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Wo beginnt das Jahrhundert? Mit der französischen Revolution, mit Napoleon oder mit dem Wiener Congreß? Mit der Demokratie, dem Militärdespotismus oder der Diplomatie? Welches ist das Saatkorn unsres Jahrhunderts, welches werden seine Früchte seyn?
Ich hasse die Sophistik, mit welcher Burke das große Ereigniß der französischen Revolution statt den Umständen den Menschen zurechnete; allein ich glaube, daß diese Revolution nur die Blüthe des achtzehnten Jahrhunderts war, die höchste Mittagshöhe, die ein schwüles Gewitter entlud und den Horizont so lange in graue Wolken hüllte, bis der Abend sich unmerklich in die Nacht verlor. Die französische Revolution war die Erfüllung alles dessen, worauf das achtzehnte Jahrhundert verwies. Sie war der Schluß eines labyrinthischen Perioden, der die Ideen des achtzehnten Jahrhunderts ausdrückte. Unsre Zeit emanzipirt nicht zur Revolution, sondern aus der Revolution. Wir denken nicht mehr, um zu zerstören, sondern selbst unsere zerstörerischen Gedanken sind nur dazu da, um aufzubauen.
Man muß sich nicht täuschen lassen von dem gräßlichen Contraste, wie die Geschichte Europa's im achtzehnten Jahrhundert begann, und wie sie endete. Sie begann mit dem Pedantismus und der Steifheit, mit der Naivität und dem Lächerlichen und endete mit dem höchsten Pathos der Leidenschaft, mit dem blutigen Schrecken der Guillotine. Dieß ist ein Widerspruch, den wir niemals erklären könnten, wenn wir nicht wüßten, was zwischen dem Anfang und dem Ende gelegen hat. Die Unruhe des Geistes sowohl wie des Gemüthes lag dazwischen; der tiefe zweifelnde Verstand der philosophischen Spekulation ebensowohl wie die frivolen Zweifel der Satire und des Witzes; eine Welt von gedankenloser Zerstreuung, ebenso wie eine Umwühlung in den bestimmten Absichten einiger dreister Köpfe. Und dennoch ahnte Niemand von allen denen, die eigentlich das Holz herbeigetragen haben, um die Guillotine zu bauen, die blutigen Schrecken der Zukunft. Herr von Malesherbes ahnte unter seinen Rosen nicht, daß dereinst aus seinem Blute die Rosen der Freiheit sprießen würden. Ja, selbst Rousseau, der so viel dazu beigetragen hatte, die Meinungen seiner Zeit, ich will nicht sagen, zu verwirren, sondern sie auf ein Fundament zu gründen, das freilich mit den bestehenden Verhältnissen im Widerspruche lag, selbst Rousseau war so weit entfernt von dem Gedanken einer Revolution, daß er in seiner vortrefflichen Auseinandersetzung der Ideen St. Pierres über den ewigen Frieden sagen konnte: Es wird ein großer Irrthum seyn, zu glauben, daß sich der gewaltthätige Zustand unserer gesellschaftlichen Verhältnisse einzig und allein nur durch Gewalt verändern könne und nicht auch im Gegentheil durch friedliche Hülfe. Auf welcher Stufe es stehen mag, so hat das europäische Staatensystem doch so viel Solidität, daß es eine fortwährende Bewegung auch ohne völligen Umsturz aushalten kann. Und, fügt Rousseau hinzu, wenn unsere Uebel auch nicht aufhören sollten, sondern sich vermehrten, so ist doch jede große Revolution in Zukunft unmöglich. Dieß schrieb Rousseau einige 30 Jahre vor den Greueln der Jacobiner.
Wenn man nun bedenkt, daß im achtzehnten Jahrhundert Alles unwillkürlich und unbewußt darauf hinzielte, die Revolution zu erzeugen, so ist es thöricht anzunehmen, daß das neunzehnte Jahrhundert bestimmt seyn sollte, dieselbe Revolution zu reproduziren. Das achtzehnte Jahrhundert kam zur Revolution, ohne es zu wollen und zu fühlen; und wir, die wir immer mitten in der Agitation der politischen Leidenschaften inne leben, die wir weit mehr in ein System der Unordnung als der Ordnung eingefügt sind, die wir vergleichen können, welches die Extreme planloser Verirrungen zu seyn pflegen, wir, die Menschen des neunzehnten Jahrhunderts, sollten wiederum in der Revolution enden zu müssen glauben? Dieß ist eine völlig unphilosophische Ansicht unserer Zeit. Es ist nicht wahr, daß eine Tendenz zur Revolution in unserm Jahrhundert liegt; im Gegentheil, was wir von revolutionären Bestrebungen antreffen, das ist nur die ricochettirende Kraft der ehemals geworfenen Kugeln, die nicht sogleich verglühen wollen. Die erstaunlichen Ereignisse, welche unsre Eltern erlebt haben, verhallen nach und nach, und dasjenige, was man für die Absicht einer Wiederholung derselben zu halten pflegt, oder was sich selbst dafür ausgibt, kann man nur mit dem Echo eines vorübergegangenen Gewitters vergleichen. Alle die Bewegungen, welche in Frankreich, Deutschland, Spanien und Italien eine Wiederholung der alten Revolution zu beabsichtigen schienen, waren sie etwas Anderes als natürliche Aeußerungen bei Völkern, die mehr als 20 Jahre hindurch vom Sturm der Zeit im Kreise gewirbelt wurden und (eine Nation gegen die andere) beinahe eben so lange die Waffen getragen hatten? Beweist die römische Geschichte nicht auf jeder Seite, wie sich die Armeen erst allmälig zu beruhigen pflegten, wenn sie geschlagen oder als Sieger aus den Feldzügen heimkehrten? Die revolutionären Kräfte relaxiren, die revolutionären Terminologien verlieren sich. Ist selbst die Julirevolution etwas Anderes gewesen, als der letzte Schlag eines Gewitters, eine in der Natur oft vorkommende Erscheinung, wo sich ein zurückgebliebener Rest von elektrischer Materie erst in dem Augenblicke entzündet, wo der Himmel schon wieder zu blauen beginnt?
Nein, wir haben die Revolution überwunden; sie ist nur noch ein Schreckbild, eine Warnung, ja selbst ein Hülfsmittel nur noch in der Art, daß wir sie in historischer Abrundung vor der Anschauung unserer Phantasie immer gegenwärtig haben, und immer vergleichen können, wie viel oder wie wenig wir von ihren Erfahrungen brauchen können, um unsere eigenen durchzusetzen. Die Tendenz unseres Jahrhunderts ist deßhalb eine ganz andere gegen die des achtzehnten Jahrhunderts, weil überhaupt das neunzehnte Jahrhundert einen ganz anderen Charakter hat. Wir streben auch darnach, die Kirchthürme den Privatdächern gleich zu machen, aber wir übersehen nicht, wenn wir dabei gegen die Gesetze der Proportion verstoßen. Wir haben es auch mit Hütten und Palästen zu thun; aber wir machen sie nicht gleich, sondern wir bemühen uns nur, eine anmuthige und schattige Allee zwischen beiden anzulegen. Mit einem Worte, wir nivelliren auch, aber nicht, um Alles gleich zu machen, sondern nur eine richtige, mathematische, die von Gott und der Natur gebotene Proportion zwischen Menschen und Dingen herzustellen. Unsere Revolution besteht darin, die Unordnung zu zerstören, Harmonie und Ebenmaß in die gesellschaftlichen Relationen zu bringen und Jedem gerade so viel zu geben, als er entweder tragen muß oder tragen will, wenn er es nämlich nur tragen kann. Wir werden uns oft der Form der Revolution bedienen, uns aber niemals bereden, daß in ihr irgend ein Inhalt liegen könne.
Alles dieses werd' ich noch weit klarer machen können, wenn ich, so weit es geht, versuche, das Ziel zu bezeichnen, von welchem aus unsere Zeit einer andern Raum geben wird. Man hat schon angefangen, sich von dem Jahrhundert, welches auf das unsrige folgen wird, eine Vorstellung zu machen. Fast alle diese Vorstellungen kommen darauf hinaus, daß das zwanzigste Jahrhundert wahrscheinlich eine Zeit der Hyper-Culmination, der Hyper-Industrie, eine Zeit des absoluten Mechanismus seyn möchte. Zieht man das Mährchenhafte von den Bildern, welche diese Vorstellung begleiten, ab, so wird das Resultat wohl darauf hinauskommen, daß das zwanzigste Jahrhundert so ziemlich nur eine Periode des Verstandes und keine des Herzens ist. Ich glaube sogar, daß sich der beklagenswerthe Dualismus unserer modernen Bildung wahrscheinlich in jener Zeit an unserm Wissen und Glauben, an unserm Leben und Sterben empfindlich rächen wird. Sehet Euch vor! Wenn noch eine Revolution kommen kann, so wird es nicht mehr ausschließlich die der Staaten seyn, sondern all euer Denken und Trachten, all euer Meinen und Fühlen, all eure Existenz, all eure Kunst und Wissenschaft wird in sie hineingerissen werden. Und dieß Alles möchte sich nicht einmal durch eine Vorbereitung oder durch eine irgend wie veranstaltete Propaganda ereignen, sondern der Zwiespalt wird das Unbehagen erzeugen, das Unbehagen wird aus eurem eigenen Herzen kommen, und euer Herz wird, indem es am meisten stürmt, auch am meisten gefoltert seyn! Ich spreche vom Dualismus. Welchen meine ich? Ich meine den Dualismus unserer Bildung und unseres Lebens; den Zwiespalt dessen, was wir sind, und dessen, was wir wissen; die Entgegensetzung unseres künstlichen, höchst gesteigerten Idealismus und der Materie, deren Wegleugnung sie zum Trotz und zur Rache entflammen wird. Wissen und Leben ist nicht ausgeglichen. Selbst die Moral und die Religion verlieren ihre unmittelbare Berührung mit dem, was wir eigentlich sind, mit der Art, wie wir hienieden gehen und stehen. Denn wo ist wohl jene Pforte, wo all unser Wissen hinausströmen könnte, im freien Zuge, über das Feld des Lebens und der Geschichte, wie es vom Augenblick bepflügt und besäet wird? Unsre Erziehung und unsre Wissenschaft gleicht einem chinesischen Gebäude, wo sich ein Stockwerk über das andre erhebt, wo unten die Bauern, etwas höher die Handwerker, im dritten Stock die Kaufleute, im vierten die Gelehrten, im fünften die Staatsmänner, im sechsten die Könige wohnen; statt daß sie ein freier luftiger Tempel seyn sollte, zugänglich von allen Seiten, und Jedem offen, der auf dem Altare opfern will. Ich lerne Herrliches und Treffliches aus dem Alterthume, aber ich brauch' es nicht auf der Stufe, welche ich in der bürgerlichen Gesellschaft einmal einnehmen werde. Ich höre, daß der Tod des Cato eine große That gewesen seyn soll, und erfahre bald, daß man ihm bei uns das ehrliche Begräbniß würde versagt haben. Was der Stolz meines Herzens ist, das demüthigt die Religion. Ich bin Mensch, ich bin Engel, ich bin nichts von beiden und in meinem Himmel so unselig, wie der Verdammten einer. Ein Handwerker wird in seinem 23sten Jahre von einem verschmitzten Volksverführer in Beschlag genommen. Sein Enthusiasmus wird von einer Seite erregt, wo seine geringe Bildung gegen Thorheiten nur eine schwache Schutzmauer entgegenstellen kann. Der Enthusiasmus ist das Gute an ihm. Warum ist der Mann in seinem 23sten Jahre noch ein Kind, warum ist sein Gutes niemals angeregt worden, warum war er erst ein gedankenloser Knabe, warum erhielt er nichts, als den neumethodischen Elementarunterricht, warum gab ihm der Priester nur die Traditionen des Glaubens, wie sie einmal festgesetzt sind, warum dämmerte der Mensch so lange in einem alltäglichen Zustande fort, bis sein guter, göttlicher Theil, der auch in seinem Herzen tief vergraben gewesene Enthusiasmus, erst von einem Intrikanten in Beschlag genommen ward, der ihn zu einem Kinde, zu einem Thoren und unglücklich machte? Hier ist eine Lücke in unsrer modernen Bildung, die ausgefüllt werden muß, und wie wird man sie anders ausfüllen können, als durch eine radicale Verbesserung unseres Erziehungs-, Religions-, Unterrichts- und Staatensystems? Wenn sich eine Revolution denken läßt, so ist es unter diesem Gesichtspunkte. Wenn noch einmal ein Christus, ein Luther aufstehen sollte, so kann es nur der seyn, der jene chinesischen Stockwerke einreißt und der Harmonie der Bildung und des Lebens eine Form gibt, die man nur mit den schönen, sanft in einander laufenden Linien einer antiken Säule vergleichen kann. Die Bildung muß mit dem allgemein Menschlichen beginnen, die Moral mit dem Enthusiasmus, die Religion mit dem Stolze. Die Gelehrsamkeit muß mit allen unseren Existenzen ausgeglichen werden und nur insofern, als sie Philologie ist, das Separateigenthum einer Kaste bleiben. Es muß eine Fundamentalunterlage für die Cultur einer ganzen Nation geben, die alle Menschen in dem, was sie für wahr, gut, schön und nützlich halten, ganz und gar einander gleichstellt, so daß die Voraussetzungen, die später darauf gepflanzten beliebigen Ideen und Projekte bei allen stimmfähigen Individuen der Nation dieselben sind. Dann wird es nicht mehr möglich seyn, daß die Menge von revolutionärem Schwindel beseelt ist, daß einzelne Charlatane auftreten und Anhang bei der blinden ununterrichteten Masse finden. Separatismus und Conspiration sind unerhört, wo sich die Menschen in einer ebenbürtigen Reciprozität ihrer Ansichten und Bedürfnisse befinden. Das würde die Revolution verhindern, aber freilich ohne eine vorhergegangene Revolution nicht geschehen können.
