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»Wir gehen heim
Wir gehen heim
Wir gehen heim
Und sterben dann nicht mehr«
sang Willi am nächsten Morgen im Kinderzimmer und wiederholte diese Worte immer wieder von neuem so viele Male, daß sie zuletzt Eindruck auf Toddi machten.
»Is das wahr, was du da singst, Willi?« fragte er.
»Was denn?«
»Na – das vom Sterben. Müssen denn kleine Jungen nich' sterben, wenn sie eine Zeitlang bei ihren Onkels un' Tanten gelebt haben?«
»Ach, natürlich müssen sie sterben, aber ich bin so glücklich un' darum muß ich singen. Der erste Teil is aber wahr, un' der is dreimal so lang wie der andere, un' ich kann an weiter nichts denken als daß wir nach Hause gehen.«
»Das is aber schade,« sagte Toddi. »Ich dachte, du sagtest die Wahrheit, dann braucht' ich mir im Grabe keinen Dreck auf die Augen werfen zu lassen, un' nachher kann ich dann nich' mehr in den Himmel raufsehen.«
»Da ärgere dich man nich' über«, sagte Willi. »Wenn du stirbst, geht deine Seele gleich in den Himmel un' dann kannst du mit deinen neuen Augen wunderschön von oben runtergucken und den alten Dreck auslachen, der sich einbildet, daß er deine Augen zuhalten kann.«
»Will gar keine neuen Augen,« erwiderte Toddi, »kann mit meinen Augen gut genug sehen.«
»Aber denk nur mal an, Toddi,« suchte ihn Willi zu überzeugen. »In die Himmels-Augen kann kein Schmutz hinein kommen, die brauchen auch nich' gewaschen zu werden, un' Rauch von Puff-puff-Lokotiven kann da auch nich' rein kommen.«
»Is das wahr?« fragte Toddi. »Kann der Rauch da oben im Himmel nich' in die Fenster vom Eisenbahnwagen hineinkommen.
»Gott bewahre«, antwortete Willi, »das kann nich passieren, wenn da oben alles ordentlich zugeht. Da giebts überhaupt keine Lokotiven, zu was haben denn die Engel auch Lokotiven nötig, die haben ja Flügel un' können fliegen.«
»O du! Ich möchte die Lokotiven ganz gern da oben haben, un' wenn ich auch tausend Flügel hätte,« entgegnete Toddi. »Das gäb' mal 'n Spaß, wenn ich durch alte heiße Tunnels fahrte un' könnte mich dann mit meinen Flügeln kühl wehen.«
»Heiß können die Tunnels im Himmel nich' sein,« belehrte ihn Willi, denn heiße Tunnels sind ungemütlich un' im Himmel giebt's nichts Ungemütliches. Ich glaube, da giebt's überhaupt gar keine Tunnels – oder warte mal! – Doch, ganz kleine werden da woll sein, grad' groß genug, daß kleine Jungens da rein- un' rausfahren können.«
»Aber du, wie kannst du denn da aus- un' einfahren, wenn da keine Lokotiven sind, die den Wagen ziehen?«
Willi überlegte und entgegnete endlich:
»Hör', ich will dir was sagen Toddi. Ich glaube, das is eins von den Dingen, wo die Bibel den Leuten nichts von erzählt. Du weißt doch, daß Papa immer sagt, es giebt 'ne Masse Dinge im Himmel, wo der liebe Gott die Menschen nichts von wissen läßt, un' ich glaube, dies is eins von den Dingen.«
»Du, ich wollte, es gäbe noch mehr Bibeln als eine«, sagte Toddi nachdenklich. »Es giebt so viele Sachen, wo ich gern über Bescheid wissen möchte.«
»Na, einerlei,« rief Willi, »wir gehen heute nach Hause un' das macht mich so voll, daß ich für das allerkleinste Stück Himmel keinen Platz mehr habe. Aber ich möchte wissen, wer uns abholt un' wann mir gehen un' alles das. Laß uns Onkel mal fragen!«
»Ja, komm!« rief Toddi. »Wie können wir aber in seine Kammer kommen, ohne Schelte zu kriegen! Ah, jetzt weiß ich's. Mach' schnell, daß ich's nicht wieder vergesse.«
Die beiden Kinder eilten nach der Familienkammer und trommelten mit Fäusten und Füßen gegen die Thür.
»Die Ouvertüre der Engel,« zitierte Herr Burton, »unwiderruflich letztes Auftreten.«
»Sprich nicht so,« schalt Frau Burton. »Ich habe im Traume darüber geweint und bin in der Stimmung, wieder anzufangen.«
»Und ich habe große Lust, die Jungen zum Weinen zu bringen,« antwortete der Hausherr erbost. »Kein Scheuern wird die Spuren ihrer Schuhnägel aus dem Thüranstrich herausbringen.«
»Laß sie nur nach Herzenslust dagegentreten,« sagte seine Frau wehmütig. »Kein derartiges Merkmal soll durch eine Scheuerbürste entweiht werden. Mir ist zu Mute, als müßte ich im ganzen Hause herumgehen und alles küssen, was sie berührt haben.«
»Dann küsse nur den Resonanzboden meiner Geige da, wo die unvergängliche Schramme von Toddis Schuhnagel sitzt und die Erinnerung an deinen letzten Geburtstag nachhält«, erklärte Herr Burton. »Da ist ferner ein wunderhübscher Fleck auf der Politur meines Schreibtisches, da wo Toddi eine Flasche violetter Tinte umwarf. Ich möchte nur, daß deine Küsse den Fleck vertilgen könnten, der nach dem Urteil des Möbeltischlers unvergänglich ist. Ferner findest du einige schmutzige Streifen auf der Tapete neben ihrem Bett, wo sie quer gelegen und den Kopf gegen die Tapete gerieben haben.«
»Die sollen da sitzen bleiben – für immer,« entschied seine Frau.
