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Die verheißungsvollen Anfänge einer modernen jüdischen Religionsphilosophie waren zu eng an die Voraussetzungen des deutschen Idealismus gebunden, um nach dessen Zusammenbruch weiter wirken zu können. Ganz unabhängig von ihnen hat am Ende des 19. Jahrhunderts die philosophische Arbeit neu eingesetzt, diesmal im Rahmen einer umfassenderen Bewegung zu systematischer Erkenntnis des Judentums. Diese entsprang zunächst dem Bedürfnis, den Mißdeutungen des Judentums in der Literatur des sogenannten wissenschaftlichen Antisemitismus wie in der christlichen Theologie entgegenzutreten, blieb aber von Anfang an bei dem apologetischen Zweck nicht stehen, sondern war ebensosehr um die innere Klärung des jüdischen Bewußtseins selbst bemüht. Bei der gegebenen Sachlage mußte es als die erste und dringendste Aufgabe erscheinen, ein richtiges und überzeugendes Bild von dem wirklichen Tatbestand der jüdischen Lehre zu geben. So trat in der Mehrzahl der Darstellungen die philosophische Analyse des Judentums hinter der geschichtlichen Deskription zurück, welche die jüdische Lehre gleichsam für sich selbst sprechen lassen wollte. Diese mehr geschichtlich gehaltenen Darstellungen des Judentums im Einzelnen zu besprechen, ist hier nicht der Ort. Ihrem Programm nach gehört auch die Ethik des Judentums von Moritz Lazarus in diese Reihe. Aber diese Darstellung der jüdischen Sittlichkeit ist so stark von philosophischen Gesichtspunkten bestimmt, daß sie einer kurzen Charakteristik bedarf.
Moritz Lazarus (1824-1903) hat nur den ersten Band seiner Ethik des Judentums 1898 selbst herausgegeben. Die Materialien zum zweiten Bande sind 1911 aus seinem Nachlaß veröffentlicht worden. Das Werk bezeichnet es nachdrücklich als seine Absicht, nur den gegebenen Inhalt der jüdischen Sittenlehre, hauptsächlich nach talmudischen Quellen, wiederzugeben, und will die Begriffe philosophischer Ethik allenfalls nur als formgebendes Element der Darstellung verwenden, was freilich im zweiten Bande dahin modifiziert wird, daß erst die Einsichten der philosophischen Ethik es ermöglichen, die volle Tragweite der im Talmud ohne systematische Verknüpfung ausgesprochenen Gedanken zu erfassen [R775]. In Wirklichkeit bedeutet die Philosophie für das Buch wesentlich mehr. Sie ist für die Lazarussche Ethik formgebendes Element nicht nur in dem äußerlichen Sinne, daß die Lehren der jüdischen Sittlichkeit mit ihren Ausdrucksmitteln wiedergegeben werden, sondern in der methodischen Bedeutung, daß die sittlichen Einzellehren auf eine sich in ihnen aussprechende sittliche Grundanschauung zurückgeführt werden, die dann an dem Wesen des Sittlichen gemessen wird und so ihre Rechtfertigung erhält. Dabei wird auch inhaltlich die Sittlichkeit des Judentums so stark im Sinne philosophischer Ethik gedeutet, daß als ihr Prinzip der Kantische Autonomiegedanke erscheinen kann. Das ist sicherlich nur möglich, weil das Autonomieprinzip von Lazarus einigermaßen lax gefaßt wird. Er macht den Autonomiegedanken zum Prinzip der jüdischen Ethik, weil diese als religiöse Gesinnungsethik die Erfüllung des gottgegebenen sittlichen Gesetzes aus reiner Gottesliebe und aus dem Streben nach Gottähnlichkeit verlangt und weil sie, wie er richtig erkennt, ein starkes Bewußtsein von der inneren Evidenz besitzt, die dem Gedanken des sittlich Guten innewohnt. Solche Gesinnungsethik ist für ihn Ethik der Autonomie, und der methodische Sinn des Kantischen Autonomieprinzips verschwimmt ganz in die Forderung der Gesinnungsreinheit [R776]. Dieselbe begriffliche Laxheit macht es ihm möglich, den Unterschied zwischen Kants Imperativ der praktischen Vernunft, Herbarts sittlichen Werturteilen und Rümelins sittlichem Trieb als einen bloß psychologischen zu betrachten [R777]. Allein die Identifizierung der jüdischen Sittlichkeit mit der Autonomieethik Kants hat doch noch einen tieferen sachlichen Grund. Als das Wesentliche der Religion empfindet Lazarus die Idealität sittlicher Gesinnung, zu der in der Religion nur das Bewußtsein von dem göttlichen Ursprung der Sittlichkeit hinzukommt. Er sieht darum an der religiösen Beziehung des Menschen zu Gott nur das sittliche Moment und läßt an dem biblischen Gedanken von der Heiligkeit Gottes wie an den religiösen Grundgefühlen der Ehrfurcht und Liebe das spezifisch religiöse Moment unberücksichtigt [R778]. Dabei hat er auch in der sittlichen Sphäre selbst stärkere Empfänglichkeit für die gemütvolle Wärme der talmudischen als für die leidenschaftliche Energie der prophetischen Sittlichkeit. Die ihm gemäßen Züge ausgeglichener sittlicher Harmonie treten in seiner Darstellung der jüdischen Sittlichkeit mehr hervor als der unerbittliche Ernst der sittlichen Forderung.
Wenn darum seine Ethik den Gehalt jüdischer Sittlichkeit auch nicht erschöpft, so hat sie wesentliche Seiten derselben doch mit großem Feingefühl erfaßt und offenbart überall den glücklichen psychologischen Blick, der die stärkste Begabung von Lazarus ist. Schon in den grundlegenden Kapiteln ist eine Fülle solcher Einsicht enthalten. Daß für Bibel und Talmud das sittliche Gebot eine unmittelbare innere Evidenz besitzt, ist eine sehr richtige und aufschlußreiche Feststellung, die durch die unberechtigten Konsequenzen im Sinne des Autonomiegedankens nichts an ihrem Wert verliert. Nicht minder richtig zeigt Lazarus, wie die jüdische Ethik ihrer Form nach Pflichtethik ist, zu ihrem höchsten inhaltlichen Ideal aber das der Liebe und der inneren menschlichen Gemeinschaft hat, wie die natürlichen sittlichen Regungen des Menschen durch die religiöse Sittlichkeit nicht verdrängt, sondern auf ihren tiefsten Grund zurückgeführt werden, wie insbesondere die jüdische Ethik zugleich Persönlichkeits- und Gemeinschaftsethik ist [R779]. Auch die Kontinuität der sittlichen Entwicklung im Judentum, die Weiterbildung der biblischen Grundmotive in der talmudischen Bibelauslegung wird aufschlußreich von ihm erläutert [R780]. Der eigentliche Reichtum des Buches aber entfaltet sich in der konkreten Durchführung dieser allgemeinen Gesichtspunkte. Die Idee der sittlichen Gemeinschaft wird nicht nur in abstrakter Formulierung ausgesprochen. Lazarus zeigt vielmehr, wie sie sich im sittlichen Leben des Judentums auswirkt, wie alle seine Lebensformen und Institutionen von ihr geprägt sind [R781]. An der Bewertung des Torastudiums und an seiner Bedeutung innerhalb des jüdischen Lebens weist er nach, wie das Judentum den Zusammenhang intellektuellen und moralischen Lebens ansieht und welche sittliche Bedeutung es dem Idealismus des Erkennens zuspricht [R782]. Schon diese Beispiele zeigen, daß Lazarus nicht nur die sittlichen Lehren des Judentums, sondern die Realisierung der jüdischen Sittlichkeit in dem Leben der jüdischen Gemeinschaft zur Darstellung bringen will. Auch als Ethiker des Judentums bleibt er der Völkerpsychologe, der den Gesamtgeist des Judentums zu erfassen und das den formulierten ethischen Normen wie dem tatsächlichen sittlichen Verhalten zugrunde liegende Ethos zu erkennen sucht. Das Übergreifen aus der ethischen Systematik in die Psychologie der Sittlichkeit beeinträchtigt wohl die methodische Einheitlichkeit des Werkes. Aber sein Verdienst darf nicht auf methodischem Gebiet gesucht werden. Es liegt in dem Reichtum inhaltlicher Erkenntnis, den Lazarus freilich nicht begrifflich zu meistern vermocht hat.
