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Die Mode entspricht den massenhaften Bestrebungen unsrer Zeit. Sie gibt dem Einzelnen eine Auszeichnung und drängt ihn doch wieder in ein größeres Niveau zurück. Die Mode bindet und löset, ist eben so sehr Freiheit wie Gesetz und entspricht vollkommen dem konstitutionellen Charakter unsrer Zeit..
Den Quellen der Mode nachzuforschen, ist eine schwierige Aufgabe. Wie sie unmöglich von einem Einzelnen ausgeht, so scheint sie auch aus keiner Verabredung zu entstehen. Es ist, als müßt' es in der Luft liegen, daß es plötzlich allgemein heißt: Rosahut mit schwarzem Krepp, Sammtröcke mit seidnem Zubehör, Brillen in Façon einer Schlange, die eine arabische Acht bildet, Schuhe mit abgestumpften Spitzen und dergleichen Bestimmungen der Mode mehr. Möglich, daß eine einzige Originalität vorangeht, ein erfinderischer Modist oder ein Gentleman, der seine eignen Launen hat; allein, daß ihm die Andern blindlings folgen, daß sie, indem sie doch selbst Geschmack haben, dem seinigen unbedingt gehorchen, das ist auffallend genug in einem Zeitalter, wo Keiner auf den Andern Werth legt und Alle sich zu hassen scheinen.
Ich finde bei den Erfindungen der Mode noch mehr, das erstaunen macht, die unleugbare Tendenz nach dem Schönen hin. Man wird meinen Geschmack dieser Behauptung wegen für verdächtig halten; allein ich habe noch immer gefunden, daß, wenn mich der Anblick, z. B. eines Damenhutes, der eine Zeitlang in der Mode war, ermüdet, und die Mode eine neue Form entdeckt hatte, ich mir immer gestehen mußte, daß das Jüngste mich befriedigte, soweit die Thorheiten der Mode befriedigen können. Es gibt eine Kleiderästhetik, die von der Philosophie schwerlich so tief ergründet ist, als von einigen Modehändlerinnen in Paris.
Die Mode verwirft das sogenannte Altfränkische nicht: sie kömmt, wie wir in neurer Zeit gesehen haben, auffallend genug auf die meisten Geschmacksbestimmungen des vorigen Jahrhunderts zurück. Dieß ist ein Merkmal der Mode, welches den Weg bahnt zur Begriffsbestimmung des Modernen. Das Moderne verwirft das Alte nicht, sondern modelt es entweder nach eigenem Geschmack um oder treibt es ins Extrem, wo es komisch wird, oder raffinirt sonst daran auf irgend eine Weise. Ein gothisches Zimmer mit bunten Fensterscheiben, mit plumpen altfränkischen Meubeln und der ganzen Illusion des Mittelalters ist das Modernste, was man haben kann. Das Moderne besteht demnach nur in einem gewissen Beigeschmack, in einem, fast möchte man sagen, Hautgout der Dinge, in ihrer Culmination, die sie piquant macht. Man kann für die Antike und für die Romantik eingenommen seyn und dabei doch immer mitten inne im Modernen sich befinden.
Im Allgemeinen will ich gern meine Schwäche eingestehen, die innere Natur des sogenannten Modernen zu ergründen. Vorzugsweise das Neue ist es nicht. Es ist, wie wir schon sagten, oft genug das Alte, wenn auch im neuen Sinne genommen. Es ist ein so flatterhafter, leichtsinniger Begriff, daß man ihn kaum bis zu einer erschöpfenden Definition zügeln kann. Modern ist meine Weste, modern aber auch eine Anschauung, die ich hier oder da geäußert habe. Ich habe mich dabei so ziemlich auf die Höhe unsrer Zeit gestellt und eine Sache so beurtheilt, wie man es von einem Bürger des neunzehnten Jahrhunderts erwarten konnte. Gut, dann möchte das Moderne doch wohl Alles zusammenfassen, was die neue Zeit erstrebt, und in dem Augenblicke, wo es das Alte in Schutz nimmt, eben eine Toleranz üben, die unserm heutigsten Heute angehören sollte? Wie dem auch sey, praktische Beispiele werden den Begriff klarer machen, als Definitionen.
