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Die Umgebung von Eichenwald hatte sich, seit wir sie zum letzten Male gesehen, sehr zu ihrem Vortheile verwandelt; die Wiesen schimmerten im saftigsten Grün, die kleinen Sträucher waren in lichtgrüne Blätter eingehüllt, zwischen denen sich hier und da ihre natürlichen Blüthen in den verschiedensten Farben zeigten. Auch schien gerade dieses Mal das Frühjahr ganz besonders schön werden zu wollen: die erwachte warme Erde duftete so angenehm, wie selten, und die Lerche, welche sich von der aufgebrochenen Scholle in die Höhe schwang, schien fast trunken von Glückseligkeit zu sein, so übermüthig trillerte und jubilirte sie in die blaue Luft hinaus. – Und Eichenwald selbst lag in einem wahren Strauße von Blüthen, den ein Kranz von Laub- und Nadelholz einfaßte, wobei namentlich das letztere mit den Tausenden und Tausenden hellgrüner Tupfen der kleinen, neugierigen Triebe auf den tiefgrünen Zweigen der ernsten Bäume hervortrat, – welch' würziger Duft strömte dabei aus den Tannenwäldern! Es war wahrhaftig kein Wunder, daß im Landhause des Freiherrn von Rivola Fenster und Thüren weit geöffnet waren, um die winterliche Luft, die sich etwa noch in den Winkeln und Ecken versteckt hatte, auszuathmen und dagegen den herrlichen Duft des Frühlings einzuziehen.
Auch der Garten rings um das schöne Wohnhaus hatte schon überall die winterlichen Hüllen abgeworfen und zeigte sich im Feierkleide, würdig der schönen Jahreszeit; da war auf den Wegen kein Laub mehr zu sehen, da waren die Linien der Rasenplätze und Graseinfassungen scharf und glatt umhauen, da sah man die milde Erde auf den Blumenbeeten so aufgelockert und doch wieder so glatt, daß man ordentlich zu bemerken glaubte, wie üppig die überwinterten Pflanzen ihre dicken, saftigen Stengel und Blätter emportrieben; die Rosen zeigten schon kleine Knospen, die schweren Blüthenbüsche des zierlichen Flieders dort in dem Rondel, wo das weiße Marmorbild der Flora stand, hauchten die süßesten Düfte aus, und der mächtige Springbrunnen vor der Terrasse warf einen glitzernden Strahl des frischesten Wald- und Bergwassers hoch in die Luft empor.
An Dienern und Arbeitern aller Art, die das alles hier in Ordnung brachten oder erhielten, fehlte es nicht, und besonders am heutigen Morgen sah man in und außer dem Hause Alles in ganz besonders emsiger Thätigkeit: hier rechten die Gartenburschen die Wege und machten förmlich Jagd auf jeden Grashalm, der sich schüchtern zwischen dem feinen Kies hervorwagte, während andere dort unzählige große und kleine Pflanzentöpfe und Kübel an dem Hauptaufgange zur Terrasse malerisch gruppirten.
Unter Aufsicht der Frau Werber waren die Hausbedienten beschäftigt, in dem großen Salon, der auf die eben erwähnte Terrasse mündete, einen kleinen, aber höchst eleganten Frühstückstisch herzurichten, während begreiflicher Weise von der Herrschaft hier unten Niemand sichtbar war; Herr von Rivola arbeitete in seinem Schreibzimmer und die Baronin mit ihrer Tochter befanden sich im oberen Theile des Hauses, Jakob hatte in der Bibliothek zu thun; er räumte Bücher auf, die sein Herr heute Morgen gebraucht, und staubte die Glasscheiben ab. Da aber die Thür, welche von hier in's Schreibzimmer führte, nicht, wie an jenem Tage, als Jakob die rothe Brieftasche bemerkt hatte, offen stand, sondern fest verschlossen, dagegen das Fenster nach dem Hofe zu geöffnet war, so unterbrach er häufig seine Arbeit, um Eins mit dem Kutscher zu plaudern, welcher in der weißen Schürze neben einem gestern angekommenen Landau stand, Federn und Achsen desselben, sowie durch leichtes Zuwerfen der Wagenthüren die Güte der Schlösser an denselben untersuchend, während ein paar Stallbuben mit wollenen Lappen beschäftigt waren, Staub, wo sich solcher allenfalls vorfand, zu vertilgen.
»Der ist in der That famos,« sagte Jakob mit einer Kennermiene, »und sieht elegant aus.«
»Wobei er solid ist und nicht zu schwer,« gab der Kutscher zur Antwort, indem er den Wagen mit seiner mächtigen Faust eine halbe Räderumdrehung vor- und zurückschob, »und das ist hier in den Bergen die Hauptsache.«
»Für Euch, David,« lächelte Jakob, »oder vielmehr für die Pferde; mir ist es wichtiger, ob die Verdecke leicht auf- und zugemacht werden können.«
»Gerade recht,« brummte der Kutscher.