»Wirklich? In der guten Fremdenkammer?« fragte Herr Burton.
In Frau Burtons Zügen spiegelte sich ein heftiger, innerer Kampf.
»Die Möbel können ja umgestellt werden,« antwortete sie dann. Wir können auch einen Schirm davor stellen. Wir wollen jede andere Veränderung im Zimmer vornehmen, aber die teuren Spuren ihrer Anwesenheit sollen da bleiben.«
Leider fand keine dieser Aeußerungen zärtlicher Liebe ihren Weg durchs Schlüsselloch, um die Jungen zu beschämen und zur Ruhe zu bringen. Der Lärm wurde sogar noch ärger, bis Frau Burton endlich an die Thür eilte, und den Riegel zurückschob.
»Wir sind es!« war die überflüssige Erklärung, mit welcher sich Willi beim Oeffnen der Thür einführte. »Wir möchten nämlich gern wissen, wenn wir nach Hause gehen, un' wer uns abholt, un' wie un' was ihr uns zum Andenken schenken wollt. Aber an Blumen is uns nichts gelegen, die kriegen wir immer von Papa un' Mama, weil wir da 'ne ganze Masse von zu Hause haben.
»Obsttorte wäre das Netteste«, schlug Toddi vor, »da muß man gräßlich lange an denken. Als Mama Papa mal fragte, ob er noch an die Obsttorte bei Tante Birch dächte, da sah er ganz betrübt aus un sagte, die könnte er nie wieder vergessen. Sag doch mal Tante Alice, machst du auch was Extrafeines zu Mittag für den Besuch, der wieder weggeht? Mama thut's immer – Mama sagt, Leute, die auf Reisen gehen, müssen gut was zu essen haben.« (Die Entfernung zwischen Villa Burton und Villa Lawrence betrug etwa zehn Minuten.)
»Du sollst ein Abschiedsessen haben, lieber Toddi,« antwortete Frau Burton, »und zwar das allerbeste, was ich zubereiten kann.«
»Mach da nur ein Frühstück von,« schlug Toddi vor, »vielleicht sind wir heute Mittag schon zu Hause.«
»Du sollst nicht eher fort, bis du es verzehrt hast«, beruhigte ihn Frau Burton.
»Ich möchte wetten, daß Papa auch ein furchtbar gutes Mittagessen auf uns warten hat, wenn wir nach Hause kommen«, sagte Willi. »So hat es auch der Papa in der Bibel gemacht, un' der hatte doch nur einen einzigen Sohn, der nach Hause kam, un' der war noch dazu recht unartig gewesen.«
»Was ist das wieder für eine biblische Geschichte, die der Junge da zu Grunde richtet?« fragte seine Tante.
»Tante Alice weiß nicht wovon du sprichst«, sagte Herr Burton. »Erkläre dich 'mal deutlicher.«
»Sieh, ich meine den Jungen, dem sein Papa ein fettes Kalb zum Mittagessen braten ließ,« sagte Willi, daß das aber gerade so'n schönes Essen gewesen sein soll, versteh' ich eigentlich nich' so recht.«
»Die Geschichte wird immer dunkler,« seufzte Frau Burton.
»Erzähle uns die Geschichte genauer, alter Junge,« rief Herr Burton. Wir wissen immer noch nicht, was du meinst.«
»Aber so was!« rief Willi, maßlos erstaunt. »Gehört ihr denn zu den bösen Leuten, die ihre Bibeln nich' lesen? Ich dachte, jeder wüßte die Geschichte von dem Jungen. Na – das war so: Es war einmal ein Junge, der kam zu seinem Papa un' sagte, alles was sein Papa ihm noch schenken wollte, so lange er lebte, das solle er ihm nur alles auf einmal geben. Un' sein Papa that das. Sieh! das war mal 'n guter Papa! Da nahm der Junge das Geld und ging auf Reisen un' machte sich lustige Tage. In Tommy Bryants Mama ihrem Besuchszimmer – da hängt ein Bild von alle dem, aber ich finde nich', daß das gerade so lustig is. Da setzt er sich gerade hin un' 'ne ganze Menge Frauen sind um ihn rum un' thun so albern wie Gänse. Aber er mußte mal Geld bezahlen, wenn er Spaß haben wollte und dabei machte er so viel tolle Streiche, daß sein Geld bald alle war. Aber sag doch mal, Onkel Harry, weshalb hat denn nich' jeder so viel Geld, wie er braucht?«
»Das ist das große Preisrätsel der Welt,« antwortete Herr Burton, »Frage mich etwas Leichteres.«
»Wenn ich erst mal groß bin, dann hab' ich alles Geld, was ich brauche,« versicherte Toddi.
»Wo kriegst du denn das her?« fragte sein Onkel mit erklärlichem Interesse.
»O, dann bin ich recht brav un' bitte den lieben Gott darum,« antwortete Toddi. »Aber ich möchte wissen, wo der liebe Gott die vielen schönen Sachen aufbewahrt, die er den guten Menschen schenkt, wenn sie ihn darum bitten – Geld un' annere Sachen.«
»Natürlich im Himmel, du Schafskopp,« rief Willi.
»Hat er denn da 'ne Sparbank un' 'n Spielzeugladen?« fragte Toddi wieder.
»Pst – pst –« wisperte Frau Burton unwillkürlich.