Der Erneuerer der jüdischen Religionsphilosophie war Hermann Cohen (1842-1918), das Haupt der Marburger Schule des Neu-Kantianismus. Die während des ganzen 19. Jahrhunderts in jüdischen Kreisen vorhandene und seit der Rückkehr der deutschen Philosophie zu Kant weit verbreitete Tendenz, die philosophische Begründung des Judentums mit den Gedanken der Ethiko-Theologie Kants zu vollziehen, findet bei ihm zum ersten Male ihre systematische Verwirklichung. Cohen löst diese Aufgabe im Zusammenhange seines philosophischen Systems; aus seiner Begründung der Ethik wächst in kontinuierlicher Entwicklung der Begriff der Religion der Vernunft heraus, als dessen historische Verwirklichung er das Judentum erkennt. Seine Fassung der religiösen Grundbegriffe ist darum entscheidend durch seine grundsätzliche Weiterbildung der Kantischen Transzendentalphilosophie bedingt. Vor allem gewinnen sie dadurch eine neue Gestalt, daß er schon in seinen ersten der Kantinterpretation gewidmeten Werken die Vernunftkritik im Sinne eines unbedingten Idealismus versteht und den Gedanken einer transzendenten Realität gänzlich aus ihr ausscheidet. Die Welt unserer Erfahrung ist für ihn nicht, wie für Kant, die Erscheinung einer unerkennbaren metaphysischen Realität, sondern ist die Wirklichkeit schlechthin. Es gibt keine Wirklichkeit jenseits und außerhalb des in der Objektivität der Erkenntnis gegründeten Seins der Objekte der Erfahrung. Von einem Dinge an sich darf nicht in dem widerspruchsvollen Sinne einer absoluten Realität die Rede sein. In diesem Begriffe symbolisiert sich vielmehr nur die Idee der unendlichen Aufgabe der Erkenntnis, der gegenüber jede Verwirklichung des Erkenntnisideals, jede erreichte Erkenntnisstufe nur als »Erscheinung« der aufzubauenden wahren Wirklichkeit gelten darf. Diese Kritik des Transzendenzbegriffes trifft am einschneidendsten die religiösen Vorstellungen. Für Kant hatte der sittliche Vernunftglaube die Kraft, uns die unserer Erkenntnis verschlossene absolute Wirklichkeit zu erschließen. Verblieb unser theoretisches Erkennen im Bereich der Erscheinung, so erhebt uns der Vernunftglaube in die Sphäre des intelligiblen Seins; Gott, Freiheit und Unsterblichkeit können durch ihn in ihrer absoluten Wirklichkeit bejaht werden. Von der Position Cohens aus wird es unmöglich, den religiösen Vorstellungen diese metaphysische Bedeutung zu belassen. Auch sie müssen ihren logischen Ort innerhalb der Setzungen des Bewußtsein finden.
Den Weg dazu hatte Kant bereits mit seiner Lehre von den Ideen der theoretischen Vernunft gezeigt. Die Hypostasierung der Ideen Seele, Welt und Gott zu absoluten Gegenständen hat er als dialektischen Schein erwiesen und ihre wahre Bedeutung darin erkannt, unsere Erfahrungserkenntnis dem Gedanken des Unbedingten zu unterstellen. Die Forderung der Vernunft, die Daten der Erfahrung zu systematischer Einheit zu verknüpfen, und die Voraussetzung, daß die Erscheinungen einer solchen Verknüpfung fähig sind, daß alles Einzelne sich als Spezifikation allgemeiner Prinzipien begreifen und die Erfahrung sich als ein durchgehender systematischer und damit teleologischer Zusammenhang auffassen läßt, prägt sich in diesen Ideen nach verschiedenen Seiten hin aus. Am umfassendsten in der Gottesidee, die uns anweist, die Wirklichkeit so zu betrachten, als ob sie einem einheitlichen Vernunftplan entstammte, und die darum als dirigierendes Prinzip eine notwendige und bleibende Funktion im Aufbau der theoretischen Erkenntnis hat.
Diese Deutung des Gottesgedankens überträgt Cohen in seinem Werk über »Kants Begründung der Ethik« (1877) aus der Erkenntnislehre auch in die Ethik. Gott kann hier so wenig wie dort als metaphysische Realität bestehen bleiben, sondern hat in der Ethik wie in der Erkenntnislehre den gleichen Geltungswert der Idee. Der sittliche Sinn der Gottesidee ergibt sich ihm in der Kritik der Kantischen Lehre von den Postulaten der praktischen Vernunft, die Kants moralische Begründung des Gottes- und Unsterblichkeitsglaubens enthält. Für Kant sind das Dasein Gottes und die Unsterblichkeit der Seele Forderungen der sittlichen Vernunft, weil die sittlich geforderte, aber in der Sinnenwelt nicht anzutreffende Einheit von Tugend und Glückseligkeit nur durch sie gewährleistet ist. Cohen sieht in dieser Postulatenlehre eine Konzession an den Eudämonismus, die den Prinzipien der Kantischen Ethik widerstreitet. Den Unsterblichkeitsgedanken lehnt er als eine sinnliche und deshalb mythische Verfälschung der Idee der sittlichen Persönlichkeit ab [R783]. Für die Gottesidee aber ergibt sich ein tieferer und innerlicherer Zusammenhang mit dem sittlichen Problem. Derselbe Gedanke der Zweckeinheit, der schon in der theoretischen Sphäre zur Gottesidee geführt hatte, kehrt in der Ethik in der Idee eines Reichs der moralischen Zweckmäßigkeit wieder und findet hier seinen Ausdruck in der Idee eines Oberhauptes des Reiches der moralischen Wesen. Wenn aber in dieser der Ethik immanenten Bedeutung die Gottesidee nur der symbolisierende Ausdruck für die Einheit der moralischen Welt zu sein scheint, so liegt ihre selbständige Funktion darin, jene beiden Reiche der Zweckmäßigkeit aufeinander zu beziehen und miteinander zu verknüpfen. Sittliche und natürliche Welt können nicht auseinanderklaffen, zwischen natürlicher und moralischer Teleologie muß eine Übereinstimmung notwendig gedacht werden [R784]. Als der Urgrund dieser Übereinstimmung »ist die Gottesidee nach der kritischen Methode unabwendlich: sie ist, wenn jene intelligiblen Ideen selbst schon ein Unbedingtes darstellen, deren Unbedingtes, mithin eine Maxime höheren Grades, erweiterten Umfangs« [R785]. Die in ihrer Grundlegung autonome Ethik findet ihre Krönung in der Gottesidee, die, gerade weil sie jedem metaphysischen Anspruch entsagt, die bei Kant fehlende organische Verknüpfung mit den Prinzipien der Ethik erlangt.