»Soll der neue Wagen heute gebraucht werden?«
»So viel ich von dem Kammerdiener gehört, wollen die Herrschaften nach dem Frühstücke zur Eichenkrone hinauffahren – na, dabei können wir sehen, was der Landau leistet, sowie auch der Viererzug Rappen, welchen das gnädige Fräulein mitbekommen wird.«
»Ich wollte, sie bekäme mich auch mit,« meinte Jakob mit heiterer Miene, – »da wird man's gut haben, wenn auch der Graf Hartenstein, den ich von einem meiner Bekannten her, welcher schon drei Jahre Reitknecht bei ihm ist, genau kenne, nicht der ist, mit welchem man gern Kirschen ißt.«
»Dummes Geschwätz – auch der Herr Baron hier hält dir deinen Mund ziemlich sauber von Kirschen, sollte ich meinen.«
»Ah, das ist ein Herr, der auch Andere leben läßt, und wenn Alle, welche hier zu befehlen haben, so wären, dächte ich nicht daran, mich zu verändern.«
»Nicht wahr, das Frühstück ist auf zwölf Uhr bestellt?«
»Punkt zwölf Uhr, zehn Couverts, nur Familie, niemand Fremdes – Verlobung und Unterzeichnung des Heirathscontraktes.«
»Das ist mir gleichgültig, ich habe nur nach der Zeit gefragt, um ungefähr zu wissen, wann der Wagen befohlen werden könnte – he, ihr Burschen,« rief er den Stallbuben zu, »nehmt da Wasser zu den Flecken am rechten Hinterrade, sonst bringt ihr sie nicht weg. – Stadler,« wandte er sich an einen der Gärtner, der auf dieser Seite des Hauses Pflanzen begoß, »geben Sie mir einmal auf einen Augenblick Ihre Gießkanne.«
Der Gärtner brachte das Verlangte herbei und sagte, als er es niedersetzte: »Ich brauche sie sogleich nicht mehr; lassen Sie sie nachher unter den Schuppen stellen.«
Dann nahm er seine Schaufel auf die Schulter und verließ den Hof durch das kleine Thörchen zwischen dem Ökonomie- und Stallgebäude, welches beständig verschlossen war und das er auch jetzt wieder hinter sich zusperrte.
»Dieser Stadler ist immer da zu finden, wo sich zwei Leute zusammen unterhalten,« sagte Jakob. »Habt Ihr das nicht auch schon bemerkt, David?«
»Ich bekümmere mich um so was nicht.«
»Ich weiß nicht, ich kann diesen Kerl nicht ausstehen, der immer . . .«
Statt seinen Satz zu vollenden, verschwand der Bediente vom Fenster, da er im Nebenzimmer ein Geräusch gehört zu haben glaubte.
Stadler aber ging von außen um das Ökonomiegebäude und verschwand an der Grenze des Parkes in einem Hohlwege, welcher von dort sanft aufwärts zu einem kleinen, einsam am Rande des Waldes stehenden Häuschen führte, von wo jetzt ein Mann, rasch den Hohlweg abwärts schreitend, fast in der Mitte desselben mit Stadler zusammentraf.
»Ich habe kaum abkommen können,« sagte dieser, »da drunten Alles die Hände voll zu thun hat – wir haben um zwölf Uhr Verlobung.«
»Ich weiß – ich weiß – das wird eine garstige Unterbrechung werden.«
»So gibt es was Neues, Bangart?«
»Ja, und Wichtiges – er hat mir sagen lassen, daß wir Alle auf unserem Posten sein sollen – er würde bald kommen.«
»So will er . . . .?«
»Insgeheim eine Unterredung mit deinem Herrn haben – aber ganz insgeheim – wenigstens will er, wo möglich, ohne gesehen zu werden, in das Schreibzimmer des Herrn von Rivola gelangen.«
»Gut, ich werde mir an der kleinen Thür zu schaffen machen – den Weg von dort in's Haus kennt er genau, nur soll er nicht durch die Bibliothek gehen, wo der Bediente Jakob beschäftigt ist, sondern durch das kleine Vorzimmer neben dem Salon.«
»Also auf deinen Posten!«
»Und was habe ich weiter zu thun?«
»Die kleine Thür hinter dem Polizeirathe zu verschließen, den Schlüssel zu dir zu nehmen und dich alsdann an das große Gartenthür zu begeben; von da wirst du mich auf der Höhe des Fahrweges stehen sehen, dabei aber beständig die Terrasse vor dem großen Salon im Auge behalten; siehst du nun den Polizeirath dort erscheinen und dir winken, so gibst du mir ein Zeichen. Du bist also überzeugt, daß dein Herr jetzt gerade allein in seinem Schreibzimmer ist?«
»Ganz allein – ich erfuhr von der Lisette, daß die Damen droben in ihren Zimmern sind.«
»So mache dir an der kleinen Thür zu schaffen und erwarte ihn in der Nähe, damit du ihm von Allem Bericht erstatten kannst.«
»Gut, so gehe ich denn auf meinen Posten.«
»Und ich kehre nach meinem Hause zurück, um ihn droben zu empfangen – unter uns gesagt, Stadler, ich bin froh, wenn die Geschichte endlich einmal ein Ende nimmt, denn es ist keine kleine Arbeit, so beständig auf dem Posten zu sein.«
»Und für mich da unten noch obendrein gefährlich, denn wenn die Anderen einen Argwohn hätten, ich glaube, sie schlügen mich todt.« –
Während Stadler und Bangart so mit einander redeten, fuhr ein Wagen, was die Pferde laufen konnten, auf dem Wege von der Stadt gegen Eichenwald zu, und der Kutscher hielt an dem großen Parkthore. Ein Herr sprang aus dem Wagen, läutete an und fragte, sobald ihm einer der herbeigeeilten Gartengehülfen geöffnet, nach dem Herrn von Rivola, worauf jener, mit den Achseln zuckend, erwiederte, »der Herr Baron würde heute schwerlich zu sprechen sein; er sei wichtig beschäftigt und der Befehl gegeben worden, Niemanden vorzulassen.«
Trotz dieser Antwort machte der Angekommene, welcher in großer Aufregung zu sein schien, an der Seite des Gartengehülfen rasch einige Schritte auf dem breiten Kieswege, offenbar in der Absicht, sich trotz der Abweisung dem Hause zu nähern und dabei auf einen günstigen Zufall rechnend. Darin hatte er sich denn auch glücklicher Weise nicht getäuscht und erblickte nicht sobald den ihm wohl bekannten Kammerdiener des Hauses, als er, den Gärtner zurücklassend, rasch auf jenen zueilte.
