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Während Lucinde der staunenden Lisabeth zum öftern wiederholte: Gewiß hat sich Excellenz mit dem Deichgrafen ausgesöhnt! lief sie schon über den marmorgetäfelten Estrich des untern Schlosses an die hohe, schwere Thür, schloß diese mit dem von innen stets steckenden Schlüssel auf und trat auf den Perron hinaus, um Klingsohr zu begrüßen.
Dieser hatte einen Blumenstrauß in der Hand und suchte sie, langsam herauffahrend, schon lange am Fenster. Wie erstaunte er, als sie selbst erschien, ihn anredete und geradezu aufforderte, getrost auszusteigen! Sie werden alles erfahren, kommen Sie nur! sagte sie. Der Kronsyndikus ist eben abgereist, der Kammerherr mit ihm, ich bin allein und ausdrücklich beauftragt, Sie zum Bleiben zu nöthigen!
Da geht die Welt unter! sagte der Doctor, sprang vom Wagen und übergab sein Gefährt einem herbeieilenden Gehülfen der Branntweinbrennerei, der rasch die Livree übergezogen und sie noch erst zuzuknöpfen hatte.
Es war inzwischen Feierabend geworden. Der Hof in voller Bewegung. Die Inspectoren und Arbeiter aller verschiedenen hier zu beaufsichtigenden ökonomischen Geschäfte begriffen nicht, wie sie hier auf Schloß Neuhof den Sohn des Deichgrafen 2 konnten einkehren sehen. Aber Lucinde zog den verwunderlichen Gast die große steinerne Stiege hinauf in die Staatszimmer, wo man bereits anfangen wollte einen Tisch zu decken, Lucinde sollte nur bestimmen welchen. Sie wählte einen der glänzendsten mit einer Decke von Lapis Lazuli, achteckig, mit geschweiften, vergoldeten Füßen, dicht vor einem Kanapee, das in der Nähe eines Kamins stand. Dazu läuteten von allen Tiefen her die Glocken Ave-Maria. Der trübe Regenhimmel ließ im Westen vom Sonnenlicht einige rothe und blaue Streifen hindurch.
Klingsohr kannte aus seiner Knabenzeit alle diese Zimmer. Wie konnte es geschehen, daß er seit Jahren und bei der jetzigen Lage der Dinge hier wieder so wie einst aufgenommen, ja, gerade von Lucinden, dem Wettpreis schon allein der Eifersucht zwischen Vater und Sohn, so ohne alles Hinderniß empfangen wurde! Er ahnte einen Hinterhalt und sprach sich auch dahin aus, daß er der bösen Tücke des Kronsyndikus alles zutraue. Ich wäre der Erste nicht, sagte er, den er behandelt hat wie die Ritter des Faustrechts! In seinen Kellern saßen schon Männer und Frauen aus aller Herren Ländern, und ich wette, daß es da unten aussieht wie in der Blaubartskammer!
Wie es in seinen Kellern aussieht, erwiderte Lucinde, das werden Sie bald erfahren! Sie sollen bewirthet werden wie – wie ein Sohn des Hauses.
Behandelt ihr mich hier, parodirte Klingsohr mit Stellen aus Shakspeare, nach »Verdienst«, so bin ich vor Schlägen nicht sicher! Aber bitte, keine Unarten! Das Mittelalter hat einige Schattenseiten, die ich nicht vertheidige!
Lucinde suchte ihm die Furcht zu nehmen und zog ihn in ein Zimmer, wo sie weniger belauscht waren. Klingsohr folgte wie im Traume. Zum ersten male sah er seine Liebe in so prächtigem Rahmen. Sie trug ein leichtes dunkelblaues Kleid; seidene 3 Bänder von gleicher Farbe senkten sich in den braunen Nacken. Schwarze Florspitzen zierten das Haar und bedeckten ebenfalls, zu halben Handschuhen geformt, die jetzt gepflegteren Hände. Am Busen hatte sie sich den Rosenstrauß befestigt, den Klingsohr mitgebracht, während sie ihre eigenen Blumen theilte, seinen Rock, seinen Hut damit schmückte und noch für den Tisch übrig behielt, um damit eine kleine kostbare Vase zu füllen.
Sie erzählte ihm auf sein staunendes Schweigen alle soeben erlebten Vorgänge bis auf die letzte Enthüllung, die sie sich, weil sie ihr schwer zu formuliren war, noch vorbehielt. Sie kamen überein, daß der Kronsyndikus in dem Doctor einen Verbündeten gegen den Vater gewinnen wollte, einen Vermittler und Beileger des Streites. Lucinde unterstützte vorzugsweise diese Annahme und hatte die Freude zu hören, daß Klingsohr versicherte:
Nun, was ich thun kann, dieser Voraussetzung zu entsprechen, das soll geschehen! Sie kennen meine Abneigung gegen meines Vaters Lehre vom Zollstock und der geraden Linie, Lucinde! Das Leben wird schon ohnehin täglich immer mehr so regelmäßig wie die manchmal recht monotone Natur! Ihm Freiheit abzugewinnen, die Tyrannei des Gesetzes abzuschütteln, das ist unser schönes Ziel, und wenn ich ganz sicher wäre, daß nicht diese Thüren plötzlich aufgingen und einige Geharnischte hereinträten und mich als Geisel festhielten, so würde ich meine Sympathieen für den wilden Freiherrn ganz offen aussprechen. Darauf hin und vorausgesetzt, daß es bald alles, nur nicht Prügel gibt, will ich auf sein Wohl trinken und geloben, den Alten von der Buschmühle, soweit es mir irgend möglich sein wird, mit zur Raison zu bringen.
