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Der Augenblick ist in jedem Menschenleben entscheidend, wo uns die Dinge anfangen objectiv zu werden. Von dem Augenblick an, wo wir etwas wissen, was feststeht, fixirt ist wie der Schmetterling unter der Nadel, nicht mehr ausfliegen, nicht mehr wieder lebendig werden, uns widerlegen, irren, wieder zu Anfängern machen und in alle Weiten treiben kann, beginnt unsere Kraft.
Die Leute nannten Lucinden allmählich stolz. Ihr Stolz bestand darin, daß sie sich emporhob, es versuchte mit ihrer mangelhaften Bildung ihrer immer reichern Erfahrung gleichzukommen. Sie wußte so vieles mehr und besser als viele andere, und da sie doch an formeller Bildung zurückstand, auch zu träge und zu unstet war, vielerlei noch zu lernen und nachzuholen – ihre Herrschaft würde ihr dazu, wenn sie's begehrt hätte, die Mittel geboten haben – so trug sie geistig den Kopf mit Bewußtsein ihrer Lücken hoch und erfand sich allerlei Ersatzmittel und Beschönigungen für das, was ihr fehlte.
In diesen Erfindungen war sie so glücklich, daß man sie bald das poetische »Hessenmädchen« nannte und sie bewunderte. Sie war naiv mit Bewußtsein. Sie konnte den Blick so senken, wie die Andacht selbst. Sie konnte ihn aber auch wieder aufschlagen, wie jene Medusen, die gerade darum so grausam mit ihren Blicken 43 tödten, weil sie anziehend sind, regelrecht in ihrem Antlitz alle Linien der Schönheit besitzen. Lucindens Kopf wurde immer mehr einer jener Gemmenköpfe, die ebenso der blumendurchflochtene Aehrenkranz der Ceres wie das Schlangengeringel einer Phorkyde schmücken kann. Der Stadtamtmann, der zu den eigenthümlichen Naturen gehörte, die eine wahre Cerberusbissigkeit im Amte mit einer nur im Hause zum Vorschein kommenden träumerisch weichen und fast lyrischen Art verbinden können, erklärte es für einen »radicalen Unsinn«, als auf dem Casino davon die Rede war, sein vielbesprochenes schönes Kindermädchen sollte er die Tracht annehmen lassen, in der Von der Embde seine berühmten blumenzupfenden Dorfmädchen gemalt hat. Er hätte sie, wenn's nach ihm gegangen wäre, in eine Pension schicken mögen, soviel Respect hatte er vor ihren Gaben. Nur seine Frau theilte diesen Enthusiasmus nicht mehr. Sie hörte seit lange nur auf die vielen Klagen, die über Lucinden einliefen. Alle jungen Mädchen der Bekanntschaft oder Verwandtschaft des Stadtamtmanns waren eine Zeit lang von ihr entzückt; kaum aber hatten sie einen Vertrauensbund mit ihr geschlossen, so nannte man sie treulos, verrätherisch und warnte vor ihr die, die sie empfohlen hatten, und die, die sie noch beschützten. Die einen hoben sie dann zwar in den Himmel, die andern verwünschten sie aber schon. Sie war oft in dem Grade der Gegenstand der allgemeinen Discussion, daß sich der Stadtamtmann die Ohren zuhielt, bis denn aber doch seine Gattin, »um dem Dinge ein Ende zu machen«, ihre Entlassung beantragte.
