F. W. Hackländer
Das Geheimniß der Stadt
F. W. Hackländer

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Zwölftes Kapitel.

Welden hatte das Rathhaus verlassen und ging über den hart gefrorenen Schnee nach der oberen Stadt. Es war gegen die Mittagszeit, was man an der größeren Stille des gewerblichen Stadtviertels, von dem er soeben herkam, wohl bemerkte; denn hier waren die Werkstätten und kleineren Läden für eine oder zwei Stunden geschlossen, ebenso die Comptoirs und Bureaux, und alle, die von der Frühe bis zwölf Uhr gearbeitet hatten, genossen der verdienten Ruhe zwischen ihren vier Pfählen. Anders war es dagegen in der oberen Stadt, wo sich in den breiten Straßen, hervorgelockt von dem glänzenden Sonnenscheine, zahlreiche Spaziergänger hin und her bewegten, um den klingenden Schlitten mit den reich geschirrten Pferden zuzuschauen.

Welden blieb häufig stehen, um hier und da ein paar Worte mit einem Bekannten zu wechseln oder um ebenfalls dem bunten Treiben auf der Schneebahn zuzuschauen. Hier war aber auch alles an's helle Tageslicht gezogen, was von Schlitten während der wärmeren Jahreszeit auf Söllern und in dunklen Magazinen von dieser nur zu kurzen Schmetterlingszeit zu träumen pflegte, und gerade so, wie während der Sommerszeit die bunt geflügelten Tagesfalter über die grünen Wiesen oder am Ufer des Baches dahinflattern, so schossen jetzt die Schlitten in allen Gestalten und Farben hin und wieder auf der weißglänzenden Schneefläche. Da bemerkte man neben neueren, eleganteren Schlitten alte in den phantastischsten Gestaltungen, ausgehöhlte Löwen und Bären, dort einen riesenhaften Schwan, hier in Muschelform, ähnlich dem Wagen der Schaumentstiegenen, nur war der Inhalt weniger schön und begehrlich. Auch Pelze in allen Formen brüsteten sich vom einfachen Rehfelle bis zur schwarzen Bärendecke, die, in rother und goldener Einfassung koketter Weise rechts und links zu beiden Seiten des Schlittens tief herabhangend, mit ihren Quasten und Troddeln den Schnee schleifte, und dazu hundertfach vielstimmiges Geklingel und das Knallen der Peitschen.

Welden sah sich nach einer stilleren Seitenstraße um, denn er hatte dieses Getreibes genug, nachdem er es eine Viertelstunde betrachtet; doch hielt ihn noch das jetzt auffallende Zusammenströmen der Zuschauer am Rande des breiten Trottoirs.

Ah, da kam der Hof mit der höchsten Gesellschaft in einigen zwanzig Schlitten! Allerdings ein prächtiger Anblick, die feurigen, herrlichen Pferde mit dem bunt verzierten Geschirre, Federbüsche auf den Köpfen, die kostbaren Pelzdecken, die Schlitten selbst in strotzender Vergoldung, Stallmeister und Vorreiter voran und zu beiden Seiten, alles das begleitet von einem wahrhaft betäubenden Geklingel, und die Herren und Damen in ihren reichen Wintertoiletten, Zobel und Hermelin, wohin man blickte, im reichsten Besätze auf schwarzen und farbigen Sammtmänteln.

Jetzt wurde Welden von einem der Vorüberfahrenden freundlich durch eine tiefe Senkung der Peitsche gegrüßt: es war der Baron von Rivola, welcher die Obersthofmeisterin der Königin führte. Hinter ihm kam seine Frau an der Seite ihres Bruders, des Obersten der Leib-Kürassiere, Grafen Hartenstein.

Es mußten das wohl neue Pferde sein, mit denen Herr von Rivola fuhr, ein Paar herrliche Rappen. Welden hatte sie bis jetzt noch nicht in seinem Stalle gesehen. Und wie geschmackvoll-einfach Geschirr und Schlitten waren! Letzterer tiefblau mit einer leichten Goldverzierung, nur mit einer wahren Verschwendung von Bärenpelz, hintenauf zwei Bediente mit niedrigen, blauen, silberbesetzten Mützen.

Auch Frau von Rivola bemerkte den jungen Ingenieur; doch war es ein sehr einfaches, steifes Kopfnicken, mit dem sie seinen ehrfurchtsvollen Gruß erwiederte.

