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Vierzehn Tage später fand im Lawrence'schen Hause eine Sitzung im engeren Familienkreise statt. Nicht zum Zweck feierlicher Beratung, ganz im Gegenteil! Frau Lawrence sollte zum erstenmal seit vier Wochen wieder am Mittagstisch erscheinen und Herr und Frau Burton waren eingeladen, sich ganz zwanglos an diesem Essen zu beteiligen. Sie brauchten auch nicht zu bereuen, dieser Einladung nachgekommen zu sein, obgleich die beiden Jungen, welchen zur Feier des Tages gestattet war mit den Erwachsenen zusammen zu diniren, eine solche Zungenfertigkeit entwickelten, daß keine andere Person am Tische recht zu Worte kommen konnte. Aber endlich kam doch die Stunde, wo die Jungen ihre üblichen Zubettgehe-Vorbereitungen nicht weiter in die Länge ziehen konnten. Einmal hatten sie ihre Eltern und deren Gäste bereits geküßt, weil sich das ja von selbst verstand, dann zum zweiten Male, um sicher zu sein, daß sie es auch gethan hatten, und endlich zum dritten Mal, um sich zu vergewissern, daß sie auch wirklich niemand vergessen hatten. Dann wurden sie die Treppe hinauf und zu Bett gebracht, aber auch von oben her unterbrachen sie die Gespräche der Erwachsenen wiederholt durch laute Zurufe, Anliegen und Fragen. Als dann ihr Vater sich endlich nach oben bemühte, um ihre letzte Frage zu beantworten, fand er beide Jungen im festen Schlaf.
Jetzt widmeten sich die Erwachsenen einander mit der Herzlichkeit vertrauter Freunde, die lange getrennt gewesen sind. Sie sprachen über dieses und jenes, was in der Welt passiert war, und bedauerten, daß so manches nicht Ereignis geworden war, was sich von Rechtswegen hätte zutragen müssen, wenn gewisse Leute ihre vernünftigen Ansichten besäßen. Sie sangen, spielten, kritisierten Bücher, besprachen Gemälde und allerlei Modeartikel, bis schließlich Frau Lawrence die ganze Unterhaltung dadurch auf ein anderes Gebiet lenkte, daß sie ihrer Schwägerin versprach, den auf spezielle Veranstaltung der Jungen von Terry zerbrochenen Stuhl ersetzen zu wollen.
»Das laß nur bleiben«, erwiderte Frau Burton, »und sorge lieber dafür, daß die lieben kleinen Schelme derartige Possen nicht etwa Leuten spielen, die sie nicht so lieb haben. Ich verzeihe ihnen von Herzen.«
Du glaubst doch nicht etwa, daß sie wußten, was daraus entstehen würde, als sie Terry an den Stuhl banden?« fragte Frau Lawrence.
»Gott bewahre!« rief Frau Burton eifrig. »Aber sie haben es doch nun einmal gethan, und es hätte doch ebenso gut irgend wo anders passieren können, bei Leuten, die sie nicht so lieb haben; und was hätten die wohl gedacht?«
»Sie meint, daß fremde Leute deine Jungen für ein paar ungezogene Rangen gehalten haben würden, Helene«, erläuterte Herr Burton die Antwort seiner Frau.
»Fremde Leute können anderer Leute Kinder überhaupt nicht beurteilen«, erwiderte Frau Lawrence mit beträchtlicher Würde. »Deshalb sollen sie sich auch nicht um sie bekümmern und keine Ansichten über sie äußern. Sie beurteilen die Kinder nicht nach dem, was sie sind, sondern darnach, ob sie sich hübsch ruhig verhalten oder Lärm machen. Man findet ja auch sogenannte Musterkinder, die nie dumme Streiche machen, nie einen Gegenstand von seinem Platze fortrücken, aber das sind schwächliche blutleere Wesen, oder gar Idioten – arme bedauernswerte Geschöpfe. Wie viel Gutes und Liebes bleibt ungethan, was diese hilflosen, beinahe seelenlosen Wesen eigentlich thun sollten, und niemals thun. Aber daran denkt niemand.«
»Da hast du die Bescheerung, Alice!« sagte Herr Burton zu seiner Frau. Wahrlich, es ist angenehmer, einer Bärin zu begegnen, der ihre Jungen geraubt sind, als einer Mutter, deren Kinder von unberufener Seite getadelt werden.«
»So?« rief Frau Burton. »Wer war es denn, der meiner harmlosen Bemerkung den verletzenden Sinn unterschob, der jede Mutter erbittern muß. Außerdem hast du die Sache durch eine falsch citierte Bibelstelle noch verschlimmert. Wenn ich nicht irre, vergleicht das Sprichwort die Bärin und ihre Jungen mit einem Narren und seiner Narrheit. Willst du solche beleidigende Vergleiche etwa auf deine Schwester und ihre Kinder anwenden?«
Aber der größte Aufwand von Beredsamkeit hätte Frau Lawrence nicht darüber hinweggetäuscht, daß in den sorgsam abgewogenen Worten ihrer Schwägerin ein versteckter Vorwurf für sie enthalten war, deshalb sagte sie etwas erregt:
»Es thut mir herzlich leid, daß die Kinder bei dir untergebracht werden mußten, aber ich wußte nichts Besseres mit ihnen anzufangen. Ich wollte, Tom hätte die ganze Zeit über zu Hause bleiben und sich ihrer annehmen können. Sollten wir – Tom und ich – einmal vorzeitig sterben, so wünschte ich aufrichtig, daß die Kinder uns gleich nachfolgen könnten, denn nichts ist so schrecklich wie der Gedanke, daß sie von anderen Leuten beständig mißverstanden werden könnten, und daß ihre treuen, kleinen Herzen verhärten und verstocken müßten, weil man ihnen nicht mit Geduld und Liebe begegnet.«
»Aber Helene,« rief Frau Burton ihren Sitz wechselnd und eine Hand ihrer Schwägerin ergreifend, »ich würde gern den Augenblick für sie sterben, wenn ihnen das was nützen könnte.«
»Ich weiß das, liebste Schwägerin,« sagte Frau Lawrence, die sich wieder beruhigt hatte und sich ihrer leidenschaftlichen Erregung von vorhin etwas schämte, »aber jetzt kannst du das alles noch nicht so recht verstehen – später vielleicht. Niemand hat so viel Verdruß von den Kindern, wie ich, aber das ist nicht ihre Schuld. Ich weiß das und kann's deshalb aushalten – aber niemand anders. Es wäre deshalb thöricht von mir, wenn ich Leuten Vorwürfe machen wollte, die sich über die Streiche der Jungen ärgern, die in der That ärgerlich sind.«
»Was fängt man denn am besten mit solchen Jungen an?« fragte Frau Burton.