Gewaltthätigkeit ist jedoch auch hier nicht die Form, unter welcher meine Prophezeihung auftreten dürfte. Was ich vorhersehe, ist das Produkt einer unzufriedenen Mißstimmung, die aber, wenn sie sich mit dem Wunsche der Verbesserung äußern soll, dann von Allen wird geführt werden. Was aber Alle wollen, macht sich von selbst. Ich sehe voraus, daß diese Sublimation unserer künstlichen Bildung nicht so fortsteigen darf. Dieser Wettlauf des Geistes, den alle Nationen gegen einander anstellen, kann nur damit enden, daß sie den Athem verlieren und es wohl fühlen, daß sie für den Körper auch etwas thun müssen: nämlich für den Körper, welcher gleich ist dem Leben, der Allgemeinheit, der Nationalität, oder wie man es nennen mag. Mit dem Dualismus, der die Bildung des neunzehnten Jahrhunderts ist, werden wir gerade so weit kommen, daß wir ihn endlich einsehen und nicht mehr ertragen werden. Wir werden entweder das Leben nach unserer Bildung modeln oder die Bildung nach unserm Leben. Wir werden entweder unsere Anstandsmeinungen, Sitten und gesetzlichen Gewohnheiten gerade so einrichten, daß sie die bloße Praxis unserer theoretischen Bildung sind, oder wir werden unsere theoretische Bildung trennen müssen in Laien- und in Tempelweisheit, in Weisheit für Einige und in Volksweisheit; und dasjenige, was dann zunächst geschehen müßte, wäre eine ganz neue Begründung des ersten Unterrichtes der Jugend, des Unterrichtes in den Wissenschaften, in der Moral und der dann sehr zu verallgemeinernden positiven Religion. Vielleicht ist diese Alternative nur ein verschiedener Ausdruck für eine und dieselbe Sache. Weiter zu schwärmen, verbietet vielleicht die Besonnenheit.
Ich kehre auf unser Jahrhundert zurück. Dort liegt das achtzehnte Jahrhundert, wir kennen es; dort das zwanzigste, wir ahnen es. Jetzt, was liegt dazwischen?
Dazwischen liegt eine Reaktion und eine Bestimmung. Die Erstere ist die, daß in ihr die Individuen wie allzu schnelle Rosse am Zügel gepackt und wieder zurückgeführt wurden in die lange Kette der Allgemeinheit, wo die Person in der Masse untergeht. Die Bestimmung ist die, daß im Universalismus selbst das Individuum dadurch wieder anerkannt wird, daß es eine isolirte Stellung erhält, dasjenige, was man die Specialität unserer Zeit nennen könnte. Alle unsre Politik strebt dahin, die Individuen in die Masse zurück zu schleudern; die Bildung nimmt sie aber wieder hervor und gibt ihnen eigenthümliche Signaturen, die ihnen für die historische Unmittelbarkeit Ersatz werden sollen. Die Interessen der Industrie, des Handels, der Wissenschaft, verlangen ausdrücklich diese Specialität, welche, da nicht nur die Masse des Wissens nicht zu überwältigen ist, sondern das Ausgezeichnete auch nur durch eine auf das Einzelne ausdrücklich gerichtete Bestrebung geschaffen wird, allmählich das Prinzip der modernen Kultur zu werden scheint. Weil die Menschen dieser Zeit sich in der Allgemeinheit mit Bewußtseyn fühlen sollen, so greift besonders die konstitutionelle Staatsform um sich, deren vorzügliches Merkmal eben die innig verflochtene Ineinanderwirkung der Emanzipation und doch wieder der gesetzmäßigen Unterordnung ist. Fast Alles wird durch Gesellschaften, Associationen und Unterschriften erreicht; statt der mittelalterlichen, gestürzten Corporationen treten neue ein und verdeutlichen durch ihren Gegensatz auf's klarste den Charakter, welchen wir als den unsrer Zeit bezeichnen müssen. Die Corporationen des Mittelalters fußten allerdings zunächst auf das Prinzip der Association, hingen aber mit der Geschichte so innig zusammen, daß sie für eine Integration derselben gehalten werden konnten. Die modernen Corporationen sind zufällige, vom Staat unabhängige Verbindungen, die ihre Specialität gerade im Gegensatze gegen den Staat zu behaupten suchen. Das Bestreben unserer Zeit, allgemein zu seyn und sich doch zu zersplittern, ist so durchgreifend, daß wir für die abgeschmacktesten Zwecke tagtäglich neue Verbindungen entstehen sehen. Ich leugne nicht, daß ich auch die Errichtung von Denkmälern zu diesen abgeschmackten Zwecken rechne. Alle Augenblicke tritt ein Comité auf und will für diesen oder jenen in der Unsterblichkeit schon assecurirten Namen eine neue marmorne Einbalsamirung in Vorschlag bringen. Das Geld fließt bald zusammen, und der Zweck ist erreicht, noch ehe das Denkmal aufgebaut ist. Denn der eigentliche Zweck war nicht das Denkmal, sondern der Gedanke einer großen Vereinigung, an deren Spitze zwei Krämer aus der kleinsten Stadt der kleinsten Provinz stehen, ein Apotheker, der das Protokoll führt, und ein Zolleinnehmer, der sich den Cassirer und Rendanten des großen Vereines nennt.
Der Trieb unsrer Zeit nach Constitutionalismus, der in jeder Beziehung das Jahrhundert charakterisirt, entspringt keineswegs ausschließlich aus der Eifersucht auf politische Berechtigung, sondern noch mehr aus der Vorsicht, sich über die Allgemeinheiten unserer Existenz beruhigen zu wollen. Das Nivellement reißt gewaltsam und unwiderstehlich ein, das Individuum rafft so viel Kraft zusammen, als es braucht, um sich in dem Strome der Verallgemeinerung sein isolirtes Interesse zu erhalten und irgend einen Standpunkt, den es selbst gern einnehmen möchte, als dauernd zu fixiren.
Die erste große Erscheinung unseres Jahrhunderts beweist die Richtigkeit dieser Ausführung. Die Revolution gebar aus ihrem Schooße einen Tyrannen, der sie bändigte. Napoleon planirte dieß zackige, hundertfach eingerissene Ufer der Revolution, wo eine freche und lüsterne Begier des Individuums, sich selbst an die Spitze der Ereignisse zu stellen, eine Reihenfolge der unglückseligsten Schiffbrüche hervorbrachte. Napoleon stieg aus den Alpenklüften über die Straße des Simplon hinunter in die breite italiänische Ebene, wo zum Erstenmale der Krieg der Massen begann, die Parteien zu Armeen, die Armeen zu Völkern wurden. Es ist nicht schwer, von dem Auf- und Niedergang dieses großen historischen Meteors bis auf den heutigen Moment die allmähliche Tendenz der Ereignisse zu verfolgen; wie sie alle darnach strebten, zuvörderst Klarheit und Rechtmäßigkeit in den Völkerexistenzen zu begründen, ihnen sodann constitutionelle Hebel und Beruhigungen zu geben und dadurch den Rücken zu sichern, um jene Specialitäten der Industrie, des Handels, des Lokalgeistes und eines mannigfach verzweigten Egoismus eröffnen zu können.
Napoleon hat die Massen in Bewegung gesetzt, und noch immer wird gestritten, zu welchen Zwecken? Seine Umgebungen, die ungeheuren Mittel, über die er gebieten konnte, die großartigen Schicksale, welche von seiner Willkür und seinem Genie abhingen, die historische Atmosphäre, in welcher Napoleon lebte, erschweren es, dem Kerne seiner kometarischen Erscheinung nahe zu treten und mit der Sonde zu prüfen, wo des Mannes gesunde oder kranke Individualität begann. Es ist möglich, das Wundervolle im Leben Napoleons natürlich zu erklären. Es ist aber nur Dem möglich, welcher über seine Phantasie mit einer so großen Kraft gebieten kann, daß er sich mitten in die Anschauung der Zeit versetzt, in welcher Napoleon aufleuchtete. Man kann nicht sagen, daß sich Napoleon etwas geschaffen hat, was undenkbar war. Er verdankte dem 18. Brumaire, wo er das Direktorium stürzte, seine ganze Zukunft, aber die Usurpation und der Muth dieses Tages wurde ihm erleichtert durch die allgemeine Stimmung, die er nicht schuf, sondern nur benutzte. Man wird doch nicht behaupten, daß Napoleon sich ein Kaiserthum aus dem Nichts schuf! Man kann die Mittelglieder an Personen und Begebenheiten nicht übersehen, die zwischen seinem Beginnen und dem Risiko desselben inne lagen; ja, daß er im Grunde nur den Muth hatte, eine Stellung vorwegzunehmen, die, wenn er es nicht gethan hätte, sich würden die Andern genommen haben. Mit einem Worte, das Außerordentliche seiner Größe hat Napoleon nicht gemacht. In Anschlag kann nur die Fähigkeit kommen, mit der er seine Größe behauptete.