Der Schlitten, welcher diesem folgte, erregte am meisten die Aufmerksamkeit der Zuschauermenge, besonders der Damenwelt, welche rechts und links an der Straße versammelt war. Derselbe war klein, aber von höchster Zierlichkeit, bespannt mit zwei muthigen Scheck-Ponies, die Geschirre roth mit Gold, die Decken von langhaarigem, seidenartig glänzendem Astrachanpelz, dessen Farbe so rein und leuchtend war, daß der Schnee gelblich dagegen erschien.

Welden hatte bereits von der kleinen Equipage Lucy's gehört und erkannte schon von Weitem den Schlitten an seiner Bespannung, sonst hätte er das junge Mädchen kaum bemerken können, denn Lucy, die, einen Bedienten hinter sich, allein in ihrem Schlitten saß, war umringt von jungen Herren zu Pferde, von welchen einer, ihr Vetter, Graf Hartenstein von den Gardehusaren, auf der dem Ingenieur zugekehrten Seite des Schlittens heiter plaudernd dicht neben ihr ritt und sie so mit seinem Pferde fast verdeckte.

Das junge Mädchen sah wundervoll aus; ihr schönes Gesicht war von der Kälte und von der Aufregung sanft geröthet, und da sie, freundlich aufschauend, die Bemerkungen des jungen Offiziers lächelnd erwiederte, so sah man zwischen den frischen, weich geformten Lippen ihre hellglänzenden Zähne. Sie trug ein anliegendes Kleid von blauem Sammt, mit weißem Pelze besetzt, und eine kleine Mütze von gleichem Stoffe und gleicher Farbe.

Welden schaute der lieblichen Erscheinung, welche mit den nachfolgenden Schlitten wie ein bunter Traum an seinem Blicke vorüberzog, sinnend nach.

Traum und Wirklichkeit – oder war dieses der eigentliche Lebenskreis des jungen Mädchens und für ihn die Erinnerung traumhaft, wenn er sich Lucy von Rivola zu Hause dachte, so einfach und natürlich mit ihm plaudernd, seinen Worten lauschend mit innigen Blicken, oder auf Spaziergängen an der Seite ihres Vaters, wenn sie ihm so gern eine seltene, ihr fremde Waldblume brachte, einen glänzenden Stein zur Beurtheilung, oder wenn sie sich seinen Hut ausbat, den höchst einfach grauen Filzhut, um eine Epheuranke darum zu winden – eigenthümliche Gedanken! Er wußte in der That nicht, weßhalb sie jetzt auf ihn eindrangen. Nur so viel wußte er, daß er sich nach seinem stillen Arbeitszimmer sehne, um auf dem Papiere die schwierige Construction jener Werke zu beendigen, die er im nächsten Frühjahre auszuführen hoffte dort oben in der malerisch schönen Landschaft, an deren zerklüftetem Terrain er unter kaum zu besiegenden Schwierigkeiten seine ganze Kunst zu zeigen vermochte. Ja, jenes Schaffen in Feld und Wald war die Wirklichkeit, seine Wirklichkeit, die glänzenden Bilder, welche soeben an seinem Blicke vorüberzogen, in denen das junge, schöne Mädchen für ihn allerdings den Mittelpunkt bildete, nur ein phantastischer Traum.

»Die kleine Rivola ist allerdings so schön, daß selbst ein ruhiger Beobachter wie unser Freund Welden vor Erstaunen angefesselt bleibt!« hörte der Ingenieur Jemanden neben sich lachend sagen und sah, als er sich umwandte, daß der Kreis der Zuschauer um ihn her verschwunden war und er beinahe allein auf dem Trottoir stand, neben ihm ein eleganter einspänniger Schlitten, aus welchem die eben gehörten Worte heraustönten, und zwar aus dem Munde Besenbach's, der neben Ferdinand Welkermann, letzterer kutschirend, in der Ecke des Schlittens lehnte.