Diese in der Kant-Darstellung gewonnene Bestimmung der Gottesidee wird in Cohens eigener »Ethik des reinen Willens« (1904) systematisch ausgebaut und dadurch erst in ihrer vollen Tragweite erschlossen. Gerade weil Cohen mit Kant auf das Bestimmteste zwischen theoretischer und sittlicher Gewißheit, zwischen der Gesetzlichkeit des Naturdenkens und der des sittlichen Willens unterscheidet, legt er entscheidendes Gewicht darauf, beide Bereiche in Einheit miteinander zu erhalten. Diese Einheit beruht auf der Gemeinsamkeit ihres methodischen Charakters. Die sittliche Gewißheit ist nicht die einer unkontrollierbaren Gefühlsinstanz. In der Ethik waltet dieselbe Gesetzmäßigkeit der erzeugenden Vernunft wie in der Logik, beide sind in dem Prinzip der Reinheit oder, um es in der Kantischen Sprache auszudrücken, der Geltungsautonomie geeint. Die Sonderung von logischer und ethischer Geltung kann darum niemals zum Gegensatz zwischen ihnen führen, und die Ethik Cohens darf unter dem Namen des Grundgesetzes der Wahrheit das methodische Prinzip des Zusammenhanges von logischer und ethischer Erkenntnis an ihre Spitze stellen [R786].
Der Zusammenhang von Natur und Sittlichkeit aber hat einen über dieses Gebiet formaler Methodik hinausreichenden Sinn. Er enthüllt sich an dem Problem der Verwirklichung des Sittlichen. Das Sein der Sittlichkeit ist das der Aufgabe, das als solches von dem der Natur durchaus verschieden ist, aber es ist der Sinn der sittlichen Forderung, verwirklicht zu werden, und diese Verwirklichung ist nur innerhalb der Natur möglich. So selbständig das Reich der sittlichen Prinzipien neben dem des Naturseins steht, so können sie doch ihre Realisation nur in der Wirklichkeit der Natur empfangen. Würde die Natur die Durchführung des sittlichen Ideals nicht ermöglichen, so würde dieses zwar nicht seine Geltung, aber seine Anwendbarkeit verlieren [R787]. Es ist eine für die Realisierbarkeit des Sittlichen unerläßliche Voraussetzung, daß seine Verwirklichung innerhalb der Natur möglich ist. Die so verstandene Einheit von Natur und Sittlichkeit wird durch die Idee Gottes gesichert.
Auch in dieser inhaltlichen Bedeutung tritt der Gedanke der Einheit von Natur und Sittlichkeit zunächst in sehr abstrakter Fassung auf. Das Sein der Sittlichkeit ist das der unendlichen Aufgabe. Das sittliche Bewußtsein ist seinem Wesen nach auf die Zukunft gerichtet und die Unendlichkeit der sittlichen Aufgabe fordert den unendlichen Fortgang der sittlichen Arbeit. Der Blick auf diese Unendlichkeit ist jedem Moment der sittlichen Arbeit immanent. Es gibt keine Sittlichkeit ohne die Idee der Ewigkeit, die den Charakter des sittlichen Bewußtseins bezeichnet. Dieser Ewigkeitscharakter der Sittlichkeit aber hat die Beständigkeit der Natur zur Voraussetzung. Weil die Kontinuität der sittlichen Arbeit nicht abbrechen darf, muß auch die Zukunft der Natur gesichert sein. Worum es Cohen bei dieser Inanspruchnahme des sittlichen Interesses für den dauernden Bestand der Natur in Wirklichkeit zu tun ist, zeigt die Fortführung des Gedankens. Für die Ewigkeit des Sittlichen genügt es nicht, daß die Natur als solche Bestand hat. In ihr muß auch das Subjekt sittlicher Arbeit, das Menschengeschlecht, bestehen bleiben, und seine Dauer darf weder durch Entropie noch durch andere Formen des Naturlaufs aufgehoben werden [R788]. Mit alledem sind nur die natürlichen Möglichkeitsbedingungen sittlichen Lebens überhaupt gesichert. Der Sinn aller dieser Voraussetzungen aber liegt darin, daß sie die fortschreitende Verwirklichung der Sittlichkeit ermöglichen. Die sittliche Arbeit der Menschheit steht unter dem Leitgedanken der Realisation des sittlichen Ideals. Daß wahrhafte Sittlichkeit wirklich werden kann, wirklich werden wird, ist der eigentliche Sinn der Gottesidee. Sie bürgt dafür, daß die unter den Bedingungen der Natur sich entfaltende geschichtliche Menschheit ihre Bestimmung verwirklicht [R789].
Damit ist der unmittelbare Anschluß an den jüdischen Gottesgedanken erreicht. Was Cohen hier in den Formen seines Systems ausspricht, ist der jüdische Glaube an die in Gott gründende sittliche Ordnung des Seins. Den Kern des jüdischen Gottesglaubens sieht Cohen in der messianischen Zukunftshoffnung der Propheten, die er mit dem modernen jüdischen Liberalismus im Sinne einer kontinuierlichen Entwicklung zu dem messianischen Reich der Sittlichkeit deutet. In seinem Ideal der sittlichen Ewigkeit nimmt Cohen diese messianische Idee auf und gliedert sie seinem System ein. Nur wird bei ihm aus der alle sittliche Entwicklung abschließenden messianischen Zeit die nie zum Abschluß kommende Arbeit der sittlichen Vervollkommnung. Das sittliche Ringen kennt keinen Stillstand in einem messianischen Friedensreich. Nur als ästhetisches Symbol hat das prophetische Bild der messianischen Vollendung sein Recht. Die Ethik verwandelt es in den Gedanken des unendlich fernen Zielpunkts, der aller ethischen Arbeit die Richtung gibt, niemals erreichbar, aber gerade darum in jedem Augenblick unmittelbar gegenwärtig [R790].