»Man behält sie am besten zu Hause,« antwortete ihre Schwägerin, »damit sie beständig von Vater oder Mutter beaufsichtigt werden und zwar solange, bis sie so alt sind, daß man sich auf sie verlassen kann. Freilich darf dieser Zeitpunkt nicht von der Ungeduld ihrer Eltern oder Erzieher festgesetzt werden, sondern von der Entwickelung der Kinder selbst.
»Werde nicht bange, Alice,« sagte Tom. »Meine Frau vertrat derartige Grundsätze bereits, als sie noch gar keine Kinder hatte – sie sind ganz allgemein zu nehmen.«
»Jedenfalls sind sie nicht das Resultat der angenehmen Erfahrungen, die meine Kinder bei der besten aller Tanten und bei dem besten Onkel der Welt gemacht haben,« sagte Helene, die Hand ihrer Schwägerin liebkosend. »Wenn ihr hören könntet, wie die Kinder mit vollen Backen euer Lob blasen, so würdet ihr unerträglich eitel werden und euch einbilden, Waisenhäuser beaufsichtigen zu können.«
»Um Himmelswillen nicht!« rief Frau Burton entsetzt, was zu Folge hatte, daß Helene ihr die Hand zum Teil wieder entzog. »Da sind nur zwei Kinder in der Familie –«
»Drei,« berichtigte Frau Lawrence prompt.
»Bitte um Entschuldigung. Natürlich drei!« rief Frau Burton. »Da sind also nur drei Kinder in der Familie, und das sind nicht genug, um ein Kinderasyl mit ihnen zu gründen und ich verspüre nicht die geringste Neigung, für Kinder zu sorgen, die ich nicht kenne und deshalb nicht lieb habe.«
»Wie ist es möglich, daß jemand in kurzer Zeit so viel lernen kann?« fragte Tom Lawrence scherzend. »Harry, mein Junge, ich muß dir gratulieren.«
»Weil er mich so gut erzogen hat?« fragte Frau Burton mit künstlichem Schmollen.
»Nein, der seltenen Weisheit wegen, mit welcher er sich eine Frau erwählte oder auch der besonderen Gunst wegen, die der himmlische Heiratsvermittler ihm zuwandte.«
»Harry hat mich überhaupt nicht gewählt,« antwortete Frau Burton, »das that Willi für ihn; deshalb muß die Partie wohl im Himmel beschlossen worden sein. Aber darf ich denn nicht wissen, welche Kenntnisse ich so unverhofft erworben habe? Wenn es unter den Erfahrungen, die ich mit den Kindern machte, solche giebt, deretwegen ich mich nicht gedemütigt zu fühlen brauche, so möchte ich herzlich gern etwas Näheres darüber wissen. Bereits eine Stunde nach ihrer Ankunft war ich im Thal der Demütigung angelangt und bin seitdem eigentlich noch gar nicht wieder herausgekommen.«
»Wenn ich nicht befürchten müßte, für einen aufdringlichen Moralprediger gehalten zu werden, so würde ich behaupten, daß man im Thal der Demütigungen sehr wertvolle Entdeckungen machen kann. Aber – ohne zu predigen – du hast in der That eine seltene Entdeckung gemacht, als du dir klar darüber wurdest, daß man Kinder erst lenken kann, wenn man sie lieb gewonnen hat; selbst ein Herz voller Liebe hat ein gut Teil Kummer zu tragen, weil es irrt und fehlt.«
»Gar nicht zu reden von der Thatsache, daß Kummer und Liebe den väterlichen Haarwuchs bedenklich zu lichten pflegen« ergänzte Herr Burton.
»Derartige persönliche Anspielungen sind unstatthaft, bis ich das Alter von 60 Jahren erreicht haben werde,« bemerkte Tom trocken.