Der Kammerdiener erkannte Welden sogleich, und da der Ingenieur schon häufig mit en famille dinirt hatte, ihm also ein besonderer Grad von Vertraulichkeit mit der Herrschaft nicht abzusprechen war, so ging ihm der Kammerdiener einige Schritte entgegen und sprach dann in aufrichtigem Tone sein Bedauern aus, daß es ihm in der That unmöglich sein würde, ihn in diesem Augenblicke bei dem gnädigen Herrn zu melden.
»Und doch ist es nothwendig – dringend nothwendig, nicht in meinen Angelegenheiten, sondern in etwas, das den Herrn Baron ganz besonders interessirt; ich mußte ihm versprechen, ihm darüber mitzutheilen, was ich erfahren, in jeder Stunde, sei es, welche es wolle.«
»Um Ihnen gefällig zu sein, wollen wir einen Versuch machen.«
»Ich brauche nicht länger, als fünf Minuten – ja, kaum diese, wenn Herr von Rivola meine Mittheilung nicht für wichtig genug hält.«
»Gut – bitte, folgen Sie mir.«
Sie schritten die mit Blumen garnirte Treppe zur Terrasse hinan, dann durch den großen Salon, wo der Kammerdiener lächelnd auf die reich gedeckte Tafel wies und Welden hinter der vorgehaltenen Hand zuflüsterte: »Zum Frühstücke zur Feier der Verlobung des gnädigen Fräuleins.«
»Ah so!«
»Warten Sie hier einen Augenblick.«
Der Kammerdiener verschwand im Nebenzimmer, und es durchflog den jungen Mann ein eigenthümliches Gefühl, als er die glänzende Tafel anschaute, bedeckt mit Silber und Krystall, und als er bedachte, weßhalb er hieher gekommen. Er konnte sich einer bitteren Empfindung nicht erwehren, als er die hoch aristokratischen Personen, die in Kurzem um diesen Tisch sitzen sollten, in Gedanken dem gegenüber stellte, was den Besitzer dieses Hauses vielleicht in der gleichen Stunde erwartete. – Dabei wurde diese Stimmung nicht gemildert durch die im Nebenzimmer in ziemlich scharfem Tone ausgesprochenen Worte des Hausherrn:
»Ich weiß nicht, was ich mit dem Herrn Ober-Ingenieur Welden heute zu verhandeln hätte; wenn er aber durchaus darauf besteht – dieses »durchaus« war doppelt betont, – so lassen Sie ihn eben hereinkommen.«
Aber trotzdem wartete Welden die Rückkehr des Kammerdieners nicht ab, sondern trat rasch in das Nebenzimmer und stand hier vor Herrn von Rivola, der ihn mit einem ernsten, fast finsteren Blicke betrachtete.
Der Kammerdiener zog sich zurück und machte die Thür hinter sich zu.
»Sie werden es begreiflich finden, Herr Ober-Ingenieur,« sagte der Freiherr nach einer kurzen, peinlichen Pause, »daß ich einiger Maßen überrascht bin, Sie nach unserer letzten Unterredung wieder bei mir zu sehen.«
»Und dürfen überzeugt sein, daß nur die wichtigste Angelegenheit mich dazu veranlassen konnte.«
»Eine wichtige Angelegenheit, die uns Beide berührt? – Das ist mir gerade unerklärlich.«
»Erlauben Sie mir, aus Mangel an Zeit ohne alle Einleitung auf diese Angelegenheit zu kommen,« sagte Welden mit einem Blicke nach der Thür.