Sie standen jetzt beim Durchschreiten der prächtigen Zimmer 4 gerade an der Stelle, wo der Kammerherr den Türk gemalt hatte. Noch hing das Bild an der Staffelei und Klingsohr brach in komische Bewunderung des neuen »Hondekoeters« aus. Der ist mit verreist? rief er aufs neue kopfschüttelnd. Und man weiß, daß Sie mich aufnehmen? Was ist nur hier vorgefallen!
Der Kammerherr weiß nichts! Nur der Vater! Machen Sie sich's bequem! Sie werden noch mehr erleben –
Noch mehr?
Lucinde antwortete nur dadurch, daß sie hin und wieder rannte, ordnete und befahl. Nicht umsonst hatte der Kronsyndikus von einem Festgelag gesprochen. Sie ließ ein solches für den Doctor mindestens ebenso herrichten, wie sonst für die adeligen Gäste. Der Kronsyndikus war im Essen mäßig, aber die häufigen Besuche des »schönen Enckefuß« hielten das Haus mit den Erfordernissen eines schnellen und einladenden »Tischlein deck' dich« vorgerichtet.
Geliebte Lucinde, sagte Klingsohr, wie er sie dann wieder plötzlich still stehen und über ihre eigentliche Aufgabe grübeln sah, es gibt eine Erbsünde und es gibt eine Erbtugend! Man spricht davon, daß jene uns um unser Seelenheil gebracht hat und verketzert die vernünftigen Unvernunftslehrer, die diese tiefste und humanste aller Lehren vertheidigen!
Welche Sünde? fragte Lucinde und dachte jetzt nur wieder an das Ordnen des Tisches, über dessen acht Ecken längst ein blendendweißes Damasttuch gebreitet war, das sich schon mit Tellern, Gedecken, Gläsern, Flaschen, sogar einem Champagnerkühler und Dessertaufsätzen füllte.
Die Erbsünde, die mit dem ersten nicht verschmähten schönen rothwangigen Apfel in die Welt gekommen ist! sagte Klingsohr. Wir können die Nichtigkeit dieser Erde nicht schöner erklären als durch unsere eigene Schuld! Ihr jammert, daß der Frühling 5 seine Blüten verwehen sieht, daß Blüte, Frucht, alle Schönheit der Erde, der Schmetterling und der Mensch, zu Staub verwehen! Ist nur unsere Sünde schuld daran, so hat ja die Vergänglichkeit dieser Erde ihren erklärlichsten Grund in uns und nicht in der Schöpfung selbst! Immer kann man dann noch hoffen auf die Sonne, auf die Gestirne, auf etwas, was jenseit dieser Bezirke, »von wannen niemand wiederkehrt«, liegen wird, Lucinde, und wären es nur Ihre Augen, die als Sterne an den Himmel versetzt werden sollen!
Lucinde sagte zerstreut zu allem: Ja! Ja! Ja! Ja! Sie hörte kaum, denn sie wollte alles »zu schön« machen. Der Doctor sollte hinter dem Landrath nicht zurückstehen.
Klingsohr musterte die nach französischer Auffassung in Alabaster ausgeführten griechischen Statuen des Zimmers, die Landschaften aus der Schule Claude Lorrain's und Berghem's.
Kein anderes Gnadenbild hier, sagte er, als er keine Heiligenbilder fand, als Sie selbst, Lucinde!
Lucinde bestätigte, daß auf Schloß Neuhof die Religion nur in den Wirthschaftsgebäuden und den hintern Wohnungen vertreten sei, den Kammerherrn ausgenommen, der noch immer mit dem schwermüthigen und gewissenskranken Grafen Zeesen in Briefwechsel stand. Beide reisten in Italien! sagte Klingsohr. Jérôme hoffte schon lange durch Beten ein großer Maler zu werden wie Fra Fiesole!
Nun waren alle Vorrichtungen des Abendimbisses aufs prächtigste getroffen. Klingsohr streckte sich mit Behagen in einen Fauteuil, vor dem eben von zwei, über alles, was hier geschah, verblüfften Dienern angerichtet werden sollte. Bei jeder Gelegenheit, wo diese Zeugen fehlten, ergriff er Lucindens Hand, zog diese an sich, bedeckte sie mit Küssen und versicherte aufs neue seine Unmöglichkeit, sich in diese Märchenwelt zu finden.
6 Eben kamen die Diener zurück, lauschend, horchend . . .
Damit nur Unverfängliches gesprochen wurde, fragte Lucinde:
Jetzt aber Ihre Erbtugend? Was ist das?
Erbtugend, sagte Klingsohr in einem ihm beim Aussprechen von Gedanken und Versen eigenen singenden Tone, Erbtugend! Die ist der ewige Rückschlag des Geistes gegen die Natur! Die ist die Flut, wenn die Sünde die Ebbe! Die ist vielleicht auch nur das ewige Philisterium, an dem selbst die Titanen litten, wenn sie zu viel Kaukasuswein getrunken hatten! Möglich, daß dieser Erbtugend jene eingeimpfte Furcht vor der Hölle zum Grunde liegt oder die Furcht vor einer Tracht Prügel, jene Furcht, von der bekanntlich die romantischsten Liebhaber Boccaccio's und Bandello's nicht ganz frei sein konnten. Ja! Lucinde! Auch in mir regt sich die Erbtugend. Auch ich bekomme Furcht. Ich weiß, daß ich hier ein Romeo bin, auf den »zehntausend Tybalts« plötzlich eindringen werden mit einigen Doubletten der allbekannten neuhofer Hundepeitsche!
