Gott in seiner Konzeption eines von Gott geschaffenen Engels verloren gegangen ist, auch das Motiv Philons, den Übergang von Gott zur Welt durch den Logosbegriff zu vermitteln, tritt bei Benjamin hinter dem ganz anderen Motiv zurück, für die vom Standpunkt eines reinen Monotheismus anstößigen Aussagen der Bibel über Gott eine Erklärung zu finden [R111]. Bibelstellen, die die Einzigkeit Gottes in Frage zu stellen scheinen, wie der Satz: »Wer ist wie du unter den Göttern?« beziehen sich nicht auf Gott, sondern auf den obersten Engel, neben dem es andere, wenn auch untergeordnete gleichartige Wesen gibt. Und ebenso müssen die anthropomorphistischen Aussagen der Bibel über Gott auf diesen Engel bezogen werden. Auch für seine Auffassung als Demiurg wird dieser Gesichtspunkt geltend gemacht. Bei dem Satz der Schöpfungsgeschichte, daß Gott den Menschen nach seinem Ebenbilde geschaffen habe, ist nicht an Gott selbst, von dem es kein Ebenbild gibt, sondern an den Engel zu denken [R112]. Ähnlich hatten auch islamische Theologen alle Überlieferungen, die von einem Schauen Gottes berichteten, nicht auf Gott, sondern auf die von ihm zunächst geschaffene erste Vernunft bezogen [R113], und die Auskunft, die sinnlichen Visionen der Propheten beträfen nicht Gott, sondern ein von ihm geschaffenes Wesen, machten sich auch die späteren jüdischen Religionsphilosophen großenteils zu eigen, bei denen diesem Wesen jede schöpferische Funktion fehlt. Auch bei Benjamin scheint dieses Moment im Vordergrunde zu stehen und der Gedanke einer Vermittlung zwischen Gott und Welt ganz hinter ihm zurückzutreten.
Eine Reihe anderer jüdischer Denker dagegen, von denen Saʿadia berichtet, hat gerade das Problem der Weltentstehung beschäftigt. An Stelle der jüdischen Lehre einer Schöpfung aus dem Nichts setzten sie die Vorstellung, daß Gott die Welt aus einem ewigen Urstoff gebildet hat, und suchten sie in die Bibel hineinzutragen. Diese gemeinsame Grundvorstellung trat in den verschiedensten Variationen auf. Die Weltentstehungslehre des Platonischen Timaeus wurde in der absonderlichen Gestalt vertreten, daß Gott die körperliche Welt aus ewigen, geistigen Elementarsubstanzen gebildet hat [R114]. Von anderen wurden kosmologische Theorien vorsokratischer Philosophen mit dem biblischen Gottesgedanken derart verbunden, daß man Gott aus dem ewigen Urelement des Wassers oder der Luft die Welt bilden ließ. Die biblischen Belege dafür fand man in dem Schöpfungsbericht. Aus dem Satze: »Und die Erde war wüst und leer« wurde herausgelesen, daß vor der Schöpfung an Stelle der Erde das Tohuwabohu des Urwassers gewesen sei, und den Wind Gottes, der über den Wassern schwebte, deutete man als das Urelement der Luft [R115]. Nach einem anderen Bericht Saʿadias sind die antiken kosmologischen Theorien mit dem Schöpfungsgedanken auch in der Art ausgeglichen worden, daß eines der Elemente, Wasser, Feuer oder Luft, als erste göttliche Schöpfung betrachtet wurde, aus der dann die anderen Bestandteile der Welt hervorgegangen seien; doch muß dahingestellt bleiben, ob es sich hier um zwei verschiedene Auffassungen handelt oder ob lediglich die Berichterstattung Saʿadias an der Differenz die Schuld trägt [R116]. Von einer selbständigen Gedankenentwicklung läßt wenigstens der Bericht Saʿadias in alledem nichts erkennen. Die kosmologischen Theorien der griechischen Philosophie, welche die Übersetzungstätigkeit des neunten Jahrhunderts in breiterem Umfange bekanntgemacht hatte, wurden wahllos aufgegriffen und, so gut es ging, mit der biblischen Schöpfungslehre verbunden. Die fortschreitende philosophische Bildung hat diese rohen Anfangsversuche bald überwunden und sich nur noch mit den reiferen philosophischen Systemen der Griechen auseinandergesetzt. Aber als Zeugnis des Gärens und Ringens, das die erste Berührung mit griechischer Philosophie in den jüdischen Kreisen erzeugte, sind diese Anfänge, trotz ihrer Primitivität, von hohem Interesse.
Mit dem Ausgange des neunten Jahrhunderts schließt diese Vorgeschichte der jüdischen Philosophie ab und ihre eigentliche Geschichte beginnt. Die islamische Philosophie war indessen schon weit vorgeschritten. Neben der Theologie des Kalam war nicht nur der Neuplatonismus bereits zur Entfaltung gekommen, auch der Aristotelismus war bereits im Begriff, sich durchzusetzen. Er hatte seinen ersten Vertreter in Alkindi, und um die Wende vom neunten zum zehnten Jahrhundert hatte der erste der großen produktiven arabischen Aristoteliker, Alfarabi, seine Tätigkeit begonnen. Noch weniger als in der islamischen Philosophie selbst besteht darum in der jüdischen Philosophie zwischen den verschiedenen Richtungen, die sich in ihr wie in der Philosophie des Islam ablösen, eine strenge zeitliche Scheidung. Der erste jüdische Philosoph, Isaak Israeli, gehört dem Neuplatonismus an, und erst seine jüngeren Zeitgenossen, Saʿadia und David Almoqammeṣ, vertreten den Kalam. Im Ganzen der Entwicklung jedoch steht auch in der jüdischen Philosophie der Kalam am Anfange. Im Orient, in dem sie sich zunächst entwickelt, bleibt der Neuplatonismus Israelis ohne weitere Folge und findet seine Fortsetzung erst bei den spanischen Philosophen des elften Jahrhunderts. Wir beginnen darum unsere Darstellung mit dem Kalam.