Karl Gutzkow
Der Zauberer von Rom, I. Buch
Karl Gutzkow

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90 18.

Hätte Lucinde den Ankommenden nicht schon beim ersten Schritt aus dem Wagen erkannt, aus diesem leisen und zurückhaltenden Pochen würde sie es nicht gekonnt haben. So pflegte sonst der Kronsyndikus von Wittekind-Neuhof nicht anzuklopfen.

Da nicht sogleich geöffnet wurde, nahm er den Stab, auf den er sich im Gehen gestützt hatte, und klopfte wiederholt an die Thür – doch mit dem Stabe ebenso zurückhaltend wie zuvor mit der Hand.

Als die Fräulein Carstens in ihrer Toilette so weit vorgeschritten waren, sich einem solchen Besuche vorstellen zu können, öffneten sie und baten wegen Verzögerung um Entschuldigung.

Das Auge des Greises, der leise irgendetwas Verbindliches brummend erwiderte, suchte nur Lucinden.

Als sie vortrat, umarmte er sie mit Innigkeit. Eine Thräne stand in den weißen Wimpern; er bedurfte einiger Erholung, bis er sprechen konnte.

Thränen kannten Lucindens Augen in dieser Situation nicht, aber sie sprach mit Innigkeit zu dem gebeugten Greise, der jetzt einen Stuhl suchte, sich zu sammeln. Lucinde würde mit noch größerer Herzlichkeit seinen Gruß erwidert haben, wenn die Redseligkeit der Fräulein sich nicht in einem Wettstreit von Beileidsbezeigungen ergangen hätte. Da denn daraus so vier Stühle 91 zusammengerückt zu sehen zum ceremoniellen Erörtern des »Unglücks« und des »bejammernswerthen Vaterschmerzes« u. s. w., das benahm ihr bereits jede Lust, sich auch ihrerseits an dem Beileid zu betheiligen.

Der Kronsyndikus schien die gleichen Gefühle zu hegen. Nach einigen Klagen über sein schmerzliches Geschick, einigen Berichterstattungen über die nach Schloß Neuhof bereits von einem andern der mitgebrachten Diener abgesandte Leiche seines Sohnes erhob er sich und forderte Lucinden auf, in den Wagen zu steigen und mit ihm in den Umgebungen der Stadt spazieren zu fahren.

Diese Veranlassung, die Gefangene wieder in die Oeffentlichkeit zurückkehren zu lassen, war zu gebieterisch. Die Fräulein trugen selbst Hut und Sonnenschirm und einen Ueberwurf herbei und erschöpften sich in Zärtlichkeiten und Schmeicheleien für Lucinden, als wäre nie etwas zwischen ihnen vorgefallen.

Der Kronsyndikus bot Lucinden den Arm. Es war eine Artigkeit; aber eher hätte sie sich veranlaßt sehen können, ihm den ihrigen anzubieten. Denn wie schritt er langsam und hinfällig! Seine Augen lagen tief in den Höhlen! Das Antlitz war so wachsbleich und mit einem Netz von Runzeln und Furchen nach allen Richtungen hin überzogen, wie ein Kopf von Balthasar Denner, der einst in dieser Stadt gemalt hat. Die weißen Barthaare standen auf den hohlen Wangen wie zum Zählen.

Der in der großen Livree der Wittekinds harrende Diener sprang noch zu dem Commissionär des Hotels, der durch die Stadt den Führer machte, hinzu, um seinen Herrn beim Einsteigen in den Wagen zu unterstützen. Lucinde erkannte ihn wohl. Es war der gewöhnliche Diener des Kammerherrn. Sie erfuhr: Jérôme war dem Grafen Zeesen plötzlich entsprungen. Wer ihn mit den Vorgängen auf Schloß Neuhof bekannt gemacht, ihm 92 Lucindens und Klingsohr's Aufenthalt verrathen, die Mittel zur Flucht verschafft hatte, war unbekannt. Erst zwei Tage darauf, nachdem man ihn vergebens in Eibendorf beim Pfarrer gesucht, entdeckte man die Spur, die nach Hamburg führte, aber die schnell nachgeschickten beiden Diener kamen zu spät. Diese waren es, die noch früher als Lucinde und die Behörden an den Kronsyndikus das traurige Ende seines Sohnes berichtet hatten.