Lucinde, jetzt ungeduldig werdend, widerlegte seine erneuerte Furcht und erklärte das festere Schließen aller Thüren durch das Wetter, da es unheimlich dunkel wurde. Der Abend schien ein Gewitter zu bringen. Dunkelbraune und rothe Wolken zogen immer dichter von Westen her. Zwischen dem Läuten der Abendglocken hörte man fernher die rollenden Donner.
Klingsohr ergriff Lucindens Hand und sprach, da sie jetzt allein waren und nur noch das zu servirende Mahl fehlte, mit dem ihm eigenen Aufschlag seiner großen, wenn er wollte, festen und bestimmten Augen:
Wer in der romantischen Zeit nicht Frauw Venus mied, Wol gar einem Eheweib sein Herz verschenkte, Dem geschah's, daß man ihn manchmal briet Oder an einen neuen Galgen henkte! 7 So hört sich noch jetzt, minnt man das schöne Weib, Gibt sie ein Löcklein zum Liebespfand |
Das ist das Gewissen! sagte Lucinde scharf betonend. Da er sie küssen wollte, hielt sie ihn zurück.
Erbtugend nenn' ich's – wollte Klingsohr in seiner gewohnten Phantastik fortfahren –
Aber indem wurde das Nachtmahl hereingetragen. In dem noch allgemein andauernden Schreck vor dem Benehmen des Kronsyndikus geschah dies mit denselben Förmlichkeiten wie bei dem vornehmsten Besuch.
Was ist das alles nur? sagte Klingsohr aufs neue, und griff sich wie irr an die Stirn.
Lucinde versicherte, daß allerdings irgendetwas Großes geschehen sein müsse, um den Kronsyndikus so für ihn einzunehmen. Nicht nur, daß er diesen Empfang angeordnet hätte, auch für die Entdeckung, daß beide schon lange sich sähen und sprächen – der buckelige Stammer hätte geplaudert – wäre seine Milde bewundernswerth gewesen. Er dächte daran, setzte sie hinzu, sie ganz so glücklich zu machen, wie er – wie sie, berichtigte sie sich – selbst es zu werden wünschte.
Lucinde! rief Klingsohr mit Seligkeit und warf Gabel und Messer fort. Wann wirst du mein? Bald! Bald! »Balde auch du!« singt Goethe. Warum kommt mir das traurige »Ueber allen Wipfeln ist Ruh« in diesem Augenblick! Nicht wahr? Die Speisen – sind vergiftet?
8 Als Lucinde ein Ja! nickte und dabei auffuhr, um nach der Fortsetzung des Mahles zu klingeln, verfolgte er sie und sagte: Hexen, Giftmischerinnen gab es von je auf Neuhof! Du selbst machst mir den Eindruck einer dieser Alraunen und Zauberweiber . . . Ja gerade einer solchen Hexe, wie meine Mutter von einer erzählte, die sie Fräulein von Gülpen nannte – Aber: Au! unterbrach er sich selbst mit einem leisen Schrei.
Was ist? fuhr Lucinde doppelt betroffen zurück. Klingsohr hatte den Namen der Hauptmännin in einem Augenblick ausgesprochen, wo er seine röthlichen kurzen Locken an ihr Brusttuch drückte. Er antwortete:
Wenn ich dich küssen soll, mein Kind, was soll es taugen, Daß du mit Nadeln dir besteckst die Brust! Den Liebenden war immer nur bewußt: Gott Amor sticht ins Herz und Keinem in die Augen! |
Lucinde sah ihr Vergehen. Dicht neben einer seiner, vielfach schon zwischen beiden besprochenen Narben hatte ihm eine Nadel eine leichte Schramme auf der Wange gerissen. Sie riß die Nadel vom Tuche ab, griff nach Wasser auf dem Tische, füllte die hohle Hand, tauchte ihr Taschentuch ein und drückte es ihm auf die wunde Stelle. Dabei verwirrte sich ihre Bekleidung. Ihr langer dunkler Nacken schimmerte unbedeckt bis zu den Schultern, ihr bräunlicher Hals bis zu den hohen Wölbungen ihrer Brust.
Eben brachte man zwei Leuchter, jeder von drei brennenden Kerzen.
Klingsohr und Lucinde waren bald wieder allein und hatten sich aufs neue zum Mahle gesetzt. Jetzt richtete sie eine Frage an ihn über Klingsohr's Mutter, über die Gülpen, ob er diese gekannt hätte und was er von ihr wisse.