»Ich habe gelernt, daß man bei Kindern ohne herzliche Liebe nichts erreicht,« sagte Frau Burton, »aber ich sehe, offen gestanden, nicht ein, daß diese Liebe es notwendig macht, daß wir uns von den Kindern hinteres Licht führen, für Nullen ansehen oder auf der Nase herumspielen lassen und uns so der Autorität im eigenen Hause begeben; das wäre in der That ...«
»Da hast du wieder was angerichtet!« flüsterte Herr Burton seiner Frau zu, während Frau Lawrence vor Unwillen errötend mit mütterlicher Würde antwortete:
»Verzichtet denn unser aller Vater auf seine Autorität, wenn er uns in unserem kindischen Thun und Treiben gewähren läßt, weil wir in unserer Herzenseinfalt nicht anders handeln können? Jedes Zugeständnis seinerseits aber wird fortschreitende Erkenntnis auf Seiten seiner Kinder zur Folge haben, wenn dieselben redlichen Herzens sind, sind sie das aber nicht, so werden ihnen, so scheint es mir, überhaupt keine Zugeständnisse gemacht. Aber meine Kinder sind wahr und aufrichtig.«
Frau Burton wollte eben etwas erwidern, als ihr Mann ihr zuflüsterte: »Laß doch!«
Einige Augenblicke herrschte Stillschweigen, dann aber fragte Frau Burton dennoch:
»Woran läßt sich denn erkennen, ob man von den Kindern hintergangen wird? Du kannst doch die drolligen kleinen Geschöpfe nicht nach demselben Moralcodex beurteilen, wie das Thun und Treiben der Erwachsenen.«
»Ist denn das etwas so besonders Schreckliches, wenn man von einem Kinde hintergangen wird?« fragte Tom. »Sind wir denn stets aufrichtig gegen Kinder? Geben wir ihnen nicht oft ausweichende Antworten, willkürliche Befehle, unfreundlichen Bescheid, nur um uns eine kleine Mühe oder etwas Nachdenken zu ersparen?«
»Aber Tom!« rief Frau Burton. »Sicherlich, das habe ich nie gethan!«
»Weshalb bist du denn so empfindlich?« flüsterte ihr Mann. »Wenn du fortfährst, immer gleich eine Verteidigungs-Stellung einzunehmen, sobald Tom eine kritische Bemerkung macht, so wird er argwöhnen, daß du lieblos gegen die Kinder gewesen bist.«
»Das hat nichts zu sagen,« sagte Tom lachend.
»Bedenke nur, Harry, daß sie bereits ein halbes Jahr damit beschäftigt war, einen besseren Menschen aus dir zu machen, ehe die Jungen sie besuchten, und trotzdem bist du noch am Leben,« sagte Helene.
»Aber – ernsthaft gesprochen, Tom – du willst damit doch jedenfalls nicht sagen, daß es verkehrt ist, Kinder zum Gehorsam zu erziehen und sie an der Ausführung der dummen Streiche zu hindern, mit denen sie älteren Leuten Verdruß bereiten?« fragte Frau Burton.
»Gewiß sollen sie zum Gehorsam erzogen werden,« erwiderte Tom. »Wenn sie aber gleichzeitig die Ueberzeugung gewinnen – und im allgemeinen können sie gar nicht anders – daß sie mehr im Interesse der älteren Leute als zu ihrem eigenen Besten gehorchen müssen, dann wäre es mir lieber, sie lernten gar nicht gehorchen.«
»Ich habe immer gehorchen müssen,« erklärte Frau Burton, welche die häufiger vorkommende, aber stets unbewußte Eigenheit besaß, persönliche Erfahrungen als unwiderlegliche Beweise und Beispiele anzuführen.
»Findest du, daß sie diese Gewohnheit in alter Stärke bewahrt hat, Harry?« fragte sein Schwager.
»Ob ich das finde?« rief der junge Ehemann mit tragikomischer Miene. »Könnte ich dir die Schrecken meiner häuslichen Gefangenschaft entschleiern, so würdest du erkennen, daß es nicht das Kleider tragende Mitglied der Familie Burton ist, welches sich zum Gehorsam bequemt.«
»Sicherlich nicht,« bestätigte seine Frau. »Hat er auch nicht versprochen, daß mir das Regiment zufallen soll? Soll ich meine übernommenen Herrscherpflichten etwa vernachlässigen? Ich habe meinen Eltern gehorcht.«
»Und hast natürlich nicht daran gezweifelt, daß ihre Befehle weise, notwendig und segenbringend waren?« fragte ihr Schwager.
»Tom, Tom!« rief Helene warnend. »Wenn du willst, daß Alice nicht schlecht von anderer Leute Kindern redet, so achte auf das, was du von anderer Leute Eltern sprichst. Spiele nur nicht den Großinquisitor!«
»Sei unbesorgt!« sagte Tom rasch. »Ich möchte mir aber für kurze Zeit etwas weibliche Neugier borgen und sie in diesem speziellen Falle auch befriedigt sehen.«
»Ich glaube nicht, daß mir die Weisheit der Befehle meiner Eltern immer einleuchtete,« sagte Frau Burton. »Aber wie war das auch möglich? Ich war ja noch ein Kind.«
»Uebtest du den schweigenden Gehorsam – aus Ueberzeugung sowohl als durch die That – als du zur Jungfrau herangewachsen warst?« forschte Herr Burton weiter.
