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Sechstes Kapitel

Der einzige Dämpfer auf das sonst vollkommene Glücksgefühl des Burtonschen Ehepaares an diesem Sonntag-Nachmittag war der Gedanke an die bald bevorstehende Rückkehr ihrer Neffen. Aber diese Sorge erwies sich als unbegründet. Die Jungen waren in tiefem Schlaf, als sie zurückgebracht wurden; Willi wurde von seinem Vater auf dem Arme getragen, und Toddi hatte sein Köpfchen auf die Schulter des treuen Michel gebettet. Außer einem Seufzer, den Toddi schlaftrunken hören ließ, gaben beide Kinder bis zum nächsten Morgen keinen Laut von sich. Dann aber ging Frau Burton in ihre Kammer hinauf, um sie zu wecken, da ihr aufgefallen war, daß die Kinder ungewöhnlich lange schliefen. Sie fand Willi aufrecht im Bett sitzend und sich mit der einen Hand seine Augen reibend, während er mit der andern seinen Bruder schüttelte, welcher gegen diese Liebkosung mit einigen häßlichen, grunzenden Lauten protestierte.

»Toddi!« rief Willi. »Toddi, wach auf! Wir sind nich' mehr, wo wir waren.«

»Is mir ganz egal,« erwiderte Toddi. »Bin – wo's schöner is – bin in 'm großen Bonbonladen.«

»Ne, bist du woll nich,« rief Willi indem er seinen Bruder heftiger schüttelte und seine Augen zu öffnen versuchte. »Du bist bei Tante Alice, un' als du einschliefst, warst du bei Mama.«

»Au – au!« schrie Toddi, indem er sich langsam aufrichtete. »Du bist 'n alter schlechter Junge, Willi! Ich träumte grade, ich wär' in 'm Bonbonladen und kriegte alle meine Taschen voll, un' meine Hände auch. Aber, jetzt hast du mich aufgeweckt, un' meine Hände sind ganz leer, un' ich habe gar kein Zeug mit Taschen an, du häßlicher Junge.«

»Na – is' gut,« sagte Willi, »das nächste Mal, wenn du träumst, wecke ich dich nich' wieder auf, un' wenn du auch Alpdrücken hast un' schreckliche Dinge träumst. Sag mal, Tante Alice,« fuhr Willi fort, »wo kommt das eigentlich von, daß man träumt? Un' weshalb geht dann alles weg un' is dann ganz was anderes?«

»Träume entstehen, wenn das Gehirn im Halbschlummer unbestimmte Eindrücke empfängt,« erwiderte Frau Burton, um nur etwas zu sagen.

»Ach!« rief Willi erstaunt.

Frau Burton glaubte in dem Ausrufe ihres Neffen etwas wie Spott zu entdecken, aber er war noch so jung und sah so harmlos aus, daß sie diesen Verdacht wieder fallen ließ. Ueberdies hatte ihr jüngerer Neffe schon eine ganze Weile »Tante Alice – Tante Alice – Tante Alice« gerufen, und zwar so rasch, als er konnte, und mit immer kräftiger tönender Stimme. Endlich fand Frau Burton Zeit, ihn zu fragen:

»Was denn, Toddi?«

»Sagtest du nich', Tante Alice, daß das Drücken auf's Gehirn uns träumen macht?«

»Ja,« antwortete Frau Burton, »das heißt ...«

»Na, schön,« unterbrach sie Toddi, »dann setze dich mal flink auf meinen Kopf un' laß den Bonbonladen wieder kommen, willst du?«

»Sag doch mal, Tante Alice,« rief Willi jetzt, »weißt du woll, daß ich ganz viele, viele Male nachher auch nich' mehr weiß, als ich vorher gewußt habe.«

»Ich verstehe dich nicht, Willi.«

»Ich meine, wenn ich etwas nich' verstehe, was die Leute mir erzählen, un' ich frage sie, was sie meinen, un' sie sagen es mir – sieh, dann weiß ich es oft nachher nich' besser als vorher. Geht es großen Leuten auch so?«

Frau Burton überlegte einen Augenblick und da erinnerte sie sich, daß sie häufig ähnliche Erfahrungen gemacht hatte, wie Willi, und noch dazu Erfahrungen, bei welchen sie dasselbe harmlose Gesicht gemacht hatte, wie es Willi vorhin zur Schau trug. Ja, sie hatte dann gethan, als ob sie etwas begriffen habe, was mangelhaft erklärt und deshalb unverständlich war. Sie erinnerte sich auch, wie tief ihr mangelndes Verständnis sie niedergedrückt, und wie schmerzlich sie es als eine Ungerechtigkeit empfunden hatte, wenn man von ihr verlangte, sie solle so handeln, als habe sie in der That alles völlig begriffen. Mochte es sich nun um kindliche Angelegenheiten handeln oder um Belehrungen über sociale, ästhetische und religiöse Zweifel eines reiferen Alters, in beiden Fällen hatte sie, wie wohl die meisten Menschen, mehr zu hören bekommen, als sie verstehen konnte und manches obendrein falsch verstanden. Dann hatte sie ihre Freunde und die Welt für ihre eigenen Irrtümer verantwortlich gemacht und sich beklagt, daß man nicht einmal ihren guten Willen zu würdigen wisse. War es möglich, daß sie ihren Neffen gegenüber in dieselben Fehler verfallen war, welche andere begangen hatten, als sie ihren Geist zu bilden versuchten?