Der Sinn des Cohenschen Gottesbegriffs findet seinen bestimmtesten Ausdruck in dem Gedanken der Transzendenz Gottes. Gott begründet die Einheit von Natur und Sittlichkeit und darf gerade darum weder in der sittlichen noch in der natürlichen Welt aufgehen. Er steht außerhalb beider, wie überall das begründende Prinzip außerhalb dessen steht, was in ihm seine Begründung findet. Dabei ist es Cohen besonders um die Zurückweisung jeder pantheistischen Identifizierung von Gott und Natur zu tun. Cohen ist dem ästhetischen Reiz des Pantheismus nicht verschlossen und hat in seiner Jugend gelegentlich mit ihm sympathisiert, aber er lehnt ihn in der Zeit seiner Reife mit äußerster Schärfe ab, weil der Pantheismus für ihn die Naturalisierung der Sittlichkeit bedeutet. Die Identifizierung von Gott und Natur schließt zugleich die Identifizierung von Sittlichkeit und Natur in sich. Spinoza enthüllt diese Konsequenz seines » deus sive natura«, wenn er die menschlichen Handlungen beschreiben will, als wären sie Linien und Flächen, und auf solche Beschreibung seine Ethik gründen zu können glaubt. Die Metaphysik des Pantheismus vernichtet die Autonomie der Ethik, die der kritische Idealismus begründet. Weil zwischen Natur und Sittlichkeit nicht Identität, sondern Zusammenhang besteht, muß Gott als das Prinzip dieses Zusammenhanges beiden Gebieten transzendent bleiben. Der Gott der Ethik ist nicht der des Pantheismus, sondern des Monotheismus [R791].
Aber freilich schließt die Aufnahme des monotheistischen Gottesbegriffs in die Ethik seine Umbildung zur Idee in sich, die sowohl die Preisgabe seiner metaphysischen Ansprüche wie die seiner personalen Ausgestaltung fordert. Die Transzendenz Gottes kann nur die der Idee sein, die wohl über die einzelnen Sondergebiete des methodischen Bewußtseins, aber niemals über dessen Grenzen selbst hinausführen kann. Cohen sieht die Vorbereitung seiner Gottesauffassung in der Arbeit der mittelalterlichen Philosophie an der Befreiung des Gottesbegriffs von seinen anthropomorphistischen Zügen, vor allem in der Attributenlehre des Maimonides, deren metaphysische Voraussetzungen bei ihm freilich nicht zu ihrem Rechte kommen. Die Deutung Gottes als Idee soll weder der Gottesvorstellung etwas von der Fülle ihres Gehaltes rauben, noch ihren Geltungswert beeinträchtigen. Das sittliche Gottvertrauen kann sich in seiner vollen Glut und Lebendigkeit auch auf den als Idee gefaßten Gott richten, der die sittliche Ordnung der Wirklichkeit garantiert; und wenn Gott die dingliche Existenz abgesprochen wird, so gewinnt er statt des Daseins der Dinge das Sein der Prinzipien, die aller dinglichen Wirklichkeit zugrunde liegen [R792]. Diese Gleichsetzung Gottes mit den erzeugenden Prinzipien des Cohenschen Idealismus gilt freilich, wie leicht ersichtlich ist, nur relativ. So viel innerlicher Cohen auch die Gottesidee in die Ethik einbezieht, als Kant es getan hatte, kommt sie doch auch bei ihm über den Postulatcharakter nicht hinaus. Daß sich die Sittlichkeit innerhalb der Natur verwirklicht, wird nicht deduziert, sondern postuliert, da sich die Konstituierung des Naturbegriffs unabhängig von den Gesetzen der Sittlichkeit vollzieht. Das gilt umso gewisser, weil der inhaltliche Verlauf des Naturgeschehens den Notwendigkeiten des sittlichen Bewußtseins zu entsprechen hat. Dieses Postulat wird nur eine Stufe zurückgeschoben, wenn der Gottesidee die Funktion zugesprochen wird, die Verwirklichung der Sittlichkeit zu garantieren. Im Zusammenhange damit erhebt sich die weitere, nur in einer systematischen Diskussion des Cohenschen Wirklichkeitsbegriffs voll zu klärende Frage, ob diese Funktion nicht über den Ideencharakter Gottes hinausführt, ob er nicht als höchste Wirklichkeit gedacht werden muß, um als bestimmende Macht die Verwirklichung des sittlichen Ideals im Naturgeschehen verbürgen zu können.
Die Eingliederung der Gottesidee in das System der Ethik macht die Frage nach der Beziehung der Ethik zur Religion unvermeidbar, in der der Gottesgedanke seinen geschichtlichen Ursprung hat. Das Verhältnis stellt sich unter zwei grundverschiedenen Aspekten dar, je nachdem ob wir es geschichtlich oder systematisch betrachten. Geschichtlich ist die Religion der Mutterboden des sittlichen Idealismus, und die Philosophie, die ihre Prinzipien überall in der Kontinuität mit den geschichtlichen Mächten der Kultur zu entwickeln und an ihnen zu bestätigen hat, muß in der Ethik die Religion unter ihre geschichtlichen Quellen aufnehmen [R793]. Cohen denkt dabei an die Religion überhaupt, aber er sieht doch die Urkraft des Sittlichen im jüdischen Monotheismus am reinsten und tiefsten ausgeprägt. Erst bei den Propheten Israels löst sich die Religion aus den Verschlingungen mit dem Mythos und wird ganz von dem sittlichen Interesse beherrscht [R794]. Die Propheten sind die Schöpfer der wichtigsten sittlichen Grundbegriffe, für den Menschheitsbegriff wie für den Messianismus und die Gottesidee knüpft die Ethik des reinen Willens an sie an. Was die Ethik ihnen verdankt, zeigt Cohen besonders eindringlich in einem Vortrag »Über das soziale Ideal bei Platon und bei den Propheten«, die er als die »beiden wichtigsten Quellen der modernen Kultur überhaupt« bezeichnet. Nach Cohens Auffassung hat die Ethik zwar ihr methodisches Fundament durch die Ideenlehre Platons, die Tiefe ihres Gehalts aber durch die Propheten erhalten. In seinem sozialen Ideal bleibt Platon an die Schranken der griechischen Wirklichkeit gebunden; seine intellektualistische Schärfe und Exklusivität verhärtet und verewigt die Scheidung der Stände und macht die Erkenntnis und die an sie gebundene wahrhafte Sittlichkeit zum Reservat der Philosophenklasse; sein Begriff der sittlichen Gemeinschaft reicht nicht über die Grenzen Griechenlands hinaus. Ihm fehlt die Idee des Menschen, die die Propheten in ihrem Menschheitsgedanken haben. Demgegenüber sind es die Propheten, die sich in ihrem sittlichen Denken über die gegebene geschichtliche Wirklichkeit erheben, die sozial- und außenpolitisch die Grenzen der Klassen und Völker überwinden und durch ihre Richtung auf die Zukunft zu dem Gedanken der Weltgeschichte geführt werden [R795]. Seit dem Beginn der neunziger Jahre hat Cohen in einer Fülle von Vorträgen und Abhandlungen diesen sittlichen Gehalt des Judentums zur Darstellung gebracht, nicht in objektiver Kühle, sondern in der glühenden Begeisterung des Bekenners. In ihm selbst lebte das sittliche Pathos der Propheten, und aus dieser Geistesverwandtschaft heraus hat er ihre sittlichen Grundmotive wie kein anderer gedeutet.