Das Moderne gegen die Antike genommen, ist eine negative Verfahrungsweise. Wir brauchen nur das Alterthum zu schildern und werden von dem Unterschiede leicht auf das Moderne schließen können. Eine Tragödie zu schreiben, in welcher ein Chor die Stelle der Zuschauer übernimmt und reflektirt, eine Tragödie, die mit Klaglauten angefüllt ist und statt Handlung überhaupt nur Schicksal vorstellt, das wäre nicht modern. Näher steht schon das Shakespearische Drama, das romantische. Das moderne Zeitalter hat den Ruhm, die Romantik erst richtig begriffen zu haben. Dieß macht denn wohl, daß eine moderne Tragödie mehr von Skakespeare, als von Sophokles entlehnen würde. Dennoch gibt es eine speziell moderne Tragödie, in der Form, wie im Inhalt. Schiller, Göthe, Byron haben Tragödien geschrieben, wenn auch sie noch mehr in philologischen und ästhetischen Vorurtheilen befangen gewesen seyn mögen. Sie bahnten den Weg zu einer entschiedenen Betrachtung der menschlichen Schicksale und zu einer Form, die den Verwickelungen und plötzlichen Schlägen unsres jetzigen Lebens durch eben so schroffe und überraschende Eigenschaften entgegenkömmt, zu einer Form, die im Allgemeinen in den Dramen der Pariser Schauspiele noch fratzenhaft karrikirt auftritt, allmählich aber zu einer schönen und heitern Rundung sich ausbilden dürfte. Poetische Combinationen neuerer Zustände in natürlicher und origineller Sprache nennen wir moderne Poesie. Dieß ist ein Begriff, der sich allmählich aller europäischen Literatur bemächtigt hat und sich hoffentlich zu einer unsrer Zeit beschiedenen und sehr nöthigen größeren Kunstentfaltung ausbilden wird.
Neben antike und mittelalterliche Baukunst die moderne zu stellen, ist schon bei Weitem schwieriger; denn würde sie Alles seyn sollen, was nicht Antike und nicht Gothik ist, so würde sich der moderne Charakter der Architektur schlecht genug empfehlen, wenn es Bernini und das vorige Jahrhundert in Schutz nehmen sollte. Wir sind in neuerer Zeit, aus Verzweiflung, einen modernen Styl in der Baukunst zu erfinden, zur Antike und zum Mittelalter zurückgekehrt und haben damit entweder eine außerordentliche Armuth an Geist und Erfindungsgabe zugestanden, oder die baare Prosa und Nützlichkeitsbestimmung, die einigen vorzugsweise modernen Bauten, z. B. Getraidehallen, Invalidenhäusern u.s.w. zum Grunde lag. Auch der Riß unsres neuen Parlamentsgebäudes erinnert zu entschieden an das Mittelalter und die unvertilgbaren »faulen Flecken,« als daß man von England behaupten könne, es besäße vor dem Continente, der sich z. B. in Deutschland, wie bei Klenze, dem Dilettantismus und, wie bei Schinkel, einer Mischung aller Geschmäcke hingegeben hat, einen Vorsprung. Ein Parlamentsgebäude in dem lichten, klaren, modernen Sinne der Reformbill: das war eine Aufgabe, die ich durch den von dem Parlamente gebilligten Grundriß nicht gelöst sehe. Das Moderne hat bis jetzt sich immer nur noch an Brücken, Kanälen, Eisenbahnen und Tunnels bewähren können; eine moderne Kirche gibt es nicht, wie es auch noch kein modernes Christenthum gibt, es müßte denn ein platter Würfel mit bürgerlichen Fenstern, ein Gebäude in Gestalt eines Kassino's jetzt für eine Kirche Christi ausgegeben werden dürfen.
