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Hell und freundlich brach Frau Burtons Geburtstag an. Es war der erste seit ihrer Verheiratung mit einem Manne, dessen zärtliche Gattenliebe ihr ein dauerndes Eheglück verbürgte; da war es denn nur zu natürlich, daß die wenigen Minuten, welche sie bis zum Frühstück hatte, zu völlig und beseeligend ausgefüllt waren, als daß sie an die beiden kleinen Jungen hätte denken können, die ihr schon deutliche Beweise geliefert hatten, daß sie gewillt und durchaus imstande seien, für sich selbst zu sorgen. Was die Kinder selbst anbetrifft, so erwachten sie beim ersten Tagesgrauen und zwar mit einem Gefühl schwerer Verantwortlichkeit. Ihr Zimmer stieß an das der Jungfer, und da diese von ihrer Herrin beauftragt war, während der ersten Morgenstunden auf die Jungen zu achten, so hatte sie bereits jene Gabe des festen Schlafes eingebüßt, welche Dienstboten so auffällig von allen anderen Menschenkindern unterscheidet. Sie hatte sich schon daran gewöhnt, beim ersten Geräusch im Zimmer der Jungen aufzuwachen, und das erste, was sie an diesem Morgen hörte, war der Ruf »Toddi.«
Keine Antwort.
»T–o–d–d–i!«
»A–h–h–au!« knurrte jemand erbost mit schläfriger Stimme.
»Wach auf, lieber Toddi! Heute ist ja Tante Alices Geburtstag!«
»Brauchst mir nich' die Ohren aufzubrüllen, wenn Geburtstag is,« sagte Toddi weinerlich.
»Ich hab's ja bloß in ein Ohr gerufen, Toddi,« entschuldigte sich Willi, »un' du mußt Tante Alice doch lieb genug haben, daß du lieber ein wehes Ohr hast, als gar nich' aufwachst.«
Verdrießliche, unartikulierte Laute ließen sich hören, dann unverständliche Worte, dann drang ein Geräusch wie von krampfhaften Wälzen und Strampeln im Bette an das Ohr der Lauschenden, und zuletzt ließ Willi sich vernehmen:
»Das is recht, nu' wollen wir aufstehen un' uns fertig machen. Aber da fällt mir ein, wir haben ja gar nich' an Musik gedacht. Weißt du woll noch, wie Mamas Geburtstag war, da spielte Papa Klavier, als sie runter kam, un' das machte sie ganz glücklich un' wir tanzten alle umher.«
»Weiß woll,« erwiderte Toddi. »Laß uns das auch machen!«
»O ich will dir mal was sagen,« sagte Willi.
»Wir wollen beide auf dem Klavier trommeln, wie's Mama un' Tante manchmal zusammen machen.«
»O ja!« rief Toddi. »Bis sie runterkommt un' sagt: ›Müßt nich'!‹, können wir noch tüchtig was zusammentrommeln.«
Dann ließ sich ein Hin- und Hertrippeln kleiner Füße im Kinderzimmer vernehmen, wo auf Stühlen und Ecken, auf Tisch und Kommode die verschiedenen Kleidungsstücke umherlagen, welche die Jungen am Abend vorher abgeworfen hatten. Dann eilte die Jungfer hinein, um ihnen beim Ankleiden behilflich zu sein, und bald waren die beiden Kinder angezogen. Ein Teller mit Bananen und ein zweiter mit den sauer geernteten Trauben standen auf der Kommode; die Kinder nahmen die Teller in die Hand und gingen dann auf den Zehen die Treppe hinunter ins Wohnzimmer.
»Hör' mal!« sagte Toddi, als er seinen Teller auf den Anrichtetisch stellte, »ich bin bange, die Trauben sind sauer geworden. Ich glaube, wir schmecken mal zu, wie es Mama mit der Milch macht, an heißen Tagen, wenn der alte Milchmann nich' früh genug kommt« – und Toddi setzte sein Wort in die That um und pflückte von einer Traube die leckerste Beere in seinen Mund. »Ich glaube,« sagte er dann, mit den Lippen schmähend und argwöhnisch dreinschauend wie ein berufsmäßiger Weinschmecker, »ich glaube, sie werden sauer.«
»Laß mich mal schmecken,« sagte Willi.
»Ne,« antwortete Toddi, indem er mit der einen Hand eine zweite Beere naschte, während er mit der anderen sein Geburtstagsgeschenk zu schützen suchte, »ich bin groß genug un' kann es allein. Oder,« setzte er hinzu, da ihm plötzlich eine glückliche Eingebung kam, »du mußt mich auch mal schmecken lassen, ob deine Bananen sauer sind.«
»Du darfst aber nur einen Happen abbeißen« erwiderte Willi, »un' dafür mußt du mir sechs Beeren geben. So viel müssen es wenigstens sein, weil deine Happen sonst ganz gewiß größer sind.«
»Na ja,« erwiederte Toddi. Dann gingen die Jungen an das Tauschgeschäft, wobei Willi die Vorsicht gebrauchte, die Banane mit einer Hand festzuhalten, damit sein Bruder in der Zerstreutheit nicht etwa zweimal abbeiße, während Toddi seinem Bruder die Beeren aufs gewissenhafteste zuzählte.