»Nein, das that ich nicht,« rief Frau Burton. »Aber wie kann ein Kind die Sorgen und Mühen der Eltern besser vergelten als dadurch, daß es sich den Wünschen derselben anbequemt, auch dann, wenn dieselben mit ihren eigenen nicht übereinstimmen.«
»Gut gesagt!« rief Harry. »Und was kann ein Ehemann, der sich des rechten Weges bewußt ist, seiner Ehehälfte zu Liebe besseres thun, als daß er sich den Wünschen derselben demütig fügt, und wenn ihre Ansichten auch noch so verkehrt sind?«
»Er kann Vernunft annehmen und braucht kein eingebildeter Tropf zu sein!« rief Frau Burton eifrig. »Auch hatte er durchaus nicht nötig, seinem Schwager in die Rede zu fallen, der sich gerade herbeiließ, aus der Fülle seiner Weisheit zu spenden.«
»O, danke vielmals, danke sehr!« rief Tom. Ich hoffe, daß diese Ironie meinen Witz etwas schärft, denn du hast mich auf mein Steckenpferd gesetzt, und jetzt muß ich es reiten, bis ich müde bin.«
»Sei nicht albern, Tom!« warnte seine Frau.
»Ich will's versuchen«, antwortete Tom, »aber man kann auf dieser Welt keine unliebsamen Wahrheiten sagen, ohne ein Narr zu sein, oder wenigstens als solcher verschrieen zu werden.«
»Tom soll sagen, was er auf dem Herzen hat; ich befehle es jetzt!« sagte Frau Burton.
Ein Lächeln ihrer Schwägerin ließ erraten, daß sie den Herzensergüssen ihres Mannes mit freudiger Erwartung entgegensah. Herr Burton aber fuhr fort:
»Kinder – jedenfalls neunundneunzig Prozent von denen, die ich gesehen habe – werden von ihren Eltern wie notwendige Uebel behandelt. Die guten Väter und Mütter würden sich entsetzen, wenn man sie über diese Thatsache aufklärte. Wenn sich ihnen die Erkenntnis derselben aber gelegentlich von selbst aufdrängt, was ja bei Leuten von gesunder Vernunft und gesundem Gefühl häufiger vorkommt, so ist ihnen dieselbe so unangenehm und verwirrend, daß sie sich mit Sitte und Herkommen zu entschuldigen suchen. Wurden sie etwa nicht genau so erzogen? Man findet da wieder einmal die alte Lehre bestätigt, daß aus den früheren Sklaven der grausamste Aufseher und aus dem früheren Knechte der schlechteste Herr wird; aber solche Vergleiche verletzen unseren Stolz und wo bleibt die Selbstachtung, wenn unser Stolz so gedemütigt wird?«
»Die arme sündige Menschheit!« seufzte Harry. »Du wirst jetzt bald auf den Sündenfall zu sprechen kommen, Tom. Nicht wahr?«
»Sei unbesorgt,« erwiderte Herr Lawrence lächelnd, es ist der Fall anderer Leute, der mir Kummer macht, außerdem ihre Geneigtheit, liegen zu bleiben, wenn sie gefallen sind, besonders ist's die Gemütsruhe, mit welcher sie ruhig daliegen und die armen Kinder erdrücken, die nichts dafür können, daß sie unter ihnen liegen. Adam war so vernünftig, sich in seine frühere ehrenvolle Stellung zurückzuwünschen, aber die meisten Eltern haben nie eine bessere Stellung kennen gelernt, an die sie mit Sehnsucht zurückdenken könnten, und es giebt nur wenige unter ihnen, die sich erinnern können, daß irgend ein Mitglied ihrer respektiven Familien jemals eine derartige Stellung innegehabt hat.«
»Aber was muß denn nun derjenige thun, der dem dir vorschwebenden Ideal eines Kindererziehers nachstreben möchte?« fragte Frau Burton. »Muß er jede Ungezogenheit der Kinder ungestraft hingehen und sich jeden Possen von ihnen spielen lassen? Muß er der Beherrschte sein anstatt zu herrschen?«
»O nein!« erwiderte Tom. »Er hat eine noch weit schwierigere Aufgabe zu lösen; er muß für die Kinder leben statt für sich selbst.«
»Und sich alle gemütlichen Stunden vergällen und alle Pläne durchkreuzen lassen?« fragte Frau Burton.
»Jawohl,« antwortete Tom, »es sei denn, daß sie in der That von größerem Wert sind als Leben und Charakterentwicklung der Kinder. Du kamst mit deiner letzten Bemerkung auf den Kernpunkt der Sache zu sprechen, wenn du den für dich allein mal eingehend studierst, so wirst du mehr dabei lernen, als ich dir sagen kann und noch dazu in weit angenehmerer Weise.«
»Ich habe keine Lust zu solchen Privatstudien, wenn ich meine Belehrungen bequemer aus zweiter Hand schöpfen kann,« sagte Frau Burton.