Man versuche es einmal, sich den Anfang unserer Zeiten recht klar zu machen! Ich kann und werde dabei niemals den englischen Standpunkt festhalten; denn dieser ist der einseitigste von allen und läßt nur eine kalte Reflexion zu. Napoleons Größe zu bewundern und sich mehr an Hazlitt, als an Scott zu halten, das ist die geringste Gerechtigkeit. Die größere ist die, sich mitten in das Centrum der Continentalideen zu versetzen, und aus der englischen Peripherie, die mit Bestechung, mit Schmuggelei und mit einigen glücklichen Seeschlachten das große Drama jener Zeit umzirkelte, gänzlich heraus zu treten. Die Engländer haben alle ihre Fähigkeit angewandt, um sich den großartigen Eindrücken des endenden vorigen und beginnenden jetzigen Jahrhunderts zu entziehen; aber half es ihnen? Sie widerstrebten so lange, bis die Schuldenmasse, die ihre Thorheit veranlaßte, außerordentlich, ihr Heer durch einige Siege und einen autokratischen Befehlshaber demoralisirt war, und mußten die Demüthigung erleben, der Tochter das nachzuthun, nämlich der Julirevolution, was es bei der Mutter versäumt hatte. Oder hat sich England deßhalb so isolirt, weil es seine Kraft für die Zukunft sparen wollte? Lag dem Gegengewichte, das England der Revolution hielt, das Bewußtseyn zu Grunde, dem Strome würde eine andere Richtung gegeben werden? Das Letzte schwerlich; allein es hat sich freilich dahin entschieden, daß die Ruhe Albions dem Continente imponirte und ihn zu uns heranzog. Wenn England zum Jahrhundert eine Stellung hat, so ist es die, daß es einmal die Preventive der Revolution zu besitzen scheint, und meistens, daß sein Egoismus, seine Kälte, seine Indifferenz wahrscheinlich dem ganzen Zeitalter seinen Charakter geben wird.
Die allgemeine Weltlage mit Beginn unsrer Zeiten war denkwürdig genug. Ein Staat im Vorgrunde, der sich über die blutigen Leichen seines Adels und Königthums hinweg zur Republik umgestaltet, der mit seinen Siegstrophäen die mörderische Erinnerung seines Ursprungs ausgelöscht hatte und bereits in Luxus und Mode wieder den europäischen geselligen Ton anzugeben begann. Die Furcht, Paris zu besuchen, hatte sich gemildert. Die Zeit des Direktoriums und Consulats war vielleicht üppiger, als die Ludwigs XV., weil sie sich weniger verhüllte, weniger Vorurtheile hatte und mehr Freiheit der Straße genoß. Bei diesem ungehinderten Besuche der Hauptstadt Europa's mußte sich eine stillschweigende Nachgiebigkeit gegen die gefährliche Neuerung ergeben, die eben so gefährlich hätte werden können, wenn man nicht den Eifer gesehen hätte, mit welchem die Republik wieder nach dem Glanze des Königthums zurücktrachtete. Man konnte anfangen, sich mit dieser Republik in Güte abzufinden, und that es auch. Die diplomatischen Verbindungen der übrigen Staaten mit Frankreich hatten einen Anstrich von Zuneigung, der nicht völlig erheuchelt war; die dynastischen Interessen der Throne fingen an, sich wegen Frankreich zu beruhigen. Unter diesen Umständen entwickelte sich die Erscheinung Napoleons, eines Mannes, dem Niemand verglichen werden kann, wenn man bedenkt, wie geliebt er wurde, als er stieg, und wie gehaßt, da er fiel. Napoleon wurde um so mehr der Zeitungsgott, da er seine Waffen nach Aegypten übertrug und dort für unsre Neugier, für unsre Admiromanie Wunder verrichtete, die uns nichts kosteten. Als er später Oestreich angriff, so waren auch diese Kriege populär, da man wohl wußte, daß sie von England bezahlt wurden. Man übersehe nicht, daß diese Hingebung an den Modehelden nicht günstig für die Dynastien wirken konnte, wenn auch Napoleon bald aufhörte, politische Begriffe der Heimath, nämlich Freiheitsideen, an seine Fortschritte zu knüpfen. Je mehr Napoleons Individualität in den Vorgrund trat, je mehr er selbst der Schwerpunkt seiner balancirenden Versuchungen des Glücks wurde, desto mächtiger die Anziehungskraft, die er auf die Gemüther hatte. Napoleon überwand nicht nur Völker, die ihn bewunderten, sondern sogar Armeen und Feldherren, welche sich's für Ehre anrechneten, von ihm geschlagen zu werden. Dieser allgemeine Enthusiasmus hörte später auf und erholte sich wieder, als Napoleon fiel. Man muß diese beiden Wendepunkte seines Geschicks wohl betrachten, weil wir uns auf diesem Wege über die Ideen der Zeit und die Stimmung der Generation am klarsten werden können.
Napoleon, erst so populär, wurde plötzlich verabscheut. Sogar die Gegner, die er besiegte, hatten ihn angebetet. Man achte wohl darauf, daß es zunächst nicht Patriotismus war, der sich gegen seinen schwindenden Glücksstern wandte, sondern einzig und allein eine Täuschung. Man ließ sich gefallen, von Napoleon besiegt zu werden. Man hatte zu viel Ideen, die für eine Niederlage trösten konnten. Man freute sich der Niederlagen, weil sie dem alten verrosteten Systeme des Staates oder der Armee oder wenigstens ihrer Einbildung gegönnt wurden. Erst da begann die Empörung gegen den Sieger, als er seine Siege befestigen wollte. Napoleon, als Held angebetet, wurde verflucht, da er Eroberer wurde. Die Armeen und die geschlagenen Feldherren waren nicht populär gewesen, aber sich selbst konnte man doch nicht gering anschlagen, man sah sich verkannt, gedemüthigt und knirschte die Zähne. Man hatte Napoleon verziehen, daß er Einzelne beleidigte, und empörte sich, als er die Massen verachtete. Was die Ferne so zauberhaft hatte erscheinen lassen, das schrumpfte in der Nähe zu einer kalten, lästigen Persönlichkeit zusammen. Napoleon brachte keine Ideen mit. Er wollte nur den Zug des Dionysus und Alexander nachahmen. Seine Siege hatten keinen Zweck mehr, als den, ihre Anzahl zu vermehren. Napoleon brachte den Völkern keine Anknüpfungspunkte. Er hatte seine Feldzüge schon bis zu den Feldzügen herabgewürdigt, welche wegen Erbfolgen, Theilungen und Gleichgewichtsinteressen ehemals geführt wurden; die französischen Armeen selbst waren nur aus ganz französischem, ganz nationalem Stoff zusammengesetzt. Dieß Alles förderte einen Gegensatz ähnlicher Art hervor. Und dennoch muß man noch immer gestehen, daß derselbe nicht aus dem Gefühle der nationalen Selbständigkeit zunächst hervorging, sondern daß der Patriotismus erst die Form für ein anderes Unbehagen war, das die Völker zum Kampfe gegen Napoleon entzündete. Selbst bei den rachesprühenden Spaniern muß man sagen, daß der Gedanke, sich getäuscht zu sehen, erst den andern Gedanken, daß die Nation sich erheben müsse, erzeugte. Schweden, das sich einen französischen General zum Herrscher nahm, trat gewiß nicht aus nationaler Idiosynkrasie gegen Napoleon auf. Nur Deutschland schien den Namen des Vaterlandes rächen zu wollen. Allein selbst in Deutschland war die Nation nicht der bloße Gedanke. Deutschland steckte zwar am begeistertsten diese Devise auf, aber es mußte die innerste Thatkraft der Nationalität beschwören, weil es seiner Zersplitterung wegen sonst nichts vermocht hätte, weil sie seine einzige Waffe war, und weil es zuletzt sein Alles in die Schanze schlagen mußte, um nicht die Schande zu erleben, daß es von der russischen Hülfe wäre überflügelt worden. Aber man bedenke nur das Ende. Ist eine Nation schneller auseinandergegangen, da Napoleon besiegt war, als die deutsche? Wäre der Name der Nation nicht blos das Mittel, sondern der Zweck des Aufstandes gegen die französische Usurpation gewesen; wahrlich, Deutschland hätte auf dem Wiener Congresse eine andere Gestaltung gefunden, als seine jetzige ist!
Wenn ich beweise, daß die Nationalität keineswegs der ausschließliche Gedanke unserer Zeit ist, so will ich nicht in Abrede stellen, daß man sehr glänzend und bis zur Begeisterung hinreißend über diesen Gedanken reflektiren kann. Die Idee aber, welche die Völker mit Freiheit, Humanität, mit Fragen des Jahrhunderts, ja leider sogar mit den egoistischen Interessen der Existenz verbinden, haben sich die Nationalität längst unterwürfig gemacht. Die Corporationen der alten Zeit leisteten mehr als unsere modernen Specialitäten. Jene ließen unmittelbare Bezüge auf den Staat und die Nation auch bei untergeordneten Ständen zu, ihre ganze Existenz war mit der des Staats unmittelbar zusammenhängend. Gegenwärtig aber ist das Staatsgebäude so sehr Vernunftsabstraktion geworden, daß die sogenannten Constitutionen gar nicht mehr aus historischen Anfängen entwickelt, sondern von allgemeinen Prinzipien der Doktrine hergenommen werden. Das Gefühl der Nationalität schwindet immer mehr und macht einem Universalismus Platz, der, wie er schon in unsere Bildung eingedrungen ist, auch unsere bürgerlichen Verhältnisse umgestaltet. Unser Jahrhundert ist hiedurch zwar um ein Vorurtheil ärmer, aber es ist auch schwächer und in einem gewissen Betracht darum unpoetischer geworden.
Oder ist vielleicht die Poesie unsrer Zeiten anders motivirt, als ehemals? Napoleon stürzt, der Bellerophon trägt ihn über die schwankende See, ein weitentlegenes Eiland trennt ihn auf ewig vom Schauplatze seines Ruhmes; Napoleon auf St. Helena wird eine Ursache der allgemeinen Verwünschung Englands, ja England selbst stimmt in den Ausbruch einer Theilnahme ein, die mit dem frühern Haß seltsam kontrastirte. Er wird der Held der Dichtkunst, gepriesen wie der größte Wohlthäter der Menschheit, er war der Gefährlichste unter den Menschen und wird nun ihr Größter genannt. Merkwürdige Umkehr! Man kann nicht sagen, daß hier allein die Großmuth obwaltete, und daß man einem Löwen, dem die Tatzen beschnitten waren, vergeben konnte; dieß wäre ein Gefühl gewesen, das den Fürsten und ihren Rathgebern gut gestanden hätte. Das Volk übte eine andere Gerechtigkeit, die poetische. Es sah nicht einmal mehr den Gefangenen in Napoleon, sondern nur noch den Todten. Die Täuschungen, welche die Folge der gegen Frankreich gerichtet gewesenen Kämpfe waren, die Täuschungen, welche Frankreich sich selbst gestehen mußte, ließen das Unrecht Napoleons vergessen, man legte seiner Erscheinung eine höhere Bedeutung bei und trug sich, wie bei Christi Tode, noch lange Jahre mit seiner Wiederkunft. Bei Varna und Adrianopel im Russenkriege wollte man einen untersetzten Mann erblickt haben, im grauen Rock und dreieckigen Hut, der die Kanonen der Türken richtete. Auf mancherlei Weise sollte er wiedererscheinen. Man hielt ihn nur noch für einen Helden der Freiheit oder hoffte doch, daß er die Dinge wenigstens besser machen würde, als sie nach der Restauration wieder gemacht wurden. Als die Julirevolution ausbrach, wünschte man ihn schwerlich zurück. Aber jetzt, wo die Doktrinäre in ganz Europa durch ihre Prinzipien die Thatsachen wegleugnen wollen, jetzt würde man eher auf die Rückkehr etwas geben, wenn sie noch möglich wäre.