»Sie sind 'n bißchen sauer,« sagte Willi und verzog sein Gesicht dabei. »Vielleicht is 'ne andere Traube besser; ich glaube, es is am besten, wir schmecken sie alle mal, nich' wahr?«
»Un' die anderen Bananen auch alle,« schlug Toddi dagegen vor. »Die eine war recht gut, aber vielleicht sind doch welche dabei, die nich' schmecken.«
Sein Vorschlag wurde angenommen, und bald hatte jede Banane ein Viertel eingebüßt, während die Trauben einen schön entwickelten Stengelwuchs zu zeigen begannen. Dann schien Willi auf einmal der Gedanke zu kommen, daß sein Geschenk sich nicht mehr stattlich genug präsentiere, denn er kehrte mit der Schlauheit eines geborenen Obsthändlers die unbenaschte Seite nach oben. Dann rief er: »O, wir müssen ja unsere Karten noch dabeilegen! Wie soll sie sonst wissen, von wem sie's kriegt?«
»Wir sind ja da un' können es ihr sagen,« erwiderte Toddi.
»Bewahre!« sagte Willi. »Das würde ihr nich' halb so viel Freude machen. Du weißt doch, wenn Cousine Anna Blumen geschenkt kriegt, daß sie immer am glücklichsten is, wenn sie die Karte sieht, die mitkommt.«
»O ja,« antwortete Toddi; dann eilte er ins Besuchzimmer und kehrte mit zwei Karten zurück, die er auf gut Glück dem Kartenkörbchen seiner Tante entnommen hatte.
»Jetzt müssen wir noch ›Ich gratuliere‹ hinten draufschreiben,« sagte Willi, indem er seine Taschen durchsuchte und ein Stückchen Bleifeder hervorholte. »Sieh so!« fuhr Willi fort, indem er über die Karte gebeugt mit unendlicher Mühe in großen Buchstaben die Worte: ›Ich gratuliere‹ hinmalte. Dabei sprach er jeden Buchstaben vor sich hin und ließ die wunderlichsten Gesichtsverzerrungen sehen, wie sie ungeübte Schreiber zu zeigen pflegen. »So, jetzt mußt du deinen Glückwunsch selbst schreiben,« erklärte er dann, »sonst is er nich' so süß, sagt Mama.«
Toddi nahm die Bleifeder in seine Grübchen-Hand, Willi führte dieselbe, und zwei Kinderköpfchen machten Wange an Wange die drolligsten Bewegungen beim Schreiben, bis das Werk vollendet war.
»So, nu' müssen sie kommen, denk ich,« sagte Willi. (Es war noch länger als eine Stunde bis zum Frühstück.) »Aber die Aufstehglocke hat ja noch nich' geklingelt! Laß uns gleich mal klingeln!«
Die Jungen kämpften um den Besitz der Glocke; Willi, der Stärkere, war der Sieger und klingelte, im Hausflur auf- und abmarschierend mit einer Begeisterung und Ausdauer, wie sie nur Dilettanten zu besitzen pflegen.
»Ist es schon so spät?« fragte Frau Burton indem sie sich beeilte, ihre Toilette zu vervollständigen. »Wie die Zeit heute vergeht!«
Herr Burton sah etwas im Antlitz seiner Frau, welches ihn an seine Pflichten dem Geburtstagskinde gegenüber erinnerte. Er sah nach seiner Uhr und rief unangenehm überrascht:
»Der Tausend! Ich möchte drauf schwören, daß wir noch keine halbe Stunde wach sind. Ah! Ich habe gestern Abend vergessen, meine Uhr aufzuziehen.«
Die Kinder eilten jetzt in das Besuchzimmer.
»Ich höre sie rumtrampeln!« rief Willi. »Na nu'! Das Klavier is ja verschlossen! Is das nich gemein? O, jetzt weiß ich was – hier is Onkel Harrys Geige.«
»Wo soll ich denn auf spielen?« fragte Toddi, der ungeduldig umhersprang.
»Warte bloß eine Minute!« rief Willi, indem er die Geige aus der Hand legte und nach oben eilte, von wo er alsbald mit einem Kamm zurückkehrte. Dann schlug er einen ans dem Tisch liegenden gebundenen Jahrgang einer illustrierten Zeitschrift auf, riß das einen Stahlstich schützende Seidenpapier heraus und wickelte den Kamm hinein.
»So,« rief er dann, »du fiedelst, un' ich blase auf dem Kamm. Aber weshalb kommen sie denn noch nich' runter? Ach! da fällt mir was ein! Wir haben ja vergessen, Pfennige unter den Teller zu legen, un' wir Nüssen gar nich' mal, wie viel Jahre es sind, für die wir Pfennige hinlegen müssen.«
»Un' wir haben ja auch gar keine Pfennige,« rief Toddi.
»Ich weiß, wie wir's machen!« rief Willi und eilte in ein Seitenkabinett, wo sein Onkel in einer Schublade eine Sammlung amerikanischer Münzen aufbewahrte. »Diese Sorte Pfennige,« fuhr Willi, mit einer Handvoll Münzen zurückkehrend, fort, »is nich so hübsch wie unsere, aber sie sind größer und sehen auf dem Tischtuch ganz hübsch aus. Aber sag mal, wie alt ist sie denn eigentlich?«
»Ich weiß nich',« versicherte Toddi, der sich vergeblich den Kopf darüber zerbrach. »Sie is ungefähr so groß wie ich un' du zusammen.«
»Also du bist vier,« rechnete Willi aus, »un' ich bin sechs, un' vier un' sechs is zehn – ich glaube, zehn wird sie woll ungefähr sein.«
Der Teller Frau Burtons wurde aufgehoben und an seinen Platz wurden rund im Kreise die Pfennige gelegt. Dann gab's ein mühsames Zählen und Rechnen und viele Irrtümer in: Addieren und Subtrahieren. Endlich waren die Pfennige in vier Reihen geordnet, zwei zu drei und zwei zu zwei Stück. Willi zählte die Dreien nach und Toddi die Zweien, und eben wollte Willi die vier Summen noch mal addieren, als plötzlich Schnitte auf der Treppe sich hören ließen.