Nach vollständiger und auf alles Erlebte wiederholt zurückkommender Erörterung sagte der Kronsyndikus: Lucinde! Du kennst meine Anhänglichkeit an den Doctor! Du weißt, wie mich der Tod seines Vaters erschütterte! Ich trug ihm, wie du weißt, gleich denselben Abend meine Hand zum Schutz und Beistand an, ja, bot ihm sogar den Vaternamen! So schmerzhaft er mir diese Gesinnung vergolten hat, so will ich sie ihm darum doch nicht entziehen. Die ihm von Jérôme angethane Mishandlung war die schimpflichste, die ein Mann nur erleben kann. Eine Genugthuung mußte ihm werden – Daß freilich gerade – seine – Hand dazu bestimmt war –

Nun stockte der Greis; die leise zitternden Kinnladen schienen die Kraft nicht zu haben, seinen Gedanken zu folgen. Er veränderte seine Rede und sagte: Daß seine Hand so unglücklich war, Jérôme bis auf den Tod zu treffen! Es ist einmal Gottes Fügung so gewesen, nun muß es verschmerzt werden! In unserm Kloster Himmelpfort werden wir Jérôme beisetzen und im Park will ich ihm an der Stelle, wo er dir damals, als die Verwandten dich entdeckten, zum Pavillon hinaufrief – da will ich ihm noch eine kleine Pyramide setzen lassen, so eine, wie er zu drechseln pflegte, das Bild der jenseitigen Sehnsucht – nach Püttmeyer – Jérôme ist ohne den Beistand seiner Kirche gestorben. Das Fräulein Angelika Müller sprach ich schon. Du hast sie arg vernachlässigt!

93 Lucinde schützte Mangel an Zeit und Interesse vor. Das Verweilen bei religiösen Erwägungen war ihr am Kronsyndikus neu.

Der Wagen fuhr, wie befohlen worden, langsam über die Wälle der Stadt. Manche Spaziergänger in den Alleen erkannten Lucinden und diese hielt sich denn auch gerade so, als sollte alle Welt die Genugthuung sehen, die ihr soeben wurde.

Der Kronsyndikus fuhr fort: Auch Klingsohr sah ich schon! Er hat nur den einen Schmerz, nicht in deiner Nähe zu sein. Die große Stadt hat dich zerstreut, Lucinde! Ich hoffe nicht, daß du mir den Schmerz anthust und deinen Freund gleichfalls vernachlässigst! Ich habe versprochen, euer beiderseitiges Glück im Auge zu behalten, werde aber meine Hand unerbittlich von dir abziehen, wenn du Heinrich täuschen könntest! Er ist einer von den Männern, die des weiblichen Umgangs bedürfen, die aber nicht die Geduld haben, sich einen würdigen Gegenstand ihrer Liebe langsam zu erobern. Mit Geist und Charakter wollen die Frauen selten einen Mann. Sie wollen immer nur, wer ihnen schmeichelt oder amüsant ist oder im besten Falle Gemüth verräth, worunter sie etwas verstehen, was so viel ist wie unbedeutend. Klingsohr würde in der Wahl seiner Liebe immer nur fehlgreifen. Er ist tief gebeugt. Du wirst ihn durch deine Heiterkeit und Unbefangenheit wieder aufrichten. Also? Ich rechne auf deine Beständigkeit!

Nicht aus Schonung für den wie verwandelten Greis, sondern aus Furcht vor seiner, wie es schien, sehr ernst gemeinten Drohung gab Lucinde Versicherungen, von denen ihr Herz nichts wußte.