»Er sagt nur offen heraus, was erwachsene Leute für sich behalten, liebe Frau,« nahm ihn Herr Burton in Schutz. »Erzähle jetzt weiter, Willi.«
»Gut. Also er hatte kein Geld mehr un' konnte seinen Papa auch nich' um Geld schreiben, denn da gab's keine Post im Lande. Da arbeitete er für einen anderen Mann, un' der ließ ihn seine Schweine füttern, un' er mußte dasselbe essen, was die Schweine fraßen. Ich weiß aber nich' ob er aus einem Troge aß oder nich'.«
»Das ist ja recht schade, daß du darüber im Zweifel bist,« sagte Herr Burton mit Bedauern.
»Der durfte doch auch im Dreck spielen, wie die Schweine, nich' wahr?« erkundigte sich Toddi. »Sein Papa war ja weit weg un' konnte ihn nich' schelten.«
»Ja, das durft' er wohl,« antwortete Willi, »aber ich glaube, wenn ein kleiner Junge mit den Schweinen zusammen essen muß, dann macht es ihm keinen Spaß, im Drecke zu spielen. Als er nun die Schweine lange Zeit gefüttert hatte, da fiel ihm auf einmal ein, daß es bei seinem Vater im Hause immer genug zu essen gab. Du, Onkel Harry, Jungens sind doch überall ganz gleich, nich' wahr?«
»Ich glaube wohl,« antwortete Herr Burton, »die anwesenden Jungen ausgenommen. Aber wie kommst du gerade jetzt zu der Frage?«
»Sieh, als er von den Schweinen nich' genug abkriegen konnte, um satt zu werden, da wollte er wieder nach Hause – un' mein Papa sagt, kleine Jungens, die nie zu finden sind, wenn ihre Mamas sie rufen, laufen immer geschwind nach Hause, wenn sie hungrig sind. Sieh, so hat's der Junge in dem fremden Lande auch gemacht. Papa sagt, es stände nich' in der Bibel, ob er seinem Herrn erst sagte, er solle sich 'n andern Schweinejungen nehmen, oder ob er ganz eilig durchgebrannt is. Na, einerlei – er kam bald nahe genug nach Hause, un' da hat er sich gewiß furchtbar geschämt un' hat sich hinten herumgeschlichen, denn auf dem Bilde in unserer dicken Bibel sind seine Kleider ganz zerrissen un' schmutzig. Er wußte ganz gewiß, daß er Schelte kriegte, deshalb wollte er gern durch die Hinterthür ins Haus un' nachher auf sein Zimmer schleichen, ohne daß ihn jemand sähe.«
»O Harry,« rief Frau Burton entsetzt, »das ist wirklich schrecklich – das ist Gotteslästerung.«
»Die Nutzanwendung allein macht diese biblische Erzählung zu einer heiligen, liebe Frau,« entgegnete Herr Burton, »und du kannst dich darauf verlassen, daß dieser Junge stets herausfindet, worauf es ankommt. Ich wollte, alle Gottesgelehrten besäßen nur die Hälfte seiner Findigkeit. Nur weiter, Willi!«
»Also er schlich sich heran, un' wenn er jemand kommen sah, den er kannte, dann versteckte er sich hinter Bäume und Hecken. Da auf einmal wurde er von seinem Papa gesehen. Ich glaube, Papas können überhaupt immer weiter sehen als andere Leute un' haben immer so 'ne Ahnung, wann ihre Jungens kommen un' dann sehen sie gerade so aus, als ob sie immer da gestanden un' auf sie gewartet hätten. Un' dem Schweinejungen sein Papa lief gleich ohne Hut aus dem Hause – so ist er auf dem Bilde in der Bibel – un' faßte un' küßte ihn un' umarmte ihn so fest, daß der Junge an zu weinen fing un –«
»Fragte er ihn nich', wo hast du dein Zeug so schmutzig gemacht?« fragte Toddi.
»Nein, bewahre,« antwortete Willi. »Un' der Schweinejunge sagte, er wäre ein unartiger Junge gewesen und wollte sein Mittagessen künftig lieber in der Küche essen. Aber das wollte sein Papa nich'. Er zog ihm reines Zeug an un' gab ihm ein Paar neue Schuhe un' steckte einen Ring an seinen Finger.«
»Ringe kann man nich' gut essen,« bemerkte Toddi nachdenklich. »Ich hab' mal einen übergeschluckt – ja, das hab' ich – un' der hatte gar keinen Geschmack. Un' da mußte ich alte, häßliche Medizin nehmen un' da kam der Ring heil wieder raus.«
»Er gab ihm den Ring doch nich' zu essen, dummer Junge,« rief Willi. »Weißt du, Ringe drücken den Finger immerzu un' dann wissen die Leute, daß die anderen Leute, die ihnen die Ringe gegeben haben, sie auch immer rundum drücken möchten.« Na – un' da schlachteten sie ein ganzes Kalb, denn der Schweinejunge war natürlich furchtbar hungrig, un' dann aßen sie wieder so gemütlich zusammen wie früher. Als aber der große Bruder von dem Schweinejungen hörte, daß sie alle so vergnügt waren, da wurde er ganz böse, denn er war immer ein artiger Junge gewesen un' für ihn war noch nich' mal so viel wie 'ne Theegesellschaft gegeben. Aber sein Papa sagte zu ihm: »O freue dich doch, wir haben ja deinen Bruder wieder gekriegt – da denk doch man an, mein Junge« Mir thuts aber doch gräßlich leid um den großen Bruder, ich weiß ganz gut, wie ihm zu Mut gewesen is, denn wenn Toddi mal unartig is, un' ich nich', da nimmt Papa Toddi gleich auf seinen Schoß un' erzählt ihm was un' küßt ihn, un' dann fühl ich mich ganz einsam un' möchte, ich wär' nich' 'n bischen artig gewesen.«
»Und was that denn wohl seine Mama, als sie ihn sah?« fragte Frau Burton.