Dennoch würde in der Baukunst Alles modern seyn, was 1) nach der bloßen Eingebung des sanguinischen Dilettantismus gebaut wird: Museen, Odeen, Theater, Kirchen und Kapellen nach alten Mustern, in frivoler Nachahmung; 2) alles dasjenige Bauwerk, was wir wirklich leisten können, nämlich glatte, kahle, innerlich mit vortrefflichstem Comfort eingerichtete Häuser zu gemeinnützigen und Privatzwecken; 3) damit zusammenhängend alles Nebenwerk der Baukunst, als da sind Cloakenreinigungen, Wasserleitungen, Sumpfaustrocknungen u. dergl. mehr. Ein herrliches Phänomen der modernen Kraftlosigkeit! wird man ausrufen; allein dieß beruht auf sich; gerechter würde man thun, den Charakter des Modernen aus dieser Thatsache zu entwickeln und den Maßstab der vergangenen Zeiten nicht im moralischen Sinne an das Neue anzulegen. Denn das Meiste von dem, was wir haben durch uns selbst, hatten die Alten nicht. Die einzige Thorheit, die man uns vorwerfen kann, ist nur die, daß wir unsre Blöße zu bedecken suchen und uns mit Nachäffungen abmühen, daß wir griechische Städte entstehen sehen auf dem Continent, z. B. München, wo die Neustadt Athen und die Altstadt das erbärmlichste Häusergerümpel vorstellen soll.
Daß sich die moderne Zeit vielleicht noch einmal einen eigenen Baustyl erfindet, scheint mir keineswegs unwahrscheinlich. Doch müßte dieser Erfindung der Sieg aller der Ideen vorangehen, welche unsre Zeit alp-artig bedrückt. Wir müßten im Klaren seyn über den Staat, über die Religion, klarer als Nordamerika, dem es zwar an Licht nicht gebricht, aber an Wärme. Diese Wärme des Gemüths, die Europa nie verlassen wird, dieser große Fond von Thatsachen, der an uns, selbst wenn wir, vollkommen emanzipirt, nur der Sonne noch als der Herrscherin des Jahrhunderts gegenüber stehen würden, doch immer noch festkleben würde, das ist der Mörtel, der vielleicht auch der Baukunst dann einen sinnigen und originellen Charakter geben wird. Wenigstens scheint es mir nicht allzuschwierig zu seyn, einen Tempel zu erfinden, der den Deismus und den Geschmack zu gleicher Zeit befriedigte, es sey denn, daß die Religion, die in Zukunft herrschen wird, keiner andern Tempel mehr bedürfen sollte, als, wie Christus selbst sagte, der menschlichen Herzen.
Kehren wir auf die Antike und das Romantische wieder zurück, so lagen nicht nur den alten Bestrebungen, das Daseyn zu verschönern, sondern dem Daseyn selbst ganz andere Prinzipien zum Grunde, als solche, die wir für moderne anerkennen würden. Alle drei Zeitepochen stehen in starker Beziehung zur Gesammtheit, allein jede in ihrer Art. Die Alten lebten dem Staate ohne die Familie, die Mittleren der Familie und durch sie erst dem Staate, die Neuern würden beide Prinzipien gern verschmelzen und doch immer darnach suchen, für sich ungeschoren zu bleiben und eine kleine originelle, ganz und gar nur ihnen gehörende Particularexistenz ansprechen zu dürfen. Die antike Philosophie erklärte den Ursprung der Dinge, die romantische ihre Wesenheit, die moderne erklärt ihre Bestimmung. Wie und wodurch sind wir? fragten die Alten; was sind wir? die Mittleren; wozu sind wir? fragen die Modernen. So waren die Ersten mehr Dialektiker, die Zweiten Metaphysiker, die Dritten sind Teleologen. Modern ist es, die Welt anzuerkennen, wie sie geworden ist, aber das Recht zu bezweifeln, ob sie so bleiben darf, wie sie ist. Modern ist es, durch und durch modern, das Kapital der Wahrheit, mit welchem sich Platon und Aristoteles, Occam und Albertus Magnus abmühten, auf sich beruhen zu lassen -- wenn nur die Zinsen gerettet sind! Wunderbarer Zusammenhang zwischen unserm Gott, unsrer Unsterblichkeit, unserm Wucher und unserer Staatsschuldentilgungstheorie! der Sinking found ist längst eine Chimäre. Das Kapital, hätten wirs, würde uns nur in Verlegenheit bringen; hätten wir die Wahrheit, wir wüßten nicht, wo wir sie unterbringen sollten. Darum lebe der Zinsfuß, der halbjährige Coupon und die dreiprozentige ewige Rente!