Er beantwortete diese Frage mit einer bedenklichen Apostrophe an die Speisen:
9 Fräulein von Gülpen? Ich kannte sie nicht. Aber sie nennen und fragen: Was mag in dieser Spargelsauce enthalten sein? das ist eins! Recht so, Lucinde! Nehmen Sie nichts davon! Diese jungen Erbsen haben eine grünliche Farbe, die über das Pflanzenreich hinaus sich in das Mineralreich verliert; ich wette, man kochte sie in derjenigen kupfernen Pfanne, die seit dem letzten der unerklärten Todesfälle auf Schloß Neuhof noch immer nicht verzinnt worden ist. Diese Hühner hört' ich noch vor einer halben Stunde im Hofe gackern! Sie erwecken mir Mordgedanken; nur der Champagner weckt mir kein Jugendmärchen von der alten westfälischen und Tugendbundzeit, in der ich 1809 geboren wurde. Da gab es hier, während mein Alter im Walde geheim mit den Rächern dingte, Corinnen in griechischen Gewändern, die über Kassel aus den Spielhöllen Venedigs und Neapels kamen, Spanierinnen, die wie Amazonen ritten, Creolinnen, deren Männer ihren Kopf auf den Schaffoten der Französischen Revolution gelassen hatten und mit dem ihrigen doch noch den Bruder Bonaparte's, was sag' ich, ihn selbst toll machten –
Aber die Gülpen? lauerte Lucinde gespannt.
Die soll an diesem Minnehof die Ceremonienmeisterin gewesen sein! Der buckelige Landstreicher mit der Geige hat geplaudert? Laß dir von dem erzählen oder von seinen Alten hinten . . . nein, die sind seit den grauen Tagen stumm geworden –
Worüber?
Die Gülpen, oder wie sie sich von einem Jäger, der sie heirathen wollte, nannte, Buschbeck –
Einem Jäger?
Jetzt einem Mönche! Drüben im Franciscanerkloster Himmelpfort! Hast du nie vom Bruder Hubertus gehört?
Die Mönche dürfen nicht auf Neuhof, erwiderte Lucinde, erstaunt über die Lebensbeziehungen ihrer alten Peinigerin.
10 Der Jäger war ein Soldat in holländischen Diensten . . .
Hauptmann?
Nein, nur Feldwebel, Kind! Vielleicht als Lieutenant entlassen! Ein Laienbruder ists in Himmelpfort drüben . . .
Und war er nie verheirathet?
Mit wem?
Mit der Hauptmännin – Was sag' ich – der – wie hieß sie?
Gülpen! Der Bruder Hubertus kam von den Wilden und ging zu den Wilden! Hier galt keine Ordnung und kein Gesetz und kein Priester! Hast du nie gehört, daß der Kronsyndikus noch eine Frau am Leben haben soll?
Unsere Excellenz? Noch eine Frau? Der Kronsyndikus?
In Italien! Man sagt es. Kinder gibt es aller Orten von ihm, die ihm ähnlich sehen. Oder er spielte den Landesherrn, in dessen Bildniß auf den Groschen sich alle Frauen in gewissen Umständen versehen müssen – um den Patriotismus zu befördern.
Sie essen ja nicht, Doctor! lenkte Lucinde erröthend ein.
Ich trinke! antwortete Klingsohr. Stoß an, sagte er, wie immer, je nach der Stimmung, abwechselnd mit Du und Sie; stoß an, Lucinde! In Italien schickte er an Jérôme plötzlich einen Kurier, daß er nach Hause kommen sollte. Graf Zeesen, sagte man, hätte den bereden wollen, in ein Kloster zu gehen. Der Musikant meint, seine Alten hätten als Grund des Zurückmüssens etwas von der zweiten gnädigen Frau gemunkelt!
Die noch lebe? Nein, der Freiherr ist nur einmal verheirathet gewesen! entgegnete Lucinde und suchte auf ihr Geheimniß einzulenken –
Ganz recht! unterbrach Klingsohr. Die Schwester vom Grafen Joseph drüben, dem Letzten des Hauses Dorste-Camphausen auf 11 Westerhof! Sie starb früh, nachdem sie zwei Söhne geboren; sie starb, sagt man, aus Gram über die Aufnahme jener Gülpen ins Haus. Diese regierte. Als die Baronin starb, genoß der Kronsyndikus seine Freiheit, bis Ruhe kam mit dem Sturze Napoleon's. Bei alledem ist landbekannt, daß die Klöster und Beichtstühle hier ringsum über den wilden Mann die bedenklichsten Geheimnisse verschließen. Auch mein Vater weiß manches, hält sich aber stumm wie hinten die alten Stammers. Aber weß Brot man ißt, deß Lied – singt man auch wol einmal – nicht –
Lucinde wagte nicht, weiter zu forschen. Sie fürchtete, daß sie hätte sagen müssen, woher und aus welcher Situation sie die unheimliche »Hauptmännin« kannte, die zu allen Zeiten ein Teufel gewesen schien. Aber mit spähendem Blick stellte sie die Frage:
Und Ihre Mutter?
Klingsohr erwiderte: Ich kannte sie wenig! Sie starb, als ich sieben Jahre alt war. Nur das weiß ich, daß sie ein Bild des Leidens gewesen ist. Als der Vater in Magdeburg saß, wurd' ich in dies Schloß genommen und mit Jérôme erzogen.
Lucindens Unruhe mehrte sich, je näher sie der Eröffnung kam, die sie machen sollte. Sie wußte nicht, was sie that, als sie fortwährend den Champagner trank, den ihr Klingsohr einschenkte.
Unsere Zukunft, Lucinde! Der Traum einer Sommernacht! rief er.
Die Gegend war inzwischen nachtdunkel geworden. Rabenschwarze Schatten hatten sich niedergesenkt, ein immer näher rückendes Gewitter entlud sich. Das Nachtmahl war bald zu Ende. Nur dem schäumenden Weine noch sprach Klingsohr immer erregter zu. Er weckte dadurch in Lucinden die Erinnerung an Erzählungen des Kammerherrn über seines ehemaligen Freundes Unmäßigkeit und über die Trinkwetten.