Frau Burton verlor sich in immer tiefere Grübeleien, aus welchen Willi sie endlich durch die Frage aufschreckte:

»Tante Alice, siehst du den lieben Gott?«

»Nein, Willi,« rief Frau Burton zusammenfahrend. »Wie kommst du darauf?«

»Nun,« antwortete Willi, »du gucktest so starr durchs Fenster, un' gerade dahin, wo du weiter nichts sehen konntest als den Himmel; un' deine Augen sahen so aus, als ob sie ganz weit in die Ferne blickten – da dachte ich, du müßtest sicher den lieben Gott sehen.«

»Wenn du ihn siehst,« sagte Toddi jetzt, »dann bitt' ihn doch, daß er mir nächste Nacht den Traum wieder schickt. Bitt' ihn nur, er soll mein Gehirn drücken, daß der Traum wiederkommt, und dann soll er mich schlafen lassen, bis ich alle Bonbons aufgegessen habe, die ich in meinen Taschen un' in beiden Händen hatte.«

Das Erscheinen des Hausmädchens, welches kam, um die Kinder anzukleiden, machte der Unterhaltung ein Ende, aber Frau Burton nahm sich vor, dieselbe bei erster Gelegenheit wieder anzuknüpfen. Die Fehler, welche sie bisher als Lehrerin gemacht, sollten künftig vermieden, und der Unterricht sobald als möglich auf eine gesundere Basis gestellt werden!

Dieser Entschluß beschäftigte sie eine Zeitlang so, daß sie eine auffallende Schweigsamkeit an den Tag legte, die ihren Mann in einige Verlegenheit brachte. Er konnte an dem Ausdruck ihres Gesichtes deutlich erkennen, daß der Grund ihrer Schweigsamkeit ein ungewöhnlicher war und keineswegs in einer bloßen Verstimmung zu suchen sei. In der That war die Veränderung in Frau Burtons Antlitz und ihrem Benehmen eine so vorteilhafte, daß ihr Mann sich entschloß, Zahnschmerzen als eine Entschuldigung vorzuschützen, um den Tag zu Hause bleiben und sich an ihrem Anblick erfreuen zu können.

Bei der bloßen Aeußerung dieser Absicht jedoch zählte Frau Burton so viele dringend notwendige Sachen auf, die nur in der Stadt und auch nur von ihrem Mann besorgt werden könnten, daß der junge Ehemann noch früher als gewöhnlich abreiste und sich ungefähr vorkam, wie jemand, den man aus seinem eigenen Hause hinausgeworfen.

Jetzt führte Frau Burton ihre beiden Neffen ins Wohnzimmer, setzte sich hin, zog beide Kinder zärtlich an sich und fragte:

»Kinder, giebt es irgend etwas, worüber ihr gern Auskunft haben möchtet?«

»O ja,« antwortete Toddi rasch. »Ich möchte gern wissen, was wir heute Mittag essen werden.«

»Un' ich,« erklärte Willi, »möchte gern wissen, wann wir mal wieder alle zusammen ausfahren werden?«

»Solche einfältige Dinge meine ich nicht,« sagte Frau Burton, ich –«

»Sind keine einfältigen Dinge,« protestierte Toddi. »Sind gerade die Dinge, die uns glücklich machen.«

Frau Burton gab im stillen die Gerechtigkeit dieses Vorwurfes zu, ebenso den Zusammenhang desselben mit einem Gegenstand, von welchem ihr Herz bereits voll war; aber sie war doch zu sehr Frau Alice Mayton-Burton, als daß sie sich durch derartige Wahrnehmungen hätte abhalten lassen, den Weg zu verfolgen, den sie sich einmal vorgezeichnet hatte. So erwiderte sie denn:

»Das weiß ich wohl. Aber ich möchte euch gern über alle wichtigen Dinge aufklären, die ihr zu wissen wünscht.«

»Du meinst woll, du willst Schule mit uns spielen?« fragte Willi. »Papa meint, das ist nich' gesund für Kinder bei warmem Wetter, un' wir meinen das auch.«

»Nein, ich will nicht Schule mit euch spielen, aber ich möchte euch gern einige von den Dingen erklären, die ihr nicht verstanden habt, obgleich andere Leute euch schon vieles darüber gesagt haben' Der Gedanke macht Tante Alice ganz unglücklich, daß es ihren lieben kleinen Neffen so schwer wird, manche Dinge zu begreifen, worüber sie so gern Bescheid wissen möchten. Seht, als Tante Alice noch ein kleines Mädchen war, da ist ihr das Begreifen auch manchmal recht schwer geworden, und sie erinnert sich noch recht gut, wie unglücklich sie das gemacht hat.«

»Wirklich?« rief Willi, seine Stellung ändernd, um seiner Tante in die Augen sehen zu können. »Hast du dich damals auch drüber gewundert, daß der Mond erst so groß is, un' dann wieder so klein? Un' haben dir die großen Leute dann auch erzählt, daß die alten Monde in kleine Stücke gehackt und Sterne draus gemacht werden, wenn du doch wußtest, daß man dir nur was vorlügen wollte?«

»O ja,« antwortete Frau Burton.