»Darum bitte ich recht sehr.«
»Ich war soeben bei Herrn Ferdinand Welkermann, welcher, wie Ihnen bekannt sein wird, auf der Polizeidirektion in Haft ist.«
»Bei Ihrem früheren Gegner, mit dem Sie sich sehr rasch aussöhnten.«
»Lassen wir das – er betheuerte mir seine Unschuld und nannte mir dabei Ihren Namen.«
»An seiner Unschuld habe ich nie gezweifelt – doch was kann ich für ihn thun? Nichts – gar nichts.«
»Er nannte Ihren Namen als Jemandes, der ihm Gutes erzeigt und dem er einen Gegendienst leisten möchte.«
»Ich wüßte nicht, worin.«
»Vielleicht, daß es in seiner Absicht lag, mich zu veranlassen, hieher zu gehen.«
»Und zu welchem Zwecke?«
»Kurz und gut, Herr von Rivola, um Sie zu warnen.«
»Ah, Her–r–r, Sie gehen etwas keck, etwas zu vertraulich zu Werke!«
»Die Zeit fehlt mir, um auf Ihre Worte zu entgegnen, und ich kann nur wiederholen, Herr Baron, daß ich in Erinnerung der vielen Güte und Freundlichkeit, welche ich in Ihrem Hause erfahren, gekommen bin, um Sie zu warnen, da ich weiß, daß Ihnen Unheil, wenigstens Unannehmlichkeiten der schwersten Art drohen.«
Der alte Mann hatte sich plötzlich entfärbt, hielt aber ein verächtliches Lächeln auf den Lippen fest und sagte, indem er seine blaue Brille dichter gegen die Augen drückte: »Unannehmlichkeiten – Unheil? Was Sie nicht alles wissen – wie wichtig Sie sich in meinen Augen darstellen!«
Welden that einen tiefen Athemzug; dann sagte er in entschlossenem Tone: »Herr Baron, Gott im Himmel weiß allein, wo sich Verdacht und wirkliche Schuld scheiden – ich bin von Ihrer Schuldlosigkeit überzeugt, aber Andere, deren Meinung schwerer in's Gewicht fällt, scheinen es nicht zu sein.«
»Wer sind – diese – Anderen?«
»Der Polizeiminister und der Polizeirath Merkel.«
»A–a–a–ah!« stieß Herr von Rivola mühsam hervor, indem er beide Hände von sich abstreckte und den Oberleib vorbeugte.
»Glauben Sie mir, Herr von Rivola,« bat der junge Mann mit zusammengelegten Handen, »ich beschwöre Sie bei allem, was Ihnen lieb und theuer ist – wie gesagt, ich bin von Ihrer Unschuld überzeugt, aber wenn Sie trotz derselben Ursache haben sollten, den Besuch des Polizeiraths Merkel, der Ihnen vielleicht in der nächsten Viertelstunde bevorsteht, gerade heute zu vermeiden . . .«
»Der Polizeirath Merkel will mich besuchen – heute noch?«
»Auf einen Befehl des Polizeiministers – den ich gelesen und in welchem ihm endlich die Erlaubniß gegeben wird, in der bewußten Angelegenheit, wenn gleich mit aller Schonung, gegen Sie vorzugehen.«
Der alte Mann stieß einen so unheimlichen Ton aus, indem er zusammenzubrechen schien, daß Welden rasch auf ihn zueilte; doch hatte er bereits durch Aufstützen der bebenden Hand auf die Ecke des Tisches wieder etwas Haltung gewonnen und brachte keuchend die Worte hervor: »Sie sagen das nicht aus irgend einem anderen – Grunde, – um sich zu rächen – um mich zu erschrecken?«
Nur die Absicht, den alten Mann vor dem Umfallen zu bewahren, hatte Welden gegen ihn hingetrieben, wogegen er jetzt, beim Anblicke der entsetzlich verstörten Züge des Herrn von Rivola, die seine Schuld verriethen, wenn auch seine Lippen darüber schwiegen, schaudernd einen Schritt zurücktrat, wobei er in dumpfem Tone ausrief: »Herr des Himmels, wie furchtbar ist das! – Doch um so weniger ist Ihre Zeit zu verlieren,« setzte er nach einem augenblicklichen Stillschweigen mit seiner gewohnten Entschlossenheit rasch hinzu – »vertrauen Sie mir, Herr von Rivola – folgen Sie mir, ich beschwöre Sie, nehmen Sie Ihren Hut und gehen Sie mit mir in den Garten: es kann das kein Aufsehen erregen, und auch das nicht, wenn Sie drunten am Gitterthore in meinen Wagen steigen, welcher dort hält.«
»Ja, ja, Ihren Wagen – oder lasse ich selbst einspannen, ich habe raschere und ausdauerndere Pferde!«
»Das würde unnöthiges Aufsehen geben – ich fürchte fast, daß Sie von Spähern umringt sind – ich führe Sie quer durch die Berge auf die nächste Poststation und von da nach Kirchheim, wo ich augenblicklich beschäftigt bin – Sie kennen Kirchheim, hart an der Grenze?«
»Ja, ja, hart an der Grenze, und das ist gut – eilen wir!«
Wie er aber den Tisch losließ, um seinen Hut zu nehmen, der auf einem Stuhle lag, schwankte er hin und her und konnte nicht anders, wie er mit einem matten Lächeln sagte, als einen Augenblick ausruhen, ehe sie gingen. Dann brach er förmlich auf einem Sopha in der Ecke des Zimmers zusammen, drückte die Hände vor das Gesicht und sagte mit einem Tone des tiefsten Wehes, welcher schneidend in Weldens Seele drang: »O, meine Lucy – meine arme, arme Lucy!«
Plötzlich aber schien er sich zu besinnen, wie nothwendig es sei, zu eilen, denn er half sich mühsam, aber rasch von dem Sopha empor, und seine Finger griffen nach einem Schlüsselbunde, den er in der Tasche seines Rockes trug; die Schlüssel klirrten laut zusammen, als er sie hervorzog.