»Also vorwärts, Tom! Lasse dein Licht weiter leuchten als klassischer Wegweiser auf dem Gebiete der Kindererziehung! Wir wollen versuchen, uns ein Ohr zu verstopfen, damit deine Weisheit nicht zu einem Ohr hinein und zum andern wieder hinausgeht.«
»Ich möchte nur noch sagen,« fuhr Tom fort, »daß gerade diese Pläne und gemütlichen Stunden, die, wie Alice sagt, von den Kindern vereitelt werden, Schuld daran sind, daß die heranwachsenden Generationen verkümmern. Das Kind sollte belehrt werden, statt dessen hört es nur Vorwürfe; es sollte ermutigt werden, Wesen und Bedeutung aller jener Dinge kennen zu lernen, die in jedem neuen Jahr unvermeidlich an es herantreten, statt dessen lernt es nur zu bald, daß Kinderfragen ebenso unwillkommen sind wie Steuereintreiber und Zahlungsbefehle. Und es ist erstaunlich, wie wenig dazu gehört, ein Kind so zu gewöhnen, daß es verschlossen und in sich gekehrt jede Gesellschaft meidet, die nicht nachsichtig mit ihm verfährt.«
»Um deine Sprößlinge brauchst du dir in dieser Beziehung keine Sorgen zu machen, Tom,« erklärte Herr Burton. »Ich könnte eine ganz hübsche Summe wetten, daß sie stets den Mut ihrer Wißbegier gehabt und nach allem gefragt haben, was sie zu wissen wünschten.«
»Sie sind ganz unermüdlich im Fragen«, sagte Frau Burton. »Das soll natürlich kein Vorwurf für die kleinen Lieblinge sein«
»Ich freue mich darüber,« erklärte Tom, aber ich hoffe, daß sie nie wieder in die Lage kommen werden, sich bei jemand anders als bei ihren Eltern Auskunft holen zu müssen.«
»Aber Tom, wie kannst du nur so sprechen?« sagte Frau Burton vorwurfsvoll. »Ich glaube nicht, daß ich ihnen je eine Antwort schuldig geblieben bin oder ihnen unfreundlich geantwortet habe.«
»Davon bin ich überzeugt,« antwortete Tom. »Aber du bestätigst die Regel als Ausnahme – entschuldige diese banale Redensart – und ich habe die Richtigkeit dieser Regel so lange angezweifelt, bis du in die Familie kamst; eine weitere Ausnahme habe ich noch nicht kennen gelernt.«
»Darf ich wohl ganz bescheiden daran erinnern, daß ein gewisser Schwager schon lange existierte, ehe die Jungen eine Tante Alice hatten?« scherzte Herr Burton.
»Gewiß,« erwiderte Tom, »aber der wurde für seine geringen Dienste bereits so großartig belohnt, daß er füglich unerwähnt bleiben konnte.«
In Anerkennung des ihr vom Schwager gemachten Komplimentes nickte Frau Burton beifällig und fragte dann:
»Aber glaubst du wirklich, daß allen Fragen der Kinder Wißbegier zu Grunde liegt? Sollten sie nicht häufig Fragen stellen, weil sie eben nichts Besseres zu thun wissen, oder weil sie die Befolgung irgend eines Befehles dadurch hinauszuschieben wünschen, oder auch weil – weil – ?«
»Oder rein zum Zeitvertreib, will sie sagen, Tom,« ergänzte Herr Burton.
»Das ist schon möglich,« antwortete Tom, »aber es kommt auf die Antworten an, einerlei, aus welchen Gründen die Fragen gestellt werden.«
»Welch sonderbare Idee!« rief Frau Burton erstaunt. »Bist du nicht bange, über das Ziel hinauszuschießen?«
»Das fürchte ich nicht,« antwortete Tom gleichmütig, »aber vielleicht wird es mir gelingen, mich deutlicher auszudrücken. Besuchst du die Kirche?«
»Regelmäßig jeden Sonntag,« – antwortete Frau Burton prompt.
»Und natürlich stets mit den andächtigsten Empfindungen. Du ertappst dich wohl nie darüber, daß dein Geist sich mit eitlen Fragen abmüht oder von vorwitzigen Zweifeln gequält wird – daß dir die innere Sammlung fehlt oder deine Gedanken sich im Kreise jagend wieder zu ihrem Ausgangspunkt zurückkehren ohne Zweck und Ziel?«
»Wie gut du die Qualen eines ruhelosen Gemütes zu kennen scheinst, Tom!« rief Frau Burton verwundert. »Hoffentlich hast du sie nicht aus eigner Erfahrung kennen gelernt?«
»Ich wollte, ich hätte das nicht,« erwiderte Tom. »Aber ich setze den Fall, daß du das Gotteshaus doch zuweilen in ähnlicher Gemütsstimmung betratest, und frage dich: hast du denn beim Anhören der Predigt nie deine Gemütsruhe wiedergefunden, nie die häufig vorkommende Erfahrung gemacht, daß der Geist gerade in solchen Augenblicken der Schwachheit, Unentschlossenheit, inneren Leere und Ratlosigkeit, oder wie du diese Geistesverfassung nennen willst, außerordentlich empfänglich für alles wirklich Wertvolle ist, was sich ihm darbietet?«
Frau Burton überlegte und gab ihre Zustimmung durch Stillschweigen zu erkennen; aber sie war mit dieser Erklärung offenbar nicht ganz zufrieden, denn sie fragte von neuem:
»Du glaubst also, daß Kinder sich stets so benehmen, wie sie sollen, daß sie nur himmlischer Eingebung folgend ihre Fragen stellen und daß jede Arglist ihnen fernliegt?«
»Auch Kinder sind Menschen und menschlicher Schwachheit voll«, antwortete Tom »aber alle erwachsenen Leute – die Anwesenden natürlich ausgenommen – sollten aus Erfahrung wissen, wie wenig böser Wille in den lästigsten Kindern steckt. Allerdings ahmen die Kinder die Fehler älterer Leute nach und erben – es schmerzt mich, es sagen zu müssen – die Schwächen ihrer Vorfahren, aber trotzdem wird jeder Beobachter der Kinder, welcher sich selbstlos dem Wohle derselben widmet, darüber staunen müssen, daß sie so wenig Fehler zu haben scheinen. Ich gestehe übrigens, daß salomonische Weisheit dazu gehört, um zu entscheiden, ob die Kinder aufrichtig sind oder mit Hintergedanken kommen.«
»Und kannst du uns mitteilen, woher die salomonische Weisheit zu diesem Zwecke beschafft werden kann?« fragte Frau Burton.