»Un' wolltest du da auch immer gern wissen, wo das Mittagessen von gemacht wird?« fragte Toddi. »Un' haben da die großen Leute dir dann auch immer gesagt: »Bekümmere dich da nich' um?«

»Jawohl,« antwortete Frau Burton, Toddi zärtlich an sich drückend, »das ist mir auch so gegangen.« »I so was!« rief Willi. »Dann bist du aber mal schrecklich klein gewesen, nich' wahr? Na, aber sag mal, hast du auch mal wissen wollen, wo der liebe Gott eigentlich stand, als er die Welt aus gar nichts schöpfte?«

»Un' hast du auch immer gefragt, wie das Süße um die Dattel- und Pflaumenkerne rumgemacht wird?« fragte Toddi.

»Jawohl, auch das.«

»Dann erklär' uns mal, wie das is,« rief Willi.

»Du fragtest mich doch heute Morgen wegen der Träume, mein Herz,« sagte Frau Burton, sich an Willi wendend, »und ...«

»Das weiß ich woll,« unterbrach sie Willi; »aber ich möchte jetzt lieber über Datteln un' Pflaumen Bescheid wissen. Ich kann nich' eher wieder träumen, als bis ich zu Bett gehe, aber Datteln kann ich in 'r Viertelstunde kaufen, wenn du mir bloß die Pfennige dazu geben willst. O, hör' mal, Tante, – ich will dir mal was sagen – du läßt uns erst Datteln kaufen, dann kannst du sie uns viel leichter erklären. Es is viel netter, wenn man sieht, wie so was aussieht, als wenn man es sich bloß denkt.«

»Ich kann dich jetzt keine Datteln holen lassen, denn, wenn du zurückkommst, habe ich vielleicht gar keine Zeit mehr, euch was zu erzählen.«

»O, wir richten es schon so ein, daß du nicht gestört wirst,« sagte Willi. »Ich glaube auch, wir können das schon allein 'rausfinden – das heißt, wenn wir Datteln genug haben un' ordentlich nachsehen können.«

»Gut denn,« sagte Frau Burton, sich zögernd zu einem Vergleich entschließend. »Ich erzähle euch jetzt erst von etwas anderem, nachher gebe ich euch Geld, daß ihr Datteln kaufen könnt und dann könnt ihr sie nach Herzenslust allein studieren.«

»Schön,« sagte Willi. »Zuerst sag' uns mal, warum Terry immer wegläuft, wenn wir mit ihm spielen wollen?«

»Weil ihr ihn jedesmal, wenn er in eure Hände fällt, so abscheulich quält und peinigt, daß er euch hassen gelernt hat,« erwiderte Frau Burton, welche sich freute, daß sich ihr Gelegenheit bot, gleichzeitig deutlich zu sprechen und ihren Neffen einen Verweis zu erteilen.

»Jetzt sagst du gewiß gleich: »Müßt nich!«, sagte Toddi weinerlich. »Können denn kleine Jungens gar nichts lernen, wo das alte, häßliche »Müßt nich« nich' drin vorkommt?«

»Ich glaube schwerlich, du armer, kleiner Bursche,« sagte Frau Burton, ihren Verweis bereits wieder bereuend. »Aber sagt mal, worüber möchtet ihr gern Auskunft haben?«

Toddi sperrte Mund und Nase auf, neigte den Kopf auf eine Seite, überlegte einige Minuten lang und sagte dann:

»Ich – ich – ich – ich möchte gern wissen, warum 'n kleiner Junge keine Bananen mehr essen kann, wenn er schon 'ne ganze Masse gegessen hat und hat all die ganze Zeit ausgefunden, wie schön sie schmecken?«

»Weil sein kleiner Magen voll ist, und wenn ein Magen voll ist, dann ist er schon so vernünftig und verlangt nichts mehr.«

»Das is aber dumm vom Magen,« rief Toddi. »Ich wollte, ich könnt' mal mein Magen sein, dann wollt' ich ihm mal zeigen, daß man Bananen gar nich' satt zu kriegen braucht.«

»Un' ich möchte gern wissen,« sagte Willi, »wo die Träume herkommen, weil ich da jetzt noch nich' mehr von weiß als vorher, obgleich du mir's diesen Morgen erst gesagt hast.«

»Das ist schwer zu erklären, lieber Willi,« antwortete Frau Burton und bemühte sich gleichzeitig, Worte für eine einfache Erklärung zu finden. »Sieh, wir denken mit unserem Gehirn, und wenn wir schlafen, so schläft unser Gehirn auch. Aber manchmal ist es nicht so müde, wie der übrige Körper, und wenn es dann etwas wach bleibt, so denkt es auch etwas; aber es denkt dann nicht klar, und die einzelnen Gedanken vermischen sich.«

»Also deshalb träumte ich die letzte Nacht, eine Kuh säße in deinem Schaukelstuhl und läse in 'm Atlas,« rief Willi. »Aber weshalb mußte ich gerade an Kühe un' Schaukelstühle un' Atlasse denken?«

»Das ist eins von den Dingen, die wir in Bezug auf Träume nicht erklären können,« erwiderte Frau Burton. »Wir scheinen uns an etwas zu erinnern, was wir früher einmal gesehen haben, und wenn dann zwei oder drei Erinnerungen zugleich kommen, so mischen sie sich bunt durcheinander.«