»O«, erwiederte Willi, »ich glaube, sie sagte gar nichts un' sah ihn nur so betrübt an, daß er sich vornahm, sein ganzes Leben lang keine schlechten Streiche mehr zu machen. Un' nachher stellte er sich ganze halbe Stunden lang hinter ihren Stuhl und sah sie an, wenn sie es nich' merkte.«
»Und was ist wohl der Sinn der ganzen Geschichte, Willi?« fragte Frau Burton, fest entschlossen, ihrem Neffen wenigstens eine große Heilswahrheit einzuprägen.
»Die Geschichte bedeutet,« antwortete Willi, »daß gute Papas immer sehen können, ob ihre unartigen Jungen sich wirklich ordentlich schämen, un' daß es am besten is, wenn sie recht lieb gegen sie sind. Wenn aber Papa's das nich' wissen un' weiter nichts thun als schelten, da können sie lange lauern, da kommen ihre unartigen, kleinen Jungen gar nicht wieder nach Hause.«
Frau Burton war etwas bestürzt, und ihr Mann lachte innerlich über diese Schlußfolgerung. Auch Frau Burton fand ihren Gleichmut wieder und kam geschwind auf den Kernpunkt der Sache zurück.
»Meinst Du nicht, daß wir aus der Geschichte etwas vom lieben Gott lernen sollen?« fragte sie.
»O doch, natürlich,« antwortete Willi. »Gott is der beste von allen Papas un' hat seine unartigen Kinder noch lieber als alle anderen guten Papas.«
»Richtig, das sollen wir aus der Geschichte lernen,« sagte Frau Burton.
»Na – ich dachte, so viel wüßte doch woll jeder vom lieben Gott,« meinte Willi.
»Wenn das so wäre, dann hätte Jesus die Geschichte nie erzählt,« belehrte ihn seine Tante.
»Du, ich glaube, die alten Juden mußten sie hören,« rief Willi, »die waren so furchtbar häßlich gegen ihre Kinder un' glaubten, der liebe Gott würde ebenso häßlich gegen sie sein.«
»Auch heute noch muß man den Leuten die Geschichte erzählen, Willi,« belehrte ihn seine Tante. »Sie hören sie gern und wissen, wie gut der liebe Gott es mit ihnen meint.«
»Mögen sie denn das lieber hören, als daß sie lernen, wie nett sie gegen ihre eigenen Kinder sein sollen?« fragte Willi. »Dann bedanke ich mich vor ihnen. Gut, daß Papa un' Mama nich' so sind. Die sagen, das Geben macht mehr Freude als das Nehmen. Aber Onkel Harry, Du hast uns ja noch gar nich' erzählt, wann wir nach Hause gehen un' wer uns holt.«
»Euer Papa holt euch ab, wenn er aus der Stadt zurückkommt,« antwortete Herr Burton. »Wahrscheinlich wird er euch noch mancherlei mitzuteilen haben, ehe ihr nach Hause geht. Ihr Knirpse wißt noch gar nicht, wie ihr euch in Häusern zu verhalten habt, wo kranke Mama's und kleine Wickelkinder sind.«
»O doch, das wissen wir woll,« protestierte Willi. »Wir brauchen bloß still zu sitzen und sie anzugucken, so gut wir können.«
»Un' dann springen wir alle paar Minuten auf un' küssen sie,« sagte Toddi.
»O ja,« rief Willi, »un' streicheln ihnen die Wangen, un' stecken ihnen was Schönes zu essen in den Mund, wie es Papa un' Mama mit uns machen, wenn wir krank sind,« ergänzte Willi gleich darauf.
»Un' machen ihnen Musik vor,« meinte Toddi.
»Un' geben ihnen Pfennige,« erweiterte Willi das Programm.
»Un schütteln ihre Sparbüchse, daß die Pfennige klappern, so wie es Willi für mich that, als ich krank war un' meine Sparbüchse nich' schütteln konnte,« sagte Toddi, seinen Bruder ungestüm umarmend.
»Un' bringen ihnen hübsche Sandtorten, ganz fertig gebacken, so wie ich sie Willi mal brachte, auf dem Bett mit zu spielen, als er krank war,« fuhr Toddi fort.
»Un' dann kleben wir Bilder an die Wand,« fuhr Toddi unverdrossen fort. »Wir hatten ganze Zeitungen voll Bilder, un' die haben wir da oben in der Dachstube ausgeschnitten un' da steht auch 'ne ganze Flasche Leim –«
»O weh, meine Kriegsberichte in Frank Leslies illustrierter Zeitung,« rief Herr Burton wehmütig. »Wir haben sie die nur aufgestöbert? O dieses Liebeskreuz!«
»Ne ganze Flasche Leim in Papa's Zimmer, wo mir sie mit ankleben können,« nahm Toddi seine unterbrochene Rede wieder auf. »Un' Mama's Kammer is hübsch rosa, wie die Blätter in meinem Klebebuch, wo die Bilder so hübsch darauf aussehen.«
»O diese Vorstellungen der Kinder, wie sie sich angenehm und nützlich machen können, sind staunenerweckend!« rief Frau Burton, als die Jungen bei der Entdeckung des Rasir-Streichriemens ihres Onkels mit einer Ausziehe-Vorrichtung alles andere vergaßen.