Nichts ist so verderblich für die Jugend, als ungestraft böses Beispiel hingehen sehen. Lucinde sah die vornehme Dame, die eine Diebin war, sehr oft wieder. Sie sah sie auf der Promenade, im offenen Wagen, sie sah sie, von Cavalieren umgeben, im Theater; ja, eines Tages, eine halbe Meile von der Stadt 44 entfernt, sah sie in einem Lustgarten des Fürsten, nach dem man Partieen zu machen pflegt, die schöne Frau in der Begleitung eben desselben Kaufmanns, der sie hätte vernichten können. Sie bedauerte damals, das seltsame, die dunkeln Alleen suchende Paar nicht genauer beobachten zu können, denn der, der sie selbst begleitete, war gerade ein junger Mann aus dem Geschäftspersonal des Herrn Guthmann und der schien gerade hier seinen Principal vermeiden zu wollen. Kaum hatte der junge Mann die vornehme Dame mit dem in den Formen höchst gewandten Herrn Guthmann durch die grünen Laubgänge des Parkes daherkommen sehen, als er auch Lucinden sofort in eine Nebenallee zog und es den Tag über vermied, sich draußen im Freien zu zeigen. Oskar Binder wußte nichts von den Ursachen dieser so auffallend intimen Annäherung, und Lucinde erröthete noch, wenn sie darüber nachdachte, wie sie es anstellen sollte, zu verrathen, was sie belauscht hatte, und den Preis zu nennen, um den die Baronin ihre äußere Ehre gerettet hatte.
Der schöne Oskar Binder selbst aber gehörte einer achtbaren Familie an und war, wie man behauptete, der zuverlässigste und anstelligste unter sämmtlichen Commis im Bazar Guthmann. Das Vertrauen seines Principals überließ ihm die Verwaltung der Kasse. Durch sein Aeußeres ebenso empfohlen als durch Namen und Herkunft, kam er in die Kreise des Stadtamtmanns, und viele der jungen Mädchen, Töchter von Räthen und angesehenen Beamten, zeichneten ihn aus. Dennoch warf er sein Auge nur auf die halb schon als Pflegekind im Hause des Stadtamtmanns befindliche »Henriette«. Daß sie eine Schwester hatte, die noch diente, hatte schon aufgehört; Lucinde verschaffte ihrer Schwester eine Stelle in einer großen, von einem Verein unterstützten Nähanstalt; ihre Geschwister im Waisenhause sollten zum Militär kommen. So den Uebrigen fast schon ebenbürtig, ergänzte 45 sie, was ihrer Stellung mangelte, durch die Geltendmachung ihrer Person. Der junge Buchhalter hörte, was allmählich alle jungen Männer von den andern Mädchen über Lucinden hörten, daß sie die Störerin des allgemeinen Friedens, eine gefährliche, zu jedem Mittel greifende Kokette wäre. Da sie den Reiz des äußern Eindrucks für sich hatte und überdies im Gegentheil kein Wasser zu trüben schien, zog sie dennoch alle an. Sie hatte eine Art, bei gemeinschaftlichen Spaziergängen allein zu bleiben, irgend nach einer Blume zu suchen, einen Kranz zu winden, die jeden, den sie mochte, von den Andern ab und in ihre Kreise zog. Wenn sie den Schein des Dienens annahm, so half man ihr; wünschte sie selbst etwas, so vollzog man es. Die noch ländliche Betonung ihrer Worte stand ihr besonders naiv; sie war anziehend in ihren zufälligsten Aeußerungen, und wenn sie lachte, so konnte sie, wenn sie gerade nicht zu weit darin ging, alles mit sich fortreißen. Nur zu weit durfte sie nicht gehen. Schüttete sie sich vor Lachen, wie man zu sagen pflegt, so hatte es den Ausdruck böser Schadenfreude, und all die jungen Mädchen schienen dann recht zu haben, die zuweilen wünschten, ihr geradezu »die Augen auskratzen« zu können.
An jenem Tage, der ein auf die Woche fallender Feiertag war und dem jungen Buchhalter wie dem sonst sehr fleißigen Principal Urlaub gegeben hatte, folgte Oskar Binder lieber Lucinden als den übrigen Theilnehmerinnen einer großen Partie, die einige Verwandte des Hauses, in dem sich Lucinde befand, veranstaltet hatten. Ihre Gegnerinnen behaupteten, daß sie die Kunst, sich in einem Park plötzlich zu verirren, weidlich verstünde; aber die, die für sie als Naturkind und »Hessenmädchen« schwärmten, nannten sie darum doch einen Elfen, ein romantisches Wesen, das die gewöhnlichen Gleise des Alltäglichen nicht zu wandeln brauche.