Man wird deinen Freund, fuhr der Kronsyndikus fort, zu einer Festungshaft verurtheilen. Er wird sie abzubüßen haben in einer Stadt, die ich in meinen jüngern Jahren wol gesehen 94 habe. Sie liegt an einem schönen Busen der Ostsee. Ja, der liegt mir so blau vor Augen, als wäre ich erst gestern dagewesen! Der Menschenkreis dort ist klein, aber traulich. Eine Universität. eine Besatzung beleben den kleinen Ort. Familien, die dich in ihre Obhut nehmen, werden sich finden lassen wie hier. Heinrich sitzt dabei auf der Festung. Anfangs wirst du ihn wol in der Festung sehen können, später wird er, denk' ich, auf Stunden sie verlassen und in der Stadt sich aufhalten dürfen. Man ist gegen Gefangene dieser Art nachsichtig; nach einem Jahre schon ist die Strafe, wenn sie auch vielleicht auf drei Jahre verhängt würde, abgebüßt. Ich, als Vater des Erschossenen, werde in Kopenhagen selbst um Gnade bitten, das wird die Haft kürzen. Dann bin ich dafür, daß Heinrich seinen Schatz von Gelehrsamkeit in Göttingen zur Anerkennung bringt und dort um eine Professur wirbt; du hast all die Fähigkeiten, die ihm für die strenge Verfolgung solcher Plane mangeln. Du wirst ihm durch die Ehe überhaupt erst die Erziehung geben, die er eigentlich nie bekommen hat. Seine Mutter starb früh – Was ich dir einst von ihr sagte, war – Eingebung – des Augenblicks! Nichts weiter! Er hat dir davon erzählt?

Lucinde nickte. Sie versprach alles, was der Kronsyndikus nur zu hören wünschte. Sie war schon glücklich, aus der Gesellschaft der Fräulein Carstens erlöst zu sein. Sah sie doch jetzt auf einer Spazierfahrt, wie sie sie nie gemacht, zum ersten mal recht ordentlich erst das schöne Hamburg. Und nun schon wieder das neue Bild der See, einer Universität, einer Besatzung – Vorstellungen, die ihre Phantasie ganz in Beschlag nahmen. Nur mit Widerstreben kehrte sie in ihre Klause zurück, an welcher der Kronsyndikus nach einer Stunde wieder anfahren ließ. Von den Fräulein am Staket empfangen, gab sie sich unbehindert den staunenden Blicken aller Nachbarn preis. Der vornehme Herr, der sie so ehrte, war ja der Vater ihres erschossenen »ersten Verlobten«.

Am folgenden Tage sah sie, wieder in Begleitung des Greises, auch Klingsohr im altonaer Stadthause. In der Sehnsucht, ihre gegenwärtige Lage geändert zu bekommen, ging sie auf alles ein, was man von ihr voraussetzte. Sie war, vom Kronsyndikus, der indessen eine Weile am Ufer der Elbe auf- und abfuhr, mit Klingsohr allein gelassen, ganz so hingebend, ganz so vertrauend, wie der Gefangene nur verlangen konnte. Sie konnte ihn in der Voraussetzung zurücklassen, daß er auf die Treue »seines Mädchens« wie auf Felsen würde bauen können. Vor ihrer Kunst, sich in die Umstände zu schicken, auf eine Erinnerung an den Kammerherrn den Blick zu umfloren, auf ein stürmisches: Sieh mir ins Auge! fest und sicher die schwarzen Sterne Klingsohr entgegenzuhalten, erschrak sie selbst. Klingsohr gerieth in einen Ausbruch der Leidenschaft, wie damals in der verhängnißvollen Abendstunde auf Schloß Neuhof. Sprang er auch wol mitten aus einer Liebkosung auf, trat vor sie hin, streckte die Hand aus wie um sie zu würgen und sagte: Schlange! Bist doch falsch! Falsch! Ich weiß es! so entwand sie sich ihm leise, wendete ihm ihren Nacken zu, versteckte den Kopf wie schmollend in die Ecke des Sophas, und erst dann, wenn er sie dennoch in dieser Lage umfing, mit den Armen gewaltig ihren schlanken Leib umspannte, den Kuß seiner Lippen auf ihre Schultern drückte, zog sie diese wie furchtsam in die Höhe und wandte sich leise und allmählich erst mit dem Kopf herum, allmählich die brennenden Augen erhebend, dann sprang sie auf und warf ihn scherzend zurück, gerade, wie im Käfige Panther zu spielen pflegen.

Vierzehn Tage brachte Lucinde dann noch mit dem Kronsyndikus zu, um mit ihm allein die holsteinischen Güter desselben zu bereisen.