»Jawohl,« seufzte Herr Burton, »und sie sind trotz ihrer guten Absichten damit ebenso sehr in Irrtum, wie gewisse erwachsene Leute mit ihren Plänen betreffs Kindererziehung, Weltverbesserung und recht vieler anderer Dinge.«
»Harry!« rief seine Frau in beleidigtem Ton.
»Es sollte keine persönliche Anspielung sein, liebe Frau,« erklärte Herr Burton rasch. »Daran hab' ich nicht im entferntesten gedacht. Beide, Erwachsene wie Kinder, haben die besten Absichten, der Unterschied ist nur der, daß die ersteren sich wundern, weshalb ihre Ideen keinen Anklang finden, während bei den Kindern die Bemühungen von Eltern und Lehrern darauf hinauslaufen, unklare Vorstellungen wie große Sünden zu behandeln. Wie viele Kinder dürften es wohl wagen, die Beglückungspläne, welche Willi und Toddi in der Unschuld ihrer lieben kleinen Herzen eben ersonnen haben, wirklich auszuführen, ohne daß sie für ihre guten Absichten gescholten oder gar geschlagen würden. Ich kenne sehr viele Kinder, aus denen alles gesunde Empfinden, alle Aufrichtigkeit und Herzensgüte herausgescholten und herausgeprügelt würde, bei denen nur die gemeinen Anlagen sich ungehindert entwickeln könnten und zwar aus dem Grunde, weil dieselben in der Jugend noch schlummern und nicht lästig werden!«
»Aber Harry, was für ein Prediger du bist – was für ein schrecklicher Prediger!« rief Frau Burton entsetzt.
»Und was ist Schreckliches daran?« fragte Herr Burton mit Zeichen jener Entrüstung, die jeder, der seiner Zeit mit seinen Ideen vorausgeeilt ist, häufig empfindet.
»Wie kannst du nur behaupten, daß Kindern so häufig derartiges Unrecht geschieht?« fragte seine Frau.
»Ach so, das Feststellen der Uebelstände ist natürlich schlimmer als die Uebelstände selbst,« antwortete Herr Burton mit spöttischer Lippe.
»Bitte sprich nicht in diesem häßlichen Ton,« bat seine Frau. »So liegt die Sache denn doch nicht, das sind ja Ausnahmen.«
Herr Burton beobachtete Stillschweigen und stellte das gute Einvernehmen dadurch wieder her, dann sah sich das Ehepaar unwillkürlich nach den Urhebern diese Debatte um, aber die Jungen waren verschwunden.
»Die Sturmglocke ihrer Seelen, die Mittags- oder vielmehr die Frühstücksglocke hat wahrscheinlich geläutet,« mutmaßte Herr Burton, »und ich bin selbst hungrig wie ein Bär. Laß uns hinuntergehen und sehen, was sie in den kurzen fünf Minuten alles angerichtet haben.
Das Ehepaar ging in's Speisezimmer, fand aber die Kinder nicht dort. Die Jungfer wurde deshalb ausgeschickt, sie zu suchen. Die Mahlzeit wurde langsam eingenommen, ohne daß die Kinder erschienen.
»Laß die Köchin nur noch ein Extragericht bereiten,« sagte Herr Burton, als er aufstand, um seinen Zug zu erreichen. »Der Appetit kleiner Jungen ist ein Kapital, das in kurzer Zeit schreckliche Wucherzinsen bringt.«
Frau Burton befolgte den Rat ihres Mannes und beschäftigte sich eine gute Stunde lang mit Haushaltungs-Angelegenheiten. Als sie aber dann erfuhr, daß die Jungen immer noch nicht zurückgekehrt seien, machte sie sich mit eigener Besorgnis auf den Weg, um sie zu suchen.
In der Annahme, daß sie von Ungeduld gepeinigt schnurstracks nach Hause geeilt sein könnten, ging sie zunächst nach der Villa ihrer Schwägerin und erkundigte sich bei dem treuen Michel nach den Kindern.
»Den Deuwel sind sie hier gewesen,« antwortete Michel. Wir haben uns die ganze Zeit halb blind danach geguckt. Na – hier herum stecken sie nirgends, da können Sie ruhig um' sein.
Ich bin bange, daß sie sich verirrt haben,« sagte Frau Burton ängstlich.
Michel brach in ein anhaltendes, wieherndes Gelächter aus, brachte sich aber durch allerlei Grimassen und Schlingbewegungen wieder in normale Verfassung.
»Entschuldigen die Madame, daß ich Sie auslache, aber bei der heiligen Jungfrau ...! ich kann mir nich' helfen. Wie können Sie nur denken, daß die Jungens sich verirren können? Die können sich ebenso wenig verirren wie'n Geist oder 'n Vogel. Wo die einmal gewesen sind, da finden sie sich zurecht, un' wo sie noch nich' gewesen sind, da kennen sie sich auch schon aus. Sparen Sie sich die Angst bis zur Essenszeit un' glauben Sie sicher, zum Essen sind sie da!«
Damit brach Michel von neuem in Gelächter aus und eilte in den Stall um es zu verheimlichen, während Frau Burton beinahe ganz beruhigt nach Hause zurückkehrte.
Die Frühstückszeit kam jedoch heran, ohne daß die Kinder an der Tafel erschienen. Frau Burtons Besorgnisse stellten sich in verstärktem Maße wieder ein, und sie eilte wiederum zu Michel und beschwor ihn, die Kinder zu suchen.