»Schön ist nicht das richtige Wort,« meinte Ferdinand; »sagen wir meinetwegen: erfrischend anzusehen. Aber, offen gesagt, ist es im Ganzen etwas sehr Insipides um diese Eigenschaftswörter; ich bin überzeugt, so denkt Herr Welden auch, und statt dieser Maskerade nachzuschauen, hat er gewiß an einem dieser Häuser einen architektonischen Schnitzer entdeckt – wie geht es Ihnen?«

»Danke, nicht schlecht,« gab der Ingenieur zur Antwort und setzte, näher tretend, hinzu: »wenn auch nicht so gut, wie Ihnen – Sie haben sich da ein hübsches Geschirr angeschafft!«

»Man muß doch irgend etwas thun, um sich das langweilige Dasein zu verkürzen; alle Welt fährt im Schlitten, da thue ich es auch.«

»Sie haben ja ein wirklich außerordentlich schönes Pferd!«

»Er hat es von Herrn von Rivola erhandelt,« sagte Besenbach. »Haben Sie Rivola's prachtvolle Rappen gesehen?«

»In der That, ein Paar brillante Pferde.«

»Kosten ihn auch viertausend Gulden, inclusive dieses kleinen Fuchses, der so zu sagen als Knochenstück beigegeben wurde.«

»Ein theures Knochenstück! Kostet mich achthundert Gulden und ist nicht einmal zum Reiten oder zu einem Wagen geeignet! Wenn die Schlittenbahn vorbei ist, werde ich es für das halbe Geld weggeben müssen.«

»Was machen Sie sich daraus, Sie haben es ja!« meinte der junge Ingenieur.

»Ja wohl, und wo unser Einkommen nicht ausreicht, machen wir Schulden!« lachte Besenbach.

Ferdinand warf seinem Nachbar einen unangenehmen Blick zu, den er mit den Worten begleitete: »Du kannst eigentlich nicht sagen: machen wir Schulden, denn dieses Geschäft besorge ich für dich ebenfalls mit – doch laßt uns über etwas Gescheiteres reden. Haben Sie was vor, lieber Welden?«

»Ich bin gerade im Begriffe, nach Hause zu gehen und zu arbeiten.«

»Das wird auch wohl keine Ewigkeit dauern, in drei Stunden sehen Sie nichts mehr, und wenn Sie nichts Besseres zu thun wissen, so treffen Sie uns um fünf Uhr im Holländischen Hofe, wo wir ein kleines Diner machen; es ist so eine Art Schlitten-Club, der sich constituirt.«

»Aber das Diner ist die Hauptsache,« lachte Besenbach: »es wäre hübsch von Ihnen, wenn Sie kämen, lieber Welden.«

»Ich will sehen, was sich thun läßt; ganz sicher aber dürfen Sie auf mich nicht rechnen, ich könnte durch Eines oder das Andere auf dem Bureau festgehalten werden.«

»Machen Sie das, wie Sie wollen und können, und wenn Sie auch erst beim Nachtische erscheinen, so sind Sie uns eben so angenehm und willkommen.«

»Das wäre vielleicht möglich, zu Kaffee und einer Cigarre.«

»Bon!«

Das muthige Pferd, welches schon ungeduldig mit dem Fuße gescharrt, flog jetzt mit leichten Schlitten über die glatte Schneedecke dahin. Welden hatte zum Abschiede mit der Hand gegrüßt und verließ nun die breite Schloßstraße, um sich durch eine der schmalen Seitengassen nach seiner Wohnung zu begeben.

Dieselbe befand sich in einem großen, stattlichen Hause in einer neuen Straße, die mit der Schloßstraße parallel lief, mit der, von welcher Welden soeben herkam. Oberbaurath Lievens hatte dieses Haus erbaut und den ganzen Parterrestock zu Eisenbahnbureaux an den Staat vermiethet. Er selbst wohnte im ersten Stocke, und da er kinderlos war und selbst wenig Platz gebrauchte, so hatte er dem jungen Ingenieur zwei rückwärts liegende Zimmer eingeräumt. Welden war nicht nur die rechte Hand seines Chefs, sondern man konnte ihn auch füglich als die rechte Hand des ganzen Baubureau's betrachten; ja, der Minister selbst hatte geschwankt, ob ihm nicht schon an Lievens' Stelle die Oberleitung selbständig übertragen werden könne. Doch war er dafür in einem Lande, wo zu einer derartigen Stelle ein gewisses Alter als höchst erforderlich galt, noch zu jung befunden worden. Allerdings hatte er bei seinen Kenntnissen die Bedingung stellen können, entweder ganz unabhängig oder gar nicht zu arbeiten; doch fesselte ihn ein Gefühl der Dankbarkeit an Lievens, auf dessen Bureau er schon als junger Mensch beschäftigt gewesen, der seine Fähigkeit vollkommen erkannte und ihm deßhalb ein Vorgesetzter war, wie er ihn sich nur wünschen konnte. Lächelte ihn doch der gute Oberbaurath auf eine gemüthliche Weise an, wenn er ihn hier und da um seinen Rath fragte, und pflegte alsdann zu sagen: »Machen Sie es, wie Sie wollen, es wird schon recht werden.«