Es ist eigen, wenn man von seinen Zeitgenossen spricht, wird man, selbst wenn man nur Gutes von ihnen reden möchte und allen Grund hat, sie gegen falsche Anklagen zu vertheidigen, doch oft von einem herben Gefühle so schnell übermannt, daß man ein Lob niederschreiben will, welches sich unter der Feder in den bittersten Tadel verwandelt. Ich will nicht den Sittenprediger in diesem Buche spielen, weil ich mir sonst die Möglichkeit nehmen würde, auf meine Zeitgenossen zu wirken. Sie schildern, ist mehr, als sie belehren wollen, denn das Erstere läßt ihr Urtheil frei, während das Zweite es gefangen nimmt. Ich will keine Anklage stellen, sondern nur die Thatbestände ermitteln. Jeder prüfe sich selbst und richte sich!
Kann etwas die Unbestimmtheit unsrer heutigen Zustände besser charakterisiren, als die Schwierigkeit dieses Kapitels, die ich unverhohlen eingestehe? Die neue Zeit schildern, den Liberalismus deduziren, das sind leichte Aufgaben für den, der merkt und hört; aber alle unsre momentanen und doch wieder an das Jahrhundert geknüpften Ideenverbindungen zusammenfassen und im Gegensatz gegen die Antike und das romantische Zeitalter den innern Kern der modernen Welt aussprechen, ist ein Räthsel, das wir nur halb lösen werden. Wir werden gleichsam sagen: Der Horizont z. B. ist der Sinn des Räthsels! und nach Jahrhunderten wird es sich herausstellen, daß wir hätten sagen müssen: Das Auge ist die Lösung.
Moderne Moral! Kann es eine solche geben? Muß die Moral nicht eine ewige seyn? Und doch gab es eine ausschließlich antike, eine romantische Moral; beide einseitig, aber gerecht vor dem Richterstuhle ihrer selbst. Wir sprechen von Gewissensbissen. Dieß würde der allgemeinen Moral angehören. Aber die Alten waren so unendlich groß, und sie haben niemals Gewissensbisse gehabt. Sophokles und Virgil stehen dem Christenthum nahe genug; allein haben Beide die Reue im Sinne moralischer Umkehr gelehrt? Nirgends! Sie kennen zwar die Furien, die rachefordernden Eumeniden, aber was rächen sie? das gestörte moralische Gleichgewicht der menschlichen Natur? oder das Faktum eines Mordes, das Faktum irgend eines Verbrechens, die Blutsühne der Verwandten? Man braucht nicht tiefer vom Geist des Alterthums berührt zu seyn, um sich für das Letztre zu entscheiden. Oder sprechen wir vom Mittelalter. Die religiöse Intoleranz desselben; wer möchte sie, selbst wenn sie Scheiterhaufen anzündete und das Schwert der Verfolgung schwang, wer möchte sie als ein allgemein menschliches, als ein moralisches Verbrechen bezeichnen? Der Geist der Zeit trägt eine größre Schuld an den Frevelthaten des Fanatismus, als die, welche nur seine Werkzeuge waren. Nun fragen wir: Hat auch die moderne Welt nichts, das dem Individuum einen Theil seiner moralischen Zurechnung tragen hilft; kann sie zwischen eine nach allgemeinen Moralgesetzen unzulässige Handlung und den, der sie beging, zwischentreten und einen Theil der Schuld auf sich nehmen? Oder ist Alles schon individuell geworden, Alles abstrakte Sittenlehre, alles persönliches Risiko und eigene Verantwortung vor dem Throne Gottes? Ich glaube, das Letztre. Ich glaube, daß wir immer mehr für uns einstehen müssen und nur in uns selbst einen Anhaltspunkt finden dürfen. Dieß ist freilich eine große Umkehr der Zeiten und Verhältnisse! Warum sind die Institutionen, die die alten Tage uns überlieferten, so schwankend und hinfällig? Aus keinem andern Grunde, als weil sie nichts mehr für uns thun, weil sie nicht mit Entschuldigung für unsre Leidenschaften eintreten, weil sie keinen liebenden und schützenden Mantel über unsre Blößen ausbreiten, sondern Alles uns selbst überlassen, die wir denn freilich so anfangen müssen, sie für gleichgültig und nutzlos zu halten.