Es ist gewiß sehr bemerkenswerth für unsere Zeit, daß sich in unsern Erfahrungen das Erlebniß so bald nach den Gesichtspunkten modelt, nach welchen wir es gern beurtheilen möchten. Oder dieß vielmehr ist so bemerkenswerth, daß wir eine solche Aenderung ohne großen Widerspruch uns erlauben dürfen. Im Alterthum war der Tod des Cäsar der Tod des Cäsar, bei uns würd' er noch etwas ganz Anderes gewesen seyn. Es ist originell unter manchen Charakteren, die man trifft, die eigenthümlichen Gründe zu hören, welche sie gewöhnlich den Ereignissen zu Grunde legen. Das Politisiren ohne die nöthigen Kenntnisse hat die Zeitgenossen schon auf die wunderlichsten Combinationen gebracht. Auch hievon ist Napoleon die Schuld. Denn, indem es hieß, er wolle England in Hinterindien angreifen, so hat dieß zunächst alle geographische Begriffe in dem Kopfe des gemeinen Mannes verwirrt. Die Continentalsperre schloß überdieß England von Europa aus, und es war verzeihlich genug, wenn die großen Politiker der Alehäuser dem Zuge nach Rußland eine Intention zuschrieben, die Napoleon durch die Einschiffung in Boulogne nicht hatte erreichen können. So aber wie es hier im Albernen geschieht, geschieht es auch in dem, was sich klug dünkt. Die Unmöglichkeit, die Politik noch nach den veralteten offenbar egoistischen Zwecken früherer Zeiten, ich will nicht sagen, zu treiben, sondern nur offen hinzustellen, erzeugt die wunderlichsten Combinationen, wofür besonders noch immer die Angelegenheiten des Orients, der ewig eine fabelhafte Welt bleiben wird, Raum genug darbieten. Ich kenne einen sonst ganz vernünftigen Mann, der sich nicht ausreden läßt, Louis Philipp sey der größte Republikaner, den es nur geben könne, und Algier suche er nur deßhalb zu colonisiren, um seinen Kindern ein neues Königthum zu hinterlassen, wenn Frankreich eine Republik werden sollte. Dieß ist lächerlich; aber andere Schlüsse scheinen schon ernster zu seyn; z. B. hat ein Whigreformer bei der letzten Wahl von den Hustings in Betreff der Sklavenemanzipation folgende Deduktion aufgestellt: »Die Sklaven frei machen, heißt, Euch zwanzig Millionen aus der Tasche nehmen; aber ich sage Euch, Ihr zahlt sie nicht, Jonathan zahlt sie. Die Sklaven frei machen, heißt, in die vereinigten Staaten den Brand der Empörung werfen. Dort wird kein Sklave mehr arbeiten wollen, weil man auf unsern Kolonien nicht mehr arbeitet. Was ist Jonathan ohne die Hetzpeitsche? Sein Handel geht zurück. Ihr legt hier zwanzig Millionen zu fünfzig Prozenten an. Also seht, man muß eben so klug, als menschlich seyn.« Solche Erläuterungen fesseln das Volk und machen, daß es Alles glaubt, wenn man es nur mit irgend einem Scheine zu beweisen versteht.
Es ist das aber sehr bezeichnend für unsre Zeit, daß die Interessen sich zu sehr verwickeln, um noch eine natürliche und freie Lösung derselben jedem nur einigermaßen gesunden Verstande möglich zu machen. Die höhere Bildung, besonders die Gelehrsamkeit, hat sich auch schnell diese Schwierigkeit zu Nutze gemacht, und allen Dingen ihrer Vernunft gegenüber eine andere Stellung gegeben, als sie in der Erfahrung haben. Die Folgen werden den Ursachen selbst zu Gute geschrieben, so daß z. B. in der französischen Revolution Absichten gelegen haben sollen, die die Zeitgenossen derselben nicht einmal würden verstanden haben. So wurde auch Napoleon, seitdem man ihn wie eine Idee behandelt, das Gegentheil seiner selbst, und muß gerade diejenigen Dinge vertheidigen, die von ihm am heftigsten bestritten worden sind.
Die beiden Hauptspaltungen, in welche unsre öffentlichen Begriffe gegenwärtig getheilt sind, kommen daher, daß man sich über die Kräfte nicht verständigt hat, durch welche Napoleon gestürzt wurde. Welches Europa triumphirte bei Leipzig, bei Waterloo? Das Europa vor oder nach der französischen Revolution? War Napoleon nur eine Person; das heißt der Ehrgeiz? War er eine Nation, d. h. der Uebermuth? War er ein Begriff; d. h. war er die Revolution? Von hier aus gehen alle die Mißverständnisse, welche bis zur Julirevolution die Geschichte des ersten Dritttheils unsres Jahrhunderts bezeichnen. Ueber die Theilung der Beute erzürnte man sich. Rußland und Oestreich vertraten das Europa vor der Revolution gegen die Revolution, Spanien und Deutschland die Revolution gegen den, der sie entstellt und tyrannisirt hatte. Der Aufschwung Deutschlands war der seiner historischen Regeneration, die aus dem Ohnmachtsleben einer Reichsverfassung thatkräftiger und wahrhaftiger wollte erlöst seyn, als es durch Napoleons Rheinbund geschehen war. Das Spanien, welches gegen Napoleon kämpfte, war dasselbe, das sich die Constitution von 1812 geben wollte. Diese Elemente waren gleich der Revolution, weil sie dieselbe an Napoleon rächen wollten; sie waren noch höher als die Revolution, weil sie sich von der Anarchie befreiten und nach Gesetzen strebten. Beide Nationen hätten die Bedingung ihres Kampfes gegen Napoleon aufsetzen sollen. Sie waren zu gutmüthig, es zu thun, und die Bedingung wurde nicht gehalten.
Das Mißtrauen, welches seit dem Jahre 1815 bis 1830 die ganze europäische Gesellschaft erfüllte, gab dieser Periode einen sehr melancholischen und zum Rückblick wenig reizenden Anschein. Man wird wenig Zeiten in der Geschichte auffinden können, welche mit der sogenannten Restaurationsperiode, die sich in England auffallenderweise dießmal ganz ebenso entwickelte, wie auf dem Continente, verglichen werden könnten. Die edelsten Absichten wurden verkannt und die edelsten Kräfte unnütz verschwendet. Das Meiste auch, was benutzt werden konnte, blieb unangerührt liegen, weil es sowohl an Einheit der Bestrebungen, wie an dem Sonnenschein einer allgemeinen heitern und unbefangenen Stimmung gebrach. Es ist eine eben so kahle Epoche, wie die gleichzeitige des vorigen Jahrhunderts, wo sich Europa im Süden durch den Erbfolgekrieg und im Norden durch Peter und Karl erschöpft hatte und bis zum Regierungsantritte Friedrichs II. von Preußen eine allgemeine Apathie auf den Gemüthern lastete, eine Apathie, wo weder in der politischen Welt, noch in der literarischen und wissenschaftlichen irgend etwas Außerordentliches geschaffen wurde. Man wird mir zugestehen, daß auch in unserem Jahrhundert, seit dem Sturze Napoleons, wenig Glänzendes das Auge geblendet hat, weder auf dem Schlachtfelde, noch in der Kunst und Literatur; auf mein Wort, wenig Glänzendes; es sey denn, daß Lord Crack auf seine Stiefeln blickte und lächelnd auf einen Firniß zeigte, den freilich so glänzend zuzubereiten zu keinen frühern Zeiten möglich war.
Auf die Restauration lassen sich zwei ganz entgegengesetzte und dennoch zutreffende Bezeichnungen anwenden. Sie war eben so sehr eine Zeit der Gährung, wie der Stagnation. Sie war ein Uebergang und drückt doch etwas völlig Abgeschlossenes aus. Diese fünfzehn Jahre sind der Sauerteig unsres Jahrhunderts gewesen. Sie enthielten Alles, was die Zukunft heben und hebeln wird, wenn auch unklar und gegensätzlich. Sie bilden ein wirres Chaos von Licht und Finsterniß, von Freiheit und Gewaltthätigkeit, von Ohnmacht und Kraft. Da sie aber Alles enthielten, so enthielten sie Nichts und sanken machtlos in sich selbst zusammen. Eine europäische Geschichte der Restauration würde eine eben so unerquickliche, wie lehrreiche Aufgabe seyn. Ein Franzose kann, ein Deutscher darf sie noch nicht schreiben, und vom Engländer fürcht' ich, daß er weder alle Materialien besitzt, noch die ganze Tiefe des Gegenstandes zu erschöpfen weiß.
Ein Begriff, mit welchem man heute nicht mehr alle Beziehungen des öffentlichen Freimuthes erschöpfen würde, der aber der zweite Faktor und der gefürchtete Feind der Restaurationsperiode war, ist der Liberalismus. Unter Liberalismus verstand man mehr als Freisinnigkeit und weniger als Neuerungstrieb. Der Liberalismus war auf Grundsätze gebaut und konnte einer Religion gleich geachtet werden. Er enthielt eine Menge Anknüpfungspunkte an die Herrschaft der Fürsten, ob er dieselbe gleich, wie sie war, verwarf. Der Liberalismus nahm Vernunft an und ließ mit sich unterhandeln. Allmählich aber verlor er seine politische Farbe; da er zu viel gesellschaftliche Theorie in sich aufnahm und mehr eine Stimmung des Gemüths, als ein Prinzip der Handlung wurde, so konnte es nicht fehlen, daß seine Ausbreitung in dem Grade zunahm, als sich seine Intensivität verringerte. Wer macht nicht jetzt alles auf den Liberalismus Anspruch? Man frage die Doktrinäre, ob sie sich nicht für eben so liberal halten, wie der Tiersparti; und die Partei der Republikaner, was sie wieder vom Tiersparti urtheilen? Einige Fürsten haben sogar angefangen, sich für den Liberalismus zu erklären, wie ich nur auf den Herzog von Utopicshire zu verweisen brauche, den Alle kennen. Er liest nur radicale Journale, er hat keinen Bedienten, sondern nur Freunde, die ihn bedienen. Sie besuchen ihn des Morgens im gentlemenliken Frack, unterhalten sich ein wenig mit ihrer Hoheit und werden dann sehr höflich ersucht, ob sie ihm nicht vielleicht das Frühstück aus der Küche holen möchten. Der Herzog hat dabei immer eine Entschuldigung als Motiv seiner Bitte. »Ich bin noch nicht angekleidet, Sir,« heißt es. »Sie sind ja gerade auf den Beinen, Sir! Machen Sie mich zu Ihrem Schuldner, Sir, u. s. f.« Wenn der Herzog ausfährt, so sind Kutscher und Bediente seine jüngern Brüder, die neben ihm sitzen, die Peitsche führen und den Schlag nur deßhalb aufmachen, weil sie gerade den Vorsprung haben. Der Herzog hat, weil es ihn beunruhigt, vorn einen Kutscher auf dem Bock sitzen zu sehen, sich deßhalb auch für den Winter zu offenen Wagen bequemen müssen, weil anders sein Freund nicht neben ihm sitzen kann. Man hat schon oft gefürchtet, daß er bei strengen Jahreszeiten aus Demokratie erfrieren würde. Die Herzogin ist nicht von besonders hohem Stande, aber sie hätte jetzt wohl Anspruch darauf, da sie die herzogliche Würde durch ein enormes Vermögen, das sie dem Herzog zubrachte, erkaufte. Allein ihr Gemahl entzieht ihr jeden ebenbürtigen Umgang. Er ladet ihr oft Theevisiten ein, wo die Weiber erscheinen, von welchen das Geschirr, das auf dem Tische steht, gekauft wurde. Seine Kinder, die nachgrade zu wachsen anfangen, sind nicht ohne Unterricht; aber sie erhalten ihn nur, weil sie einst ihr Brod selbst verdienen sollen. Der älteste, der junge Lord John, ist bei einem Tischler in die Lehre gegeben. Er soll alle Jahre ein anderes Handwerk erlernen und den Sultan, der nur eins versteht, weit zu übertreffen suchen. Man ist noch immer nicht darüber beruhigt, ob nicht der Vater doch noch einen seiner oft ausgesprochenen Lieblingswünsche in Erfüllung bringen wird; nämlich der herzoglichen Würde zu entsagen und in Leeds ein Fabrikarbeiter zu werden. Seine Gattin wird kein anderes Mittel wissen, als in Leeds eine Adresse an ihn mit Unterschriften bedecken zu lassen, worin ihm die Arbeiter für seinen Entschluß danken, ihm aber ernstlich anrathen, lieber ihrem Verdienste zuweilen eine Zulage zu geben, als ihn zu verringern durch seine gewiß unentgeltliche Concurrenz. Den Herzog in ein Narrenhaus zu sperren, wird sich nicht machen, weil in diesem Falle ein Aufstand des gemeinen Volks zu befürchten steht; Vernunft ist das, was die Menge dafür halten will.