12 Erzählen Sie von Ihren Knabenjahren! sprach Lucinde.
Klingsohr betrachtete die aufsteigenden Perlen des Schaumweins und erwiderte mit dem ihm eigenen halb künstlich, halb natürlich elegischen Tone:
Wo seid ihr hin, ihr heilig hehren Tage, Wo mir ein Stern noch wie ein Engel sprach! Wo ich geglaubt, ein Regenbogen sage, Daß immer noch des Himmels Langmuth wach! Wo in dem Blitze, in der Donner Rollen Nur eines Vaters Zürnen lag, – der Liebe grollen! |
Der Regen schlug an die Scheiben. Der Sturm tobte. Fenster und Thüren, die nicht geschlossen gewesen, schlugen klirrend und krachend an.
Lucinde drängte:
Beginnen Sie anders! Ihre Mutter . . .
Ich weiß, sagte er, du willst von meiner ersten Liebe hören, Lucinde!
Wenn sie leicht und zierlich Mir vorüberflog – Und ich hübsch manierlich Meine Mütze zog – |
Nichts, nichts von dem – sagte Lucinde . . .
Das Lied ist nicht lang, Lucinde! unterbrach er sie. Nur den Schluß will ich dir sagen. Die Liebe endete, als Amanda eines Tages keine Hosen mehr trug; das hübsche Ding war in dem Augenblick fünf Jahre älter geworden und kannte mich nicht mehr. Schülerliebe!
Gut! Gut! Aber wo sind Sie geboren?
In der Buschmühle!
Und Ihre Mutter? Erzählen Sie von ihr!
Ein Donnerschlag erschütterte in diesem Augenblick das Schloß und ließ es bis auf den Grund erbeben. Die Diener kamen nicht 13 mehr. Klingsohr rückte seinen Sessel dem Divan näher und zog Lucinden an sich und streichelte ihr Haar und sah ihr in die scheu und ängstlich umblickenden Augen und hielt die Hand über ihre dunkeln Brauen, gleichsam als wenn er das Rollen der schwarzen Sterne in dem weißen Emailgrunde beruhigen, das Zucken der Wimpern beschwichtigen wollte.
Jetzt begann er von seiner Mutter.
In einem langen weißen reinen Gewande, sagte er, muß diese Edelste ihres Geschlechts aus der Welt emporgestiegen sein! Ringsum lag die Sünde – sie allein erhob sich aus ihr, sie, die einzig Reine! Eine Natter klammerte sich noch an ihren Fuß, die zertrat sie! Wie ich geboren wurde, verlor jene Gülpen die Herrschaft im Schlosse –
1809? unterbrach Lucinde . . . Sie sah, wie viel Jahre es gebraucht hatte, ihre Peinigerin so geistig und körperlich zu zerstören, wie sie sie gefunden hatte.
Wie das alles zusammenhängt, fuhr Klingsohr fort, das weiß ich nicht . . .
Lucinde faßte sich jetzt Muth und sprach:
Ich will es Ihnen sagen!
Klingsohr horchte auf. Lucinde erzählte umständlich den Vorfall, den man heute mit dem Kronsyndikus erlebt hatte. Sie erzählte das Verbrennen von Papieren, seine Unruhe, seine eilige Abreise, den Eindruck, den ihm die Ankunft des Doctors gemacht, seine Eröffnung über die Art, wie sie ihn aufnehmen sollte –
Eben zuckte durch das Zimmer ein Blitzstrahl.
Klingsohr erhob sich und wurde aufgeregter –
Wie Lucinde fortfuhr und das Ziel ihrer Eröffnungen, immer leiser sprechend, schon völlig verständlich angedeutet hatte, ergriff er ein Glas, schleuderte es wild zu Boden, daß es zersplitterte, 14 rieb sich die Stirn und rannte zum Fenster, als müßte er mit dem Kopf durch die Scheiben in die tobende Nacht und den Donner hinaus.
Ihr seid wahnsinnig! schrie er. Alle, alle hier seid ihr's!
Lucinde nahte sich, bat ihn, sich zu mäßigen; sie sagte ihm, er möchte sich fassen, möchte ruhig hören.
Nein! rief er und schleuderte nun auch sie zurück mit den Worten:
Circe! Machst du Menschen zu – Eseln? Zu Mauleseln? Bin ich verrückt?
Er riß das Fenster auf, daß der Regen hereinströmte.
Lucinde ließ ihn erschreckt erst gewähren.
Ich liebe meinen Vater! rief er, und sog die Tropfen, die hereinfielen, ein, ja bestrich sich förmlich mit dem Regen Stirn und Wange. Ich liebte ihn von jeher dann, wenn ich mich hassen mußte. Und nun vollends – meine Mutter!
Lucinde schloß das Fenster und Klingsohr raunte auf und nieder, indem er rief:
O ich weiß jetzt, wozu ich hergelockt bin! Zur Rache gegen meinen Vater! Zur geistigen Rache! Zur Demüthigung unsers Namens! Zur Schändung eingesargter Asche unter der Erde!
Ihr Vater ist der Kronsyndikus! sagte Lucinde mit einer Festigkeit, als spräche sie von Dingen, die ihrer Jugend völlig geläufig waren.
Ein convulsivisches Gelächter erstickte den ersten Aufschrei des zu seiner übrigen Erregung nun auch noch halb Berauschten.