Was die Oberbauräthin anbelangte, so hatte sie sich schon damals, als der junge Mann mit dem ganzen Baubureau aus den Bergen nach der Stadt zurückkehrte, seiner mit mütterlicher Sorgfalt angenommen und war dem Wunsche ihres Gemahls, Welden so nahe als möglich bei sich zu haben, so bereitwillig entgegengekommen, daß sie ihm die beiden Zimmer, welche bis jetzt für allenfallsige Gäste benutzt wurden, sogleich einräumte.

Der junge Ingenieur, welcher mit angestrengter Thätigkeit arbeitete und dem es anfänglich, wenn er Abends Zirkel und Reißfeder weggeworfen, eine Erholung war, das gutmüthige Geplauder seiner Hauswirthin anzuhören, hatte seine häufigen Besuche später als einen Zoll der Dankbarkeit fortgesetzt und auch dann nicht unterlassen, als sich ihm andere Häuser bereitwilligst geöffnet, besonders da er zu sehen glaubte, daß es die Oberbauräthin einigermaßen schwer nahm, wenn er nicht regelmäßig zu den gewöhnlichen Stunden bei ihr erschien.

Wir wissen bereits, daß Welden der Sohn armer Eltern war, daß er diese früh verlor und sich nun gänzlich ohne Vermögen allein in der Welt forthelfen mußte. Dies war nur durch einen eisernen Fleiß möglich gewesen, und zwar nur dadurch, daß er seit frühester Jugend, nachdem er während des Tages mit angestrengtestem Fleiße gearbeitet hatte, auch noch Andere lehrte, oft bis tief in die Nacht hinein, um darauf mit dem kärglichsten Abendessen und sehr ärmlicher Umgebung seine Nachtruhe zu suchen und zu finden. Begreiflich war es, daß er so keine Zeit und Gelegenheit hatte, in Gesellschaft zu kommen, nicht in gute, aber auch nicht in schlechte; unbegreiflich dagegen, daß er trotzdem aus sich selbst heraus die gesellschaftlichen Formen der besten Art zu finden wußte und sich in dem ersten Salon, den er betrat, durchaus nicht eckig und ungelenk benahm, sondern so, als sei ihm Parquetboden und Teppich ganz bekannt und geläufig. Sein erstes Debüt hierin hatte er draußen im Rivola'schen Hause gegeben, und daß die Baronin selbst, welche auf gesellschaftliche Formen außerordentlich viel hielt, ihn für einen wohlgezogenen und äußerst anständigen jungen Mann erklärte, war wohl das größte Compliment, das man ihm machen konnte. Schon früher, ehe Herr von Rivola ihn in's Haus brachte, hatte er von ihm gesprochen, seine Umsicht, seine Kenntnisse gelobt, und dabei von seiner Kraft und Gewandtheit erzählt, wie er, schwierige Arbeiten leitend, zuweilen zum Staunen der Arbeiter selbst mit eingriff, und ihn dabei geschildert in seinen hohen Wasserstiefeln, der dicken, kurzen Joppe, wodurch nach und nach sowohl bei Frau von Rivola als bei Lucy ein ganz eigenthümliches Bild des jungen Ingenieurs entstanden war, und zwar so, daß, als derselbe nun endlich einmal in einfachem, kleidsamem Anzuge erschien, die Baronin später zu ihrem Manne sagte: »Ich war in der That ganz überrascht beim Anblicke deines Welden, den ich mir nach deinen Schilderungen als ein kleines, verwildertes Ungeheuer gedacht, und nun ... – Hätte man mir ihn als Herrn von Welden vorgestellt, so würde ich seinem Äußern und seinem Benehmen nach geglaubt haben, daß er aus einer sehr guten Familie sei.«

Trotzdem er aber nach dem Begriffe der Frau von Rivola eigentlich aus gar keiner Familie war, nur ein höherer Arbeiter, welcher hier auf dem Lande nützliche Dienste erzeigte und glücklicher Weise von so guten gesellschaftlichen Formen war, daß man sich seiner nicht zu schämen brauchte, wenn ihn zufällig einmal ein Besuch aus der Stadt traf, dabei das offene, gerade Wesen des jungen Mannes, alles das hatte es gemacht, daß man ihn unbefangen, ja, fast traulich behandelte, und daraus war gefolgt, daß er, der sich ein etwas kindliches Gemüth bewahrt, unter dem nachwirkenden Eindrucke jener für ihn glücklichen Stunden im Rivola'schen Hause dasjenige der Oberbauräthin betrat, auch hier an Unbefangenheit und ganz harmlose Vertraulichkeit glaubend.