Der Moral unsrer Zeit tiefer auf den Grund zu gehen, spar' ich auf einen der folgenden Abschnitte auf. Hier ist mein Zweck erfüllt, wenn ich in den verschiedenen Manifestationen des Geistes und Herzens den Unterschied von antik und modern nachweise. Ich sagte so eben: die Moral unsrer Zeit, und will nicht behaupten, daß das Moderne auch vorzugsweise das Neuzeitige oder das Zeitgemäße das Moderne sey. Gegen unsre Zeit selbst genommen, ist das Moderne in dem gebräuchlichen Sinne weit mehr die Grazie, das ästhetische Gesetz der neuern Bestrebungen. Die Polemik unsrer Zeit, selbst die im Sinne des aufgeklärten Jahrhunderts, kann doch oft eine Physiognomie tragen, welche durchaus nicht modern zu nennen ist. Es gibt z. B. unter den politischen Parteien in Frankreich eine Fraktion, die dem ganzen chevaleresken Feudalismus des Mittelalters zustrebt und doch in Manieren und Haltung den feinsten Modeton zu beobachten sucht, ja ihn sogar angibt. Die jungen Kavaliere Heinrichs V. aus dem Faubourg St. Germain drücken vollkommen die exclusive Thorheit der Modernität aus; denn daß sie eben gescheit genug sind, ihre Thorheit zu verachten, daß sie die Haltlosigkeit des Legitimismus durchschauen und doch die grüne Farbe desselben tragen, ist recht eigentlich die Grille des Modernen. Einem Steckenpferde seinen eigenen Verstand als Sattel auflegen und sich selbst zu reiten, was drückt den Formalismus der Zeit vollkommner aus? Mit einem Worte, das Moderne ist eben so sehr auf der rechten wie auf der linken Seite zu Haus. Es drückt die Meinung des Centrums und die der Extremitäten aus. Modern ist in einem gewissen Sinne auch der Klassiker und der Romantiker; denn Beide können sich keine verschollenen Jahrhunderte aus Schutt und Nebel wieder aufwühlen, sondern müssen nur mit einer Illusion raffiniren, die modern genug ist. So wäre denn das Moderne recht eigentlich das Objektive im schwebenden Momente, die Thatsache der Zeit, an und für sich ohne Streit und Gegensatz, ohne Beziehung betrachtet. Das Moderne liegt nur in der Culmination der neuen Dinge, selbst wenn sie nach Altem hin tendiren. Es ist ihr Geruch, ihr Hautgout, wie wir schon gestanden haben.
Einer der großen Männer, welche, ohne sich je zu vereinigen, doch die Bestimmungen der Fashion wöchentlich zu entwerfen pflegen, die sich hassen, soweit es dem Gentleman ziemt, Leidenschaften zu äußern, und die doch alle auf ein einziges Ziel hinsteuern und sich in ihrer Art und Weise so ähnlich sind, daß man sie unter einander verwechseln könnte, einer dieser Herren wurde mir durch Zufall in seinen jüngern Jahren bekannt. Damals hatte Sir Anacharsis***, wie man ihn nicht wegen seiner Jakobinischen Verwandtschaft mit Anacharsis Cloots, sondern seiner vielen Reisen wegen nannte, nur den einzigen Ruf, ein Dandy im vollkommensten Sinn des Wortes zu seyn. Ich weiß nicht, durch welche Umstände es geschah, Sir Anacharsis verlor plötzlich die Lust an dem leeren Formalismus und schwang sich in eine Region auf, die wir hier zeichnen dürfen, weil sie die vollkommene Ausdünstung der Modernität ist. Er warf den Dandy mit einer Gewandtheit von sich, mit so wenigem Geräusch, daß die große Welt seine Revolution nicht bemerkte, sondern es eine Zeitlang noch immer Thoren genug in ihr gab, welche einzig und allein den Dandy in ihm suchten. Doch er belächelte sie, und das Lächeln, diese Ironie machte sie stutzig. Sie erschraken vor dem höllischen Spotte um seine Mundwinkel, sie erschraken vor den Grundsätzen der Männer, die ihn umringten. Bald hatte er ein permanentes Geleit um sich, Männer, mit denen er in den Zirkeln nie ein Wort sprach, die sich und ihm aber heimlich zuzuwinken schienen. Man ersann Mährchen über Anacharsis und seine Gesellen, erfand einen Clubb, in dem sie sich zu versammeln pflegten und nannte diesen den Satanischen. Grade, wie es von Lord Byron hieß, daß er den Satanismus in die Poesie eingeführt hätte, so sollte Anacharsis dieß Prinzip in die Gesellschaft einführen. Ich kann aber die Versicherung geben, daß man dieser auffallenden Erscheinung Unrecht thut. Anacharsis ist nur der Urtypus jener Richtung, welche man vorzugsweise als die moderne bezeichnen kann.