46 Heute hatte sie es auf Eichkätzchen abgesehen, deren sie mehrere schon aufgehuscht hatte. Die jungen Männer folgten beinahe zu stürmisch, beinahe zu auffallend. Lucinde hatte ebenso das Talent, die Männer für sich allein zu haben, wie das andere, wenn sie wollte, niemand aus der großen Ringkette des gemeinschaftlichen Vergnügens herausfallen zu lassen; sie sagte dann jedem etwas, was ihn zur Anknüpfung eines Gesprächs ermuthigen konnte. Schon war der junge Buchhalter eifersüchtig, und eben, als er seinen Principal entdeckte, hatte er es wirklich durchgesetzt sie zu isoliren. Als er nun doch zu den andern zurückkehren mußte, fragte sie:
Warum fliehen Sie denn nur vor dem Herrn Guthmann?
Der junge Buchhalter blieb die Antwort schuldig, worüber sie theils aus Neugier, theils aus Laune in Verdruß gerieth. Aber rings gab es nun Augen, die wußten, daß Lucinde zu den Naturen gehörte, die ihr Gefühl da, wo sie zanken und Vorwürfe machen, mehr offenbaren als da, wo sie schmeicheln und gut scheinen. Jetzt sah man aus ihrem Schmollen, daß Oskar Binder, der schöne Buchhalter, der Bevorzugte war. Als Lucinde sechzehn Jahre geworden, sprach man von ihrer Verlobung mit ihm.
Der junge Mann schien eine glänzende Situation zu besitzen. Er überhäufte Lucinden mit Geschenken, und dennoch versicherte er seinen nächsten Freunden (auf Dinge, die ihm und ihnen sehr heilig waren, in der ungebildetsten Form, z. B. »auf Taille« oder »Ich will hier nicht gesund stehen!«), daß er von Lucinden noch nie auch nur die Hand gedrückt bekommen hätte. Auch der Stadtamtmann erfuhr diese Versicherungen und rüstete sich alles Ernstes auf eine Aussteuer seines geliebten Findlings, auf den er einen Theil der Sympathieen für Glaube, Liebe, Hoffnung übertrug, die er sich in einem Beruf voll Mistrauen und Verfolgung als seine geheimste Lebenspoesie zu erhalten versuchte. 47 Da kam dann aber eines Tages seine Gattin und war über die »teuflische« Natur eines Mädchens im Reinen, das die Neigung ihrer Nichte, der »Hofraths-Eveline«, zu einem andern jungen Manne, dem Lieutenant Wallbach, durchkreuzen konnte und mit diesem einen ganzen Abend in der »Schützengesellschaft« in einem Winkel gelacht haben sollte. Die Hofräthin war gekommen, der Hofrath; Eveline war krank geworden, der Lieutenant fühlte sich über die vom Hofrath für ihn zur Verheirathung zu stellende Caution und durch die Erwähnung derselben in einem Wortwechsel beleidigt und hatte seine Werbung zurückgenommen; kurz, der Stadtamtmann, Evelinens Onkel, mußte diesem »Familienunglück« eine Satisfaction geben. Sie bestand in der endlichen Verabschiedung Lucindens.
Lucinde, die sich, wie man bitter genug gesagt hatte, »einen andern Dienst suchen« sollte, machte einige Versuche, den Ernst in Humor zu verwandeln. Sie gelangen nicht. Der Stadtamtmann mußte auch den Schein vermeiden, selbst von ihr bezaubert zu sein. Seine Gattin sagte, »ihr Maß wäre voll«.
So zog Lucinde zu ihrer Schwester, jener Nähterin.
In dem Behagen ihrer eigenen Interessen that es diesen »gebildeten« Menschen allen nichts, ob da ein Leben in seiner Entwickelung gefahrvoll unterbrochen wurde oder nicht.
Acht Tage darauf war Lucinde für die ganze Stadt verschwunden.