Der Abschied von den Damen Carstens war ein einziger 96 Jubel ihrer endlich befreiten Seele. Da sie den trauernden Greis, wie es auch dieser ihr ausdrücklich dankte, mit ihrer Heiterkeit erfreute, so ließ sie ihrem Humor den Zügel schießen. Sie parodirte alle Erinnerungen an Schloß Neuhof, an die Lisabeth, an die Inspectoren, an die Arbeiter, und nur vor Stephan Lengenich mußte sie Halt machen. Der Arme saß noch immer und kämpfte vergebens gegen die Verdachtsgründe, die ihn gravirten. Seine wichtigste Entlastung, jenes grüne Stück Tuch, das man gleich anfangs bei der Leiche des Deichgrafen gefunden hatte, war, räthselhaft genug, verschwunden. Auch von ihren neuern Erfahrungen erzählte Lucinde und stellte so viel Caricaturen auf, daß sie den Greis zu der aufrichtigen Versicherung veranlaßte, nur mit schwerem Herzen träte er sie an Klingsohr ab, sie wäre wie geschaffen, ihm den Rest seiner Tage zu vertändeln. Auch von seinem jetzt alleinigen Erben, dem Oberregierungsrathe, sprach er mit der alten Erbitterung. Dieser war ein Anhänger des Gouvernements in einem Grade, daß er ihn, nach einer in seiner heimatlichen Gegend geläufigen Erinnerung an Hermann den Cherusker, immer nur den »neuen Segest« nannte; Lucinde besaß Kenntnisse genug. darunter einen Verräther zu verstehen.

Die holsteinische Reise bot Natureindrücke und Abwechselungen, wie sie sich von diesen Flachländern kaum erwarten ließen. Sanfte Hügel und Thäler wechselten mit Seen, letztere von prachtvollen Buchenwäldern eingerahmt, fischreich, überflattert von wildem Geflügel. Die Glocken von stattlichen Rinderheerden läuteten auf Wiesen, die sich hinzogen wie Alpenmatten. Manche Blume, die auf den Stoppelfeldern noch zurückgeblieben war, mußte mitreisen. Lucinde stieg aus und wand Kränze, den Greis zu schmücken, der sich's gefallen ließ, wo ihn sein Rundblick über die landwirthschaftlichen Eindrücke zu ernst stimmte. Die Besitzungen, an denen man vorüberfuhr, waren schloßähnlich, von 97 großen massiven Wirthschaftsgebäuden umgeben, mit Gärten und Parks geschmückt. Die Bauerhäuser standen denen der Herrschaften kaum nach. Alles zeugte von Wohlhabenheit und bestritt die Ansichten, die Lucinde vom Plattdeutschen als dem Ausdruck der Lässigkeit und Trägheit hatte. Die Krone aller dieser Eindrücke, die noch über den Eindruck der in sonnenglänzenden Wäldern still verborgenen Seen ging, war das letzte Ziel der Reise, die mehrfach erwähnte Hafenstadt am Busen der Ostsee selbst.

Wo kamen in diesen Flachländern plötzlich diese dunkelgrünen hohen Ufer her! Diese bewaldeten Höhen, von deren Fuß sich die grellrothen Dächer der Fischerdörfer abhoben, wie wenn im gleichen Landschaftsgefühl Natur und Kunst sich begegneten! Auf dunkelblauer Fläche weiße Segel, Möven im flatternden Neckspiel, der Spiegel des Wassers so blau, so krystallen, wie eine riesige Schale von Saphir, und drüber her der Himmel so durchsichtig und ahnungsschwer, die nahe gerückte Ferne verrathend, die Ufer so vieler Inseln, Skandinaviens wie beinahe schon erblickte Küste! Auch die Festung mit dem hochragenden Danebrog, auch die Stadt mit ihren Promenaden und Alleen trug den Charakter, als beträte man einen einzigen üppigen großen Garten.

Hier in Kiel, wo man später noch jahrelang von Lucinden sprach, wurde sie einer Professorenfamilie übergeben. Als die Bedingungen geschlossen waren und ihr Einzug gehalten werden konnte, rüstete sich der Kronsyndikus, von ihr Abschied zu nehmen. Er hatte seine Bereitwilligkeit, ihren Wünschen zu genügen, auch noch darin bewährt, daß er in dem Hause des Professors seiner Pflegetochter, wie sie genannt wurde, eine größere Freiheit erwirkte, als sie in Hamburg genoß. Sie hatte ihre eigenen Zimmer. Die Nachricht, daß sie die Braut eines Festungsgefangenen war, hatte sich bald verbreitet. Der seltsame Umstand, daß der eigene Vater des vom Dr. Klingsohr erschossenen Herrn von 98 Wittekind es war, der seine Hand schützend über sie ausgestreckt hielt, wurde romantisch genug ausgeschmückt.