Wäre Herr Welden in der That der Herr von Welden gewesen, so würde es die Baronin Rivola gewiß nicht so bereitwillig zugegeben haben, daß er Lucy, natürlicher Weise in Gegenwart von deren Gouvernante, auf Spaziergängen durch den Park oder durch Feld und Wald, wo das gute Mädchen so gern umherstreifte, begleitet hätte. Allerdings waren diese Spaziergänge zugleich Unterrichtsstunden für sie, in denen Welden mit ihr Botanik und Mineralogie trieb oder sie Ansichten der Natur zeichnen ließ, wofür sie ein hübsches Talent hatte. Auch im Hause behandelte ihn die Baronin in gleich unbefangener, vertraulicher Weise; er durfte ihr nicht nur zuweilen vorlesen, sondern sie erging sich auch gern mit ihm über das, was er gelesen, in weiterführenden Betrachtungen, ja, ihr Auge ruhte alsdann wohlwollend auf seinen offenen Zügen, und sie hatte sich dabei schon einmal auf dem Gedanken ertappt, wie schön es doch wäre, wenn sie einen eigenen Sohn ihr so gegenüber sitzen sehen könnte. Es war das eigentlich ein komischer, extravaganter Gedanke, der ihr dadurch gemildert erschien, daß sie sich Welden natürlicher Weise in der Uniform eines Kürassier- oder Husaren-Regiments dachte, und sie entschuldigte sich selbst gegenüber diesem Gedanken, daß der junge Mann in der That ihrem Vetter, dem Grafen Eugen Hartenstein, ziemlich ähnlich sehe.

Als Welden nun hierauf in die Stadt und in das Haus des Oberbauraths kam, trug er sein Verhältniß zu Frau von Rivola auch hieher über, nur vermißte er allerdings Lucy's lebhaftes Gesicht, Lucy's munteres, herzliches Wesen, ja, er ertappte sich oft auf dem Gedanken, wenn er an den grauen, herbstlichen Himmel hinaufblickte oder auf die vier Wände seines Bureau-Zimmers, daß er sich gegen früher jetzt wie in einem Gefängnisse befinde, ließ seine Phantasie hinaus über Berg und Thal schweifen, lagerte sich, natürlich in Gedanken, unter dem duftigen Schatten der Wälder oder an einem munteren Bergwasser, welches seine klare Flut über breite, glatte Kiesel und vorbei an moosbedeckten Felsen führte, munter plaudernd, wobei ihm dann häufig die Gestalt des jungen Mädchens erschien, ganz verkörpert, ja, identisch mit dem wunderbaren Dufte des Waldes, mit der heiteren, gesprächigen, Herz und Seele erfrischenden Quelle – eine lieblich blühende, wilde Rose.

Das Gute hatten Herbst und Winter, daß an Spaziergänge nicht gedacht werden konnte, er hätte dabei hier doch Manches von dem unbefangenen Wesen der Frau von Rivola und Lucy's vermißt; denn daß die Oberbauräthin nicht so ganz unbefangen, nicht so unbewußt natürlich mit ihm war, wie jene, hatte er trotz alledem bald herausgefühlt. Auch sie plauderte allerdings herzlich und zutraulich, aber aus allem, was sie sagte, klang ein Grundgedanke heraus, den er sich anfänglich nicht klar machen konnte, ja, er sprach aus ihren Blicken, wenn sie ihm gegenüber saß und sich, was auch hier häufig geschah, von ihm vorlesen ließ. Oft unterbrach sie auch den Lauf der Vorlesung, gerade wie Frau von Rivola gethan, nur waren die Betrachtungen, welche sie an etwas knüpfte, ganz anderer Art, meistens nicht aus dem Gelesenen hervorgehend, sondern in dasselbe hineingetragen, oft auch eine Situation der Romanfiguren mit ihrer eigenen Lage vergleichend, dabei zu scherzhaften Redewendungen Veranlassung gebend, welche die schöne Frau dadurch endete, daß sie sich zu dem jungen Manne hinüberbeugte, ihm das Buch mit sanfter Gewalt aus den Händen nahm und dabei sagte: »Lassen wir jetzt Vorlesung und Wortstreit; es ist gefährlich, sich mit Ihnen einzulassen.«