»Ja, ja, kommen Sie,« rief er hastig, mit zuckenden Lippen Welden zu – »kommen Sie, es ist vielleicht gut, wenn ich Sie nach Kirchheim begleite, um denen hier von jenseit der Grenze zu sagen, was ich Ihnen zu wissen thun will – in der Nähe sind dergleichen Leute so rücksichtslos – o, es ist lächerlich, mir solche Dummheiten zuzutrauen – aber ich kenne das – was die Polizei schonend nennt, und ein guter Name, der einmal mit Schmutz beworfen ist, mag sehen, wie er wieder zu höherer Reinheit kommt – deßhalb weichen wir dem aus – ich muß das thun – o, mein armer Kopf, ich kann kaum mehr denken – für meine Frau und meine gute, gute Lucy, – von drüben werde ich selbst an den König schreiben und mich über die Rücksichtslosigkeit seiner Beamten beklagen – aber meine Frau – ich muß ihr doch sagen, weßhalb ich mit Ihnen gegangen bin – und doch kann ich ihr nichts sagen – darf ich ihr nichts sagen, trotzdem wir heute Gäste erwarten – ah, das ist sehr traurig, entsetzlich traurig!«
Er beugte sein Haupt wie unter der Wucht eines furchtbaren Druckes tief herab, und es dauerte einige lange, für Welden bange Sekunden, ehe er sich wieder aufrichtete; dann stieß er rasch hervor: »Ja, Welden, Sie sind mein Schutzengel, Sie werden mir mit Ihrer Entschlossenheit helfen, mich mit Ihrer starken Hand unterstützen – kommen Sie – kommen Sie, ehe es zu spät ist!«
»Ehe – es – zu – spät – ist!« Dies sagte Herr von Rivola in dem heiseren Tone des tiefsten Entsetzens und streckte die Hände weit von sich ab, wie Jemand, der ein Gespenst sieht, dessen Erscheinen er gefürchtet und das er von sich abwehren möchte, denn unter der Thür, die in's Schreibzimmer fühlte, stand der Polizeirath Merkel.
Es war ein furchtbarer Augenblick für alle Drei – ein Augenblick, in welchem die Betreffenden von den widerstreitendsten Gefühlen erfüllt waren, sich aber fast unwillkürlich im Sinne der Worte einigten, welche Herr von Rivola mit tonloser Stimme aussprach: »Herr Polizeirath, wir haben Sie erwartet.«
Damit schien auch der alte Mann seine Fassungslosigkeit verloren zu haben, und setzte hinzu, indem er auf den Beamten zutrat: »Es ist hier im Vorzimmer wohl nicht der Ort, darüber zu reden – folgen Sie mir in mein Schreibcabinet – und Herr Welden?«
Der Polizeirath warf einen lächelnden Blick auf den jungen Ingenieur und meinte alsdann: »Ich würde sagen, Sie hatten mein Vertrauen mißbraucht, doch da das für einen Dritten geschah, will ich es so streng nicht nehmen – ja, ich könnte Ihnen vielleicht dankbar dafür sein, daß Sie mir hier einen sehr bitteren Anfang erspart haben; jetzt aber muß ich Sie bitten, uns zu verlassen.«
Herr von Rivola hatte langsam seine blaue Brille abgenommen, um seine Augen mit dem Schnupftuche abzuwischen, und als er hierauf seinen Blick gegen Welden richtete, lag im Ausdrucke desselben das Gefühl innigsten Dankes; auch streckte er ihm beide Hände entgegen, wobei er sagte: »Gehen Sie mit Gott, mein lieber junger Freund, und seien Sie versichert, daß der Groll, den ich gegen Sie in meinem Herzen hegte, vor meiner ehemaligen Freundschaft für Sie, vor meiner herzlichen Liebe verschwunden ist – gehen Sie mit Gott!«
Wie Welden hierauf aus dem Zimmer gekommen war und das Haus verlassen hatte, wußte er später nicht mehr: er fand sich endlich vor seinem Wagen stehen, und als er auf das Landhaus zurückblickte, glaubte er, an einem der offenen Fenster Lucy lehnen zu sehen, ja, es war ihm, als winke sie ihm mit der Hand zum Abschiede; dann fühlte er, wie der Wagen mit ihm davon fuhr.