Am Abend vor der Abreise des Kronsyndikus hatte sie mit ihm noch eine herzbeklemmende Scene. Sie hatte, da er ganz in der Frühe reisen wollte, die Nacht über im Gasthofe bleiben wollen, wo sie gleich anfangs mit ihm abgestiegen war. Sie konnte ihn erst in später Abendstunde erwarten, wo er zurückkehrte von einer Unterredung mit einigen österreichischen Offizieren, die sich in dieser »roßprangenden«, an Gestüten reichen Gegend zum Ankauf von Pferden befanden. Schon oft hatte sie auf Schloß Neuhof von jener kindlichen Blondine, der Gräfin Paula von Dorste-Camphausen, einer Nichte des Kronsyndikus, gehört. Sie wußte, daß der unermeßliche Reichthum derselben nach dem Tode ihres kränkelnden Vaters, des Grafen Joseph (Schwagers des Freiherrn), Anlaß zu einer großen Veränderung geben würde, auf Antrieb einer in Oesterreich ansässigen zweiten Linie des alten Grafengeschlechts der Camphausen. Der Kronsyndikus, der Oheim, vielleicht der künftige Vormund der beiden letzten Augen, auf welchen die eine Linie stand, der schönen sanften Augen jener Kleinen, die einst Zeuge gewesen, wie sich Lucinde in die Pagode des Wassergeflügels auf Schloß Neuhof geflüchtet hatte, war mit dem Vertreter der österreichischen Linie, dem Grafen Salem-Camphausen, hier zusammengetroffen zu Besprechungen, in welche Lucinde, wie in die vielen andern Beziehungen, in deren Chaos der Kronsyndikus lebte, keine nähern Einblicke erhielt. Diese Besprechungen fanden in einem Badeorte bei Kiel statt, dessen Name dem Kronsyndikus Erinnerungen wecken mußte unheimlich genug – in Düsternbrook.

Gegen neun Uhr kam der Kronsyndikus von einem Diner heim, bei welchem wider Vermuthen eine Anzahl von Offizieren der Garnison zu Ehren der fremden Gäste zugegen gewesen.

99 Graf Hugo von Salem-Camphausen, ein stattlicher junger Cavalier, begleitet von seinem Freunde, einem, wie Lucinde schon wußte, Baron Wenzel von Terschka, führte den Kronsyndikus die Stiegen des Hotels hinauf. Sie sprang in ihr früher schon innegehabtes Neben- und Schlafzimmer, merkte aber wohl, daß der Greis in der Gesellschaft fröhlicher Lebemenschen sein Leid vergessen und dem Wein zugesprochen hatte in altgewohnter Art. Dennoch blieb er still und verabschiedete sich von dem Grafen mit einem Tone, der seiner gedrückten Situation angemessen war.

Als die Cavaliere sich entfernt hatten und zu einigen Wagen voll Offizieren (unter ihnen befand sich ein Prinz von einer Seitenlinie des regierenden Hauses) zurückkehrten, um, wie Lucinde später erfuhr, noch in die heute stattgefundene Eröffnung der Theatersaison zu fahren und dort die Kritik der neuen Truppe mit einigen Demonstrationen zu unterstützen, die das aufgeführte Stück unterbrachen und einen Conflict mit der im Parterre befindlichen Studentenschaft herbeiführten, klopfte sie an und trat zum Kronsyndikus ein. Dieser saß bereits am geöffneten Schreibbureau. Er hatte ein Kästchen geöffnet, aus dem er Schmuckgegenstände hervorgenommen hatte.

Wie er Geräusch hörte, sprang er auf und rief:

Wer da?

Es währte einige Augenblicke, bis sich der heftig erschrockene Mann in die Nähe Lucindens gefunden hatte.

Der Diener brachte noch einige Lichter mehr, da sich der Kronsyndikus beim Heraufkommen, trotzdem daß zwei schon brannten, über die große Dunkelheit beklagt hatte.

Lucinde erklärte den Grund ihrer Anwesenheit: Die Abreise ihres Wohlthäters in erster Morgenfrühe und ihr Bedürfniß, den Abschied noch bis dahin zu verschieben.