»Dann will ich mal des Nachts,« sagte Toddi, »wenn ich einschlafe, an Bananen un' Bücklinge un' Fruchteis un' Sauerkraut un' hart gekochte Eier un' Bonbons un' gerösteten Maiskuchen denken. Dann hab' ich doch 'ne hübsche, kleine Theegesellschaft im Bett, wenn alle diese Sachen zusammenkommen, nich'? Da will ich aber nichts von träumen, daß da noch annere Jungs mit bei sind.«

Wenn ich nun aber vom lieben, kleinen, toten Bruder Philli träume,« fragte Willi, »is das dann weiter nichts, als daß ich mich an ihn erinnere? Kommt er wirklich nich' vom Himmel runter und besucht mich in meinem Bett?«

»Ich glaube nicht, lieber Willi.«

»Wie kann er denn aber so hell und sonnig aussehen und so süß lachen un' seine lieben, kleinen Flügel dicht vor meinem Gesicht bewegen, so daß ich sie anfassen kann?« fragte Willi.

»Ich vermute, das kommt daher, weil – weil du ihn dir in Gedanken so vorgestellt hast,« antwortete Frau Burton, indem sie Willi an sich zog, um sein sehnsüchtig-trauriges Gesicht nicht sehen zu müssen. »Du hast vielleicht Bilder von weißgekleideten Engeln mit hübschen Flügeln gesehen und hast dir deinen Bruder Philli deshalb ebenso vorgestellt.«

»Ach, liebe Tante,« rief Willi, indem er sein Gesichtchen in dem Kleid seiner Tante vergrub und in Thränen ausbrach. »Ich wollte, ich hätte gar nich' gefragt, wie's mit den Träumen is, un' ich will mir auch nie wieder was erklären lassen. Wenn der liebe, kleine Engel Philli weiter nichts is als ein Gedanke in meinem Gehirn, wenn ich schlafe, dann giebt's überhaupt gar nichts, was etwas sein kann. Ich dachte immer, es wäre so spaßig, daß er immer gleich wegging, wenn ich aufwachte.«

»Kühe gehen aber nich' weg, wenn ich aufwache und von ihnen geträumt habe,« sagte Toddi. »Dann denke ich an sie den ganzen Tag un' sehe sie, wenn ich sie gar nich' mal sehen mag.«

Frau Burton mußte unwillkürlich lachen, während Willi sein Köpfchen wieder aufrichtete und sagte: »Ach, ich glaube, es nützt zu nichts, daß man traurig is; wir wollen lieber Spaß machen und nicht an Sachen denken, die so schrecklich traurig sind. Besinne dich doch mal, Tante, ob du nich' ein neues Spiel für uns weißt.«

»Ich fürchte, daß ich mich in diesem Augenblick auf keins besinnen kann,« erwiderte Frau Burton.

»O, ich weiß was – du kannst mal Kaufladen spielen un' hast viele schöne Sachen in deinem Laden, so was wie Kuchen un' Bonbons. Un' dann verkaufst du sie uns, un' wir geben dir Stecknadeln dafür. O, ja! Un' du giebst uns die Stecknadeln, daß wir sie kaufen können.

»Un' das mußt du bald thun,« sagte Toddi, »ehe es Essenszeit is, daß die Sachen, die du uns verkaufst, nich' im Wege sind un' der Magen wieder leer is, daß wir heute Mittag tüchtig was essen können.«

»Das darf ich nicht thun,« sagte Frau Burton, »dann hättet ihr eine Entschuldigung, zwischen den Mahlzeiten zu essen.«

»Na, dann erzähl' uns Geschichten – oder nein, mach uns mal 'ne Menagerie vor, nein nein – ich, ich will dir was sagen: thu mal so, als ob uns das Haus gehört, un' dann besuchst du uns, un' wir bringen dir Kaffee un' Kuchen, un' da pflegst du dich mit.«

»Ich – fürchte, ich wittere zwei kleine Mäuse,« scherzte Frau Burton.

»In der Mausefalle?« fragte Toddi. »O, dann gieb sie uns mal zum Spielen.«

»Jetzt weiß ich was,« sagte Willi; du kannst uns mal die spaßige Geschichte von dem Mann erzählen, der Hunde zu Dokters hatte.«

»Hunde zu Aerzten?« fragte Frau Burton.

»Ja, ja,« sagte Willi. »Weißt du nich? Es steht doch in der Bibel.«

»Das kann wohl sein,« sagte Frau Burton, und ließ in Gedanken rasch alle biblischen Hunde Revue passieren, deren sie sich erinnern konnte, »aber ich weiß nicht, wo.«

»Na nu', das weißt du nich mal?« rief Willi erstaunt. »Das war ja der Mann, der so arm war, daß er Brotkrumen essen mußte, un' Papa glaubt auch nich', daß er da Sirup zu gehabt hat, wie wir ihn kriegen, wenn uns die Köchin Krumen aus der Brotkiste giebt.«

»Ach, du meinst wohl den armen Lazarus?« riet Frau Burton.