»Vermutlich aus derselben Quelle, aus welcher Salomo sie schöpfte, erwiderte Tom, »aus einem reinen, selbstlosen Herzen und aus dem Beistande des Allmächtigen, welcher die, so reines Herzens sind, schnell zu finden und ihnen zu helfen weiß. Da es aber viel bequemer ist, der Selbstsucht und ihrem Zwillings-Dämon, dem Argwohn zu vertrauen, so kann nur eine allgütige Vorsehung die Kinder vor Besserungsanstalten und Zuchthäusern bewahren.«
»Aber die Autorität der Erwachsenen – ihr Recht, unbedingten, schweigenden Gehorsam zu verlangen. –«
»Diese Autorität« unterbrach sie Tom mit ungewohnter Heftigkeit, »bedeutet die unseligste, unwürdigste Tyrannei, von welcher die Welt jemals heimgesucht wurde,« sie gab den alten Römern Gewalt über Leben und Tod ihrer Kinder und besudelte mehrere Blätter der heiligen Schrift mit häßlichen Schandflecken. Heute steht die Sache noch schlimmer, denn damals war diese Autorität hauptsächlich für die leibliche Wohlfahrt verhängnisvoll, aber jetzt, ich sage euch, fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten – entschuldige das freie Citat – fürchtet euch vielmehr vor denen, die Leib und Seele verderben können, in die Hölle! Du bist doch orthodox, so viel ich weiß.«
Frau Burton schauderte, aber ihr Glaube an die Rechte der Erwachsenen, den sie von einer langen Reihe von Vorfahren ererbt hatte, die bis zu Adam, oder, wenn die Gelehrten es vorziehen sollten, die unerfreuliche Kette der sündigen Menschen noch weiter zurück zu verfolgen, bis zur Urzelle zurückreichten, war stärker als ihr Entsetzen und wurde des letzteren in kurzer Zeit Herr.
»Erwachsene haben also keine Rechte, die von den Kindern respektiert werden müssen?« fragte sie.
»O doch, sie haben das Recht, wieder gut zu machen, was bei ihrer eigenen Erziehung gesündigt wurde, und zwar gut zu machen zum Wohle derjenigen Geschöpfe, für deren Dasein sie allein verantwortlich sind. Kannst du dir ein größeres Verbrechen denken, als eine Seele ohne ihren Wunsch und Willen ins Leben zu rufen und sie sich dann zum Sklaven zu machen statt zum Freunde?«
»Um Himmelswillen, Tom! Du fängst an fürchterlich zu werden!« rief Frau Burton. »Man sollte meinen, daß alle Eltern ein Haufen gottgewollte Ungeheuer sind!«
»Sie sind etwas Schlimmeres als das,« erwiderte Tom, »sie sind gedankenlose Leute voll Selbstgerechtigkeit, die in dem Ruf der Ehrbarkeit stehen. Wirklich schlechte Subjekte werden bald abgefaßt und auf gesetzlichem Wege unschädlich gemacht, aber es sind gerade die ehrbaren, unbewußten Uebelthäter, die am meisten Elend und Herzeleid in die Welt bringen.«
»Und du würdest also vorschlagen,« fragte Alice weiter, »daß man sich den Kindern zu Gefallen lieber einem lebenslänglichen Martyrium widmet, als daß man sie so erzieht, wie man sie haben will?«
»Doch nicht,« antwortete Tom. »Ich würde vorschlagen, jeden Tag ein neues Leben anzufangen um zu lernen, was das Leben eigentlich sein soll. Dann werden die Kinder auch nach einem Ideal erzogen werden. Dieselben sind aber in meinen Augen weder ein notwendiges Uebel noch ein angenehmes Spielzeug, sondern ich beurteile sie nach dem, was sie einst sich selbst und der Welt sein werden, die so dringend guter Männer bedarf.«
»Und guter Frauen,« fügte Frau Burton hinzu. »Ich glaube, du hast dein Töchterchen ganz vergessen, du herzloser Bösewicht.«
»Ich bin mit deiner Verbesserung einverstanden,« sagte Tom, »aber ich möchte betonen, daß ich sie nicht selbst gemacht habe, denn die Welt hat schon mehr gute Frauen, als sie zu schätzen weiß.«
»Himmel! Was wird die arme kleine Maus für eine Menge Erziehungsversuche über sich ergehen lassen müssen!« rief Frau Burton. »Aber freilich, du nennst das ja nicht Erziehen, sondern Selbstaufopferung; du wirst voraussichtlich bereits im ersten Lebensjahre des süßen Geschöpfes den Rest deines Haarschmucks verlieren und um zehn Jahre altern.«
»Das sollte mich allerdings nicht wundern,« antwortete Tom mit so finsterm Gesichtsausdruck, daß die Heiterkeit, welche die Bemerkungen seiner Schwägerin erregt hatte, sich gleich wieder legte.