Man muß ihn sehen! Sein Antlitz ist leidend, sein Auge abwechselnd sanft und durchbohrend, das Haar und der starke Bart haben sich eine glänzende Schwärze erhalten können, die Lippen brennen heiß, die Haltung ist stolz, sein Benehmen wegwerfend. Wohin er tritt, scheint ihm eine magische Kraft zu folgen, die seine Atmosphäre eben so gefährlich, wie sicher für ihn selbst macht. Er würde ein Duell annehmen, wenn es einer Idee gilt. Seine Person ist ihm gleichgültig. Da sieht man den Unterschied vom Dandy, der sich nur schießt, wenn es seiner Person gilt, und der in seiner Nähe Meinungen äußern hören kann, welche es seyn mögen. Ich halte es für eine persönliche Beleidigung, sagte mir Sir Anacharsis einmal, als ich ihn besuchte, wenn man in meiner Gegenwart dummes Zeug spricht. Die Dummheit ist die größte Unanständigkeit. Die Dummheit, schlecht vorgetragen, ist vollends eine Insulte.
Ich war höchst angenehm überrascht von dem Eindruck, den Sir Anacharsis häusliche Einrichtung auf mich machte. Seine Umgebung war eben so comfortabel, wie modisch, und doch hatte Alles noch einen Beigeschmack, eine naive Sinnigkeit, die in der gedankenlosen und albernen Mode nie liegen wird, die aber in dem Charakter seiner Existenz unverkennbar war. Der Reiz des Modernen umgab ihn. Er führte mich in ein Zimmer, welches von einem magischen Licht erhellt war. Die Glasscheiben der gewölbten Fenster waren bemahlt, das Ganze stellte eine Halbrunde vor, fünf oder sechs Nischen waren mit den herrlichsten Antiken geschmückt. Eine schlafende Nymphe aus Alabaster, der Phantasie eines außerordentlichen Künstlers entsprungen, ruhte neben ihm an einer Ottomane. Was er über diese Einrichtung sagte, war: Sie werden mich für abergläubisch halten, wenn ich diesen Heiligthümern, welche Sie hier sehen, eine Einwirkung auf mein Gemüth zugestehe. Ich nehme in der Religion wenig Dogmen für gewiß an, und selbst an die, welche mir wahrscheinlich vorkommen könnten, fühl' ich mich nicht sehr verpflichtet zu glauben; allein eines gewissen Schauers werd' ich immer bedürfen, einer heiligen Erregung, die mich in den mystischen Zusammenhang der Jahrhunderte versetzt, die mir das Bedeutungsvolle der absoluten Stille vergegenwärtigt und mich unterstützt, an mich selbst zu denken.
Sir Anacharsis scheint somit die Religion zu widerlegen. Er zweifelt an ihr, verwirft sie, und doch läßt sie ihn nicht, und er sie nicht. Grade, daß sie ihn so viel beschäftigt, ist ein Beweis, daß er religiös ist trotz seines Skepticismus. Das Fürchterlichste aber, fuhr er fort, ist mir die Vernachlässigung der Schönheits- und Anstandsgesetze, welche mit den Ideen dann, wenn sie den Menschen recht zu packen anfangen, verbunden zu seyn pflegt. Die Griechen hatten ihre Schönheit darin, daß sie sich nackt gaben; das Mittelalter darin, daß es sich bunt und phantastisch gab; die Neuern, daß sie sich geordnet geben. Die Symmetrie ist eine der wenigen Tugenden, deren Ausübung unter jetzigen Umständen noch gestattet ist.
Wie, Sir, fragt' ich, Sie, ein so aufrichtiger Freund der Wahrheit, könnten sich entschließen, sie zuweilen dem Scheine zu opfern?