Nun sah er aber anfänglich durchaus keine Gefahr dabei, weder für sich, noch für Madame Lievens. Fühlte er doch keine Regung irgend welcher Art, wenn sie ihr blitzendes Auge mit dem ruhelosen Blicke in seine Blicke versenkte und wenn sie alsdann, mit herabgesenkten Lidern das Feuer dieser Blicke auslöschend, sich in die Ecke des Sopha's zurücklehnte, die starken, aber schön geformten Lippen geöffnet und leicht aufseufzend. Nur einmal, als er ihr am Tage nach der Wagner'schen Oper die Legende des Tannhäuser vorlas, während sie an ihrem Flügel saß und aus der Oper die betreffenden Melodieen spielte, überkam ihn etwas wie eine gewaltige Sehnsucht nach Morgenthau, nach dem Dufte frischen Quellwassers, und er fühlte sich auf einmal so beengt, als sei er aus der frischen, sonnbeglänzten Natur selbst in den Hörselberg hinabgestiegen.

Es war eigenthümlich, daß ihm gerade heute solche und ähnliche Gedanken kamen, jetzt, wo er über sein großes Reißbrett gebeugt stand und mit sicherer Hand Kreise zog und Linien zeichnete. Es war ein schönes Stück Arbeit, das er da vor sich hatte, die Construction einer Eisenbahnbrücke, welche in einem einzigen Bogen über ein schmales Felsthal gesprengt werden mußte. Unten floß das Bergwasser, an dem er so oft mit Lucy gewandelt; daneben befand sich ein Weg, der nach Eichenwald führte. Wie war es so erklärlich, daß ihm das blendend weiße Papier die Schneebahn, welche er so eben verlassen, lebhaft in's Gedächtniß zurückführte! War doch auch jetzt droben in den Bergen die Landschaft mit tiefem Schnee bedeckt, und war es doch als sicher anzunehmen, daß Lucy ihren Lieblingsweg an dem sprudelnden Bache vorbei häufig mit ihrem Schlitten und den beiden Ponies fahren würde – eine reizende Staffage unter dem hochgesprengten Brückenbogen!

Und wenn sie emporblicken würde, wenn das Werk seiner Hände dort oben so kühn und sicher zwischen den beiden riesigen Natursteinpfeilern ruhe, vielleicht auch in späteren Zeiten noch an den Erbauer, ihren freundlichen Lehrer, denkend!

Während er aber nun an das junge Mädchen dachte, hatte sich der Bleistift in seiner Hand hastig auf dem Papiere bewegt und ohne daß dies wissentlich in seiner Absicht gelegen war, trat mit Einem Male hier der kleine Schlitten mit den Pferdchen und der schönen Lenkerin hervor. Sie fuhr gegen den Brückenbogen und hob ihren Kopf empor, um sein Werk anschauen zu können. Das Köpfchen, welches er gezeichnet, war ganz klein und doch von einer solchen Ähnlichkeit, daß er, als es fertig war, fast erschrocken zu dem Gummi griff, um es wieder auszulöschen. Aber er that es nicht. Wozu auch, warum es nicht für spätere Zeiten aufbewahren, wo er überzeugt war, daß es ihm in der Erinnerung große Freude machen würde, sie so wieder zu sehen, aufblickend nach dem nun fertig gewordenen Werke, dessen Erbauer, er selbst, weiß Gott wo in der Welt herumstreifen würde? Er ließ die angefangene Zeichnung, wie sie war, und nahm die nöthigen Materialien, um einen anderen weißen Bogen darüber zu spannen, auf dem er alsdann wieder begann, Linien zu ziehen und Kreise zu zeichnen, diesmal ungestört von Gedanken, die vorhin so bereitwillig gewesen waren, ihm Anderes in seine Arbeit hineinzutragen. Jetzt hatte er sich dessen entledigt, und nach leichter, obgleich stundenlanger Arbeit stand die Construction der Brücke mit den nöthigen Gerüsten so sicher auf dem Papiere, daß er selbst seine Freude daran hatte.


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