100 Auffallend langsam fand sich der Greis in dem, was sie sagte, zurecht und erwiderte wie abwesend:

Gut! Gut!

Jetzt winkte er dem Bedienten und sagte, daß er zu Bett gehen wollte.

Lucinden einfach zunickend, ging er ins Nebencabinet und drückte die Thür desselben zu.

Nach einer Weile kehrte der Diener zurück und flüsterte Lucinden zu, die mit Spannung gewartet hatte:

Es muß ihm was in die Quere gekommen sein . . .

Wo aber? fragte sie ebenso leise.

Bei den Offizieren!

Diese wußten doch, daß er trauerte, und dennoch –

Lucinde wollte sagen, wie unrecht man gethan hätte, ihn in den Zustand zu bringen, wie sie ihn gefunden.

Der Diener erzählte, daß die Offiziere im Gegentheil in größter Ruhe zu Tisch gesessen hätten, daß von dem Grafen Salem-Camphausen ein Glas ergriffen und gesagt worden wäre, sie wollten es leeren ohne anzuklingen und dabei eines unglücklichen Vaterherzens gedenken. Darauf hätten alle getrunken und die Gläser niedergestellt wie »aufs Tempo«. Es hätte einen schauerlichen Eindruck gemacht. Da nun aber wäre der Kronsyndikus selbst gesprächig geworden und hätte, aus Dankbarkeit und wol auch aus Rührung über die ihm gewidmete Schonung, die Herren ermuntert, es nicht so ernst zu nehmen. Nun wäre die Rede auf Lucinden gekommen –

Auf mich? fragte sie erstaunt.

Der Diener konnte auf ihr Drängen, was man von ihr gesagt hätte, nicht viel berichten; da er beim Aufwarten geholfen, hatte er sich gerade entfernen müssen. Wie ich aber zurückkomme, fuhr er flüsternd fort, lachten sie alle, sprachen 101 französisch und der Alte zog aus der Tasche eine von den Kostbarkeiten, wovon er Ihnen schon viele geschenkt hat –

Warum aber das?

Er hat noch eine Menge für Sie auf morgen zum Abschied ausgesucht! Da drinnen im Secretär!

Das wird er doch den Offizieren nicht gesagt haben?

Verstanden hab' ich blos, wie er das Armband – ein Armband war's – herumzeigte . . . Da sagten sie alle: Superb! Charmant! Nämlich auf französisch – –

Warum nur aber zeigt' er's denn?

Ich meine gar – und ganz gewiß – Sie stritten sich über Ihre – Ihre Nase, Fräulein!

Dummer Schnack!

Mein Seel', wirklich! Ob die spanisch oder italienisch wäre – oder – Da sagte der eine, der den Grafen aus Wien mit hierher begleitet hat –

Herr von Terschka –

Der sagte, das Bild auf dem Armband – das nämlich auch ganz Ihre Nase haben sollte – wäre eine Italienerin, die er kenne – aus Rom – und genannt hat er sie auch – Jetzt fiel der Graf ein und sagte auf deutsch: Ja, Terschka, das ist ja halt die leibhaftige . . . Nun nannte er wieder einen Namen – Aber einen deutschen, den ich nicht behalten konnte . . . Aber eine Kunstreiterin war's – Das schönste Mädchen in Wien – und während nun wieder die Offiziere zwar in Lachen ausbrechen wollten, aber sich zurückhielten und doch nicht zu lebendig werden wollten – wegen der Trauer – hielt sich Excellenz gerade am wenigsten, redete allerlei durcheinander, schenkte die Gläser rings um sich her voll, schnackte vom Hundertsten ins Tausendste, und wenn er nun die Nacht nicht ordentlich schlafen kann, so ist's seine eigene Schuld. Um vier Uhr soll ich ihn wecken!

102 Der Diener ging.

Lucinde schüttelte den Kopf und dachte bald nur noch an das schöne Armband, an den Streit der Offiziere, ging ins Nebenzimmer, sah sich beim Entkleiden im Spiegel, forschte nach der »Nationalität« ihrer Nase und ging aufgeregt zu Bett.