Herr von Rivola hatte sich unterdessen auf dem Stuhle vor seinem Schreibtische niedergelassen, und der Polizeirath saß dicht vor ihm. So unbefangen dieser auch in ähnlichen Fällen ein Gespräch eröffnen konnte, so war es ihm doch lieb, daß der Andere sagte:
»Ich weiß, daß Sie von dem Polizeiminister ermächtigt sind, sich in einer gewissen Angelegenheit mit mir zu benehmen, weiß aber auch, daß Ihnen darin die größte Schonung meiner Person und meines Hauses anempfohlen wurde, und glaube noch hinzusetzen zu dürfen, daß ich diese Schonung von Ihnen, einem langjährigen Bekannten, auch ohnehin hätte erwarten können – und nun bitte ich, mir zu sagen: worauf gründet sich der Befehl des Polizei-Ministers, sowie Ihr etwas brüskes Eindringen in mein Haus?«
Was der Polizeirath hierauf sagen wollte, hatte er bei sich so genau überlegt, ja, Wort für Wort wohl erwogen und ausgearbeitet, daß er nun im Stande war, in der klarsten Auseinandersetzung, mit auf's logischste zusammengefügten Thatsachen seinem bedauernswürdigen Gegenüber den Beweis zu führen, wie er vollkommen, überzeugt sei, daß Herr von Rivola der Verfertiger der falschen Banknoten sei.
Und wie er nach einander aller Umstände erwähnte, von dem kleinen Kupferklümpchen an bis zu dem im alten Thurme aufgefundenen Stückchen Papier, wie er auf's scharfsinnigste alle leichteren Nebenumstände hinein verflocht und mit vollkommenster Überzeugung seinem Ziele näher kam, so erkannte er selbst immer mehr die Richtigkeit alles dessen, was er sagte, in dem stufenweisen Zusammensinken des Freiherrn, und als er schließlich der rothen Mappe hier in eben diesem Schreibtische erwähnte, deren augenblickliche Auslieferung er verlangte, drückte Herr von Rivola die Hände vor das Gesicht und stieß einen tiefen, schmerzlichen Seufzer aus.
»Und nun, was soll weiter geschehen?«
»Die Ausübung meiner Pflicht,« gab hierauf der Polizeirath zur Antwort, »ist mir noch niemals so sauer geworden, als im gegenwärtigen Augenblicke – ich glaube, es ist nichts Anderes zu thun, als daß Sie die Güte haben, mich nach der Stadt zu begleiten.«
»Heute – jetzt – in diesem Augenblicke?« rief Herr von Rivola, auffahrend. »Unmöglich – unmöglich!«
»Um kein Aufsehen zu erregen, nehmen wir einen Ihrer Wagen.«
»Heute – jetzt? Ich habe Ihnen ja schon gesagt, daß dies unmöglich ist – unmöglich – unmöglich!«
»Aber was wollen Sie denn, daß ich thun soll?«
»Mit Schonung gegen mich handeln, Herr Polizeirath!«
»Mit Schonung, gewiß – ich würde auch so mit Ihnen verfahren, wenn mir dies auch nicht, wie Sie zu wissen scheinen, noch ganz besonders anempfohlen worden wäre – aber sagen Sie mir, mein verehrter Herr, wie soll ich vor meinem Vorgesetzten, der mich hieher gesandt, bestehen, wenn ich Ihrem Verlangen nach das Haus verlasse, ohne mich Ihrer Person versichert zu haben?«
»A–a–a–ah, Sie wollen sich meiner Person versichern?«
»Leider muß ich das, mein lieber Herr von Rivola – leider muß ich das, in dem Punkte habe ich ganz bestimmte Befehle!«
»Sich – meiner – Person – versichern – mich in's Gefängniß führen?«
»Leider – leider!« sagte der Polizeirath mit einem bedauernden Achselzucken.
»Und heute?«
»Heute!«
»In dieser Stunde?«
»Sogleich, wenn es Ihnen gefällig ist!«
»Nein, nein,« rief der unglückliche alte Mann, hastig aufspringend, in lautem Tone – er hatte bis jetzt das Gespräch mit leiser Stimme geführt – »das ist unmöglich – unmöglich! Wissen Sie wohl, Herr Polizeirath, daß ich in der nächsten Viertelstunde Gäste erwarte, Gäste, welche den höchsten Kreisen der Gesellschaft angehören?«
»Ich weiß das.«
»Wissen Sie auch, daß es sich um die Verlobung meiner armen Tochter Lucy handelt, um deren Verlobung mit dem Grafen Eugen Hartenstein – und nennen das mit Schonung handeln; den Vater zu verhaften, während er im Begriffe steht, den Heirathscontrakt seiner Tochter zu unterzeichnen?«
»Auch die Schonung hat ihre Grenzen, Herr Baron.«
»Wenn ich Ihnen aber mein Wort gebe, daß ich mich in zwei Stunden zu Ihrer Verfügung stellen will, nachdem Sie sich diese zwei Stunden, ohne Aufsehen zu erregen, hier in meinem Cabinette aufgehalten – mein feierliches Ehrenwort – das Wort eines . . .? – Ah, ich verstehe Ihren Blick!« fuhr er, wild ausbrechend fort, wobei er sich mit einer verzweiflungsvollen Geberde vor die Stirn schlug.