Beim Anblick mehrerer Landstreicher von unheimlichen Aussehen fiel ihr die Geschichte eines geraubten Kindes ein und ihre Augen füllten sich mit Thränen. Selbst der skeptische Michel wurde sichtlich unruhig, als er hörte, daß die Kinder den ganzen Tag noch nichts gegessen hätten, und in großer Eile machte er sich beritten.
»Wo willst du zuerst hin, Michel?« fragte Frau Burton.
»Den Deuwel weiß ich,« rief Michel, »aber finden werde ich sie schon – die Heiligen mögen mir beistehen!«
Michel galoppierte von dannen und Frau Burton, welche besorgte, daß ihre Schwägerin alarmiert werden könnte, eilte nach Hause, schickte die Köchin und das Mädchen in verschiedenen Richtungen aus und schlug selbst einen dritten Weg ein, während Michel den Bonbonladen, die Schule, verschiedene Brücken und andere Plätze, an welchen sich Jungen gern aufhalten, nach den Kindern absuchte.
Der von Frau Burton eingeschlagene Weg führte einen holperigen, dicht bewaldeten Hügel hinan. Sie blieb häufig stehen, um zu rufen und zu lauschen. Oft wich sie auch beträchtlich vom Wege ab, um zu sehen, ob Figuren, deren dunkle Umrisse sie erspäht hatte, nicht diejenigen ihrer Neffen sein. Beim Näherkommen machte sie aber immer wieder die Entdeckung, daß sie Baumstümpfe oder Gestrüpp für die Gestalten ihrer Neffen gehalten hatte. So wurde der Weg unendlich lang und sie hatte bereits zwei Stunden darauf zugebracht, da erblickte sie auf dem holperigen Wege auf einmal in einiger Entfernung eine bekannte Gestalt, die einen großen, belaubten Ast hinter sich her schleifte.
»Willi!« rief sie und lief auf ihn zu. Die kleine Gestalt wandte sich um und Frau Burton war tief erschrocken, als sie das abgehärmte Gesicht ihres Neffen erblickte, dessen große Blässe durch die starr blickenden Augen, durch die geröteten, gedehnten Nasenflügel und die schaalen, festgeschlossenen Lippen noch mehr hervorgehoben wurde. Auf dem Ast aber, sich mit einer Hand fest an einen der oberen Zweige klammernd und mit der anderen ein grüne, zerknüllte Masse festhaltend lag Toddi, über und über mit Staub bedeckt.
»Großer Gott, was ist denn passiert?« rief Frau Burton.
Toddi richtete sein Köpfchen hoch und erwiederte:
»Ich bin ein geschossener Soldat und werde hingebracht, wo die Schützen mich nich' fangen können – so wie's im Kriege is.«
Willi fiel jetzt ermattet hin und fing an zu weinen.
»Was fehlt Dir, mein Herzensjunge?« rief Frau Burton, kniete neben Toddi hin und nahm ihn auf ihren Schoß.
»Au!« antwortete Toddi.
»Lieber Willi,« rief Frau Burton jetzt, indem sie Toddi wieder hinlegte und zu seinem Bruder eilte, »was ist euch passiert? Erzähle mir doch.«
Mit sichtlicher Anstrengung öffnete Willi Augen und Mund und erwiederte mit recht matter Stimme:
»Warte nur bis ich erst ordentlich wieder lebendig bin, dann will ich's erzählen. Jetzt kann ich noch nich' mal sprechen, ich bin so müde, un –«
Willi schloß seine Augen wieder. Frau Burton nahm in zärtlich auf, setzte sich auf einen großen Stein, wiegte ihn hin und her, küßte ihn wiederholt und weinte dabei, während Toddi sich auf dem Baume herumdrehte und die Szene mit offenbarer Genugtuung beobachtete.
»Du, Tante Alice,« sagte er dann, »es is doch hübsch, geschossener Soldat zu sein.«
Willi erholte sich inzwischen, umarmte seine Tante herzhaft und seufzte dann:
»Ach, Tante Alice es war schrecklich!«
»Erzähle mir mal alles von Anfang an, lieber Willi, wenn du wohl genug bist,« sagte Frau Burton. »Wo seid ihr den ganzen Tag gewesen?« Ich bin fast aus Angst um euch gestorben.«
»Sieh' es war so«, fing Willi an, »wir wollten gern etwas Nettes für dich thun, eh' wir nach Hause gingen, weil du so nett gegen uns gewesen bist. Un' als wir da nun über sprachen, da konnten wir uns nich' besinnen, daß du auch nur ein einziges Mal häßlich gegen uns warst. Ich weiß ja woll, daß du's manchmal warst, aber – einerlei wir konnten uns doch nich' mehr auf besinnen.«
»Man bloß, daß du immerzu mußt nich' gesagt hast«, ergänzte Toddi.
»Ach so«, sagte Willi, »ja, da hat Toddi an gedacht, aber wir meinten zuletzt, daß wir's vielleicht doch nötig hatten. Na – wir konnten also gar nichts Netteres ausdenken, als daß wir dir 'n paar wilde Blumen holten – zahme Blumen hat ja 'n jeder, weißt du. Deshalb meinten wir, wilde wären netter. Un' wir dachten, wir könnten sie noch vor dem Frühstück holen, wenn wir uns 'n bißchen beeilten. Da liefen wir denn gleich bis unten an den Berg, aber da waren keine Blumen, un' da wußten wir nich' was wir machen sollten.«
Sonst hätten wir dir Birkensaft mitbringen müssen«, sagte Toddi.
»Ja,« sagte Willi, »aber Birkensaft is was zu essen un' nichts zum Besehen, un' wir wollten dir doch was zum Besehen geben, daß du 'n Paar Tage an uns denken solltest.«
»Un' da auf einmal rief ich, Farnkraut,« unterbrach ihn Toddi.