Kaum mochte sie, müde vom Warten, eine Stunde geschlafen haben, als sie erwachte. Der Mond schien hell ins Zimmer, sie hatte vergessen die Laden zu schließen. Der Wächter rief die elfte Stunde. Einige vereinzelte Rufe und Liederintonationen kamen von den vom Wirthshaus heimkehrenden Studenten, zu deren Leben sie sich durch Jérôme's und Klingsohr's Erzählungen schon längst zu versetzen gewußt hatte. Der Theaterlärm hatte die Köpfe vollends erhitzt.

Wie es dann wieder still wurde und sie eben im Begriff war, wieder einzuschlafen, hörte sie im Nebenzimmer Geräusch.

Ein harter Gegenstand fiel nieder und rollte auf dem Fußboden hin.

Sie erhob sich.

Jetzt hörte sie Schritte und laut reden.

Sie sprang auf. Sie hatte vergessen, die Verbindungsthür zuzuriegeln.

Es war der Kronsyndikus selbst, der ohne Zweifel mit seinem Bedienten sprach. den er durch eine Klingel wecken und vom Corridor zu sich herüberrufen konnte.

Als sie die Riegel leise zugeschoben hatte, hörte sie, daß der Kronsyndikus allein sein mußte. Er ächzte und stöhnte und sprach mit sich selbst.

Jetzt durfte sie annehmen, daß ihm etwas zugestoßen war.

Rasch warf sie sich den Rock über, hielt einen großen rothen Shawl in Bereitschaft und trat wieder an die Thür.

Der Greis war allein und, wie sie hörte, in großer Aufregung.

103 Sie unterschied Worte. die er sprach.

Jetzt war es ihr, als wenn er um Hülfe rief.

Nun hielt sie sich nicht länger, sondern drückte die Thür auf und trat, so wie sie war, vom Shawl umhüllt, in ihrem von einem Häubchen zusammengehaltenen Haar, im weißen Unterkleide ein.

Wie entsetzte sie sich aber, als der Kronsyndikus mit einem Stockdegen in der Hand aufrecht im Zimmer stand, bei ihrem Anblick auslegte und sie mit aufgerissenen Augen anstarrend anfuhr!

Gespenst! Zurück! Was sagst du, daß du mein Weib bist! Römische Schlange! Ich –

Lucinde stieß einen Schrei aus, denn der Fieberkranke, Halbnackte kam mit dem gezückten Degen dicht auf sie zu. Den Irrthum seiner Phantasie erkennend, ließ er in demselben Augenblick den Degen fallen. Dieser klirrte auf ein Glas nieder, das vom Nachttisch des Nebenzimmers gefallen sein mußte, seines starken Bodens wegen aber nicht zerbrochen, sondern bis in das Wohnzimmer gerollt war, als dessen Thür von dem Aufgeregten geöffnet wurde.

Lucinde, sagte der Greis, sie erkennend und seiner Erscheinung in einem Nachtkamisol und mit nackten Füßen nicht achtend, Lucinde, komm her! Steh mir bei, ich sehe nichts als Blut – ich habe mich verwundet –

Nein, Nein! beruhigte ihn Lucinde, die sich im Mondenschein leicht orientiren konnte und einer Nacht gedachte, wo sie einmal ebenso ihren Vater, als er spät aus dem »Vorspann« gekommen war, zur Ruhe bringen half, während alle Geschwister um den Wahnsinnigscheinenden herumstanden und schrieen. Sie achtete seines Aufzugs nicht.

Der Fieberkranke ließ sich nicht bedeuten und sagte:

Doch, Kind! Sieh doch nur! Da! Und nun huschen diese 104 Kerle alle um mich her und stehen mir nicht bei! Hunde, was schnuppert ihr denn nur an meinen Beinen! Jesus Marie, laßt doch die Menschen aus der Stube! Lisabeth, was soll der Mönch da in der Kutte? Fort mit dem Buschbeck! Sind Sie des Teufels, Herr! Und schießen Ihre giftigen Pfeile auf mich ab, Mensch? Halt! Halt! Fort, brauner Teufel! – Hier – ha, was liegt denn da im Wege? Worüber fall' ich denn ewig? Wieder der Dicke? Jesus! Bringt ihn mir doch fort! Was liegt denn der Dicke mir ewig im Weg und läßt so die Menschen über sich fallen!

Lucinde that das Möglichste, den mit herzzerreißendem Jammer Phantasirenden zu beruhigen.