»Sie thun mir Unrecht, Herr Baron,« sagte der Polizeirath, näher tretend und sanft die Hand des Anderen ergreifend – »Sie haben meine Miene vollkommen mißverstanden, denn sie sollte meine Zustimmung ausdrücken, so wie ich dies jetzt mit klaren Worten thue – ja, ich will, Ihrem Worte vertrauend, zwei Stunden dort nebenan in der Bibliothek auf Sie warten.«
»Ich danke Ihnen – zwei Stunden, eine lange Zeit, und doch wie rasch wird sie verflogen sein! Gehen Sie denn, Herr Polizeirath, und gestatten Sie mir, daß ich mich ein wenig erhole von dem furchtbaren Schlage, um mit heiterem Gesichte meinen Gästen gegenübertreten zu können.«
Herr Merkel ging nach einer höflichen Verbeugung in das Bibliothekzimmer und setzte sich dort auf einen Stuhl an's Fenster. »Diese zwei Stunden konnte ich dem unglücklichen Manne schon bewilligen,« dachte er; »ein Entrinnen, selbst wenn er sein Ehrenwort leichtsinnig brechen wollte, ist unmöglich. Eichenwald ist rings umher zu gut besetzt, und seine Energie ist gebrochen. Ja, wenn dieser tolle Hitzkopf, dieser Welden, noch da geblieben wäre, würde ich den Anderen nicht eine Sekunde lang außer Acht gelassen haben – ein ganz verfluchter Bursche, dieser Welden!«
Der, dem dieser Ehrentitel galt, hatte indessen allerdings in seinem Wagen Eichenwald verlassen, war aber noch nicht weit gekommen, als er, bewegt von den widerstreitendsten Gefühlen, gequält von den schlimmsten Gedanken, seinem Kutscher befahl, zu halten und ihn zu erwarten, dann aus dem Wagen sprang, gegen das große Gitterthor des Parkes zurückeilte, den schattigen Garten betrat und sich hier durch die verschlungenen Wege der dichten Gebüsche dem Landhause so weit näherte, bis er die Terrasse und eines der Fenster von Herrn von Rivola's Schreibzimmer im Auge hatte.
Während dessen war der alte Herr, vor seinem Schreibtische sitzend, kraftlos in sich zusammengesunken und machte erst nach einiger Zeit die furchtbarsten Anstrengungen, um seine Fassung wieder zu gewinnen: »Sturm – Schiffbruch, die ganze Frucht tausendfältiger Mühe verloren – retten wir, was vielleicht noch zu retten ist!«
Die Schlüssel des Schreibtisches zitterten in seiner Hand, weßhalb er die Finger fest zusammenpreßte, damit das Klirren nicht im Nebenzimmer gehört werde, und dabei war sein Blick so unsicher geworden, daß er mehrere Male vergeblich versuchte, den richtigen Schlüssel einzustecken. Noch raffte er sich mit übermenschlicher Anstrengung zusammen, öffnete den Schreibtisch, zog das uns wohlbekannte Fach hervor und war im Begriffe, die rothe Mappe herauszunehmen, als er, erschreckt aufhorchend, vor seiner Zimmerthür das Rauschen eines Kleides und eine ihm wohlbekannte Stimme vernahm, welche fragte: »Darf ich hereinkommen, Papa?«
Rasch warf er die Schublade wieder zu, setzte hastig seine blaue Brille auf, damit Lucy seine feuchten und gerötheten Augen nicht sähe, und sagte dann: »Gewiß, mein Kind, gewiß – ich freue mich, dich zu sehen.«
Und daß er sich in der That darüber freute, hätte man sehen können an seinem jetzt plötzlich ganz veränderten Gesichtsausdrucke. Trat doch das holde Geschöpf in seinem einfachen, weißen Kleide wie ein Friedensengel vor ihn hin, erschien ihm doch seine Tochter wie ein Stern in finstern Nacht, groß, Rettung verheißend – war es ihm doch, als rief ihm eine Stimme zu: »Nein, nein, es ist ja nicht möglich, so unglücklich zu werden – es ist ja alles das nur ein böser Traum, aus dem ich erwachen muß, sobald sie an meine Seite tritt!«
Und als sie nun neben ihm stand, als sie sich über ihn hinbeugte, als ihre Wangen seine Stirn berührten, da legte er seinen Arm um ihren Hals, zog sie heftig und innig an sich, und seiner Brust entstiegen die schmerzlichen Laute verhaltenen Weinens.