»Bester Schwager,« fragte jetzt Frau Burton »hast Du sonst noch etwas in petto?«
»Noch eins, und das ist positiv das letzte: Wir, die wir stark sind, sollen die Gebrechen der Schwachen ertragen und nicht nur an unser Vergnügen denken. Ich nehme wieder an, daß du orthodox bist.«
Herr und Frau Burton blickten gerade sehr ernst drein, da ertönte plötzlich der Ruf »Papa!« Tom sprang auf, seine Frau sah etwas ängstlich aus und das junge Ehepaar sah sich lächelnd an. Der Ruf wiederholte sich diesmal lauter, und als Tom die Thür öffnete, kam eine kleine weiß gekleidete Gestalt zum Vorschein.
»Papa, ich kann nich' einschlafen,« klagte Willi, seine Augen einen Augenblick vor dem Lichte schützend. »Ich habe dich so lange nich' gesehen, daß ich auf deinem Schoß sitzen muß, bis ich einschlafen kann.«
»Komm zu deiner Tante, Willi,« sagte Frau Burton. »Dein armer Papa ist ganz müde. Du kannst dir gar keinen Begriff von der sauren Arbeit machen, mit welcher er sich schon eine ganze Stunde abgemüht hat.«
»Papa sagt, es ist eine Erholung für ihn, mich auf den Schoß zu nehmen,« erwiderte Willi, seinen Vater umarmend, während die Burtons stillvergnügt zuschauten.
Da rief auf einmal eine andere Stimme auf dem Korridor »Papa!« Papa!«
Abermals eilte Tom an die Thür, diesesmal mit Willi auf dem Arm, und als er die Thür öffnete, kam Toddi auf Händen und Knieen hereingebrochen.
»Das alte Bett war ganz leer, bloß ich war noch drin,« erklärte er sein unerwartetes Erscheinen, »un' da bin ich die Treppe untergekrochen, weil ich nich' länger einsam sein wollte, un' ich bin auch ganz leer un' möchte was essen.«
Seine Mutter ging in das Speisezimmer und kehrte mit einem Stückchen leichten Kuchen zurück.
»Da sind alle meine guten Lehren vergeblich gewesen!« seufzte Frau Burton. »Was habe ich mir nicht für unendliche Mühe gegeben, die Kinder darüber aufzuklären, daß es schädlich ist, zwischen den Mahlzeiten zu essen, besonders Kuchen!«
»Schade, daß deine Bemühungen stets damit endeten, daß du sie alles essen ließest!« spottete Herr Burton.
»Das Essen zwischen den Mahlzeiten,« sah sich Herr Lawrence zu bemerken veranlaßt, »ist das kleinere von zwei Übeln, wenn ein kleiner Junge mit verstauchtem Knöchel bei schmaler Kost im Bette gehalten wird. Jetzt komme ich beinahe auf mein altes Thema zurück. Weißt du denn nicht, daß die meisten Ungezogenheiten der Kinder dadurch entstehen, daß man ihre körperliche Pflege vernachlässigt?«
»Um Himmelswillen, habe Mitleid mit mir!« rief Frau Burton. »Ich bin bereits fest überzeugt, daß ich von Kindern überhaupt gar nichts verstehe, und wenn du mir noch eine Vorlesung hältst, so werde ich völlig konfus und lerne gar nichts dabei.«
»Nimmst du denn Unterricht, Tante Alice?« fragte Toddi, der ein Wort der Unterhaltung aufgeschnappt hatte. »Aus was für'n Buch lernst du denn?«
»Aus einer Fibel«, erwiderte seine Tante, »aus dem allerersten kleinsten Abc-Buch.«
»Aber Tante, kannst du denn noch nich' lesen?« fragte Willi.
»O doch«, seufzte Frau Burton, »aber unser Wissen ist Stückwerk und obendrein vergänglich.«
»Aber die Liebe höret nimmer auf,« setzte Helene hinzu.