Zu wild aber jagten die Bilder vergangener Tage an dem Verzagten vorüber. Kaum hatte er Lucinden erkannt, so war sie ihm doch schon wieder eine andere und vorzugsweise jene Schreckgestalt, die er erst zu sehen geglaubt hatte. Den rothen Shawl nannte er einen Königsmantel, die Haube die Krone der Semiramis – Mitten in seine Angstrufe mischten sich italienische Laute, die Lucinde nicht verstand. Auch die von den österreichischen Offizieren genannte Kunstreiterin schien vor seiner Phantasie auf- und abzugaukeln.

Endlich hatte Lucinde den Klingelzug erreicht und zog diesen aufs heftigste.

Vor diesem Ton fuhr der Greis zurück. Es mußte ihm sein, als hätte ihm mit diesem schrillen Laut jemand einen Schlag gegeben, so taumelte er und blieb eine Weile starr. Die Besinnung kehrte wieder. Lucinde klingelte zum zweiten mal. Er sah sich um, verglich den Ort, wo er war, sah rückwärts auf sein dunkles Cabinet, und wie Lucinde unerschrocken zum dritten mal geklingelt hatte, winkte er ihr zu mit vollkommenem Bewußtsein, sie sollte das lassen und jetzt gehen.

105 Da sie zögerte, schüttelte er den Kopf, besah seinen Aufzug und sprach wiederholt und aufs bestimmteste:

Geh, geh, Kind! Ich habe schwer geträumt – Das Mahl mit den Herren – Ich hätte nicht dabei sein sollen – geh, geh.

Indem hörte man schon eilende Schritte auf dem Corridor, hörte das Einsetzen des Schlüssels, den der Diener, um früh den Herrn wecken zu können, mit sich genommen hatte.

Als der Diener eintrat, fand er seinen Herrn bereits allein und bekam nun in ruhiger, wie Lucinde noch bebenden Herzens belauschte, klar zusammenhängender Rede die Erklärung, daß er sich unwohl gefühlt und selbst geklingelt hätte, jetzt wär' es vorüber. Der Diener machte Licht, deutete auf die Splitter des Glases, auf den Degen. Es war gefährlich, den Kronsyndikus noch länger so im Zimmer mit bloßen Füßen zu lassen. Dieser ging denn auch zu Bett, nachdem er dem Diener die Weisung gegeben, die Verbindungsthür des Cabinets anzulehnen und nebenan im Wohnzimmer auf dem Sopha zu schlafen.

Jetzt erst verriegelte Lucinde. Sie hörte Zurüstungen, wie sich der Diener einiges Bettzeug holte und auf dem Sopha Platz nahm. Gepreßten Herzens ging sie auf ihr Lager zurück, wo sie bei ihrer Jugend und noch von der Reise nachhaltenden Ermüdung bald wieder in den Armen des Schlafes lag.

Um vier Uhr weckte man sie. Schon war der Kronsyndikus nebenan hörbar. Als sie sich angekleidet hatte, hörte sie schon das Blasen des Postillons. In aller Freundlichkeit klopfte ihr Wohlthäter an die Thür und steckte den Kopf herein –

Lucinde fand ihn vollkommen beruhigt und zur Abreise gerüstet. Des nächtlichen Vorfalls wurde keine Erwähnung gethan. Noch übergab ihr der Abreisende Geld, wirklich auch einige Schmucksachen und ermahnte sie, den »nun bald eintreffenden Doctor so zu empfangen, wie sie es ihm versprochen hätte«.

106 Mit einem Kuß auf ihre Stirn, einem langen Blick auf ihre ganze Erscheinung, als wollte er sagen: Seh' ich dich wol einst im Leben noch wieder –? Und was wird aus dir noch alles werden –? ging er.

Sie folgte bis in den Corridor und wollte weiter; an der Treppe hielt er sie schweigend zurück.

Unter den Kleinodien, die kostbar, aber wiederum von alter Façon waren, befand sich keines, worauf die Erzählung des Bedienten gepaßt hätte.

Er wird es zurückbehalten haben – das Bild seiner – zweiten Frau! sagte sie sich, legte einige der Brochen und Armbänder an, nahm sie dann wieder ab und ging noch einmal zu Bett.

Sie schlief bis gegen neun Uhr. Dann begab sie sich in ihre neue Wohnung, wo sie schon eingerichtet war.


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