Man kann Thistlewood, man kann die Verschwörer, welche die Bourbonen hinrichten ließen, man kann die unglücklichen Tugendbündler (?) in Deutschland keine Märtyrer des Liberalismus nennen; denn alle diese Opfer der Politik und ihres eignen Willens handelten im Auftrage bestimmter, von verglichenen Zeitabschnitten abstrahirter Theorien und haben dem eigentlichen Ziele des Liberalismus mehr geschadet als genützt. Der Liberalismus schließt niemals das gesetzmäßige Verfahren aus. Er ist nur eine Methode, eine Anschauungsweise, er ist eine Emanzipation des Herzens und Verstandes, er hat darum noch keine bestimmte Zielpunkte, die in diesen oder jenen fertigen Einrichtungen bestehen. Er haßt allen Geistesdruck, allen Egoismus in Sachen der Religion, Politik und Moral; er spricht für die Befreiung der Industrie von den sie drückenden Lasten, er befördert den Volksunterricht, er schwärmt über die Theorie der Armen; er emanzipirt die Juden, die Katholiken, die Sklaven. Der Liberalismus ist mit einem Worte die Philanthropie des vorigen Jahrhunderts, nur mit dem Firniß unsrer Zeit, mit der Bestimmung der Jetztwelt. Die Philanthropie tröstete, der Liberalismus befreit. Jene machte die Armuth erträglich, dieser will sie gänzlich abstellen. Der Liberalismus ist freudiger, schneller zur Hand, als die thränenfeuchte Philanthropie des vorigen Jahrhunderts. Diese beschäftigt sich mehr mit dem Menschen, jener mehr mit dem Bürger. Diese entschuldigt, jener klagt an. Es ist zwischen beiden eine Proportion, die sich mit der Ungeduld der zunehmenden Zeit selbst vermehrte. Was früher nicht befriedigte, muß jetzt erzürnen, nachdem so viel Zeit vorüberstrich, ohne daß es abgeändert wurde.
Die Verbindung des Liberalismus mit der Propaganda ist erstorben. Es ist nur ein Merkmal von ihm übrig geblieben, die gesteigerte Philanthropie. Als solche ist der Liberalismus der Schmuck unsers Jahrhunderts, das Kleinod, das im Herzen zahlloser gewesener und kommender Individuen gelegen hat und liegen wird. Natürliche vernunftgemäße Freiheit der Menschen! Großes Wort, das mit Flammenschrift über dem geheimnißvollen Tempel aller zukünftiger Zeiten leuchten wird. Von diesem Worte wird die Zeit nicht einen Buchstaben lassen. Es ist die moralische Luft, die man athmen muß, um sich in Zukunft noch als Mensch zu fühlen. Wo ist die Philosophie, die hier verdunkeln, wo die Tyrannei, die hier tödten kann? Das Dunkel wird immer nur Dämmerung seyn und dem Tage weichen müssen; der Tod ist hier nur Verwundung: das kann nicht sterben, was die Heilkraft, die Genesung selber ist. Ob auch die Sonne, sagte ein sterbender Patriarch des Orients zu seinen Söhnen, ob auch die Sonne den trüben Glanz des Mondes annehmen möge, und die Erde wie das Laub des Waldes zittre: eine Wahrheit wird nicht untergehen, die, daß zweimal zwei gleich vier ist!
Der gute Greis! Er hat Recht; aber wenn er in unsern Tagen lebte, wer weiß, ob er seines Glaubens noch so felsengewiß wäre. Er kennt Sir Thomas nicht, einen Gentleman, den ich nur mit seinem Taufnamen nenne, weil er selbst daran zweifelt, ob sein Vatername der rechte sey. Dieser Gentleman hält Nichts für gewiß, aber Alles für wahrscheinlich. Er ist auf diese wunderliche Vorstellung erst seitdem gekommen, daß er sich mit der Physik zu beschäftigen anfing. Die ewige Metamorphose des chemischen Prozesses verwirrte seine Vorstellungen; besonders erhielt seine gesunde Vernunft in dem Augenblicke einen empfindlichen Stoß, wo er hörte, daß der menschliche Körper in jedem Momente ebenso sehr nicht da ist, als er da ist, daß er fortwährend sich verzehre und sich wieder ersetze, daß er Conglomerat von zahllosen kleinen Atomenkügelchen wäre, die nur den Schein des Zusammenhanges hätten. Seither sind alle seine Begriffe in eine solche Unbestimmtheit übergegangen, daß er in einer überheißen Stube vor Frost zittert, daß er mit seiner Devise »Nichts Gewisses weiß man nicht,« die ausgemachtesten Dinge in Abrede stellt. Weil er alle Dinge für möglich hält, so streitet er allen ihre natürlichen Eigenschaften ab. Er würde es auffallend finden, wenn Jemand daran zweifelte, daß in Zukunft die Jahreszeiten mit einander umkehren. Er beweist uns sogar in seiner Art die Möglichkeit, zwischen den Frühling und den Sommer den Winter einzuschalten, und kömmt dann gewöhnlich nach solchen unvernünftigen Behauptungen auf die moralische Phrase zurück, daß bei Gott nichts unmöglich wäre. Unsere großen Erfindungen gaben Sir Thomas nur das Recht, im Geiste noch weit größere zu machen. Ein Zeitalter, das die Dampfschiffe und Eisenbahnen, die Taubenposten und die Schnellposten erfunden hat, kann bei ihm Alles zu Stande bringen. Allein diese Manie ließe sich noch ertragen. Sie macht Sir Thomas nur lächerlich. Unerträglich wird sie aber für Jedermann, wenn er sie auch auf seine nächsten Verhältnisse anwendet. Jeden Auftrag, den man ihm gibt, richtet er anders aus, weil er die Absicht des Andern richtiger zu treffen glaubt, wenn er sie umkehrt. Es ist in keinem Ding Verlaß auf ihn. Sagt man ihm: Wollen Sie heute bei mir diniren? so lächelt er und sagt: Ich komme zum Abendessen; weil er nämlich glaubt, meine eigentliche Absicht errathen zu haben. Er hat die Gewohnheit, nichts einfach zu verstehen, sondern hinter Allem noch etwas Verstecktes anzunehmen, das zu errathen er sich für gescheut genug hält. Sagt man zu ihm: Guten Tag, Sir Thomas, so denkt er, man will ihm eine Falle legen, und fragt: Wie meinen Sie das? Kurz, dieser Mann ist sehr weise, sehr gescheut, ein großer Dialektiker, im Uebrigen aber unausstehlich.
Das Zeitalter gleicht ihm jedoch auf ein Haar. Daß zweimal zwei vier gibt, ist durchaus keine unumstößliche Wahrheit mehr in unsern Tagen. Wir werden uns hüten, denken wir, Alles natürlich zu nehmen. Bei uns wird vorausgesetzt, daß jedes Ding zwei Seiten habe, und daß die wahre, einflußreiche die verborgene sey. Diese Subtilität ist von unsern Meinungen auf unsre Sitten und von diesen sogar auf die Künste und Wissenschaften übergegangen. Hat die neuere Gelehrsamkeit nicht die einfachsten Thatsachen verdreht? Welche Conjekturen haben nicht die Geschichtsforschung verdrängt? Die alten Götter und Heroen, deren Thaten sich unserem Gedächtnisse einprägten, haben sich in Collektivnamen für ganze Zeiträume verwandelt. Lykurgus ist sogar nicht einmal mehr jener große Gesetzgeber, dessen Weisheit man den modernen Constitutionsverfassern vorhalten konnte, sondern er ist eine Zusammenfassung von Gesetzen geworden, die Personification einer Zeitperiode. Die Philologie zumal hat sich einer Zweifelsucht hingegeben, die selbst für unsere mißtrauische und ungläubige Zeit noch außerordentlich ist. Homers Iliade ist für eine Allegorie erklärt worden, für ein physikalisches Lehrgedicht, wo die Griechen, glaub' ich, das Eisenoxyd und die Trojaner das Wasserstoffgas repräsentiren sollen. Andre haben den Inhalt der Odyssee aus der Bibel beweisen wollen; Andere wieder die Bibel aus den unsichern Religionssystemen, welche unsre Missionarien aus Calcutta zurückgebracht haben. Die Geschichte der römischen Könige hat der große Niebuhr in eine Fabel verwandelt. Wenn das so fortgeht, so werden wir in Miltons verlorenem und wieder gewonnenem Paradies bald nur noch die allegorische Darstellung eines Handelfallissements sehen, in Pope's Menschen eine Theorie der Algebra, weil das Größte und das Kleinste darin besungen und gleichsam das Sandkorn, das den Schöpfer preist, darin gemessen wird; in Göthe's Egmont endlich ein poetisches Handbuch der Technologie, weil soviel Handschuhmacher und sonstige Handwerker darin vorkommen.
Die abenteuerlichen und wunderlichen Vorstellungen, welche in den Köpfen der Zeitgenossen wohnen, entspringen aus der geringen Antheilnahme derselben an den Ereignissen, die mehr oder weniger doch nur in den Händen der Machthaber liegen. Oder, um gerechter zu seyn, es war die Restaurationsperiode, wo die Gemüther, dem öffentlichen Leben abgewendet, sich an die Annahme der widersinnigsten Behauptungen gewöhnten. Wenn die Bürger nicht mehr die Volksversammlung besuchen, so werden sie auf den Gemüsemarkt gehen, in die Ringschule, auf die öffentlichen Spaziergänge und werden bald den Sophisten in die Hände fallen. Alle reaktionären Maßregeln rächen sich. Sie wollen die politische Beweglichkeit nur zügeln, aber die Spannkraft ist bald hin, die nicht in Thätigkeit gesetzte Maschine rostet. Wo zwischen Regierenden und Regierten kein vertrauensvoller und wechselsweise sich bedürftiger Verkehr Statt findet, da lassen die Springfedern bald nach, welche das öffentliche Interesse straff und elastisch zusammenhalten. Der politische Indifferentismus ist noch gefährlicher, als der religiöse. Denn der letztere kann wenigstens mit einer Moral verknüpft seyn, die, weil sie Niemanden betrügt, Niemanden bestiehlt und überhaupt noch keinen Mord begangen hat, sich immer noch für hinreichend fromm und himmelswerth halten kann. Allein der politische Indifferentismus, selbst wenn er sich in den Schranken des polizeilichen Gehorsams hält, frißt und nagt wurmartig am Staatsgebäude und macht es so morsch, daß es Wind und Wetter nicht mehr ertragen kann. Warum sank Spanien von einem so hohen Gipfel des Ruhmes und der Macht herab? weil der Begriff der Oeffentlichkeit in diesem Lande völlig erschlafft war, weil eine Wechselseitigkeit des Throns mit dem Volke weder im Guten, noch im Bösen (denn selbst Kampf gegen das Volk belebt das letztere mehr als Indifferentismus) versucht wurde. Italien und Deutschland würden dieselbe Blöße geben, wie jetzt die pyrenäische Halbinsel, wenn diese Länder nicht den Vortheil gehabt hätten, daß sie in sich zersplittert waren und auf diesem Wege nicht so durchgreifend und massenhaft verfallen konnten. Und doch -- die süddeutschen Fürstenthümer waren die ohnmächtigsten gewesen bis auf die französische Revolution, und in ihnen offenbarte sich auch der Indifferentismus am beklagenswerthesten, in ihnen traf Napoleon weder National- noch Territorialgefühle an.