»Wenn du gern was wissen willst«, sagte Willi zu seiner Tante, »so frage nur meinen Papa. Von ihm kannst du alles lernen, was du wissen möchtest, und wenn du auch noch so schrecklich dumm bist.«
»Besten Dank für den Rat und das Kompliment!« erwiderte seine Tante. »Das letztere scheint mir sehr am Platze zu sein, denn ich bin in der That ganz konfus geworden. Ich hätte mir bis heute nie träumen lassen, wie weit man sich selbst verleugnen muß, um wenigstens etwas vorzustellen.«
Jetzt belegten die Kinder ihren Vater mit Beschlag und setzten sich jedes auf eins seiner Knie. Tom ließ sie reiten, plauderte leise mit ihnen und summte eine Melodie vor sich hin. Bald aber stimmte er mit lauter Stimme ein Lied an, und da dieses zufällig ein Rundgesang war, fiel sein Schwager mit ein, und da das Lied die Erinnerung an alte Freunde und froh verlebte Stunden weckte, so wurden die Stimmen lauter und lauter. Da konnten auch die Damen dem gegebenen Beispiele nicht widerstehen und sangen nach besten Kräften mit, bis sich endlich eine sehr dünne, schrille Stimme über ihnen hören ließ.
»Pst! Das Baby ist wach!« rief Frau Lawrence.
Eine Reihe weiterer Schreitöne erbrachten den unleugbaren Beweis, daß die Mama richtig vermutet hatte. Sie wollte eben instinktiv nach oben eilen, als sie von dem Arm ihres besorgt dreinschauenden Mannes zurückgehalten wurde. Frau Burton aber rief: »O, laß sie doch herunterbringen, liebste Helene, bitte!«
Jetzt wurde die Amme gerufen und erschien bald mit einem winzigen, aus Flanell, Leinen, einem rosigen Gesicht und rosigen Fingern bestehenden Bündel.
»Geben Sie sie mir!« bat Frau Burton und erhob sich, um das Kind in Empfang zu nehmen, aber dieses ließ ein deutliches »A–h« hören und wurde alsbald von seiner Mutter auf den Arm genommen. Dann bemühte sich das Baby nach Kräften, sich am Busen der Mutter zu verstecken und die Mutter suchte ihm das so viel wie möglich zu erleichtern. Als sich dabei ganz zufällig ein kleines, rosiges Füßchen aus seiner Hülle hervorstahl, rückte Frau Burton geschwind mit ihrem Stuhl näher heran und deckte das Füßchen mit beiden Händen zu, obgleich es viel zweckmäßiger und bei weitem nicht so umständlich gewesen wäre, daß Füßchen wieder unter die gewohnte Hülle zurückzuschieben. Dann mußten die Jungen näher an die Schwester herangesetzt werden, so daß sie dieselbe berühren und ihr Gefühlsäußerungen entlocken konnten. Dann machte Harry Burton die Entdeckung, daß er ganz weit ab von all den anderen saß und rückte er dann mit seinem Stuhl näher an die Familiengruppe heran, um nicht ungesellig zu sein. Das Ehepaar Lawrence begann dann allgemach sehr glücklich auszusehen, während das Ehepaar Burton immer feierlicher dreinschaute. Zuletzt fanden sich die Hände des letzteren unter den herabhängenden Hüllen des Babys und ihre Augen begegneten sich, und die Augen Frau Burtons waren voller Thränen und die ihres Mannes voller Zärtlichkeit. Dann brach Willi, welcher diese Vorgänge beobachtet hatte, das Schweigen mit den Worten:
»Tante Alice, weshalb weinst Du denn?«
Da sahen sich alle sehr verlegen an, bis Frau Lawrence sich über ihr Kind beugte und ihrer Schwägerin einen herzlichen Kuß gab. Bei diesem Geschehnis erhoben sich die beiden Männer plötzlich und Tom Lawrence fand Gelegenheit, Harry Burton mit einiger Feierlichkeit die Hand zu drücken. Dann gab das Baby den Bitten seiner Tante nach und ließ sich einen Augenblick von ihr halten, und den Herren wurde mitgeteilt, daß, falls sie zu rauchen wünschten, dies im Rauchzimmer zu geschehen habe, da die junge Mutter Zigarrenrauch noch nicht ertragen könne. Dann zogen sich die beiden Herren ins Rauchzimmer zurück und starrten sich über ihre Cigarren weg so verlegen an, als ob sie sich noch nie vorher gesehen hätten, aber die Damen plauderten so vertraut mit einander, als ob sie Zwillingsschwestern und noch nie von einander getrennt gewesen wären. Dann wurden die Jungen von den beiden Herren wieder zu Bett gebracht, und als die letzteren sich nach wiederholten Gutenacht-Küssen wieder zurückziehen wollten, fragte Toddi:
»Du Papa, Mama hat doch unser Schwesterkindchen nicht an Tante Alice verschenkt?«
»Nein, alter Bursche,« antwortete Tom.
»Schwesterkindchen soll weiter keiner haben als wir,« erklärte Willi. »Aber wenn es doch jemand anders kriegen soll, dann soll Tante Alice es haben. Weißt Du, ich glaube, sie betete zu ihm, sie machte grad' so'n Gesicht.«
Die Herren blinzelten einander zu und zum zweiten Mal drückte Tom seinem Schwager die Hand. Einige Monate später wurden die Besorgnisse der Jungen durch das Erscheinen eines kleinen weiblichen Gastes im Burton'schen Hause zum Schweigen gebracht. Derselbe that so, als ob er ganz zu bleiben gedächte und heilte Frau Burton im Laufe der Jahre von ihrem Wahn, daß Verwandte das Talent besäßen, anderer Leute Kinder zu erziehen.