Geschwind legte Willi die überzähligen Kupfermünzen zu den vier Reihen, stellte den Teller obendrauf und ergriff seinen Kamm, während Toddi die Geige gegen ein Knie stemmte, wie er es von herumziehenden kleinen Italienern hatte machen sehen. Als Herr Burton mit dem Geburtstagskinde einige Augenblicke später ins Eßzimmer trat, da brach eine solche Katzenmusik los, daß Frau Burton sich die Ohren zuhielt und ihr Mann einen Schreckensruf ausstieß.
Jetzt legten beide Jungen ihre Instrumente nieder – wobei Toddis Füßchen in ernsten Konflikt mit den Saiten der Geige gerieten – wandten ihre glückstrahlenden Gesichter der Tante zu und riefen: »Ich gratuliere!«
Herr Burton beeilte sich, sein teures Instrument zu retten, während seine Frau die beiden Kinder in ihre Arme schloß und Thränen der Rührung weinte. Dann fiel ihr Blick auf das Obst, welches auf dem Anrichtetisch stand und sie las mit lauter Stimme die Karten:
»Frau Franziska Römer – das sieht ihr ähnlich! Ich habe sie nur ein einziges Mal gesehen, aber ich denke, ihre Bananen müssen für ihre Taktlosigkeit aufkommen. Aber hier erst! Karl Krone! Du liebe Zeit. Was manche Herren für ein merkwürdiges Gedächtnis haben!«
Eine Wolke lagerte sich auf Herrn Burtons Stirn. Karl Krone war einer seiner Nebenbuhler um Fräulein Maytons Hand gewesen! Frau Burton sah etwas nachdenklich aus, und ihr Mann gab sich nach Art frischgebackener Ehemänner eifersüchtigen Betrachtungen hin. Auf einmal rief Frau Burton:
»Da hat jemand ganz unverschämt von den Trauben genascht! – Kinder!«
»Die sind nich' von Römers un' Krones,« sagte Toddi, »die sind ja von mir un' Willi, un' wir haben bloß mal zugeschmeckt, ob sie in der Nacht nich' sauer geworden sind.«
»Wo sind denn die Karten hergekommen?« fragte Frau Burton.
»Aus dem Körbchen im Besuchzimmer,« erwiderte Willi; »aber die andere Seite is das Schönste dran.«
Frau Burtons nachdenkliches Aussehen und ihres Mannes Mißstimmung schwanden zugleich, als sie die von den Kindern gemachte Aufschrift entzifferten, und man setzte sich in bester Stimmung zu Tisch. Die beiden Jungen zappelten vor Ungeduld, bis die Tante ihren Teller aufhob; dann rief Willi:
»Einen Pfennig für jedes Jahr, weißt du.«
»Einunddreißig!« rief Frau Burton, als sie den Haufen gezählt hatte. »Wie schmeichelhaft!«
»Was thust du denn für kleine Jungens an deinem Geburtstag?« fragte Toddi während des Frühstücks. »Mama thut ganz – ganz viel dafür.«
»Ja,« bestätigte Willi, »sie sagt, man muß andere glücklich machen, dann is man selbst glücklich. Un' Mama weiß das ganz gewiß besser als du, weil sie am längsten verheiratet is.«
Obgleich Frau Burton diese Thatsache nicht leugnen konnte, schien ihr die Schlußfolgerung doch etwas gewagt und sie erhob Widerspruch.
»Na, ganz egal,« sagte Toddi, »Mama hat immer Besuch an ihrem Geburtstag, un' dann kriegen wir so viel Kuchen, als wir mögen.«
»Dann sollt ihr heute auch nicht zu kurz kommen,« sagte Frau Burton. »Bald werden mich einige Freundinnen besuchen, und ich werde ein gemütliches Gabelfrühstück mit ihnen halten. Wenn ihr bis dahin recht artig seid und euch hübsch sauber haltet, sollt ihr mit uns am Tische essen.«
»O wie schön!« rief Toddi. »Is es noch nich' bald so weit?«
»Toddi denkt bloß immer ans Essen,« sagte Willi verächtlich. »Sag' mal, Tante Alice, hoffentlich vergißt du nich', Obstkuchen zu backen. Das is die Sorte, die wir am liebsten mögen.«
»Du kommst doch recht bald wieder heim, Harry?« fragte Frau Burton, die Frage ihres Neffen nicht beachtend.
»Spätestens um die Mittagszeit,« antwortete Herr Burton. »Ich will nur meine Briefe durchsehen und die nötigen Aufträge erteilen.«
»Weshalb kommst du denn so früh wieder nach Hause, Onkel Harry?« fragte Willi.
Weil ich Tante Alice spazieren fahren will, mein Junge,« antwortete Herr Burton.
»O hör' mal, Toddi!« rief Willi. »Das giebt mal 'n Spaß! Onkel Harry will uns ausfahren!«
»Ich habe gesagt, ich wollte eure Tante Alice spazieren fahren, Willi,« sagte Herr Burton.