Für die systematische Ethik aber ist die Religion mit aller Tiefe ihres sittlichen Gehalts nur geschichtliche Voraussetzung. Sie nimmt die von der Naivität des schöpferischen religiösen Bewußtseins erzeugten Gedanken auf, aber indem sie sie methodisch beglaubigt, führt sie sie über die Stufe der Religion hinaus und gibt ihnen die Gewißheit der autonomen sittlichen Erkenntnis. Für das vollentwickelte Kulturbewußtsein übernimmt die systematische Ethik die sittliche Aufgabe der Religion [R796]. Dieses Verhältnis gilt nach Cohen auch für die Gottesidee. Auch sie geht von der Religion in die Ethik über und hat in ihr ihren eigentlichen Ort [R797]. Nachdem die religiöse Gottesvorstellung zur Gottesidee der Ethik geworden ist, hat die Religion sich in die Ethik aufzulösen. Ihrem sittlichen Ursprunge gemäß findet die Religion bei dieser Verwandlung in die Ethik »nicht ihr Ende, sondern ihre Vollendung« [R798]. Das reife geschichtliche Bewußtseins Cohens ist vor dem Gedanken bewahrt, daß diese Verwandlung bereits in der Gegenwart möglich ist. Von der systematischen Vollendung der Kultur, in der die Ethik die sittliche Leitung des Gemeinschaftslebens übernehmen kann, sieht er die Gegenwart weit entfernt. Bis zur Erreichung dieses Zieles ist die Religion für den Fortschritt der sittlichen Entwicklung unentbehrlich. Eine nicht in methodischer Erkenntnis begründete populäre sittliche Aufklärung, die sich in der Gegenwart an die Stelle der Religion zu setzen sucht, ist zur Leitung des sittlichen Bewußtseins untauglich, und dem Materialismus der Natur- und Geschichtsansicht gegenüber bleibt es die Aufgabe der Religion, die sittliche Wahrheit des Gottesgedankens aufrechtzuerhalten. Bei dieser geschichtlichen Sachlage wird die Treue gegen die angestammte Religion nicht nur durch die Pietät gefordert, sondern ebenso durch die Verantwortung für die sittliche Zukunft. Aber diese Treue hat sich gerade darin zu bewähren, daß die geschichtliche Religion idealisiert, d. h. in der Richtung auf den ethischen Idealismus weiter entwickelt wird. Dieser ist das Endziel, auf das hin die geschichtlichen Religionen in ihrer Vielheit konvergieren müssen [R799]. Damit bezeichnet Cohen deutlich seine Stellung zum Judentum. Er ist Jude, ebensosehr in der Ursprünglichkeit seines Gefühls wie in der Bewußtheit philosophischer Erkenntnis. In ihm lebt die ganze Glaubenskraft des jüdischen Messianismus und gewinnt in seinem System philosophische Gestalt. So sieht er in seiner philosophischen Arbeit die Rechtfertigung des Judentums und wird seinen Zeitgenossen der philosophische Mahner zur religiösen Treue. Aber er schließt das Judentum in sein systematisches Urteil über die Religion ein und will in der philosophischen Rechtfertigung des Judentums zugleich seine Idealisierung anbahnen, die es für den Übergang in die philosophische Ethik reif macht.
Von diesem Standpunkte aus wollte Cohen die Religionsphilosophie des Judentums schreiben, die seine religionsphilosophische Arbeit systematisch zusammenfassen sollte. Aber bevor es zur Ausführung dieses Planes kam, hatte sich in seiner Auffassung der Religion eine entscheidende Änderung vollzogen. Es war ihm zum Bewußtsein gekommen, daß die in ihm selbst lebendige Religion von seinen bisherigen theoretischen Formulierungen nur einseitig erfaßt war. Das in der Seele des Denkers mächtige Faktum der Religion zwang ihn, eine Revision seiner Begriffe vorzunehmen. Die methodische Begründung seiner neuen Religionsauffassung gab seine Schrift »Der Begriff der Religion im System der Philosophie« (1915), die Darstellung der Religionsphilosophie auf der neugewonnenen Grundlage die erst nach dem Tode Cohens erschienene »Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums« (1919). Bereits der Titel beider Werke zeigt, daß auch der neue Religionsbegriff Cohens von den Grundlagen seines Systems aus entwickelt wird. Sein methodischer Rationalismus kennt keine andere Religion als die Religion der Vernunft, und sein systematischer Begriff der Philosophie verlangt, daß sie im System der Philosophie ihren Ort findet. Die Bindung an die Systemgrundlagen bleibt eine so enge, daß die Religion zu den bisherigen Gliedern des Systems nicht als ein neues hinzugefügt wird. Die Autonomie der Kultur schiene Cohen gefährdet, wenn eine solche methodische Selbständigkeit der Religion zugelassen würde. Das religiöse Bewußtsein soll nicht als eine neue Bewußtseinsrichtung zu den anderen hinzutreten, sondern innerhalb der Grundrichtungen des Bewußtseins, vor allem im sittlichen Bewußtsein, verbleiben und sich nur als ein neues Bewußtseinsmoment aus ihnen ergeben. Cohen bringt das auf die methodische Formel, daß die Religion keine Selbständigkeit, sondern Eigenart hat [R800]. Der Ethik gegenüber, in der die Religion ihren zentralen Ort hat, ergibt sich diese Eigenart aus der Einseitigkeit der ethischen Gottesidee. Der Gott der Ethik ist der Gott der Menschheit, nicht der Gott des Individuums.