Ruhig fuhr Lucinde fort:
Darum sorgt er auch für unsere Zukunft!
Ha, ha! Und nun sprach Klingsohr plötzlich, wie sich und die Situation parodirend. plattdeutsch, dem ohnehin schon eine 15 komische Wirkung beiwohnt. Er parodirte Lucindens feierlichen Ernst. Sie wandte sich mit Schmollen ab und ließ ihn stehen.
Nun warf sich Klingsohr in seinen Sessel und blickte geisterhaft vor sich hin. Das in der Natur tobende Wetter hatte sich etwas gemildert. Man hörte nur den gewaltig strömenden Regen. Dann zu Lucindens Füßen auf eine Fußbank niederkauernd und das Haupt auf beide Hände stützend sprach Klingsohr dumpf zu sich selbst:
Bastard? Glaube das doch nicht, du innerer, allzu eitler Dämon! Eitel! Wir werden die Ursachen dieses tollen Spukes erfahren! Nur allzu sehr fühl' ich in mir – das dienende Blut! Altes Herren-Sachsenblut? Auch ich? Wie wurden die großen athletischen Gestalten mit den hängenden rothen Haaren unter dem Bärenkopf in die Weser getrieben, um von ihrem Odin und ihrer Freyja zu lassen! Wie saßen sie hoch zu Roß, als sie dem Banner ihrer Herzoge folgten! Wie dingten diese Welfen mit dem Kaiser und den Bischöfen um ihr Recht und loderten auf um einen »Strohhalm«, der ihrer Ehre im Wege lag! Und selbst noch im brocatenen Kleide mit der Perrüke und dem steifen Degen an der Seite, wie sie da unten den Westfälischen Frieden schlossen, schritten sie gravitätisch einher, langsamer, schwerfälliger, aber fester auch auf ihre grüne Hufe vertrauend als irgendwer im übrigen Deutschland! Dem englischen Lande gaben sie die rechte Volksmischung und tausend Jahre später einen König. Und wie haben sie diese vier- und sechsspännig fahrende Weise bewahrt bis auf den heutigen Tag! Ob sie platt- oder hochdeutsch reden, sie lispeln nur und doch ist jedes Wort Schießpulver, wie Heinrich Percy's! Schlank ist ihr Wuchs, behend ihre Haltung! Wenn auf der Universität alle andern deutschen Stämme durcheinander fahren, der Bayer phlegmatisch, der Franke windig, der Schwabe der andern Stichblatt, der Thüringer von ewiger Wehmuth ist 16 trotz des allerdünnsten Biers, der Obersachse schwätzt, der Märker aus purer Blödigkeit, die er nicht eingestehen will, grob und maliciös wird, stehen wir Niedersachsen und Westfalen da wie die schlanken Tannen am Bergesrand, fest und sicher wurzelnd; ein Wort ein Mann, und das von einer Vornehmheit, der kein deutscher Stamm sich gleichstellen kann! Man muß uns handeln sehen um ein Roß! Kurz und bündig! Sechzig Pistolen ohne Halftergeld! Spitz, scharf, weich der Ton! Fest die That! Vergib mir, Geist meiner guten, vielgeprüften Mutter, daß ich dich Arme, die Witwe eines mit dem Geist der Zeit Vermählten, der dich einsam daheim ließ am Spinnrocken, lästere! Loreley, nein! Hörtest du's? Ich würde mir leider, leider nichts draus machen! Mag ich immerhin um eine Minute vor halb sieben statt zwei Minuten zu früh auf die Welt gekommen sein, aber es ist ein schlechter, elender, gemeiner Spaß deines frevelmuthigen Alten, und du thust recht, arme Gläubige, daß du entschlummerst. Die Bürde dieser Lüge war zu schwer für dich!
Ermüdet von Aufregung, eingelullt durch den Wein und die gespenstische Weise des wie immer dergleichen im Prophetenton vor sich Hinsprechenden, ließ Lucinde es geschehen, daß der düstere Träumer, in dessen Seele es schon lange mehr zur Nacht als zum Lichte sich zu wenden schien, ihre Hände ergriff, diese küßte, näher und näher seine Wange an die ihrige schmiegte und sie in ganzer Länge auf den schwellenden Divan ausstreckte.
Eine Weile betrachtete er sie mit gefalteten Händen. Dies sah sie noch. Ihr Auge blieb offen oder blinzelte doch. Ihre Mienen waren wie in ein Lachen erstarrt.
Jetzt ein Epheukranz um dein Haupt, flüsterte Klingsohr, der Thyrsusstab mit Weinlaub in deiner Hand, ein Pardelfell unter dir hingebreitet, und die Bacchantin erwartet ihren Praxiteles!
Lucinde verstand nichts. Sie hauchte nur:
17 Doch! Doch! Doch!
Doch hat der Kronsyndikus recht! war ihre Meinung.
Klingsohr verstand, was sie sagen wollte, und gerieth wieder in grübelndes Sinnen. Seine Phantasie malte sich die Möglichkeit aus – und wie es bei solchen Naturen dann geschieht, sah er allmählich auch die Wirklichkeit. Jetzt, als wenn ihn Furien peitschten und antrieben, glauben zu müssen und zu sollen, erhob er sich und sprach unausgesetzt, wol ein halb Dutzend mal, vor sich hin:
Wär' es denn möglich? Wär' es denn möglich?