»Hab's wohl gehört,« erwiderte Willi, »aber das geniert uns weiter nich'. Sie mag sich immer lieber mit dir unterhalten als mit uns, un' wir freuen uns, wenn sie glücklich is. Wann geht's denn los?«
Herr Burton fragte seine Frau auf deutsch, ob die Unverschämtheit ihres Neffen nicht reizend naiv sei, und Frau Burton antwortete in derselben Sprache, daß dieselbe an Naivetät nichts zu wünschen übrig lasse aber gleichwohl einen Verweis rechtfertige, und daß sie es für ihre Pflicht halte, ihren Neffen etwas mehr Bescheidenheit beizubringen. Herr Burton wünschte ihr dazu viel Glück und brachte seine Frau durch eine Anzahl recht eingehender Fragen über die bereits erzielten Erfolge so in Verlegenheit, daß sie froh war, als Toddi aus tiefem Nachdenken erwachend sich also vernehmen ließ:
»Ich glaube, der Platz, wo der Fluß abgebrochen is, is der allerschönste.«
»Was meint das Kind?« fragte seine Tante.
»Weißt du nich' mehr,« sagte Willi, »wo wir voriges Jahr hinfuhren? Da, wo du uns wegholtest, als wir sehen wollten, wie weit wir überhängen könnten.«
»Ah – am Wasserfall?« riet Herr Burton.
»Ja, das is der Platz, erwiderte Willi.
»Der Fluß is da plumps! entzwei gebrochen,« sagte Toddi, »un' ein Stück davon hängt oben in der Luft, un' das andere Stück is unten im großen Loch zwischen den Steinen. Dahin möcht' ich gern ausfahren.«
»Hör' mal zu, Toddi,« sagte Frau Burton. »Wir nehmen dich sonst sehr gern mit, aber heute fahren wir lieber allein aus. Du und Willi, ihr bleibt diesmal zu Hause; wir werden höchstens zwei Stunden ausbleiben.«
»Ich möchte gern mit ausfahren,« bat Toddi.
»Ich weiß, daß du gern ausfährst, lieber Toddi,« antwortete seine Tante, »aber du mußt Geduld haben, bis es mal besser paßt.«
»Aber ich will mit,« erklärte Toddi.
»Und ich will dich nicht mitnehmen, deshalb bleibst du hier,« antwortete Frau Burton in einen: Ton, der jeden vernünftigen Menschen vollständig entmutigt haben würde. Aber Toddis Entschluß war nicht zu erschüttern und er versicherte von neuem:
»Will mit ausfahren.«
»Nun ist die Bescheerung da,« murmelte Herr Burton für sich hin. Dann stand er rasch vom Tische auf und sagte:
»Ich will mal sehen, ob ich noch mit dem Frühzug fort kann, liebe Frau. Ich komme ja bald wieder nach Hause.«
Frau Burton erhob sich, um ihrem Manne adieu zu sagen. Derselbe küßte sie ungewöhnlich zärtlich, hielt sie dann in Armeslänge von sich und senkte seinen Blick mit einem Ausdruck in ihre Augen, den sie für die nächsten paar Stunden nicht zu deuten wußte.
Frau Burton brachte ihren Mann ein gutes Stück auf den Weg, kehrte dann ins Eßzimmer zurück, ging mit Toddi ins Besuchzimmer, nahm ihn auf ihren Schoß, umarmte ihn zärtlich und sagte dann:
»Nun, lieber Toddi, achte mal hübsch auf das, was Taute Alice dir sagt. Ihr Jungen könnt heute aus verschiedenen Gründen nicht mit uns ausfahren, und Tante Alice meint im Ernst, was sie sagt, wenn sie euch erklärt, daß ihr nicht mitfahren dürft. Und wenn ihr auch hundertmal darum bätet, das würde daran nicht das mindeste ändern. Ihr könnt nicht mit und müßt deshalb nicht mehr daran denken.«
Toddi hörte von Anfang bis zu Ende aufmerksam zu und sagte dann:
»Aber ich will mit.«
»Du sollst nun einmal nicht, und dabei bleibt's.«
»Ne, das thut's woll nich,« antwortete Toddi, »nu' erst recht nich'. Jetzt will ich noch gerner mit als vorher.«
»Aber du kommst nicht mit.«
»Ich möchte so schrecklich – schrecklich gern mit,« sagte Toddi und begann zu weinen.
»Daran zweifle ich nicht, und du thust mir deshalb sehr leid,« sagte Frau Burton freundlich, »aber das ändert nichts an der Sache. Wenn große Leute ›Nein‹ sagen, müssen kleine Jungen einsehen, daß sie's auch so meinen.«
»Aber ich möchte gern mit euch ausfahren,« sagte Toddi.
»Und ich möchte gern, daß du zu Hause bleibst, deshalb bleibst du eben hier,« erwiderte Frau Burton. »Laß uns jetzt nicht weiter darüber sprechen. Möchtest du nicht mal in den Garten gehen und einige Erdbeeren pflücken – für dich ganz allein?«
»Nein, ich möchte gern mit ausfahren.«
»Toddi,« sagte Frau Burton, »laß mich jetzt kein Wort mehr von ausfahren hören.«
»Nein, ich will aber mit.«
»Toddi, Toddi! Ich werde dich noch strafen müssen, wenn du nicht davon aufhörst, und das wird mich ganz unglücklich machen. Du willst doch Tante an ihrem Geburtstag nicht unglücklich machen, nicht wahr?«
»Nein, aber ich will mit ausfahren.«
»Nun hör' aber mein letztes Wort, Toddi,« sagte Frau Burton, indem sie ärgerlich mit dem Fuß aufstampfte und ihren ganzen Geduldsvorrat auf einmal verlor. »Wenn du jetzt noch ein Wort von ausfahren redest, so sperre ich dich in die Bodenkammer, wo ihr vorgestern gesessen habt – aber Willi soll dann nicht bei dir sein.«
Toddi ließ seinen Thränen jetzt freien Lauf und schrie:
»A–h–h–h! Will nich' eingesperrt werden, will mit ausfahren.«
Da fühlte sich Toddi auf einmal fest von den Armen seiner Tante umschlungen und wurde trotz seines Zappelns, Strampelns, Schreiens und Brüllens zwei Treppen hinauf in die Bodenkammer getragen. Der Augenblick seiner endgültigen Einkerkerung wurde durch einen durchdringenden Schrei bezeichnet, welcher aus dem Dachfenster schallend Terry plötzlich von seinem behaglichen Ruheplatz auf dem Brunnengehäuse aufscheuchte und einen vorüberreitenden Farmer veranlaßte, sein Pferd anzuhalten und fünf Minuten lang in lauschender Stellung zu verharren.