Das ist bei der Anlage der Cohenschen Ethik, die ganz durch den Gedanken der Allgemeingültigkeit des sittlichen Prinzips bestimmt ist und den sittlichen Begriff des Menschen ausschließlich unter diesem Gesichtspunkt entwickelt, nicht anders möglich. Der Mensch ist ihr nicht das Individuum in den Zufälligkeiten seines natürlichen und sozialen Daseins, ebensowenig die Mehrheit solcher Individuen in ihren relativen Verbindungen und Beziehungen, sondern der Träger der sittlichen Idee. Diesem Begriff des Menschen kann nur der Gedanke der menschlichen Allheit genügen. Die Ethik definiert darum den Menschen als Glied der Allheit und bestimmt seine Aufgabe dahin, daß er sich zur Idee der Allheit erhebt. Für die Ethik Cohens findet darum die Sittlichkeit ihre Verwirklichung primär im Staate, der in seiner Sphäre die Allheit repräsentiert, und die Vielheit der Einzelstaaten fordert die Vereinigung zum Allheitsbegiiff der Menschheit. Der notwendige Korrelatbegriff zu dem Gedanken der Menschheit bleibt freilich immer das Individuum als Träger der sittlichen Vernunft und Ausgangspunkt der sittlichen Arbeit. Aber es kommt hier nur zu einem formal gefaßten Begriff des Individuums. Das Individuum der Ethik bleibt das sittliche Vernunftwesen überhaupt, und ebenso werden auch die sittlichen Beziehungen der Individuen nur unter diesem formalen Gesichtspunkt erfaßbar. Der Andere ist sittlich eben nur »der Andere«, der gleich mir sittliches Subjekt ist [R801]. Zwischen den Gliedern der sittlichen Gemeinschaft walten primär nur die sich aus dem sittlichen Persönlichkeitsbegriff ergebenden rationalen Beziehungen, denen gegenüber die intimeren Momente des sittlichen Gefühls bloß als psychologische Vehikel zur Geltung kommen. Bei dieser beherrschenden Bedeutung des Gedankens der sittlichen Allheit findet auch das Interesse an der Verwirklichung des Sittlichen in dem Glauben an den geschichtlichen Sieg des Guten seine Befriedigung. Für die sittliche Not des Individuums, für sein Ringen mit seiner Schuld, hat die Ethik keinen Trost. Die Ethik Cohens ist religiös ganz an dem Prophetismus orientiert, in dem das politische und weltgeschichtliche Interesse vorherrscht. Das Judentum wird in seiner Darstellung ausschließlich zur Religion der sittlichen Erhabenheit.
Die Korrektur dieser Einseitigkeit, welche die Alterswerke Cohens vornehmen, betrifft darum ebensowohl die Ethik wie die Religion. Der Begriff des Individuums wird jetzt in seinem vollen Sinne zur Geltung gebracht, sowohl am Nebenmenschen wie am eigenen Ich. Die Gemeinschaft mit dem Nebenmenschen wird im Mitgefühl mit seinem Leid zur individuellen sittlichen Gemeinschaft, der Nebenmensch zum Mitmenschen, dem ich unmittelbar verbunden bin. Dies Mitleid wird, bezeichnend für die Ethik Cohens, sogleich zum sozialen Mitleid. Das psychologische Faktum des Mitleids empfängt seine sittliche Legitimierung als Mitleid mit dem Armen, dessen soziale Not unsere Hilfe fordert. Cohen verfährt auch hier, wo er dem Gefühl seinen Platz in der Ethik gibt, nicht phänomenologisch, sondern deduktiv, indem er die Bedeutung des Gefühls aus seiner sittlichen Leistung beglaubigt. Und sein Aktivismus sieht diese Leistung in der sittlichen Handlung, die aus dem Gefühl entspringt. Aber dieser Aktivismus erkennt, daß die Intimität sittlicher Gemeinschaft nur aus der gefühlsmäßigen Verbundenheit mit dem Nächsten quellen kann [R802]. Während die Ethik nur die Achtung vor der sittlichen Würde des Anderen kennt, verklärt sich das Mitleid zur Liebe zum Mitmenschen. Der Fundamentalbegriff der sittlichen Achtung wird dadurch nicht ersetzt, sondern ist die Voraussetzung, welche die Liebe als sittliche Liebe erst möglich macht. Dieses neue sittliche Verhältnis ist für Cohen im Unterschied vom rein ethischen das religiöse [R803]. Die religiöse Deutung mag durch die Phänomene nicht unmittelbar gefordert scheinen. Auch innerhalb der rein sittlichen Sphäre ist die Gemeinschaft des Gefühls möglich, aber es ist doch eine tiefe Einsicht Cohens, daß menschliche Liebesgemeinschaft und religiöse Verbundenheit innerlichst zusammenhängen.
Unmittelbar deutlich wird indessen das Ungenügen der bloßen Ethik gegenüber dem sittlichen Erlösungsbedürfnis des Menschen. Der schuldbelasteten Seele – und es gibt keinen, der von Schuld frei ist – genügt es nicht, daß das Böse im geschichtlichen Fortgang von der Kraft des Guten überwunden wird, sie selbst verlangt nach Erhebung aus ihrer Schuld, nach ihrer Wiederherstellung zur sittlichen Freiheit. Das sittliche Gebot kann sie nicht aus der Verstrickung in die Sünde befreien, und auch der Gott der Sittlichkeit hilft ihr in dieser Not nicht. Die Läuterung von der Sünde verlangt nach einem Gott, der nicht nur Gott der Menschheit, sondern Gott des Individuums ist. In seinem Schuldgefühl wird der »einzige Mensch« zum religiösen Individuum und findet den Gott, der ihm die Verzeihung gewährt [R804]. Dabei bleibt die sittliche Aktivität des Menschen unverkürzt. Die Arbeit der Läuterung hat er selbst zu vollziehen, in Reue und Umkehr hat er selbst die Sünde zu überwinden. Aber er gewinnt die Kraft dazu nur in der Zuversicht, die ihm der Glaube an den verzeihenden Gott gewährt. Die Erlösung des Individuums ist nur in der Korrelation von Mensch und Gott möglich, aber in dieser Korrelation ist der Mensch der tätige Faktor, Gott das Ziel, auf das die eigene Kraft des Menschen gerichtet wird. Die sittliche Arbeit ist die Sache des Menschen, aber er kann sie nur vor dem Angesichte Gottes vollziehen, nur im Vertrauen auf die Kraft des Guten, nur in der Gewißheit der göttlichen Vergebung [R805]. An diesem Punkte scheidet sich die jüdische Auffassung von der christlichen, und wenn Cohen sich auch bewußt ist, durch die moderne protestantische Theologie zu seiner Problemstellung angeregt zu sein, so darf er doch für seine Lösung des Problems mit vollem Recht in Anspruch nehmen, daß sie ganz der jüdischen Auffassung entspricht. Das Christentum faßt den Begriff der Erlösung so, daß die Aktivität vom Menschen wesentlich in Gott verlegt wird. Das Judentum hält die dem Menschen zufallende Selbstläuterung und die von Gott gewährte Erlösung streng auseinander. Den vollkommenen Ausdruck seiner Auffassung findet Cohen in dem talmudischen Wort, das er der Religion der Vernunft als Motto voranschickt: »Heil Euch, Israel, wer reinigt Euch und vor wem reinigt Ihr selbst Euch? Es ist Euer Vater im Himmel« [R806].