Die reaktionären Maßregeln rächen sich sogar in dem Guten, was sie zu bewirken scheinen. Wenn in der Politik statt Persönlichkeiten künftig nur noch Ideen gelten sollen, wenn den unsichern parlamentarischen und mehr oder weniger auf Individualität zurückkommenden Gang der Staatsmaschine eine, wenn auch noch so geregelte Büreaukratie ersetzen soll; so wird sich das thatkräftige, energische, an der Oeffentlichkeit, wie am eigenen Körper betheiligte Interesse der Bürger bald verlieren. Der Staat wird eine Domäne, die Bürger Kronbauern. Pachter oder Herr, Dieser oder Jener, das wird zuletzt den Dienenden gleichgültig. Ein Augenblick der Gefahr steht vor der Thür, die Hülfsmittel der Büreaukratie, das sklavisch geschulte Militär sind erschöpft und geschlagen: wo dann anpochen? wo neue Kräfte hernehmen? wo Opfer, Heroismus und Begeisterung aus der Erde stampfen? Nein, die Hauptsache wird in der Politik immer bleiben, sie, wenn nicht auf die Freiheit, doch wenigstens auf die Nationalität zu basiren. Das Volk muß die Regierung oft sprechen hören, sie muß sich mit ihm verständigen, sie muß fortwährend eine Bekanntschaft mit ihm unterhalten, die im Augenblick der Gefahr nicht so schnell gemacht werden kann. Wenn sich aber die Reaktion vor der Sprache des Volks, die allerdings platt, breitzüngig und regellos ist, entsetzt, dann wird sich auch das Volk gewöhnen, die Sprache der Regierung nicht mehr zu verstehen, mag sie auch noch so fein, gewandt und blumenreich seyn.
Kehren wir wieder auf die Geschichte der Zeit zurück, so hat der bisherige unpraktische und doch so unruhige Sinn der Zeitgenossen der Entwickelung des Jahrhunderts viel geschadet. Der Trieb der Neuerung vermählte sich mit dem Mangel an Routine und, offen gesagt, auch mit dem Mangel an Urtheil in öffentlichen Angelegenheiten. Vage Theorien, von der rechten und linken Seite kommend, durchkreuzten sich und schnitten sich dabei immer den geringen Verstand ab, den sie allenfalls noch besitzen mochten. Das Meiste davon paßte auf keines der gegebenen Verhältnisse. Die Restauration erfand ein Axiom nach dem andern. Die Freiheit wurde so utopistisch wie der Despotismus. Ein Chaos wirrt sich in einander, das durch hinzuströmende wissenschaftliche, religiöse und gesellschaftliche Neuerungen eher noch mehr verfinstert, als erhellt wurde. Wie sollte dieß enden? wie sollte der soziale Gedanke des Jahrhunderts aus einem solchen Gedränge gerettet werden? Gestehen wir es, die Zeit hat sich selbst zu helfen gewußt. Wir sind der Restaurationsperiode weit entrückt, wenn wir auch Sorge tragen müssen, uns aus einem Zustande des Uebergangs, aus einer nur zur Hülfe erheischten Tendenz des Zeitgeistes zu befreien. Diese Hülfe war aber der Materialismus.
Man mag nun die Behauptung tief oder lächerlich finden, ich scheue mich nicht zu gestehen, daß mir die Reaktion gegen den Idealismus durch das plötzliche Erscheinen der Cholera ausgedrückt scheint. Ich weiß zwar, daß Doktor Heftpflaster das einzige spezifische Mittel gegen sie besitzt: ich will es dem gelehrten Herrn nicht streitig machen, daß er Tag und Nacht seinen Gott bittet, nämlich die Zirbeldrüse der Welt, wie er seinen Gott nennt, er möchte England die Cholera und seinem Specificum, das er nicht bekannt macht, den Triumph bringen. Aber England bleibt von dieser Seuche so ziemlich verschont. Warum? Aus demselben Grunde, weßhalb nur der Continent von ihr heimgesucht wurde.
Um mich deutlicher zu erklären, die jetzige Richtung des Continents geht auf ein Ziel hin, das in England allgemein genug verbreitet ist. Wir stecken zu tief in dem Mechanismus der modernen Industrieinteressen inne, als daß wir durch die Cholera erst aus der Träumerei an die Wirklichkeit, die längst unser Bauch und unser Gott ist, brauchten erinnert zu werden. Die Ideenanarchie bedurfte eines Reagens. Der große asiatische Uterus der Geschichte, der Europa schon so viel Anstöße gegeben hat, that sich auf und spie die Pest über uns aus. Im Mittelalter sandte uns Asien den schwarzen Tod. Der schwarze Tod schuf den religiösen Pietismus. Der Pietismus schuf die Reformation. Die Cholera hat eine ähnliche Bestimmung. Die Cholera schuf eine überwiegende Tendenz zum Materialismus; denn er purgirte den Idealismus, der sich übergessen und übertrunken hatte, und aus dessen verdorbenem Magen kein reiner Hauch mehr über Europa wehte. Der Materialismus wird eine neue Revolution schaffen, wenn auch mit Erscheinungen, die sich kaum ahnen lassen.
Ich besitze einen Freund, der sich bisher mit der Quadratur des Zirkels beschäftigte, der mir aber kürzlich erklärt hat, er halte es für das größte Philosophem unsres Jahrhunderts, aus dem Süßstoff der Runkelrübe Zucker zu machen. Er hatte dem Parlamente seine früheren Versuche, jenes Quadrat zu entdecken, vorgelegt und von ihm beinahe eine Anweisung auf das Narrenhaus erhalten. Jetzt will er sich durch die Runkelrübe rächen. Er geht auf den Continent, legt eine Fabrik an und wird Englands Handel um so viel Prozent beeinträchtigen, als die Runkelrübe wohlfeiler ist, wie das Zuckerrohr. Ein Anderer schrieb bis jetzt Romane, von denen sogar die ersten Theile vergriffen sind, wenn auch die letzten immer liegen blieben. Jetzt arbeitet er unter Lord Broughams Auspicien an der Cabinetsencyclopädie und wird diese nützliche Unternehmung durch ein vollständiges System bereichern, wie man Kindern im Spiel die verwickeltsten Sätze der Mechanik deutlich machen kann. Sehen wir nicht, daß Gegenstände des abstraktesten Wissens, z. B. die Nationalökonomie, jetzt schon poetisch behandelt werden, ja sogar, daß es eine Dame ist, welche diesen Zweig der Poesie, das moderne Lehrgedicht, mit vorzüglichem Glücke behandelt? So nehmen alle unsere Vorstellungen einen auf die Erleichterung der bürgerlichen Existenz, auf die Vermehrung praktischer und solider Kenntnisse, auf die Popularisirung dessen, was zu wissen allen nützlich seyn kann, hingerichtete Tendenz an. Die Menschen unsrer Zeit, von denen wir noch eben sehen, wie schwer es ihnen ward, Klarheit in ihre Begriffe zu bringen, somnambüle Träumer über Theorien des Staates und der Kirche, halbe Philosophen, deren Ideen nicht zum Durchbruch kommen konnten -- diese erhalten jetzt plötzlich einen Stoß, wo sie die Wahrheit und Einheit der Gesellschaft wie einen Stern aufgehen sehen. Eine merkwürdige, vorher unerhörte Uebereinstimmung beseelt ihre Absichten. Sie durchkreuzen sich nicht mehr, um ihre Interessen zu verfolgen, sondern diese Interessen selbst verlangen, daß sie Einer des Andern bedürfen, daß sie ihre Arbeit theilen, und daß Jeder, wenn er vom Ganzen Vortheil haben will, nur für seinen Theil Ansprüche, sowie Leistungen einsetzen darf. Diese Erscheinung ist eine Reaktion des Verstandes gegen die Phantasie, eine Reaktion der Natur und der baren Wirklichkeit gegen den überfliegenden Idealismus. Die Massen, die sich zersetzen wollten, werden wieder geregelt. Durch eine materielle Abführung wird das Gleichgewicht des europäischen Körpers wieder hergestellt.
Ich glaube, man wird so lange fortfahren, die materiellen Tendenzen zu verfolgen, bis man mit Schrecken wahrnimmt, daß die moralischen darüber vernachlässigt sind. Wenn die Prosa uns die Poesie erstickt, ist das noch nicht einmal so viel, als wenn auch das Herz erstickt wird. Man beruhigt sich zwar damit, daß man sagt: die Moral wird nicht zurück, sondern nur bei Seite gesetzt; man wolle sie nicht leugnen, sondern nur einstweilen auf sich beruhen lassen. Allein es gibt keine Tugend, wo es keine Uebung derselben gibt. Die Ideen, welche auf sich beruhen, sind todt. Sie bedürfen, um zu leben, gleichviel des Fürs oder Widers, der Vertheidigung oder des Angriffs; wenn sie nur in Bewegung sind, wenn sie nur anregen und angeregt werden. Das Salz kann auch dumm werden, sagte der große Begründer einer idealischen Weltordnung. Aber auch all unser Wissen, unser Glauben, unser Gott, unsre Freiheit, unsre Unsterblichkeit: dieß Alles kann dumm werden, wenn man es außerhalb der Discussion setzt. Spinneweben werden sich darüber ziehen. Schimmel und Fäulniß werden die Zinsen eines Kapitals seyn, das man nicht an irgend einen soliden Platz, an das Herz und Gemüth wenigstens, wenn man nicht an die Spekulation mehr will, anlegt.
Wenn mir durch eine Erfahrung dieß Phänomen recht klar gemacht wird, so ist es das Bild einer jüdischen Familie, die berühmt genug in der Handelswelt ist, als daß ich nicht gestehen sollte, sie mehr als oberflächlich zu kennen. Hier wird ein scharfer Beobachter leicht drei Abstufungen der Bildung wahrnehmen können, drei Abstufungen, die zu gleicher Zeit die verschiedenen Phasen unsrer Zeit veranschaulichen. Im Hintergrunde steht ein alter Patriarch, der Großvater des Hauses, ein schlichter, rein an jüdische Sitte haltender Greis. Sein Anblick erregt Ehrfurcht. Sein weißes Haar, ein kurzer Bart, von dem er sich nicht trennen kann, sein dreieckiger Hut, sein Gang, sein röthlicher Rock, Alles dieß ruft eine verschwundene Zeit zurück, die nirgends weniger noch zu ahnen wäre, als in dem Hause, wo der alte Patriarch noch immer die erste Person ist, wo alle Extravaganzen der Mode ihren duftenden Tempel finden, wo Teppiche und Tapeten als Unterlagen einer Pracht dienen, die selbst von den Häusern der reichsten Würdenträger unserer Krone nicht wiedergegeben werden kann. Im Vorgrunde dagegen steht der Sohn des Hauses, ein bildschöner junger Mann, der dem charakteristischen Ausdruck eines Italieners mehr gleicht, als einem Juden. Der Großvater heißt Moses, dieser Enkel Moritz. Moritz spricht die meisten neuern Sprachen, zeichnet, malt, ist Virtuose auf dem Pianoforte, componirt, dichtet, er ist ein Genie. Und dieß noch nicht einmal genug! Moritz ist sogar Schwärmer, Enthusiast mit der Reverbère der Melancholie. Er fühlt sich unglücklich. Er verachtet seinen Reichthum, seine Eltern sogar, die ihn zusammenscharren. Er steht, kaum wissend, daß er Jude ist, an der Spitze eines Comité's zur Emanzipation der Israeliten. Er hat Herrn Grant einen Wagen mit sechs Pferden schenken wollen, wenn dieser nicht ein so guter Fußgänger wäre. Kurz, Moritz ist ein Kind des Tages und des Jahrhunderts, wenn das Letztere seinen schwärmerischen Zug behaupten sollte.