Sie verstanden mich nicht, entgegnete er; ich nehme nicht den schönen Irrthum in Schutz, sondern suche nur die häßliche Wahrheit zu mildern. Auch die Wahrheit ist von Natur schön, da sie nackt ist. Alles Nackte ist schön. Allein die Art, wie die Menschen an der Wahrheit zerren, wie sie um jeden Preis das Wahre treffen wollen und es selten anders können, als indem sie nur einen Theil von ihr erreichen oder sie gänzlich entstellen, diese macht sie oft schreckhaft genug. Ich glaube, daß das Moderne diese Stellung zur Wahrheit entschieden verwirft. Modern ist es nicht, dem Parteigeiste zu huldigen, mit ihm sich auf offner Straße zu boxen, die Hemdärmel dabei aufzuschlagen und überhaupt in seinem Thun die möglichste Rücksichtslosigkeit auf sich und Andre zu offenbaren. Das Moderne steht über dem Parteigeiste, über den Tagesfragen wenigstens, die man freilich nicht erörtern kann, ohne rüstig Hand anzulegen. Es ist gerade so wie in alten Zeiten. Das wahrhaft Antike und Romantische konnten nur die Bevorzugten fühlen, und gegenwärtig das Moderne die, welche den Vorzug haben, wenigstens die alten Zeiten vergleichen zu können.
Als ich Sir Anacharsis fragte, ob denn nun seiner Meinung nach das Moderne nicht auch bestimmt wäre, allmählich ein allgemeiner Charakter der Zeitgenossen zu werden? antwortete er: Nimmermehr! das ist das Exclusive. So sehr man es mit der Mode in Verbindung bringen darf, so ist ja eben die Mode auch nur das Streben, immer wieder aus der Mode zu kommen. Modern zu seyn ist eine Eigenheit. Sind die Menschen so weit, daß sie alle so denken und empfinden wie ich, dann werden die Philosophen des Jahrhunderts schon wieder in einem andern Stadium stehen und einen andern Namen haben.
Es war mir im Grunde komisch, wie ich, der ich doch mit ganzer Seele der Zeit hingegeben bin, mir einen so gelehrten Unterricht geben ließ über etwas, das ich durch Schrift befördert und in meinen eigenen Glauben aufgenommen habe. Auch Sir Anacharsis fühlte dieß und sagte lachend: Kommen Sie, was haben Sie nöthig, sich von mir über die Zeitgenossen belehren zu lassen. Repräsentiren Sie nicht in der Literatur vollkommen das Gepräge des Modernen, welches jetzt auf Gefühle und Gedanken von den Autoren gedrückt wird? Denn selbst Byron, an den man immer versucht ist zu denken, wenn von der Poesie des Augenblicks gesprochen wird, selbst Byron kann nicht als deutlicher Typus unsres Begriffes dienen. Er hat soviel Launen und Spezialitäten gehabt, daß er mehr einem Auswuchse gleicht. Denn es soll ja nimmermehr gesagt werden, in der modernen Richtung der Literatur müsse all die Ausschweifung und Caprice liegen, der sich Byron nur zu bereitwillig hingegeben hat.
Ich muß gestehen, entgegnete ich, daß ich meine Schreibart schwerlich anders als mit dem Namen des Modernen zu bezeichnen wüßte; wie ich aber zu dieser besondern Haltung, wie ich zu meinem eigenthümlichen Tone komme, ist mir selbst ein Räthsel. Bald scheint es mir, als treibe mich der Geist der Unruhe, welcher überhaupt unsre Zeit quält, und ermuthigte mich, mit Hand anzulegen und eine neue Welt bauen zu helfen; bald aber schmieg' ich mich wieder mit so viel liebendem Interesse an die selbst veralteten Sitten, an die bestehenden Gesetze und Einrichtungen an, daß ich mich fast schäme, mich auf einen bloßen Maler und Copisten dieser Zustände reduzirt zu sehen. Allein möglich auch und vielleicht ganz gewiß, es liegt in der Pflicht, welche der Literat zu befolgen hat, eben so reformistisch wie conservativ gesinnt zu seyn, wenn wir nämlich von der politischen Alltagsbedeutung dieser beiden Begriffe abstrahiren und sie in Rücksicht auf die menschliche Existenz im Ganzen und Großen gebrauchen wollen. Moderne Literatur heißt theils Abspiegelng der Zeitgenossen in den Lagen, wo sie sich befinden, Einmischung in ihre Debatten, Frage und Antwort in Sachen des allgemeinen Nachdenkens und der praktischen Philosophie. Der Literatur gegenüber ist das moderne Genre leicht in der Form, zufällig im Inhalte, subjektiv in Manier und Haltung, witzig und melancholisch, launig in jeder Beziehung, sehr begabt mit kritischem Talente und für die eigne Produktion entweder etwas impotent oder wenig ehrgeizig, es den großen Klassikern der Vergangenheit nachzuthun. Roman, Novelle, die kleine Abhandlung, Briefe, empfindsame Reisen, das sind die einfachsten Formen, mit welchen der moderne Autor seine Erfindungen, Träume und Charaktere einfäßt. Das moderne Genre entsteht schnell, verbreitet sich schnell, wird schnell verstanden und stirbt schneller noch, als es oft eine Kritik erlebt hat. Lob und Tadel der Kritik nützen oder schaden nichts mehr: der Roman ist ein Jahr alt, wer liest ihn noch!