Die beiden Ansatzpunkte zur Religion, die wir bisher getrennt betrachtet haben, wirken in der vollen Entfaltung des religiösen Motivs der Liebe zusammen. Sie ist uns zunächst als Menschenliebe gegeben, aber nun wird auch zwischen Gott und Mensch die Beziehung der Liebe möglich, als Liebe Gottes zum Menschen wie als Liebe des Menschen zu Gott. Der Gott des Individuums wird zum Gott der Liebe, und die religiöse Beziehung des Menschen zu Gott drückt sich in der Gottesliebe aus. Nach beiden Seiten hin hat der Liebesbegriff einen sittlichen Sinn und ist nur kraft der sittlichen Bedeutung Gottes möglich. Die Liebe Gottes zum Menschen steht im engsten Zusammenhange mit der Menschenliebe. In der sozialen Menschenliebe weiß ich zugleich, daß Gott den Menschen liebt, ich muß, wie Cohen es paradox ausdrückt, Gott als liebend denken, weil ich selbst den Menschen lieben soll. Wie die Menschenliebe ist auch die Liebe Gottes zum Menschen auf das menschliche Leiden bezogen, das religiös nur als Leiden der Liebe gedeutet werden kann [R807]. Die Liebe des Menschen zu Gott wiederum richtet sich auf Gott als das Urbild des Sittlichen, aber in jener religiösen Wendung, in der er bereits zum Gott der Liebe geworden ist [R808]. Wie das biblische Gebot, Gott zu lieben mit ganzem Herzen, ganzer Seele und ganzer Kraft, es ausspricht, gehen alle Seiten der menschlichen Persönlichkeit in die Gottesliebe ein. Das Ganze des menschlichen Bewußtseins wird in dem Gedanken der Liebe religiös auf Gott bezogen [R809].
Wie hier psychologisch, setzt Cohen auch systematisch die Religion zu allen Seiten des Bewußtseins in Beziehung. Der religiöse Gesichtspunkt bleibt nicht auf die Sphäre beschränkt, in der er zunächst entstanden ist, sondern greift auf alle Gebiete der Kultur über und stellt sie in neue Beleuchtung. Das betrifft zunächst schon die Sittlichkeit selbst, in der die beiden methodisch gesonderten Momente des eigentlich Ethischen und seiner religiösen Abzweigung doch einheitlich zusammengehören. In der Religion der Vernunft wird die Vereinigung der methodisch isolierten Faktoren überall durchgeführt. Der sittliche und der religiöse Begriff des Menschen und erst recht die ethische und die religiöse Gottesidee stellen sich als ein einheitliches Ganzes dar. Das heißt, von der Ethik aus gesehen, daß ihr ganzer Gehalt nun in religiöser Beleuchtung erscheint; die Ideen der Menschheit, des Messianismus, der Weltgeschichte werden in ihren religiösen Zusammenhang gestellt und damit von der herben Strenge befreit, die ihnen ihre rein ethisch rationale Interpretation gegeben hatte. Dadurch korrigiert sich zugleich auch die Einseitigkeit, die sich bei der methodischen Isolierung für die Auffassung der Religion ergeben hatte. Schien diese zunächst ganz von dem Gedanken der Sünde und des Leidens erfüllt, so treten jetzt die gerade im Judentum so starken hellen und ungebrochenen Momente des religiösen Bewußtseins wieder in ihr Recht. Die Religion ist in Einem ursprüngliches Bewußtsein der Gottesnähe und Sehnsucht, die durch die Sünde verursachte Entfremdung von Gott zu überwinden, Freude im Angesichte Gottes und Kraft, das Leid zu tragen.
Von diesem ethischen Zentrum aus ergibt sich dann die Immanenz der Religion auch in den anderen Bereichen des Geistes. Die programmatische Schrift »Der Begriff der Religion im System der Philosophie« behandelt in ausführlichen Kapiteln das Verhältnis der Religion zur Logik, Ästhetik und Psychologie ebenso wie das zur Ethik. Dabei knüpft insbesondere das wichtigste Kapitel über die Logik an Gedanken an, die schon in der Ethik des reinen Willens enthalten waren. Schon dort hatte Gott als der Bürge für die Verwirklichung der Sittlichkeit ebenso zur Natur wie zur Sittlichkeit Beziehung gewonnen. Damit Gott die Einheit beider ermöglichen könne, hatte Cohen seine Transzendenz sowohl gegenüber der Natur wie gegenüber der Sittlichkeit gefordert. Was hier mit bewußter Absicht aus der Sprache der Religion in die der philosophischen Methodik übertragen worden war, wird jetzt mit gleicher Bewußtheit der religiösen Sprache zurückgegeben. Cohen spricht nicht mehr von der Transzendenz, sondern von der Einzigkeit Gottes und versteht darunter nicht nur die Einheit im Gegensatz zu der polytheistischen Vielheit der Götter, sondern die Unvergleichlichkeit Gottes mit allem anderen Sein. Diese Einzigkeit wird jetzt zum wesentlichen Inhalt des Monotheismus und ihre Erkenntnis zum Zeugnis der logischen Kraft, die dem Monotheismus von Hause aus innewohnt. Mit der Wiederherstellung des religiösen Begriffs aber gewinnt auch sein Inhalt eine neue religiöse Bedeutung. Aus dem methodischen Postulat der Transzendenz wird der religiöse Gedanke der Unvergleichbarkeit Gottes, seiner Erhabenheit über alles andere Sein [R810]. Derselbe Gedanke kehrt in noch prägnanterer Form wieder, wenn das Sein jetzt die absolute Andersartigkeit Gottes gegenüber der Welt der Dinge bezeichnet. Wenn Gott in der Offenbarung im Dornbusch sich mit den Worten kundtut: »Ich bin, der ich bin«, so sieht Cohen in diesem »größten unter allen Stilwundern der mosaischen Bücher« die Erkenntnis Gottes als des Gottes des Seins und läßt dem eleatischen Sein »in der Religion den Begriff des einzigen Gottes als des einzigen Seins« entsprechen. Die Erkenntnis Gottes als des Seienden wird so zur Entdeckung des Seinsbegriffs in der Religion [R811]. Aber auch hier wird in der logischen Formulierung ein ursprünglich religiöser Tatbestand getroffen. Es ist, gleichviel wie es mit der exegetischen Richtigkeit jener Bibeldeutung stehen mag, ein religiöser Urgedanke, daß nur Gott wahrhaft seiend und daß die Welt der Dinge ihm gegenüber nichtig und wesenlos ist. Selbstverständlich aber kann es nicht die Meinung Cohens sein, daß das einzige Sein Gottes das Sein der Welt nihilistisch verflüchtigt. Vielmehr ist es gerade der Sinn des Seins, das wir Gott zuschreiben, daß das Werden der Dinge in ihm seinen Ursprung hat. Das entspricht ganz dem Begriffszusammenhang der Cohenschen Logik, welche die Substanz als Voraussetzung für das Werden definiert und darüber hinaus die Grundbegriffe der Erkenntnis als Ursprungsbegriffe faßt, in denen die Natur zur Erzeugung kommt. So hat auch Gott den logischen Charakter des Ursprungsbegriffs, der das logische Motiv des Schöpfungsgedankens ist. Aber wiederum wächst der Ursprungsbegriff, indem er als Schöpfungsbegriff gefaßt wird, aus der logischen in die religiöse Sphäre hinein und wird zum Träger aller der religiösen Motive, die im Begriffe des Schöpfergottes enthalten sind. Freilich wird der Gedanke an einen zeitlichen Weltanfang aus dem Schöpfungsbegriff eliminiert, und im Anschluß an das Wort des jüdischen Morgengebets, daß Gott »an jedem Tage beständig das Werk des Anfangs erneuert«, wird die Schöpfung als Kontinuität der Erhaltung, die zugleich ein ständiges Neuwerden ist, verstanden [R812]. Auf den Menschen bezogen ergibt der Ursprungsbegriff den Gedanken der Offenbarung, abermals nicht in seinem historisch gefaßten Sinne, sondern als Ursprung der menschlichen Vernunft aus Gott. Aller religiösen Heteronomie gegenüber wird hier der Vernunftcharakter der Religion behauptet, aber die autonome Vernunft des Menschen steht religiös in der Korrelation zu Gott, darf als Schöpfung Gottes bezeichnet werden [R813]. So gewinnen auch die ontischen Begriffe der Religion ihr Recht in dem System. Die Religion der Vernunft hebt mit ihnen an, und indem sie dann die in ihnen angelegten ethischen Konsequenzen entfaltet, bringt sie den ganzen Ideenzusammenhang der jüdischen Religion zur Darstellung. Hatte die Ethik Cohens nur den sittlichen Gehalt des Judentums erfaßt, so kommt jetzt auch dessen religiöse Innerlichkeit zu ihrem Rechte, und das Ineinander beider Momente wird tiefsinnig und ideenreich an allen religiösen Einzelbegriffen aufgezeigt.