Inzwischen ging Frau Burton wieder ins Besuchzimmer hinunter, erhitzter, zerzauster und ärgerlicher, als man sie je vorher gesehen. Hier begegnete sie alsbald dem Blicke ihres Neffen Willi, der so feierlich, forschend und vorwurfsvoll auf ihr ruhte, daß ihr Aerger sofort verflog.
»Wie würde es dir woll gefallen, wenn man dich die Treppe hinauf schleppte und in ein einsames Zimmer sperrte, nur weil du gern ausfahren möchtest?« fragte Willi.
Frau Burton konnte sich nicht in eine solche Lage hineindenken und entgegnete:
»Ich würde nicht so thöricht sein, mir fortgesetzt etwas zu wünschen, was ich doch nicht haben kann.«
»Ach so!« rief Willi. »So klug sind große Leute?«
Frau Burton empfand ziemliche Gewissensbisse; sie ging daher bald zu einem andern Thema über und widmete sich ihrem Neffen Willi mit einem Eifer, als ob sie das Unrecht, welches sie seinem Bruder vielleicht gethan hatte, wieder gut machen wollte. Die gelegentlich aus dem Dachfenster zu ihr dringenden Klagelaute veranlaßten sie, mit noch größerem Eifer für Willis Behagen zu sorgen. Mit jedem Klagelaut jedoch wurde ihr Entschluß schwankender und endlich eilte sie mit einer heuchlerischen Ausrede gegen Willi die Treppe hinauf an die Thür von Willis Gefängnis und fragte durch's Schlüsselloch:
»Toddi?«
»Was?« antwortete Toddi.
»Willst du wieder ein artiger Junge sein?«
»Ja, wenn ich mit ausfahren soll.«
Frau Burton drehte sich kurz um und eilte in großer Hast die Treppe hinunter. Willi, welcher sie am Fuße der Treppe erwartete, trat unwillkürlich auf die Seite und rief:
»Na nu'! Ich dachte, du fielest die Treppe runter! Weshalb hast du ihn denn nicht mitgebracht?«
»Wen mitgebracht?« fragte Frau Burton unwirsch.
»O, ich weiß ganz gut, weshalb du hinaufgingst. Deine Augen haben mir alles verraten.«
»Du bist ein recht unbequemer Gesellschafter,« sagte Frau Burton, indem sie ihr Gesicht abwandte, »und ich möchte, daß du jetzt erst mal nach Hause läufst und fragst, wie es Mama und der kleinen Schwester geht. Bleibe aber nicht zu lange aus; denke daran, daß wir heute früher zu Mittag essen.«
Willi machte sich auf den Weg und Frau Burton ging mit sich selbst zu Rate. Zu schweigendem Gehorsam hatte sie sich als Kind bequemen müssen, so weit ihre Erinnerungen zurückreichten, und doch war ihr Eigenwille sicherlich ebenso groß gewesen wie derjenige Toddis. Wenn sie es als Kind stets über sich vermocht hatte, zu gehorchen, dann mußte es dem unglücklichen kleinen Jungen in der Dachkammer ebenso gut möglich sein – weshalb sollte er also ungehorsam sein? Vielleicht – das räumte sie ein – war sie in dieser Beziehung durch Vererbung besonders glücklich veranlagt, und vielleicht – nein, sicherlich war das bei Toddi nicht der Fall. Wie sollte sie nun gegen diesen Charakterfehler Toddis ankämpfen? Oder war es besser, das ganz zu lassen? War das nicht eine Aufgabe, an die niemand sich wagen durfte, der nur vorübergehend mal ein Kind zu beaufsichtigen hatte? Während sie diese Betrachtungen anstellte, wurde die Strenge ihrer Grundsätze durch das zuweilen an ihr Ohr dringende Klagegeschrei Toddis mehr und mehr gemildert, aber als ihr Blick dann wieder auf ein Bildnis ihres Mannes fiel, da schien es ihr, als ob das eine Auge mit spöttischem Ausdruck auf ihr ruhe, und sie war jetzt entschlossener als je, den Eigensinn des Kindes zu brechen. Einige Minuten später kam Willi zurück. Den Nachrichten, welche er von daheim mitbrachte, und seinem Berichte über seine Erlebnisse unterwegs schenkte Frau Burton nur einige Augenblicke Gehör und kleidete sich dann für die Spazierfahrt an. Sie schloß die Thür fest zu, um Toddis Geschrei nicht zu hören, aber alles Holzwerk schien mit Toddis Stimme zu sympathisieren, denn dieselbe drang anscheinend mühelos durch Thür und Fenster. Jedoch allmählich schien sie schwächer zu werden, und je seltener das Geschrei ertönte und je schwächer es wurde, desto mehr hoben sich Frau Burtons Lebensgeister. Nach beendeter Toilette stieg sie zu Toddis Gefängnis hinauf, um sein Sündenbekenntnis entgegen zu nehmen und gnädige Verzeihung zu gewähren. Sie klopfte leise an die Thür und rief:
»Toddi?«