Sir Anacharsis entgegnete: Der Hauptcharakter des Modernen, der auf alle Aeußerungen desselben, literarische, künstlerische, sittliche, religiöse, seine Anwendung hat, ist der, sich nicht genirt zu fühlen. Das Moderne geht von allem in jetziger Zeit fraglich und streitig Gewordenen aus, läßt sich aber in einem gewissen Comfort der Betrachtung darüber nicht stören. Man muß selbst bei der Unruhe der Zeit seine Ruhe als Individuum behaupten können und keinem Verhältnisse soviel Aufopferung widmen müssen, daß man sich dadurch genirt fühlen würde. Sie haben ein wahres Wort gesprochen, wenn Sie irgendwo sagen: Was heute Meinung ist, war vor zehen Jahren Philosophie! Und sehen Sie, in der Mitte dieses Abstandes, fünf Jahre nach der Philosophie und fünf Jahre vor der Meinung steckt gerade das Moderne mitten inne. Es ist nicht tief und nicht praktisch genug, um sich für das Ganze zu entscheiden und hält sich demnach an die Hälfte.
So und ähnlich sprech' ich oft mit Sir Anacharsis. Denn auch dieß ist eben ein Zeichen des Modernen und ein rechter Beweis dieses sich erst bildenden, durchaus noch nicht abgeschlossenen Begriffes, daß das Moderne viel über sich selbst spricht, daß es hundert Fragen ineinander bespricht und aus formeller Dialektik Resultate erlangen zu können sich einbildet. Das eigentliche Moderne scheint mir eine Mischung von angebornem Verstande und raffinirtem Gemüth zu seyn. Daraus ergeben sich die Leiden, die Vorzüge und die Widersprüche dieses Genres im Leben wie in der Literatur. Es beweisen aber auch namentlich diese Widersprüche, daß das Moderne durchaus dem Antiken und Romantischen nicht sollte als drittes Congruum an die Seite gesetzt werden, sondern daß diese Anschauung der Dinge und der Menschen ein Uebergang zu einer weitern Entwicklungsstufe ist, welche unsre Zeit erklimmen muß. Das Moderne ist, schon durch die große Schwierigkeit der sichern Definition, kein bleibendes, wenn auch sonst charakteristisches Merkmal unsres Zeitalters. Größere Ereignisse werden diese vorübergehende Mischung von Ernst und Leichtsinn ablösen. In den Widersprüchen des Moments eine schwebende Lösung, in den feindseligen Elementen des Parteigeistes eine wohlmeinende Tröstung: das kann füglich die moderne Art genannt werden. Vielleicht ist es ein Begriff unsres Jahrhunderts, vielleicht dauert er nur noch ein Dezennium, jedenfalls ist er kein dauernder Typus des gegenwärtigen Zeitalters.
Wenn wir im Folgenden die Interessen unsrer Mitwelt zu sichten und zu klassificiren suchen, so schwebt uns dabei nicht mehr die eigenthümliche Koketterie des Sir Anacharsis vor, sondern das Wohl der Menschheit, von welchem mir ein zwar nicht in Worten faßbares, aber dennoch untrügliches Ideal vorschwebt. Ich weiß nicht, was Alles dazu gehört, die Völker zu beglücken; aber ob Dieß dazu gehört und Jenes nicht, das schwebt klar genug vor meinem geistigen Auge.