Die Religionsphilosophie des Judentums aber ist zugleich als Darstellung der Religion der Vernunft gemeint, in dem Kantischen Sinne, nach dem die Philosophie der Religion nicht nur ihren Platz im System der Vernunft anzuweisen, sondern sie aus der Vernunft herzuleiten hat. Cohen will die wahre Religion als die Religion der Vernunft konstruieren und an der historischen Religion des Judentums die Lehre der Vernunftreligion nur zur Entdeckung bringen. Ebenso wie die Ethik im engeren Sinne wird auch ihre religiöse Abzweigung, ebenso wie die ethische Idee der Achtung vor der Menschenwürde wird auch die in Liebe und Mitleid fundierte individuelle sittliche Gemeinschaft von ihm für die Vernunft in Anspruch genommen. Wir haben für das Mitleid bereits erwähnt, daß es als soziales Mitleid deduziert wird, wenn auch diese Deduktion nur in der Aufweisung seiner sittlichen Leistung besteht. Das wiederholt sich bei den anderen Begriffen der religiösen Sittlichkeit wie der Religion selbst. Dabei aber ist unverkennbar, daß die rationale Ableitung dieser Begriffe zugleich eine rationalisierende Deutung und Einengung ihres Gehaltes in sich schließt. Es bedeutet nicht nur gegenüber dem psychologischen Faktum des Mitleids, sondern auch gegenüber seiner Stellung in dem Ganzen des sittlichen Bewußtseins eine starke Einengung, wenn es nur als soziales Mitleid ethisch legitimiert wird.
Das wiederholt sich noch sichtbarer, wenn der in Cohen tief und ursprünglich lebendige Glaube an die Liebe Gottes zum Menschen durch die Erwägung gerechtfertigt wird, daß wir an die Liebe Gottes zum Menschen glauben, weil wir selbst den Menschen lieben sollen. Hier wirkt freilich noch eine besondere Ursache mit. Gott bleibt für Cohen auch in dieser letzten Phase seines Denkens Idee. Er hat jetzt in den Inhalt der Gottesidee die Konkretion und Lebendigkeit der religiösen Gottesvorstellung aufgenommen und hat kein Bedenken mehr dagegen, Gott als Person zu denken [R814], aber die methodischen Grundlagen seines Systems machen es ihm weiterhin unmöglich, Gott als Realität aufzufassen, auch nicht in dem Sinne, in dem die Systeme des nachkantischen Idealismus in Gott das in allem Bewußtsein wirkende Prinzip sehen. Die Wendung zur Religion hat den Inhalt der Gottesidee, nicht ihren methodischen Charakter geändert. Aber der neue Gehalt der Gottesvorstellung und ihre gegebene methodische Form gehen zu keiner vollen Einheit zusammen. Ließ sich das Prinzip der sittlichen Weltordnung, als das die Ethik Gott faßt, ohne Zwang als die Idee der sittlichen Weltordnung verstehen, so wird dasselbe für den Gott der Liebe ungleich schwieriger. Das führt auf der einen Seite, wie von den Kritikern Cohens mehrfach hervorgehoben worden ist, zu einem unvermerkten Durchbruch ins Metaphysische, aber es führt auf der anderen Seite dazu, daß der Gehalt der religiösen Gottesvorstellung sich nicht frei und unbeengt entfalten kann. Die Liebe zu Gott muß als Liebe zum sittlichen Ideal gedeutet werden, und der Gedanke der Liebe Gottes zum Menschen hat sein Recht nur als das Urbild, an dem sich die reine sittliche Handlung aufbauen kann. Wir haben früher hervorgehoben, daß es ganz mit der jüdischen Auffassung übereinstimmt, wenn die Versöhnungslehre Cohens die Tat der Selbstläuterung vom Menschen fordert. Aber der Läuterung des Menschen entspricht im Judentum die verzeihende göttliche Gnade, während bei Cohen die Idee des verzeihenden Gottes nur den Zielpunkt angibt, im Glauben an den der Mensch die Kraft zur sittlichen Selbsterneuerung gewinnt. Cohen selbst drängt über diese Abschwächungen ständig hinaus. In seinem Werk atmet lebendigste Religion, und er setzt seine ganze begriffliche Formkraft daran, sie in seine Begriffe aufzunehmen, aber in seinen entscheidenden Formulierungen bleibt er doch an diese Schranke gebunden. In seiner bewunderungswürdigen Konstruktion der Religion bleibt eine letzte unausgleichbare Spannung zwischen religiösem Gehalt und philosophischer Begriffsbildung zurück.
Die große Leistung Cohens wird ungeachtet aller solcher Bedenken für lange im Mittelpunkte der jüdischen Religionsphilosophie stehen. Ihre Wirkung ist in allem zu spüren, was seither an philosophischer Arbeit innerhalb des Judentums hervorgetreten ist. Aber freilich hat sich diese Arbeit methodisch weit von dem philosophischen Kritizismus Cohens entfernt und folgt den metaphysischen und irrationalistischen Tendenzen, die allgemein das Denken der Zeit beherrschen. Allein bisher ist es hier so wenig wie sonst zu einer wirklichen Klärung dieses neuen philosophischen Wollens gekommen. Die neuen Tendenzen sind noch zu sehr im Fluß, um eine geschichtliche Würdigung zu ermöglichen, und so wenig die kritische Religionsphilosophie bereits der Geschichte angehört, wird unser historischer Überblick doch bei ihr Halt machen müssen.