Als keine Antwort kam, klopfte und rief sie energischer als zuvor – aber wiederum vergeblich. Sie hatte von Kindern gehört, die sich aus Aerger zu Tode geschrieen hatten, und eine furchtbare Angst überkam sie. Rasch öffnete sie die Thür und sah Toddi schmutzig und mit verweintem Gesicht auf dem Fußboden liegen. Sie beugte sich über ihn, um sich zu überzeugen, das er noch atme, und die halb geöffneten Lippen des Kindes umspielte so süßer Liebreiz, daß sie nicht umhin konnte, dieselben zu küssen. Dann nahm sie die schlafende, verlassene, rührende, kleine Gestalt sanft auf ihren Arm, und das kleine Köpfchen sank auf ihre Schulter und schmiegte sich an ihren Nacken, und ein kleiner Arm legte sich weich um ihren Hals und eine sanfte Stimme murmelte wie im Traum:
»Ich möchte gern mit ausfahren.«
Gerade in diesem Augenblicke trat Herr Burton ins Zimmer, und empörend war die Heuchelei, mit welcher er anscheinend treuherzig teilnehmend fragte:
»Hast du seinen Eigensinn gebrochen, liebes Kind?«
Seine Frau warf ihm einen vernichtenden Blick zu und ging ins Speisezimmer voraus. Inzwischen erwachte Toddi aus seinem Schlummer, rieb sich die Augen, erkannte seinen Onkel und rief:
»Onkel Harry, weißt du, was wir heute Nachmittag machen wollen? Wir wollen ausfahren.«
Herr Burton empfand das Bedürfnis, sein Gesicht unterhalb der Augen hinter seiner Serviette zu verstecken; seine Frau hätte freilich noch lieber gesehen, daß er auch seine Augen versteckt hätte, denn noch nie war es ihr so unangenehm gewesen, daß er ihr in die Augen sah.
Das musterhafte Betragen der beiden Jungen während der Spazierfahrt am Nachmittage nahm der Niederlage Frau Burtons den Stachel. Ihre Neffen plauderten zusammen über Blumen, Blätter und Vögel, spielten sich als Eigentümer einiger Sommerwolken auf, die über ihnen schwebten, und machten verschiedene Tauschgeschäfte damit. Und als Terry, welcher ihnen heimlich gefolgt und müde geworden war, von seinem Herrn in den Wagen genommen wurde, da gestatteten sie ihm sogar, zu ihren Füßen zu liegen, ohne daß sie ihn traten, seine Ohren kniffen oder ihn am Schwanze zerrten.
Herr Burton war zu edeldenkend, um seine Frau an ihrem Geburtstage absichtlich zu quälen, so vergaß dieselbe denn bald die am Vormittage erlittene Demütigung und kam in ausgezeichneter Stimmung und in ihrer Jugendfrische strahlend wieder zu Hause an, um ihre Gäste zu bewillkommnen. Dieselben trafen denn auch bald ein, und als die Gesellschaft vollzählig war, wurden Willi und Toddi in tadelloser Toilette von dem Hausmädchen hereingeführt. Leider führte sich Terry bei dieser Gelegenheit selbst ein, und kaum hatte Toddi ihn erblickt, als er auch schon eine Verständigung mit ihm anzubahnen suchte. Die beiden bildeten alsbald ein unentwirrbares Durcheinander mit den Füßen eines leichten Blumentisches, der zum Schluß mit lautem Krach zu Boden stürzte. Dann wurden beide mit Schimpf und Schande hinausgeschickt, was durchaus ihren Wünschen entsprach – freilich herrschte in einem Punkte große Meinungsverschiedenheit zwischen ihnen, nämlich darüber, ob Terry die Einsamkeit, nach welcher sein Herz sich offenbar sehnte, aufsuchen und genießen solle oder nicht.
Dann zog sich auch Willi mit einem Antlitz voll väterlicher Besorgnis zurück, und Frau Burton konnte sich jetzt endlich ihren Freundinnen widmen, mit denen sie bis dahin noch nicht hatte sprechen können, ohne beständig unterbrochen zu werden.
Frau Burton gab ihrem Gemahl gelegentlich zu verstehen, daß es sich empfehlen dürfte, ab und zu mal nach den Kindern zu sehen. Aber ihr Eheherr hatte bis dahin selten das Vergnügen gehabt, als einziger Herr einem Dutzend liebenswürdiger und intelligenter Damen Gesellschaft zu leisten, und er wußte sehr wohl, daß sich ihm eine solche Gelegenheit sobald nicht wieder bieten würde. Er sah sich deshalb nicht bemüßigt, sich um die beiden Jungen zu bekümmern, zumal ihr Talent, sich vor Schaden zu bewahren, unbegrenzt schien. So blieben denn die Jungen zwei Stunden hindurch unbeaufsichtigt. Inzwischen stellte sich ein leichter Sommerregen ein, und eine gefühlvolle junge Dame bat um den Vortrag des Liedes ›Der Regen auf dem Dach‹. Herr Burton trug den ersten Vers desselben mit seiner Frau zweistimmig vor; beim zweiten Verse jedoch begann Frau Burton zu hüsteln, während ihr Gemahl ängstlich Luft holte. Gleichzeitig sprangen mehrere Damen von ihren Stühlen auf, während andere erbleichten. Zum Entsetzen aller füllte sich das Zimmer sichtlich mit Rauch.