»Ja gewiß,« antwortete Willi. »Es war aber nich' der Lazarus, der noch mal an zu leben fing, als er schon begraben war. Der hatte gar keine Hunde.«

»Der arme Lazarus, den ihr meint,« fing Frau Burton an zu erzählen, »war sehr krank und so arm, daß er von den Abfällen leben mußte, die ein reicher Mann, namens Divus auf seiner Tafel übrig ließ. Aber Gott der Herr wußte, wie sehr er zu leiden hatte und beschloß, ihn nach seinem Tode glücklich zu machen und für das viele Unglück, welches er in seinem Leben erdulden mußte, zu entschädigen. Deshalb nahm er ihn nach seinem Tode gleich in den Himmel.«

»Da braucht doch keiner Tisch-Abfälle zu essen, nich?« fragte Willi. »Aber sag mal, Tante Alice, was machen sie denn im Himmel mit den Sachen, die von Tisch übrig bleiben? Ist es da oben keine Sünde, sie wegzuwerfen?«

»Ich denke, sie schneiden ein Loch in den Himmelsboden und werfen die Abfälle runter für arme Leute,« sagte Toddi. »Wenn ich erst mal 'n Engel bin un' kann mein Essen nich' allein aufkriegen, dann klettere ich an der Mauer in die Höhe un' werfe das Uebrige runter in die Welt. Man bloß, ich muß aufpassen, daß ich nich' abrutsche un' nich wieder in die Welt hinunterpurzle.«

»Aber jetzt möcht ich doch auch wissen,« sagte Willi, »wo sie im Himmel das Essen für die Engel herkriegen? Haben sie denn da auch Kaufläden un' Schlachterläden un' Milchwagen?«

»O Himmel! Nein!« rief Frau Burton, sich unwillkürlich die Ohren zuhaltend. »Der liebe Gott schafft das Essen auf eine Weise herbei, die wir nicht verstehen können. Aber hört die Geschichte weiter! Als der arme Lazarus ein Engel geworden war, da hielt er mal Umschau vom Himmel runter, und da sah er denn den reichen Mann, dessen Abfälle er zu essen pflegte, unten in der Hölle sitzen – der reiche Mann war nämlich inzwischen auch gestorben. Und der reiche Mann bat Abraham –«

»Ich dachte, er hieße Lazarus,« sagte Toddi.

»Der arme Mann hieß Lazarus,« antwortete Frau Burton. »Als der aber in den Himmel kam, da fand er den guten, alten Abraham dort, und der nahm ihn in seinen Schoß. Und der reiche Mann bat Abraham, er möchte doch Lazarus mal runter schicken, nur damit er seinen Finger in Wasser tauche und seine Zunge damit kühle, denn er litt schrecklichen Durst.«

»Weshalb holte er sich denn nich' selbst was zu trinken?« fragte Willi. »Können sich denn reiche Leute nich' mal selbst bedienen, wenn sie in der Hölle sitzen?«

»Dort giebt's kein Wasser, deshalb war er ja gerade so durstig.«

»Das is aber schlimm,« rief Toddi. »Wo backen denn die kleinen Jungen da unten Sandtorte von?«

»Ich hoffe, daß kleine Jungen dort überhaupt nie hinkommen,« erwiderte Frau Burton. »Abraham aber sagte: »Nicht so, mein Freund. Du hast dein Gutes genossen, als du noch auf der Erde lebtest, jetzt mußt du dich mit dem begnügen, was du hast. Aber der arme Lazarus soll es jetzt gut haben, weil es ihm bei Lebzeiten so schrecklich traurig ergangen ist.«

»Ist das immer so?« fragte Willi. »Dann muß Abraham sehr viel für mich thun, wenn ich tot bin, denn ich erlebe hier auch oft recht was Trauriges. Was machte denn aber der alte, unglückliche, reiche Mann nachher?«

»Er sagte zu Abraham, er hätte Brüder, die noch lebten, und Abraham möchte doch einen Engel zu ihnen schicken, der sie ermahnte, gut und brav zu sein, damit sie nicht auch an den Ort der Qual kämen. Aber Abraham sagte, das könnte gar nichts helfen; sie hätten ja gute Bücher und Prediger, die sagten ihnen schon, was sie zu thun hätten.«

»Muß der reiche Mann denn nun immer und ewig Durst leiden?« fragte Willi.

»Ich glaube, ja,« antwortete schaudernd Frau Burton, die sich jetzt erklären konnte, weshalb die Lehre von der ewigen Qual nicht fleißiger von der Kanzel herab verkündet wird.

»Erzähl' weiter!« rief Toddi.

»Die Geschichte ist schon aus,« sagte Frau Burton.

»O nein, du hast uns ja noch gar nichts von den Dokter-Hunden erzählt,« klagte Toddi.

»Ach, da läßt sich auch nichts Hübsches von erzählen,« erwiderte seine Tante.

»Na, ich glaube aber, sie sind gerade das Schönste an der ganzen Geschichte,« sagte Toddi. »Wenn ich mal 'n schlimmen Finger habe, dann gehe ich hinten an die Hausthür und rufe Terry. Aber ich glaube, Terry is kein guter Dokter-Hund, denn er kommt nicht, wenn ich ihn nötig habe. Wenn ich aber mal ganz schlimm krank werde, wie der kleine Jimmy, als er die Pocken hatte, un' Terry will mich dann furchtbar gern doktern, dann soll er mich auch gar nich' zu sehen kriegen. Nu' erzähl' uns 'ne andere Geschichte.«

Draußen ertönten jetzt plötzlich Harfen- und Geigenklänge und erlösten Frau Burton. Die beiden Knaben eilten geschwind vor die Hausthür und erblickten dort zwei kleine, herumziehende Italiener, welche ihr Möglichstes thaten, ihren Mitmenschen die Ueberzeugung beizubringen, daß eigentlich nichts über friedliche Ruhe geht.