Wer steht nun aber in der Mitte zwischen diesen beiden Extremen? Der Herr des Hauses, der Besitzer der Firma, ein Pair der Börse, ein Mann von mittlerer Größe, im feinsten königsblauen Frack, eine goldene Kette wedelt ihm auf dem schwellenden Embonpoint, das Gesicht leuchtet von der Vortrefflichkeit seines Mittagstisches. Man vergesse nicht! Dieser Banquier hat Geist, haarscharfen Verstand, Adlerblick, Combination, er hat sogar ein Herz, aber er braucht es nicht; er setzt es nicht in Bewegung. Die Nationen, die Könige, die Interessen derselben sind da, aber ihn kümmern nur ihre Anleihen. Seine Ideen erstrecken sich auf jede Lebensrichtung, aber sie erregen sein Gemüth nicht, sondern beschäftigen nur seine arithmetische Combination. Mildthätigen Zwecken wird er sich nie entziehen. Er unterschreibt jede Subscriptionsliste, aber nicht aus Barmherzigkeit, sondern weil er den Talisman seines Glückes damit beschwören will, weil er fürchtet, an der moralischen Ordnung der Dinge etwas zu verstoßen, das sich rächen könnte! Sonst ist sein Inneres kalt, frostig kalt. Aktien, Dividenden, Coupons, Eisenbahnen, Kanäle beleben seine rationelle Phantasie, Tunnelideen untergraben sein Inneres. Er interessirt sich für Alles, wenn es Interessen trägt. Kohlengruben sind seine Gefäße, Metallgänge seine Adern. Und doch qualmt sein Wesen nicht, sondern es hat eine frische zugängliche Atmosphäre; er trägt die feinste Wäsche und verwendet sogar die Künste der Toilette auf einen dicken Backenbart, den er sich à la Louis Philippe zubereitet. Dieß ist der Mittler zwischen jenen beiden äußersten Grenzen. Er ist der Held des Moments, der Repräsentant einer Weisheit, die in der That die allgemeine Weltweisheit werden wird.
Allein es wird nicht Allen so leicht, die Moral zu vergessen, wie dem Sohne des Moses und dem Vater des Moritz. Dieser jüdische Gentleman hat gut seine Cravatte binden und sich den Backenbart schwärzen. Seine Philosophie ist nicht überall die des epicurischen Wohllebens, sondern noch öfter bei einer Andern stoischen Abhärtung und einer hündisch cynischen Anstrengung. Der Handel ist Dem ein Leichtes, der schon besitzt. Aber die, welche erst erwerben wollen, was können die einsetzen? Trauriges Bild, das sich vor unsern Augen entfalten würde, könnten wir aus der Vogelperspektive einen Augenblick das gleichzeitig sich erschöpfende Treiben und Laufen der Massen beobachten, wie sie stöhnen und ächzen, wie sie arbeiten mit zwei Händen, als hätten sie die Arme des Briareus, wie sie ermattet hinsinken und neue Schaaren, unbarmherzig entweder oder im Eifer blind, über sie hinwegstürmen! Großer Gott, jetzt in deine Welt zu blicken -- ist, wie in das Gewimmel schauen, wenn man Mehlwürmer in einem Topf mit geriebener Semmel aufbewahrt; oder wenn man in einem Glase Wasser mikroskopisch das Wüthen und Gebärden der Ungeheuer wahrnimmt, die nach einer sichtbaren und auf vier Füßen kriechenden Existenz ringen. Wer ahnte, was uns umgibt? Wir trinken jenes fürchterliche Glas Wasser ungescheut. Wir trinken es, weil -- uns dürstet; weil wir Bedürfniß fühlen, wie Alles, das lebt. Aber wie schwer wird es werden, in Zukunft zu leben! Eine ungeheure Conkurrenz ist für Eure materiellen Interessen da: welche entsetzliche Mittel müßt Ihr schon brauchen, um sie auszuhalten! In Euern Fabriken siecht und modert das edle Menschenthum; Kinder, die mit geraden Gliedern auf die Welt kamen, verlassen sie, noch lange nicht am Schlusse des gereiften Mannesalters, mit gekrümmten Gliedern! Eure dampfenden Maschinen sind die fürchterlichen Molochsgötzen, auf welche Jung und Alt geopfert werden! Ihr überbietet Euch gegen einander, bis Ihr ermattet hinsinkt und nicht mehr weiter könnt! Frische Wahnsinnige kommen und setzen da das Beginnen fort, wo Ihr es stehen ließet; es gedeiht aufs Aeußerste: über das Siechthum der Generation, über den Untergang der Sitte und der Moral, über die edelsten Blüthen und Resultate der Jahrhunderte steigt die verwegene Industrie fort, um nicht bloß zu existiren, sondern doch mit einer kleinen Nüançe zu existiren, um einem Weibe einigen Comfort zu geben, um Kinder doch wenigstens so lange von der Arbeit zu befreien, bis sie ein gewisses Alter erreicht haben. Also nicht einmal um des Luxus willen so außerordentliche Anstrengungen! Wie wird dieß werden? Die Hyperculmination der Industrie und des Merkantilismus wird von ihrer schwindelnden Höhe herabstürzen, und eine Noth, eine Oede wird eintreten, wo man freilich zu nichts Anderem zurückkehren kann, als zum Trost der Moral, zu Gefühlen der Resignation, zur Bescheidung und Bescheidenheit. Die Gesetzgeber und Fürsten werden dann ächzen und stöhnen, wie man es macht, daß wieder warmes, pulsirendes Leben in die verklammte Gesellschaft zurückkehre. Man wird die moralischen Interessen mit Gewalt zu befördern suchen, weil sie allein das Dulden und Entbehren lehren.
Um diesen Erfolg, der trotz aller Warnungen nicht ausbleiben wird, weil er in einer Naturnothwendigkeit begründet ist, noch anschaulicher zu machen, hat man nur nöthig, unsere jüngsten Erlebnisse genauer anzusehen. Wir sind mitten in einer bedenklichen Katastrophe des kalten egoistischen und nur auf die Materie gerichteten Zeitgeistes begriffen, wir haben sie in dem Momente, wo dieß geschrieben wird, noch nicht völlig überwunden, können auch nur wünschen, nicht beweisen, daß sie bald vorübergegangen seyn wird. Unsere Bank war die Möwe, welche den Sturm voraussah und ihn zu verscheuchen suchte, indem sie zuerst zu schreien anfing.
Man muß wissen, daß die Basis des neuern Handels nicht mehr das Geld ist, sondern der Credit, daß man durch die Wechsel- und Bankerfindung zwar die Handelswelt näher gebracht hat, es ihr aber darum doch möglich machte, sich mit ihrem Vermögen geheimer zu halten. Das Papier war zunächst nur ein Flügel für das schwere Geld, eine Erleichterung seiner Cirkulation. Papier sollte die gesteigerte Beweglichkeit des Geldes ausdrücken. Ja es war sogar billig und in der Ordnung, daß das Papier dem Gelde einen höhern Werth gab, weil nämlich die Erleichterung des Umsatzes eine schnellere Benutzung und Disposition der Zahlungs- und Unternehmungsmittel zuließ. Leider ist dieser Satz sogleich mißverstanden worden. Statt von dem nun höhern Werth des Geldes zu sprechen, sprach man nur von dem höhern Werthe des Papiers. Man emanzipirte das Papier zu einem unabhängigen Körper, da es doch nur der Schatten war, den das Geld in der Creditsonne warf, ein Schatten, je nach der Constellation der Umstände, länger oder kürzer als sein fester Körper.
Man kann das Verhältniß des Kredits zum Vermögen des Papiers und zum Gelde mit jener optischen Täuschung vergleichen, welche aus kleinen angezündeten Keilen durch die umrollende Bewegung feurige Sonnen und Räder macht. Die Bewegung darf, um die Täuschung zu unterhalten, nicht einen Nu ausbleiben. Allein so geregelt oft die Handelscirculation in günstigen Perioden war, so treten doch oft aus entfernteren Ursachen Stockungen ein, wo das Idealische vom Handel auf das reelle Maß wieder zurückgeführt werden muß. Ja oft liegen auch die Ursachen ganz nahe bei den Wirkungen und beinahe in den letztern selbst. Es gibt einen Umsatz, der krampfhaft ist, den theils der Schwindelgeist des Einzelnen in Bewegung setzt, theils das System der Privatbanken in eine Höhe treibt, wo der fliegenden Hitze bald Zähneklappern folgt.
Der Idealismus der Börse beruht auf anderen Grundlagen als der des Handels. Jener fingirt Ausgaben, für welche er mit einem gewissen Risiko reelle Zinsen bezieht: es steckt jüdische Wucherei in dem System. Dieser fingirt unverhältnißmäßige Nennwerthe für eine kleine Summe, die ihm disponibel ist: es steckt in ihm die Verzweiflung eines Bankeruttirers. Dennoch hat die Börse einige baare Zahlungen unumgänglich nothwendig. Dieß machte, daß sie den übrigen Handel vollends absorbirte. Die Sucht, hohe Zinsen zu heben, verführte den Spekulationsgeist zu einer Menge von Unternehmungen, die alle auf den Geldmarkt und den speziellen Merkantilismus eine nachtheilige Wirkung äußerten. Ein Enthusiast tritt auf und entwirft den Plan einer neuen Kanalverbindung, einer Eisenbahn, eines Tunnels, vielleicht noch einmal eines Tunnels unter dem Ozean fort. Er steht nicht lange allein, die Spekulanten, um nicht zu sagen die Kapitalisten, folgen ihm. Die erste Einschreibung ist allgemein, bei der zweiten fehlen schon einige, die dritte hält man der Ehre wegen aus, die vierte muß man schon des Kredits wegen. Alle nur mögliche Summen werden aufgetrieben, um die lachende Dividende zu beschleunigen; dem Handel fängt an das baare Geld auszugehen; er rechnet, er macht seine Plus und Minus auf dem Papiere, die Werthe sind da, und das baare Geld fehlt, um sie einlösen zu können. Ginge das nur eine Zeitlang so fort, ohne eine entschlossene Maßregel, wie sie in unsern Tagen der englischen Bank so verdacht worden ist, so würde man bald da angekommen seyn, wo im vorigen Jahrhundert Frankreich stand, als die Mississippiaktien ins große Weltmeer, ins große Nichts zerflossen.
Ich will das Beispiel eines Schwindelhändlers geben. Master Robber gilt an der City, wenn auch nicht gerade für einen Christen, doch für einen respektabeln Mann. Master Robber besitzt gerade so viel Ehrlichkeit, als er braucht, um den Strick zu vermeiden. Ich halt' es für meine Pflicht, die Welt über dieß Originalgenie aufzuklären, das zwischen Scylla und Charybdis jede Linie kennt, die vor dem Scheitern sicher ist.