»Jedenfalls ist keinerlei Gefahr vorhanden, meine Damen,« sagte Frau Burton. »Sie wissen ja alle, was für Kunststücke amerikanische Dienstboten fertig bringen. Ich vermute, daß meine Köchin mit der ihr angebornen Findigkeit die Küchenthür aufgesperrt hat, um das Küchenfeuer wieder in Gang zu bringen, so daß der Rauch nicht zum Schornstein hinaus, sondern ins Haus hinein zieht. Ich will hingehen und dem Unfug steuern.«
Das eine Wort Dienstboten war von elektrisierender Wirkung. Die Damen begannen sofort jene lebhafte Unterhaltung, zu welcher dieses Thema das schöne Geschlecht stets angeregt hat und wahrscheinlich auch so lange anregen wird, bis alle haushaltenden Frauen sich in jenem glücklichen Lande versammelt haben werden, zu dessen Hauptreizen auch der gehört, daß sich keine amerikanische Küchen in seinen Grenzen vorfinden, und wo die erlöste Köchin vor ihrer Herrin stehen kann, ohne der Schelte zu bedürfen. Da berührte eine nervöse junge Dame, deren Aufregung sich nur mittels der Füße kundgab, mit der Spitze eines Stiefels zufällig die Stellschraube des Luftheizungsregisters, und sofort stieg eine dicke Rauchsäule aus dem Register auf, während die Dame mit gellendem Schrei zurücksprang.
»Feuer!« schrie eine Dame.
»Wasser!« kreischte eine andere.
»Hilfe!« riefen mehrere zugleich.
Einige stürzten nach oben, andere in den Regen auf die Straße, die nervöse junge Dame wurde ohnmächtig, und eine praktische junge Frau, die schon seit Jahren wohlüberlegte Rettungspläne für Feuerunfälle ausgedacht hatte, raffte geschwind ein Dutzend schön gebundener Bücher in eine Tischdecke und schleppte sie durch den Regen nach einem mehrere hundert Meter entferntem Hause. Der treue Terry aber, der das Unheil von ferne gewittert hatte, rannte nach Haus und erfüllte seine Pflicht nach besten Kräften in der Weise, daß er bellend und wütend nach jedem schnappend durch das Haus raste und fast auf jedem Quadratmeter Teppich seine Fußspuren zurückließ. Inzwischen eilte Herr Burton in Hemdärmeln, mit wirrem Haar, schmutzigen Händen und geschwärztem Gesicht nach oben, um den Damen die tröstliche Nachricht zu bringen, daß in der That keine Gefahr vorhanden sei, während Willi und Toddi, ersterer totenbleich und letzterer krebsrot im Gesicht nach ihrem Zimmer hinaufschlichen.
Die Gesellschaft zerstreute sich. Damen, welche ihre Wagen bestellt hatten, warteten nicht auf dieselben, sondern suchten in nahezu unhöflicher Weise der verschiedenen Regenmäntel und Schirme habhaft zu werden, mit denen Frau Burton aushelfen konnte. Fünfzehn Minuten später war Terry die einzige lebende Seele im Besuchzimmer und lag, wachsam umherspähend, mitten auf einem großen türkischen Sessel. Von ihrem Mann liebevoll gestützt, kam Frau Burton die Treppe herunter und betrachtete mit fest zusammengepreßten Lippen und flammenden Augen die Unordnung ihres trostlos öden Salons. Als sie dann aber das Eßzimmer betrat und den reizend gedeckten Tisch sah, auf dessen Anordnung sie in den vergangenen Tagen und Wochen ganze Stunden ernsten Nachdenkens verwandt hatte, da brach sie in eine Flut von Thränen aus.
»Ich will dir mal erzählen wie es war,« sagte Willi, der plötzlich uneingeladen erschien und sich im Bewußtsein seiner guten Absicht durch die unwilligen Blicke von Onkel und Tante nicht einschüchtern ließ. »Ich habe immer schon gemeint, daß Freudenfeuer das Schönste sind, was man an solchen Festen hat, un' Toddi un' ich, wir haben schon seit zwei Tagen Holz zusammengetragen, weil wir hinten im Hof ein großes Freudenfeuer machen wollten. Aber da regnete es auf einmal, und nasses Holz will nich' brennen – das wissen wir noch vom letzten Danksagungsfest her. Da dachten wir, wir wollten man ein Feuer im Keller machen, weil die Decke von Zinn is und der Boden von Erde, un' weil's da nich' reinregnen kann. Un' da holten wir uns 'ne ganze Masse Zeitungen un' Spähne un' gossen etwas Petroleum drauf. Un' da kamen die Flammen wunderschön hoch, un' wir wollten gerade nach oben un' euch alle holen, da kam Onkel Harry un' bumste mich gegen die Wand und Toddi auf den Kohlenhaufen. Un' dann warf er einen schmutzigen alten Teppich obendrauf un' machte alles über und über naß.«
»Wenn kleine Jungens mal was Nettes thun, dann heißt's immer gleich, ›Müßt nich'!‹« sagte Toddi. »Seht nur mal, was ich für einen furchtbar großen Splitter in die Hand gekriegt habe, als ich Holz aufs Feuer warf! Ich hab' aber gar nich' drüber geweint, weil ich dachte, ich machte andere Leute glücklich, wie es der liebe Gott von kleinen Jungens haben will. Aber nu' sind sie nich' glücklich geworden, deshalb will ich jetzt auch um den Splitter weinen.«
Und Toddi erhob ein Geheul, welches seinem gewöhnlichen Geschrei so sehr überlegen war, wie auf Bestellung gearbeitete Sachen der Fabrikware.