Willi und Toddi hörten andächtig das ganze Repertoire der kleinen Kunstjünger an, verlangten jedes Stück da capo, spendeten großmütig die Geldstücke, welche ihre Tante ihnen zu diesem Zwecke gab und würden die Musikanten auch auf ihrem Rundgange durch das Städtchen begleitet haben, wenn ihre Tante sie nicht zurückgehalten hätte.

»Was machen denn die beiden Jungen mit dem vielen Geld, das sie kriegen?« fragte Willi. »Kaufen sie sich da Bonbons für?«

»O, was die für 'ne Masse Bonbons haben müssen!« rief Toddi.

»Sie nehmen das Geld gewiß mit nach Hause und geben es ihren Eltern, denn das sind ganz arme Leute,« sagte Frau Burton. »Vielleicht sind die Eltern der beiden kleinen Jungen jetzt gerade krank und warten ängstlich auf die Rückkehr ihrer Kinder, die so weit fortgezogen sind.«

»Machen denn die kleinen Jungen die Musik nur, weil sie ihre Eltern liebhaben?« fragte Toddi.

»Jawohl, lieber Toddi,« antwortete Frau Burton.

»Aber man wird doch stets vom lieben Gott belohnt, wenn man was für andere Leute thut?« fragte Willi.

»Ja gewiß, mein Junge,« erwiderte Frau Burton.

»Weißt du,« fragte Toddi, »was mir an den kleinen Jungens so gefällt? Das is, daß keiner zu ihnen sagen kann, sie sollen ihre Schuhe nich' so schmutzig machen – denn ihre Eltern sind ja krank. Sieh mal, wie sie mitten auf der Straße latschen un' den Staub aufwirbeln; un' keiner sagt zu ihnen »Mußt nich!«, un' keiner is stark genug, sie zu hauen, wenn sie nach Haus kommen. Ich wollte, ich wär 'n Musiker.«

»Ach, nun sind sie schon wieder fort,« seufzte Willi, »un' wir müssen nu' wieder was anderes haben, was uns glücklich macht. Sag doch, Tante Alice, weshalb hast du nich' auch Pferd un' Wagen, wie Mama? Dann könntest du doch mit uns ausfahren?«

»Onkel Harry ist nicht reich genug, um gute Pferde und Wagen zu halten und schlechte mag er nich leiden,« erwiderte Frau Burton.

»So? Was kosten denn woll 'n Paar gute Pferde?« fragte Willi wieder. »Ich glaube, Onkel Blanner seine beiden sind ganz hübsch, aber Papa sagt 1000 Pfennig für's Stück wär' ihm zu teuer.«

»Ich glaube, ein gutes Pferd kostet 1000 – 1600 Mark,« antwortete Frau Burton.

»O-h, so viel? rief Willi. »Das is ja noch mehr Geld, als unsere Sonntagsschule für den Missionar bezahlt.«

»Was taugt denn mehr, ein Pferd oder 'n Missionar?«

»Natürlich ein Missionar,« sagte Frau Burton, indem sie sich von der Veranda zurückzog mit dem dunkeln Gefühl, im Laufe des Vormittages eine lange Reihe Fragen beantwortet zu haben, ohne daß irgend jemand damit gedient wäre.

Die Jungen mußten bis zum zweiten Frühstück für sich selbst sorgen und brachten nicht den guten Appetit mit, der sie sonst auszuzeichnen pflegte. Die Wiederaufnahme des Bombardements mit Kreuz- und Querfragen, auf welche Frau Burton sich gefaßt gemacht hatte, erfolgte jedoch nicht – beide Jungen schienen in einer mehr nachdenklichen als wißbegierigen Geistesverfassung zu sein.

Nach dem Frühstück verschwanden sie eiligst, ohne daß ihre Tante irgendwie versuchte, sie zurückzuhalten, denn sie hatte an diesem Nachmittag einen überaus wichtigen Besuch vor. Frau Elliot, deren Mann Mitglied des Kongresses war, weilte bei einer Freundin in Hillcrest zum Besuch. Da nun Frau Elliots Mutter und Frau Burtons Großmutter Schulfreundinnen gewesen waren, so hatte Frau Mayton (Frau Burtons Mutter) beabsichtigt, von New-York herüberzukommen, um der Tochter der alten Freundin ihrer Familie ihre Aufwartung zu machen, aber eine Unpäßlichkeit hatte sie daran gehindert. Deshalb hatte Frau Mayton ihre Tochter beauftragt, als Repräsentantin der Familie Mayton Frau Elliot ihre Aufwartung zu machen. Und Frau Burton würde lieber ihre rechte Hand oder ihren neuen Frühjahrshut eingebüßt als diesen Auftrag nicht erfüllt haben. So hatte sie denn eine Droschke bestellt, sorgfältig Toilette gemacht und gewissenhaft alles ins Gedächtnis zurückgerufen, was sie je über die Familie der Dame gehört hatte, die jetzt Frau Elliot war.