»Ja, sagte Willi, »Toddi sagte es zuerst«, aber ich dachte es in derselben Sekunde, un' da wächst so wunderschönes Farnkraut oben auf dem Felsen – siehst du's woll?«
Frau Burton blickte in die Höhe und schauderte. Die Klippe zu ihren Häupten war hundert Fuß hoch und vielfach zerklüftet, aber aus allen Ritzen überwucherten üppige Farnkräuter mit ihren anmutigen Wedeln das graue Gestein.
»Hier wars nicht«, sagte Willi, »es war etwas weiter um die Ecke, wo die Felsen nich' so hoch sind, aber schwerer raufzuklettern. Hier sind wir zuerst raufgeklettert«.
»O, ihr bösen lieben Kinder!« rief Frau Burton, Willi mit stürmischer Zärtlichkeit umarmend. »Schon der Gedanke macht mich zittern, daß ihr beiden kleinen Knirpse diese steilen Felsen hinanklettern konntet. Ich werde schon schwindlig, wenn ich euern Onkel Harry dort klettern sehe.«
»Wenn wir auf die Berge klettern«, versicherte Toddi, »sind wir keine Kinder, dann sind wir Männer.
»Wir fanden 'ne Masse Farnkräuter«, fuhr Willi fort, »warfen sie aber alle wieder weg, weil wir weiter oben immer schönere sahen. Sag mal, Tante Alice, wie geht das zu, daß die Dinge nach oben zu immer hübscher aussehen?«
»Weshalb denn, Toddi?« fragte Frau Burton.
»Weil sie näher am Himmel sind,« antwortete Toddi. »Erzähl' weiter, Willi – ich hör auch gern zu.«
»Schön,« sagte Willi. »Zuletzt kamen wir an eine Stelle, wo die ersten Felsen auf einmal aufhören und andere wieder aufsteigen, un' ganz obendrauf standen die schönsten Farnkräuter von allen.«
»Un da bin ich zuerst raufgeklettert – ganz gewiß!« rief Toddi stolz.
»Ja, das ist er, der liebe kleine Toddi«, bezeugte Willi, indem er seinem Bruder eine Kußhand zuwarf. Ich sagte zu ihm, ich glaubte nich', daß die Farnkräuter da oben schöner wären als die anderen, aber er sagte für Tante Alice macht sie der liebe Gott noch schöner,« un' da kletterte er geschwind hinauf wie 'ne Spinne.«
»Ich kam zuerst hinauf,« rief Toddi. »Natürlich,« antwortete Willi, »weil ich überhaupt gar nich' raufgeklettert bin. Na, da oben zog Toddi denn an einem großen Büschel Farnkraut, un' drehte mir dabei den Rücken zu, un' eh' ich nur mal ordentlich hinsah, fiel er in der Luft um und purzelte geschwind wieder runter. Un' da heulte er.«
»Weil ich so auf 'ne ganze Masse Steine aufgeschlagen bin, sieh«, sagte Toddi. »Aber das Farnkraut hab' ich nich' losgelassen – hier ist's.« Mit diesen Worten hielt Toddi eine welke, übel zusammengedrückte Masse hoch, die vorher Farnkraut gewesen war. Beim Anblick derselben setzte Frau Burton Willi auf den Stein, eilte zu Toddi, barg das übelzugerichtete Farnkraut in ihrem Busen und gab dem Eroberer desselben ein herzhaften Kuß.
»Halte mich noch etwas, Tante,« sagte Willi, »ich fühle mich noch nich' ganz wohl.«
»Was machtet ihr denn weiter?« fragte Frau Burton, ihr Pflegeamt wieder übernehmend.
»Toddi weinte noch immer un' konnte nich' gehen. Da half ich ihm bis auf den Weg runter, aber er konnte da auch noch nich' gehen.«
Frau Burton eilte wieder zu Toddi und untersuchte seine Beine sorgfältig, ohne einen Knochenbruch zu entdecken.
»Das Wehweh sitzt ganz unten in meinem Bein un' ganz oben in meinem Fuß,« sagte Toddi, der seinen Knöchel verstaucht hatte.
»Un' da heulte er so traurig. »Mama« un' »Papa«, fuhr Willi fort, »es war gräßlich anzuhören. Un' da sah ich den Weg rauf, da war niemand zu sehen, un' da sah ich den Weg runter, da war auch niemand zu sehen un' da sah ich die Seite vor dem Berge runter, da war auch kein Mensch, un' da wußte ich nich', was ich machen sollte, denn ich konnte ja doch nich' so weit fort gehen un' zu Hause Bescheid sagen, wenn der arme, kleine Toddi da so elend lag. Da fiel mir ein, daß Papa mal erzählte, er hätte verwundete Soldaten wegbringen sehen, wenn gar keine Wagen da waren. Da riß ich an einem Baumzweig, um ihn drauf zu fahren.