»Wir hatten auch 'n Fackelzug,« sagte Willi. Wir probierten ihn in der Dachstube, aber das war gar nich hübsch. Da oben sind ja keine Bäume, wo das Licht drin rumtanzen kann, wie wir's am Abend des Wahltages gesehen haben. Deshalb hörten wir gleich wieder auf, und wir wären ganz traurig geworden, wenn wir nicht an das Freudenfeuer gedacht hätten.«
»Wo habt ihr denn die Fackeln gelassen?« fragte Herr Burton, vom Stuhl aufspringend und seine Frau gleichzeitig auf ihre Füße stellend.
»Ich – ich weiß nich',« antwortete Willi nach kurzem Besinnen.
»Wir werften sie in den Verschlag, wo die Lumpen liegen, weil wir den Fußboden nicht schmutzig machen wollten,« sagte Toddi.
Herr Burton eilte die Treppe hinauf und löschte einen Haufen qualmender Lumpen aus, während seine Frau, deren Groll nie lange vorhielt, Willi an sich zog und freundlich sagte:
»Andere Leute glücklich machen wollen und es wirklich thun sind zwei verschiedene Dinge, lieber Willi.«
»Ja, das glaube ich auch,« sagte Willi, mit einem Seufzer, der Unausgesprochenes erraten ließ.
»Kleine Jungens sind dumm, wenn sie große Leute glücklich machen wollen,« sagte Toddi und begann von neuem zu weinen.
»O nein, das sind sie doch nicht, lieber Toddi,« sagte Frau Burton, und nahm das betrübte Kind auf ihren Schoß, »aber sie wissen es nur nicht immer richtig anzufangen, deshalb ist es am besten, sie fragen die großen Leute erst, wie sie's machen sollen.«
»Dann sind es ja keine Überraschungen,« klagte Toddi. »Sag mal Tante Alice, wollen wir denn all das Abendbrot allein aufessen?
»Ja – leider, wenn wir können,« seufzte Frau Burton.
»Ich glaube, wir können es – Willi un' ich,« sagte Toddi. »Un' dann freuen wir uns, daß die Damen alle weggegangen sind.«
Als die Kinder sich am Abend zurückgezogen hatten, schien Frau Burton etwas Besonderes auf dem Herzen zu haben; sie sagte schließlich zu ihrem Mann:
»Ich mache mir Vorwürfe, daß ich die Kinder noch nie zur Abendandacht angehalten habe, so lange sie hier sind, und ich wüßte keine bessere Zeit, damit zu beginnen, als den heutigen Abend.«
Herr Burton sah seiner Frau mit bewunderndem Blicke nach, als sie das Zimmer verließ. Den Dienst, den sie den Kindern zu erweisen sich erbot, hatte sie ihm selbst schon öfter geleistet, und zwar mit einem Erfolge, für den er ihr nicht dankbar genug sein konnte; dennoch konnte er sich eines geheimen Bangens nicht erwehren, als er seiner Frau leise nach oben folgte. Als Frau Burton das Kinderzimmer betrat, spielten die Jungen, jeder mit einem Kopfkissen bewaffnet ›Sturmlaufen.‹
»Nun Kinder,« fragte sie, »habt ihr schon eure Gebete gesagt?«
»Nein,« erwiderte Willi; »einer muß erst umgerannt werden, dann wollen wir beten.«
Das plötzliche Umpurzeln Toddis war das Zeichen zum Beginn der Andachtsübungen, und beide Knaben knieten am Bette nieder.
»Nun hört erst mal auf das, was Tante euch zu sagen hat,« begann Frau Burton. »Ihr habt heute mehrmals in arger Weise gefehlt und könnt daraus lernen, daß ihr auch dann, wenn ihr die besten Absichten habt, ohne den Rat und die Hilfe anderer nur Dummheiten macht. Seht ihr das ein?«
»Ich sehe's ein,« sagte Willi, »massenhaft.«
»Ich nich'«, sagte Toddi. »Wenn mich andere helfen, wird's erst recht verkehrt – will später lieber alles allein machen.«
»Ich weiß, was ich heute zu dem lieben Gott beten kann, Tante Alice,« sagte Willi.
»Du Herzensjunge, dann bete mal recht schön,« sagte Frau Burton.
»Lieber Gott,« betete Willi, »es geht uns immer gräßlich schlecht, wenn wir andere Leute glücklich machen wollen. Laß – bitte – laß doch die großen Leute mal wissen, wie schwer es kleinen Jungens wird, etwas auszudenken, was ihnen Freude macht. Un' gieb, daß große Leute kleine Jungens besser verstehen lernen un' sie nich unglücklich machen, wenn kleine Jungens sich Mühe geben, ihnen Freude zu machen. Un' gieb, daß große Leute ebenso schwer nachdenken müssen, wie kleine Jungens, um Christi Willen – Amen! Un' – o ja – un' segne die liebe Mama un' die liebe kleine Schwester. Ist's so recht, Tante Alice?«
Frau Burton antwortete nicht, und als Willi sich umwandte, sah er sie bereits aus dem Zimmer gehen. Toddi aber sagte:
»Jetzt bin ich an der Reihe. Lieber Gott, wenn ich ein kleiner Engeljunge oben im Himmel werde, dann laß die großen Engel nich' jedesmal kommen und sagen >Mußt nich!< wenn ich ganz was Nettes für sie thue, – un' mich auch nich' auf alte, eklige, schwarze Kohlen werfen. Sieh so! Amen!«