Die Droschke kam an, ohne daß ein Paar unbändiger Jungen aus einem heimlichen Versteck hervorbrach, um einige Sitze mit Beschlag zu belegen. Dann fuhr Frau Burton unbehelligt ab und sandte ein stilles Dankgebet an die freundliche Macht empor, die uns häufig Gutes erweist, wenn wir es am wenigsten erwarten. Der Wagen fuhr bei dem Hause vor, wo Frau Elliot zum Besuch weilte, und der gefürchtete Gast entpuppte sich als eine der liebenswürdigsten jungen Damen, vor deren sonnigem Temperament Frau Burtons angenommene Steifheit dahinschmolz wie der Schnee im Mai. Ebenso rasch verschwanden aus ihrem Gedächtnis die vielen ehrwürdigen Familien-Anekdoten, welche sie so sorgfältig darin aufgestapelt hatte.

Doch des Lebens ungemischte Freude wird keinem Irdischen zu teil. Unter dem Einfluß jener von den abscheulichen Männern so verlästerten Seelenverwandtschaft, welche liebenswürdige Frauen so gern aneinander zu entdecken pflegen, plauderten die beiden Damen eben recht vergnügt zusammen. Frau Elliot bestand darauf, daß Frau Burton sie während der Tagung des Kongresses in Washington besuchen solle; Frau Burton dagegen suchte ihre neugewonnene Freundin zu überreden, doch wenigstens für einige Tage ihre Gastfreundschaft in Anspruch zu nehmen. Da ertönten unter dem Fenster plötzlich die Quietschtöne einer Geige und die Klagelaute eines schlecht gespielten Blasinstruments.

»Diese abscheulichen kleinen Italiener!« rief Frau Elliot. »Ich möchte wissen, für welche unserer Sünden wir verdammt sind, sie anhören zu müssen.«

»Wenn sie als Strafe für unsere Sünden kommen,« sagte Frau Burton, »dann muß ich schwer gefehlt haben, denn ich höre sie heute bereits zum zweiten Mal. Erst heute Morgen haben sie eine halbe Stunde lang vor meinem Hause gespielt.«

»Und doch sind Sie heute so gut gelaunt!« rief Frau Elliot. »Dann muß ich mich wirklich für einige Tage bei Ihnen einquartieren, um etwas himmlische Geduld von Ihnen zu lernen.«

Frau Burton nickte zustimmend und ihre Freundin wollte die Unterhaltung eben auf ein anderes Thema lenken, als die Geige unter dem Fenster plötzlich eine ganze Reihe herzzerreißender Klagetöne hören ließ, während das Blasinstrument, allem Anschein nach eine Flöte, die gräulichsten Mißtöne hervorbrachte.

»Entsetzlich!« rief Frau Elliot. »Wahrscheinlich eine Kunstübung auf einer Saite. Geradezu ein Attentat auf unsere Gesundheit! Was soll man mit den beiden Attentätern anfangen? Und doch kann man nicht umhin, ihnen Geld zu geben. Haben Sie diese Woche die Berichte über ihr schreckliches Los in den Zeitungen gelesen? Wie es scheint, werden sie von gewissenlosen Menschen in Italien gemietet und hierhergeschleppt. Hier paukt man ihnen dann unter Mißhandlungen ihre greulichen Stücke ein und schickt sie zum Spielen und Betteln aus. Wenn sie dann nicht täglich eine gewisse Summe Geld mit nach Hause bringen, werden sie schrecklich mißhandelt.«

»Die armen Kinder!« rief Frau Burton. »Davon höre ich jetzt zum erstenmal. Es freut mich nur, daß ich ihnen heute Morgen eine ganze Menge Pfennige gegeben habe. Ich muß ihr Geschick wohl geahnt haben, denn musikalischer Genuß war es nicht, der mich so freigebig machte. Die beiden Jungen können Ja kaum der Kinderstube entwachsen sein.«

»Nein, in der That,« sagte Frau Elliot, ans Fenster tretend, »der ältere Knabe kann höchstens sechs, und der jüngere vielleicht vier Jahre alt sein. Und wie traurig und in sich gekehrt der ältere aussieht! Der jüngere dagegen zeigt frohe Erwartung im Gesicht. Er blickt zu allen Fenstern in die Höhe und hofft, daß man ihnen Pfennige hinunterwirft. Es wird ihm wahrscheinlich nicht so schlimm mitgespielt, wie seinem kleinen Gefährten; er hat auch nur eine gewöhnliche Kinderflöte. Denken Sie sich, wie ihre Herren das weichherzige Publikum betrügen! Wie kann man nur ein Kind mit einer solchen Flöte ausschicken und den Leuten weißmachen wollen, daß es Musik damit macht!«

»Es ist einfach himmelschreiend!« sagte Frau Burton.

»Es wäre interessant, zu wissen, was die Eltern dieser Kinder gewesen sind,« fuhr Frau Elliot fort. »Der ältere Knabe hat wirklich edle Gesichtszüge, aber der Schmerz über die lange Trennung von den Freunden in der Heimat und schlechte Behandlung haben ihre Spuren hineingezeichnet. Der kleinere, so entsetzlich schmutzig er auch aussieht, hat ein Gesicht und eine Figur zum Malen. Jetzt lächelt er gerade. O, was würde ich drum geben, wenn mir ein Künstler seinen Liebreiz im Bilde festhielte!

»Ich bin erstaunt,« rief Frau Burton, »ich habe so viele Reize nicht an ihnen bemerkt; aber es soll mich freuen, wenn sie mich darauf aufmerksam machen wollen. Ach Himmel!«

»Was fehlt Ihnen?« rief Frau Elliot besorgt, die ihren Gast plötzlich vom Fenster zurückwanken und in einen Stuhl sinken sah.