Master Robber erbte ein baares Vermögen von 1000 Pfund. Weil er es ohne Schulden erbte, so glaubte die Welt, er hätte wenigstens deren 10,000 geerbt. Er konnte wohl sagen, daß er einen Kredit von 9000 Pfund hatte. Man bot ihm diesen Kredit an, und er war ehrlich genug, -- ihn anzunehmen. Er ist das Musterbild eines Schwindelhändlers, wie es deren wenige geben mag. Sein Geschäft besteht erstens im Papierhandel, zweitens in Aktiengeschäften, drittens in einem Indigohandel. Im ersten ist er nur Spieler: er bezahlt die Differenzen. Im zweiten hält er bei der zweiten Einzahlung nicht mehr aus, und thut dieß, wie viele ehrliche Leute, von denen man bei einem solchen Verfahren nicht gradezu sagte, daß »etwas faul ist im Staate Dänemark,« sondern nur, daß sie kluge und gewandte Geschäftsleute, keine Schwindelhändler, im Gegentheil Männer wären, die für ihre Familie Sorge trügen. Das dritte Geschäft endlich braucht das meiste Geld; denn bei den Versteigerungen muß baar bezahlt werden. Was er hat, reicht aber gerade für den Indigo hin. Für die Staatspapiere und die Aktien kann er sich das Geld nur durch Wechselreiterei und andere Künste zusammentreiben. Er stellt z. B. dem, welcher an ihn zu fordern hat, Mr. A., einen Wechsel zu auf Mr. B. Der Wechsel ist in vier Wochen fällig. Mr. A. frägt B., ob er den Wechsel honoriren werde? B. antwortet: Gewiß, wenn Mr. Robber mich bis dahin in Zahlungsstand versetzen wird. Es vergehen drei Wochen, da erhält Mr. B. einen Wechsel auf C., zahlbar in vier Wochen. B. frägt C.: Wirst du zahlen? Warum nicht, antwortet C., Mr. Robber ist ein ehrlicher Mann, ich werde bis dahin noch Summen für ihn beziehen können. Mr. B. besinnt sich demnach durchaus nicht, Mr. A. zu bezahlen. Wenn man nun sagt, daß dieß Verfahren die Art eines Bankeruttirers ist, so hängt dieß nur immer von dem Vorurtheile ab, ob auch ehrliche Leute einen solchen Weg einschlagen. Wer kann Mr. Robber in die Karten sehen? Er stellt jährlich auf die obige Weise zwölf Wechsel aus, jeden im Werth von 10,000 Pfund: jeder bezieht sich auf den andern. Es ist elfmal eine Fiktion, das zwölftemal auch eine Fiktion für den, der zahlt, aber für ihn nicht, der nimmt. Einige Jahre wird das noch so fortgehen. Dann hat sich Robber in den Firmen erschöpft und wird falliren, wenn er in die Lage kömmt, auf eine Firma anzuweisen, wo er nur im Minusangedenken steht.
Kehren wir auf den Zusammenhang unsrer Darstellung zurück -- welch ein Abstand zwischen den ungeheuern Entwickelungen, welche dem Menschengeschlechte noch bevorstehen, und den kleinen Friedensstörungen, welche in unsern Tagen schon eine so weit verzweigte Macht ausüben konnten! Was ist selbst die Julirevolution mit ihren möglichen und erstickten Folgen gegen jene Umwälzungen, die unvermeidlich scheinen, wenn man die physischen, moralischen und intellektuellen Interessen der Nationen erwägt, wenn man die europäische Gesellschaft auf einem Punkt der Illusion und Einstweiligkeit antrifft, der nothwendig einmal überschlagen muß und der Natur, dieser großen Gleichmacherin aller Dinge, weichen wird! Vom sublimsten Gedanken herab bis zum täglichen Brode, Alles ist Hebel für die Zukunft geworden, Alles deutet auf eine neue Schöpfung des Himmels wie der Erde hin, die uns vielleicht das Alte wieder bringt, es aber in einem neuen Gewande bringt, in Kleidern, wo die Thatsachen den Ideen angemessen sind, überhaupt in einer Umgestaltung, wo sich die vorigen Widersprüche, in welchen jetzt die Ideen- und die Sinnenwelt stehen, werden abgeschliffen haben. Was die europäische Staats- und gesellschaftliche Gemeinschaft noch in ihrer jetzigen Schwebe erhält und vielleicht noch fünfzig Jahre hin so forttragen wird, das ist die Differenz der beiden Pole, das geistige und leibliche Interesse; aber selbst aus dem Schooße der Mittelmäßigkeit, aus dem Gleichgewichte der beiden Wagschalen unsres Geschicks wird sich die Bewegung erzeugen müssen, da einmal Ruhe, das Gesetz der Trägheit für unser Jahrhundert, und mag man es noch so versinnlichen, als etwas Absolutes und auf sich selbst Begründetes unmöglich ist. Und sollte Europa jedes Lüftchen von sich abhalten, damit keine seiner Institutionen, die verkohlt und als Aschengestalten, den in Pompeji begrabenen gleichend, dasitzen, auseinanderstiebe; sollte es möglich seyn, daß die moralische und physische Revolution unseres Erdtheils sich verständigt und alle Leidenschaften von sich wirft, so muß es im Plane der Weltregierung liegen, auch die übrigen Erdtheile mit der Zeit an der Zeit Theil nehmen zu lassen und sie an die Gränzen Europa's zu führen, mit stampfenden Rossen, mit drohenden Geberden, mit Rache oder Neugier, wie wir es verdienen werden. Ach, welch ein leichtes Athmen meiner Seele, wenn die Sklaverei unsrer Existenz, unsrer Vorurtheile und Privilegien einst mit einer Opposition enden sollte, die nichts von dem achtet, was ich achten muß, und die mich immerhin! dann auch selbst auf die Schlachtbank führen mag! Mißverstanden zu werden, ist weit weniger unerträglich, als verstanden und nicht erhört!
Die Julirevolution war die Frucht eines Irrthums, den die Autoritäten nicht hegen durften, ohne sich selbst wehe zu thun. Sie entsprang aus dem Hader, den die Vertheilung der Erbschaft Napoleons erregte. Napoleon hatte sich der Revolution bemächtigt. Er wurde gestürzt von einer Reaktion, die den Fürsten, Zeuge dessen die Juliordonnanzen, nicht klar geworden war. Die Bourbonen nahmen von den Tuilerien wieder Besitz, von den alten Vorurtheilen und Privilegien, von ihren frühern Leidenschaften; sie hatten nichts vergessen und nichts gelernt. Die Restauration wurde als ein Sühnopfer Ludwigs XVI. ausgelegt. Die außerordentliche Periode der französischen Geschichte wurde aus den Annalen derselben gestrichen. Die Reaktion gegen Napoleon wurde falsch verstanden. Ja, der Corse war inpopulär, sein Ehrgeiz brannte durch sein Antlitz durch, alle Welt sah es, die Völker geriethen in Extase, als es schon unmöglich geworden schien, diesen Koloß zu zertrümmern. Aber was wollten sie retten? Ihre Dynastien. Gewiß ihre Dynastien, doch unter dem Siegel eines Vertrages, unter dem Versprechen einer gleichgetheilten Beute: Euch die Macht, uns die Freiheit!
Ich will nicht von Treulosigkeit sprechen, ich spreche nur von einem Irrthum. Die Julirevolution soll in meinen Augen keine gehässige Rache, keine Strafe seyn; denn wie kann das Volk, das noch immer so schwache, trotz alles Predigens von Volkssouveränetät so ohnmächtige und nichtige Volk, von Rache und Strafe sprechen! Die Julirevolution war eine Berichtigung. Sie war ein Akt des Zorns, aber die Mäßigung zügelte alle ihre Ausschweifungen. Sie suchte sich sogleich ein Bett, um ihre Fluth zu dämmen und als ein wahrhaft nützlicher und schiffbarer Strom so viel Terrain zu gewinnen, als verdürstetes und von der Sonne verbranntes Land da war. Und dieß lustige Dehnen und Schlängeln des Stromes ist es, was immer meine Aufmerksamkeit so sehr in Anspruch genommen hat. Man bedenke die nächtliche Stille der Restaurationszeit. Der gallische Hahn kräht: plötzlich welch ein Regen und Bewegen, welches Feuer in Augen, die so verschlafen waren, welcher Accent in Redensarten, die sonst so monoton gesprochen wurden! Die Julirevolution drang in die Kasernen, in die Schulen, auf die Kanzeln, Niemand, auch nicht Einer, weder Metternich noch Wellington (den Herzog von Modena nehm' ich aus), Niemand entzog sich dem Faktum. Es mußte bestätigt werden. Mit seinen Folgen mußte parlamentirt werden. Ich möchte hier keine Wunde wieder aufbrechen -- ich kann nur dieß nicht umgehen, nämlich mein unerklärtes Erstaunen, wie wir uns kaum noch so sicher und behaglich fühlen können und im nächsten Momente aufspringen müssen vor den Naphthaflammen, die aus der Erde schlagen. Was hat nicht die Julirevolution Alles verrathen? Wie lehrte sie die Stummen reden und die Lahmen gehen! Wir treiben jetzt alle wieder unser solides Geschäft und wiegen unsre Gewürze -- dennoch ist es mir oft, als vernähm' ich unterirdisch ein dumpfes Gähren und Brausen, ein Sieden und Rollen. Ich male mir eine Zukunft mit den schreiendsten Farben aus und muß an mein überwältigtes, zu ersticken drohendes Herz greifen und mir zuflüstern: Wär's möglich?
Ich gehöre weder zu den Fatalisten noch zu den Radikalen. Ich werde immer annehmen, daß die europäische Gesellschaft einem Körper gleicht, für dessen Zustand die Sydenhame und Boerhave der Staatskunst noch Mittel und sogar spezifische übrig haben. Ich glaube, daß den Völkern die Revolution einen so großen Kampf gegen ihr Herz und Gewissen kostet, daß sie Jeden anbeten würden, der den Kelch an ihnen vorübergehen läßt. Ich glaub' auch, daß dieß Gefühl so durchgreifend in Europa die Oberhand hat, daß aller Streit in der Politik mir nur daher zu kommen scheint, ob die Staatskunst positive oder negative Gesichtspunkte haben soll; ob es besser ist zu konstituiren oder nur vorzubeugen, mit einem Worte, ob man die Thatsache der Revolution anerkennt oder nicht. Niemand will sie. Die Frage ist nur: Wie vermeidet man sie? Hier divergiren die Meinungen. Die Einen wollen sie ignoriren; die Andern wollen ihr zuvorkommen. Jene wollen der Revolution die Macht nehmen, daß sie nicht ausbrechen kann; diese wollen ihr den Grund, das Recht der Berufung nehmen, so daß sie nicht ausbrechen darf. Dieß ist der eigentliche Dualismus der beiden Prinzipien, welche jetzt in England und auf dem Continente sich bekämpfen. Die Revolution ist ein Schreckbild für Alle: nur wollen die Einen es bedrohen, die Andern es zähmen. Das ist der Unterschied. Die Mittel sind ganz individuell. Die Tories bilden sich etwas auf die entsetzliche Kraft ihres Adlerblickes ein. Sie erschrecken das Ungethüm. Die Whigs stopfen es voll und geben ihm, was sie können. Sie hoffen, das Thier wird sich dann nicht bewegen können.
Vergleicht man die Windstille des gegenwärtigen Momentes mit den Stürmen, welche vor sechs Jahren zu wehen anfingen, so muß sich jedes edlen Menschenfreundes Herz von der Hoffnung erwärmt fühlen, es gäbe Mittel, große und kleine, heroische und Hausmittel, um aus seinen Widersprüchen das Jahrhundert mit heiler Haut sich retten zu sehen. Wir namentlich, die wir uns die Aufgabe gesteckt haben, den Puls der Zeitgenossen zu fühlen und sie harmlos von ihrem Sinnen und Trachten erzählen zu hören, wollen uns den Horizont unsres kaum begonnenen Werkes nicht trüben, sondern versuchen, soviel leichten Sinn aufzutreiben, als nöthig ist, um eine Gefahr, die vorhanden ist, leicht nehmen und eine, die erst kommen soll, gänzlich vergessen zu können.