Indem meldeten die Diener das Nachlassen des Regens.
Spannt ein! rief Klingsohr wild und erhob die Flasche. Und wieder schenkte er voll und nicht mehr in die kleinen spitzen Gläser, sondern in Wassergläser. Er credenzte ebenso Lucinden, die trank, weil sie glaubte Wasser zu nehmen.
Drei Späne aus dem Thor der kleinen Buschmühle! sprach Klingsohr und zog den Ton dabei durch die Zähne, sodaß es schneidend hämisch und bitter erklang. Ich wette, daß ich sie unten finde, du alter Freigraf der Feme! Am nächsten besten Baum kann der Freirichter Wittekind keinen jetzt mehr henken, so hat er dem Vater einen andern Streich spielen wollen! Ist nicht eine Schlange das Wappen der Wittekinds? Nein, ein Lindwurm! Aber ich will Feindschaft säen unter den Samen der Schlange, spricht der Herr! Ich werde mich nach diesem Schurkenstreich mit meinem Alten aussöhnen. An der Mühle wollen wir sitzen und wenn das Rad klappert, nehmen wir das Gesangbuch zur Hand, wo die Mutter deutlich eingeschrieben hat: Den 13. August 1809 ist geboren mein lieber Heinrich Otto Alexander! Alexander! Mein Alter hoffte damals auf Rußland! Heil von Moskau! Warum nicht auch. Nur leider – »Gott ist groß und der Zar ist weit!«
18 Seufzend wankte er zu Lucinden, beugte sich über sie und sprach leise und wie singend:
Träume! O träumtest du:
Es rauschen die Blätter, es flüstert der Wald, Wer regt sie der Winde so mannichfalt? Nur Einer! Es blitzen die Farben im hellen Krystall, |
Ich, ich, ich erwidere dir, Mädchen:
Es klopfen viel tausend Schläge der Brust, Wer führt sie, die Hämmer in Schmerz und in Lust? Nur Eine! Was hebt dir die Seele, was sprengt dir das Sein? |
So Klingsohr. Fiebernd, im Taumel der entfesselten Phantasie hatte er sich über die Halbschlummernde gebeugt. Zurückgesunken und halb auf dem Divan ausgestreckt, hielt sie den linken Arm rückwärts unter das Haupt gelehnt. Mit der rechten wehrte sie seine Zärtlichkeiten ab. Die Augen schlossen sich, müde wie damals im Walde mit Oskar Binder. Sie träumte schon, ehe sie ganz entschlummert war. Selbst eine heftige Erschütterung, die sie annehmen lassen mußte, daß Klingsohr, der stumm und starr sie eine Weile betrachtet hatte, plötzlich aufsprang, erweckte sie diesmal nicht.
Sie hörte ein fernes Brausen wie an einem Wasser. Es konnten Thüren, Schritte, Stimmen durcheinander sein. Sie träumte von bunten Wolkenwagen, von den Farben des Regenbogens. Sie sah ihre Tauben wieder, die den Wolkenwagen 19 zogen, sie sah all die glänzenden Shawls, Teppiche, Kleiderstoffe aus dem Magazin des Herrn Guthmann rings drapirt über dem Regenbogen und kleine Gnomen trugen alles ab und zu und wieder waren es doch die lächerlichen Modegecken im Bazar Guthmann und ein langes Maß von Papier zog der eine und dem andern wurde unter der Hand eine Reihe von Sternen daraus. Dann aber waren es die Blumenbüschel und blauen Glocken, die sie im Walde am Fuße des Eggegebirges einst im Sinken am Riedbruch in der Hand gehalten, und alles um sie her wurde grün und immer grüner und mit zwei funkelnden Augen lag plötzlich jene Eidechse auf ihrer Brust, die damals unter dem moosbewachsenen Steine aufschlüpfte. Nun erwachte sie. Um sie her war es still. Die Lichter waren ausgelöscht bis auf eines, das fast niedergebrannt war. Sie mußte so schlummernd, erst heiter, dann angstvoll träumend, mindestens schon eine Stunde gelegen haben. Sie richtete sich empor. Was war geschehen? Hatte sie Klingsohr verlassen, ohne sie zu wecken?
Nichts war zu hören als das Klappern einer fernen nicht geschlossenen Thür.
Die Reste der Mahlzeit, die leeren Flaschen und halbgefüllten Gläser standen unabgeräumt, wirr durcheinander. Sie boten jenen Anblick. der nach einem Rausch die Sinne so ernüchtert, die Empfindung so beschämt, ja, wenn der gute Geist noch innewohnt, empört.
Unendlich müde, zerschlagen an allen Gliedern, durchfröstelt von der kühlen Luft des Zimmers, das geöffnet gewesen sein mußte, suchte sie nach Menschen, die noch wach waren. Alles war wie ausgestorben. Von Klingsohr war ihr's gewesen, als hätte sie im Traum gehört, wie er laut über sie hinweggerufen, an ihr gerüttelt hätte, und Menschen mußten im Zimmer gewesen sein, alle Stühle standen in Unordnung, der getäfelte 20 Fußboden knirschte förmlich von Schmuz. Sie sah zum Fenster hinaus. Es war tiefe, stille Nacht. Die große Wölbung der fast unermeßlichen Fernsicht über Wiese, Wald und Feld hin eine einzige schwarze Finsterniß, die kein Stern erleuchtete. Die Regenwolken hingen trüb und schwer. Sie öffnete, streckte die Hand hinaus; sie fühlte, daß die Luft kühl war und nicht mehr tropfte.