»Es sind – mei–ne – Neffen,« hauchte Frau Burton. »O, was soll ich mit den schrecklichen Kindern anfangen?

»Ihren Eltern gestohlen?« fragte Frau Elliot, die in den beiden Kindern bereits die Helden eines wunderbaren Romans sah.

»Nein, o nein!« rief Frau Burton. »Erst vor ein oder zwei Stunden ließ ich sie zu Hause zurück. Ich kann gar nicht begreifen, wie sie auf diesen Einfall gekommen sind. Es scheint bald, daß die Jungen einem das Leben verbittern wollen, und wenn man sich noch so sehr mit ihnen abmüht. »Ich vermute, »fuhr sie, wieder an das Fenster tretend fort, »daß Willi die Geige seines Onkels genommen hat, welche ihrem Eigentümer fast ebenso teuer ist wie seine Frau. Richtig – er hat sie! Kinder! rief sie dann, auf die Veranda hinaustretend, »geht sofort nach Hause!«

Beim Klange der Stimme ihrer Tante blickten die Knaben mit frohem Erkennungslächeln auf, und Willi rief:

»O, Tante Alixe! Wir haben vor ganz vielen Häusern gespielt und beinah schon einen Thaler gekriegt. Wir haben allen Leuten erzählt, daß wir nur spielen, um Onkel Harry Pferd und Wagen zu kaufen.«

»Geht nach Hause!« wiederholte Frau Burton, »Geht hinten herum! Ich komme gleich nach – daß ich euch aber ja zu Hause antreffe, wenn ich komme!«

Langsam und traurig folgten die beiden Jungen diesem verhängnisvollen Befehl und trollten nach Hause ab, während Frau Elliot ihrer betrübten Freundin einen Kuß herzlicher Teilnahme gab.

Sehr viele Leute eilten an Thüren und Fenster, um das Brüderpaar vorbeiziehen zu sehen. Aber was konnte denn beiden die Teilnahme des Publikums nutzen, nachdem ihre menschenfreundlichen Pläne so rauh durchkreuzt waren? Sie sahen so niedergeschlagen aus, als sie die Burtonsche Villa erreichten, und schlichen so trübselig einher, daß Terry, der an der Hausthür Wache hielt, nur fragend mit dem Schwanz wedelte und sich nicht von der Stelle rührte, als die Jungen über die Thürmatte schritten, auf welcher er lag. Einige Minuten später kam ein Wagen vor das Haus gerasselt; Frau Burton entstieg demselben, eilte ins Haus und rief:

»Wie konntet uns ihr einen so gemeinen, schimpflichen Streich spielen?«

»Wie so?« antwortete Willi. »Das is nun wieder eins von den Dingen, die wir nicht ordentlich verstehen, wenn man sie uns auch gesagt hat. Sieh, wir dachten, wir könnten ebenso gut gegen Dich un' Onkel Georg sein, wie die schmutzigen, kleinen Italiener Jungen gegen ihre Papas un' Mamas, un' als wir es versuchten, da schicktest Du uns wieder nach Hause.«

»Is ganz dasselbe, als wenn Du »Müßt nich! sagst«, fügte Toddi hinzu.

»Un' noch dazu nachdem wir 'ne ganze Masse Geld gekriegt haben!« rief Willi entrüstet. »Papa sagt, manche großen Männer verdienen in einem ganzen Tage nich' mehr als einen Thaler, un' wir haben beinahe einen Thaler in so'n bischen Zeit verdient. Wir mögen's wohl auch gekriegt haben, weil wir ehrlich waren un' die Wahrheit sagten – wir haben allen Leuten erzählt, daß wir das Geld brauchten, weil wir Onkel Harry helfen wollen, Pferd un' Wagen zu kaufen.«

Onkel Harry, der von Zahnschmerzen gepeinigt, früh von New-York heimgekommen war, hatte den letzten Teil von Willis Erzählung unbemerkt mit angehört, worauf er den Rest der Geschichte von seiner Frau erfuhr. Sein Gesichtsausdruck, als er ihren Bericht entgegennahm, der Blick, welchen er seinen Neffen zuwarf, und der wahnwitzige Eifer, mit welchem er seine geliebte Geige untersuchte, alles dies brachte den Jungen die Ueberzeugung bei, daß man zu weilen mit seinen guten, auf das Wohl seiner Mitmenschen gerichteten Absichten ganz gründlich hereinfallen kann. Alle Ereignisse der späteren Nachmittagsstunden vermochten die beiden Jungen nicht von ihren düstern Betrachtungen abzulenken, und als sie zu Bett gingen, da betete Willi aus vollen, sorgengequälten Herzen:

»Lieber Gott, ich habe schon wieder Schelte gekriegt, weil ich etwas recht Nettes für andere Leute thun wollte. Ich glaube, ich kann mir nun beinahe denken, wie die guten Propheten un' Jesus zu Mut gewesen is. Bitte, lieber Gott, laß mich nich' gekreuzigt werden, weil ich Gutes thun will, um Christiwillen – Amen.«

Und Toddi betete: »Lieber Gott, heute haben sie immerzu: »Mußt nich« zu mir gesagt, un' ich glaube, Tante Alice sollte sich was schämen. Bitte, bitte, laß sie das mal thun. Amen.«


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