»Aber Willi,« rief Frau Burton, du willst doch nicht damit sagen, daß du den großen Zweig ganz allein abgerissen Haft?«
»Ganz allein woll nich'«, antwortete Willi zögernd. »Ich zog an einem Zweig nach dem andern, aber keiner wollte absplittern, da kam mir 'n Gedanke, un' ich kniete neben dem Baum nieder un' erzählte dem lieben Gott alles un' sagte ihm, ich wüßte, daß er den armen, kleinen, kranken Bruder da nich' den ganzen Tag liegen lassen würde, un' er sollte mir doch man den Zweig mit abbrechen helfen, wo ich Toddi drauf ziehen könnte. Un' als ich wieder aufstand, da war ich so stark wie vierzigtausend Pferde. Ich glaube, nachher brauchte mir der liebe Gott gar nich' mehr zu helfen. Un' da zog ich noch einmal an dem Zweige un' knacks! lag er unten. Dann legte ich Toddi obendrauf un' zog ihn fort. Das war aber mal schwer, sag' ich dir!«
»Aber Spaß machte es auch,« sagte Toddi. »Bloß nich' wenn da Steine im Wege lagen un' ich kam mit den wehen Stellen dran.«
»Ich zog ihn da, wo der Weg weiche Stelle hatte,« sagte Willi, »aber manchmal gab es gar keine weichen Stellen über den ganzen Weg. Un' in mir da hämmerte es ganz furchtbar – die kleine Herzmaschine, weißt du. Ich konnte immer nur zwölf Schritte ziehen, dann mußt' ich halten un' mich ausruhen, un' auf einmal hörte Toddi mit Weinen auf un' sagte, er wäre hungrig, un' da fiel mir ein, daß ich auch hungrig war.«
»Aber das Farnkraut haben wir nich' verloren,« sagte Toddi.
Frau Burton nahm das Andenken aus ihrem Busen und küßte es.
»Hurra! du magst es gut leiden, nich' wahr?« rief Willi. Das is mal schön, na, dann machen wir uns auch nichts aus 'n paar Schrammen un' 'n bischen Wehweh, nich' wahr, Toddi?«
»Ne bewahre,« sagte Toddi. »Wenn wir fahren können, wie geschossene Soldaten un' zu Hause Kaffee un' Frühstück zusammen kriegen – dann nich.«
»Jetzt braucht ihr euch alle beide keine Sorgen mehr zu machen, wie ihr nach Hause kommt,« sagte Frau Burton. »Bleibt nur ruhig hier sitzen, ich gehe jetzt und lasse euch mit dem Wagen holen.«
»Famos!« rief Willi, »das wird mal hübsch, nich' wahr, Toddi? Freust du dich nich', daß du Wehweh hast? Aber sag' mal, Tante Alice, hast du nich' 'n Paar Zwiebäcke in deiner Tasche?
»Bewahre nein!« rief die Tante, vorübergehend ihre Zärtlichkeit verlierend.
»Schade,« sagte Willi, »ich dachte, du hättest welche. Papa hat immer welche bei sich, wenn er uns draußen sucht, wenn wir so lange von Hause wegbleiben.«
Jetzt ließ sich unten vom Wege her Pferdegetrappel hören.
»Das wird wohl Michel sein,« sagte Frau Burton. »Er ist fortgeritten, um euch zu suchen.«
»Ich glaube aber eher, daß es Papa is,« sagte Willi. »Das is so wundernett an ihm, daß er immer gerade zu der Zeit kommt, wo wir ihn am meisten nötig haben.«
»Un' daß er Zwieback mitbringt,« ergänzte Toddi.
Das Pferdegetrappel kam langsam näher und schließlich kam Tom Lawrence, die Ahnungen der Kinder erfüllend, um die Biegung des Weges geritten, einen alten Soldaten-Tornister nebst Feldflasche um die Schulter gehängt.
»Hurra, Papa!« riefen beide Jungen. Tom Lawrence schwenkte seinen Hut und Toddi rief: »Er hat Zwiebäcke mit – ich sehe den Tornister.« Ihr Vater hielt sein Pferd plötzlich an und stieg ab.
Willi eilte in seine Arme, Toddi aber rief:
»Papa! Papa! Geschossene Soldaten hast du gewiß lange nich' gesehen, nich wahr?«
Dann wurden Toddi und Willi in den Sattel gesetzt, Toddi vorn und Willi hinten. Dann ging's ans Öffnen des Tornisters und es stellte sich heraus, daß derselbe Butterbrote enthielt. Dann versuchten beide Knaben aus der Feldflasche zu trinken und schütteten dabei eine ziemliche Menge Wasser auf ihre Schürzen. Tom aber führte das Pferd vorsichtig am Zügel und Frau Burton ging auf der einen Seite nebenher und hielt eine Hand unter Toddis lahmes Bein, damit der gequetschte Knöchel nicht mit dem Sattel in Berührung käme. Und sie wich nicht aus der Mitte der staubigen Straße, selbst wenn Wagen mit vornehmen Bekanntschaften ihr begegneten. Die beiden kleinen Helden aber vergaßen bald, daß sie Helden gewesen waren und plauderten ebenso kindlich-einfältig, wie andere Kinder es gethan haben würden. Dann wurde das Pferd auf einem Umwege nach Hause geführt, damit keiner die Reisegesellschaft sehen und Frau Lawrence benachrichtigen könnte, daß etwas Besonderes passiert sein müsse. Die Jungen aber wurden durch großartige Versprechungen gewonnen, ihrer Mama nicht eher etwas davon zu erzählen, als bis der Papa ihr eingehend Bericht erstattet hatte. Dann wurden beide auf den Armen ihres Vaters hineingetragen, um ihre Mama zu küssen, und als sie zu Bett gingen, durfte die kleine Schwester mit Erlaubnis der Amme einige Sekunden zwischen ihnen liegen. Die Abend-Ceremonien zogen sich infolge der vereinigten Anstrengungen des Vaters und der Jungen unglaublich in die Länge. Endlich aber kniete Willi nieder und betete:
Toddi aber schloß seine Augen und betete: »Lieber Gott ich bin zuerst auf den Berg raufgeklettert – vergiß das nich', Amen!«