Jetzt gedachte sie deutlicher Klingsohr's, gedachte seiner letzten Zärtlichkeiten, die sie mit schon geschwundenem Bewußtsein hingenommen, gedachte seiner wilden, vermessenen, wie ein schneidender Luftzug noch durch ihre Seele wehenden Reden. Ihr war nur am Muthe des Mannes gelegen, an seinem Trotz, an seiner Herausforderung gegen Menschen und Geschick; in dem, was sie heute und schon so oft von Klingsohr gehört, lag eher eine Thatkraft, die sich nur künstlich aufstachelte. Sie gedachte schreckhaft des Kammerherrn; sie glaubte die Thür sich öffnen zu sehen und das kratzende Scharren eines Hundes zu hören. Nun faßte sie der Gedanke, ob sie noch zu dem Pavillon in den Park zurück könnte, wo sie doch eigentlich wohnte. Hatte man sie vergessen? Sie nahm das Licht, um auf die Treppe und dann über den Hof zu schreiten.
Erst mußte sie durch die langen Corridore, wo rings an den Wänden die Spiegel ihre eigene Gestalt wiedergaben. Wie sah sie aus! Wie aufgelöst hing das Haar! An die Spiegel mit dem Lichte tretend, bebte sie zurück, weil sie der Sage gedachte, daß es unheimlich wäre bei dem Glockenschlage zwölf mit einem Lichte sich im Spiegel zu sehen.
Doch bis zum Hofe kam sie nicht, nicht einmal bis zur Treppe; die offen stehende Thür machte einen Zugwind, der ihr das Licht ausblies.
Nun stand sie vollends erschreckt. Sie rief:
Lisabeth! Lisabeth!
21 Keine andere Antwort, als das Echo des langen Corridors.
Sie tastete sich zurück zu den vordern Zimmern. Hier aus dem Fenster zu rufen war so gut wie nur den Sternen gerufen.
Nun wankte sie dem Divan wieder zu und hielt sich an der kalten Marmorbekleidung des Kamins, die Rücksichtslosigkeit verwünschend, die sie hier so hatte preisgeben können.
Als sie sich niederlassen mußte, weil sie's fieberisch fröstelte, fühlte sie etwas wie einen Mantel. Erschreckt fuhr sie zurück. Es war eine Decke, eine der gesteppten, die unter die Federbetten gebreitet werden. Man hatte also doch an ihre Ruhe gedacht und vorausgesetzt, daß sie hier auf dem Divan die Nacht zubringen würde. Auch stieß ihr Fuß an ein Federkissen, das hinuntergeglitten war. Sie konnte es unter ihren Kopf legen und sie that dies. Sich in ihr Loos ergebend, streckte sie sich, um zu schlafen, drückte den Kopf in das untergelegte Kissen und zog die Decke über.
Es wurde ihr wärmer; aber die Bilder der erregten Phantasie wichen noch lange nicht. Immer sah sie Leben und Bewegung um sich her. Jede zufällige Berührung weckte eine Vorstellung. Klingsohr's Gestalt konnte sie nicht sehen, aber hörbar blieb ihr seine Stimme. Immer noch glaubte sie ihn reden zu hören und zwischendurch öffnete der Kronsyndikus die Thür und fragte: Schläfst du? Auch den Deichgrafen sah sie durchs Zimmer schreiten und die Ahnenbilder in den goldenen Rahmen stumm betrachten. Dann wurde die Reihe der Gestalten immer ferner, nebelhafter wurden ihre Umrisse. Sie sah die Frau Hauptmännin Tauben morden und Mäuse fangen aus freier Hand und vor schönen Prinzessinnen knixen und sie dann in den Keller sperren, wohin sie ihnen in der Nacht Besuche machte, mit der Lampe über ihnen hinwegleuchtend und lachend, wenn eine Ratte an 22 ihnen nagte – gerade wie sie einst ihr gethan. Die eine Schlummernde war ihre todte Schwester; die erhob sich und setzte sich an ihren eigenen Nähtisch, kleine Hemden zu nähen, die wol den beiden noch lebenden Geschwistern im Waisenhause gehören sollten. Auch diese erschienen und winkten seltsam und wie abwärts. Und die drei andern kleinen Geschwister, die am Scharlach gestorben, sah sie mit Blumen bekränzt und eine wundervolle Musik begann. Es waren die Flötentöne der Harmonica. Es war die Kirche in Eibendorf. Die Kirche der Residenz dann wieder – Das Gesangbuch der Magd im Hause des Stadtamtmanns blitzte in seinem Goldschnitt und schlug sich hell auf. Sie las Warnungen, Mahnungen, unterdrückte und die in den Liedern offen ausgesprochenen Vorwürfe ihres Gewissens – bis sie dann fester schlief, aber doch immer noch in der Vorstellung, den Vater zu führen, alle die schmalen Brückenstege von Langen-Nauenheim entlang, und dem schwer dahintaumelnden kleinen Mann, der seinen Hut verloren und, mit den weißen Haaren im Winde, immer nach dem Kopfe griff, zuzurufen: Vater hier! Vater hier!
So war ihre letzte Erinnerung . . .
Am folgenden Morgen weckte sie die Lisabeth und brachte die schreckliche Kunde, daß man gestern Nacht im Düsternbrook den Deichgrafen in seinem Blute schwimmend und ermordet gefunden hatte.