Es dauerte eine ziemliche Weile, bis er sie aus seinen Armen ließ, bis das junge Mädchen darauf ihren Vater betrachtete, bis sie mit ihren weichen Fingern leicht ein paar Thränen von seinen Wangen wischte und bis sie dann in einem so eigenthümlichen, so rührenden Tone sagte: »Papa, auch du scheinst nicht froh und nicht glücklich zu sein an dem heutigen, festlichen Tage?«
»Auch du?« gab er in fragendem Tone zur Antwort. »Und wer ist es noch mehr, dem dieser Tag nicht heiter erscheint?«
Ein paar Sekunden lang schwieg Lucy auf diese Frage, und erst nachdem sie die Rechte ihres Vaters genommen, sie an ihr Herz, an ihre Stirn, an ihre Lippen gedrückt, sagte sie mit leiser, bebender Stimme: »Ich bin nicht glücklich am heutigen Tage – werde aber doch deine gehorsame Tochter sein.«
Zu jeder anderen Zeit würde er über die Worte seiner Tochter, als über die Launen eines jungen Mädchens, gelächelt haben: heute aber, selbst so unglücklich mit dem namenlosen Weh in seinem Herzen, zog er sein Kind noch fester an sich, wobei er hastig die Worte ausstieß: »Aber du sollst ja glücklich werden, Lucy, du sollst und mußt glücklich werden, wenigstens du – wenn auch ... Doch warum bist du nicht glücklich? Spricht dein Herz nicht für die Verbindung, die wir, die besonders deine Mutter so wünschenswerth für dich ansieht?«
»Ich sagte dir vorhin schon, ich würde deine gehorsame Tochter sein,« erwiederte Lucy mit einem recht ernsten, traurigen Blicke; »das weißt du auch, und eben so gut weiß ich, daß die Festlichkeit, auf welche sich meine Mutter so unsäglich freut, in kurzer Zeit stattfinden wird – aber ich habe nie vor dir geheuchelt, mein guter Vater, und will dir deßhalb auch jetzt nicht verhehlen, daß mich zu meinem Vetter Hartenstein nicht jenes Gefühl hinzieht, das man haben muß, um eine glückliche Braut zu werden; ich möchte nicht so bald schon dieses unser liebes Haus verlassen, Mama und dich verlassen – o, ich möchte noch lange, lange Jahre bei euch bleiben!«
Herr von Rivola stieß einen tiefen, schmerzlichen Seufzer aus; dann sagte er, seinen scheuen Blick eine Sekunde lang nach der Thür des Nebenzimmers richtend: »Aber man kann nicht immer zusammenbleiben, meine liebe, gute Lucy – nein, nein, man kann nicht immer – endlich muß es doch einmal geschieden sein – wenn – auch – mit – aller Schonung.«
»Gewiß, mein lieber, guter Vater, ich begreife das wohl,« sagte sie in weichem, zutrauensvollem Tone, wobei sie ihn leicht auf die eiskalte Stirn küßte. »Ich begreife es und verstehe es, wäre aber von selbst wohl nie darauf gekommen, wenigstens noch lange, lange, lange nicht, eine solche Trennung anzubahnen. Wenn ich aber,« setzte sie mit einem verschämten, reizenden Lächeln hinzu, »selbst einmal Veranlassung dazu gegeben hätte, so würde ich auch an dem betreffenden Tage haben ausrufen können: O, ich fühle mich sehr, sehr glücklich!«
»Und heute fühlst du dich unglücklich?«
»Beinahe so.«
»Und ohne eine andere Veranlassung, als daß dir dein Vetter Eugen Hartenstein gleichgültig ist?«
»O, er ist mir sehr gleichgültig!«
»Und du hast keine andere Veranlassung, Lucy? Sieh mir in die Augen, mein gutes, ehrliches, offenherziges Mädchen – sprich mit deutlichen, klaren Worten – oder soll ich dir vielleicht sagen, was mir jene beiden Thränentropfen erzählen, welche da unter deinen Wimpern hervorquellen?«
»O, laß sie dir erzählen,« rief sie schmerzlich bewegt aus, wobei sie sich in seine Arme warf – »laß dir von ihnen die volle Wahrheit erzählen, ich will ja nichts verheimlichen!«
»Lucy, du liebst!«
»Ich weiß es nicht.«
»Dir ist jemand Anders theurer, als dein Vetter Hartenstein?«
»O, Viele sind mir theurer, als er – du und meine gute Mutter und Elise . . .«
»Und wer noch mehr?«
»Und – Herr Welden.«
Herr von Rivola löste sanft die ihn umschlingenden Arme seines Kindes, sah darauf Lucy in das tief erröthende Gesicht, wobei er langsam ihre Worte wiederholte: »Und Herr Welden.«
»Ich hätte dir das nicht gesagt, mein guter Vater, wenn ich es nicht am heutigen Tage für meine Pflicht halten würde, und ich habe es dir gerade am heutigen Tage gesagt, um wahr vor dir zu erscheinen und um mich später rechtfertigen zu können, wenn ich mit meinem Vetter Hartenstein nicht ganz so glücklich werden sollte, wie ihr es wünscht.«
»Als – wir – es – wünschen – ja, gewiß.«
»Ich habe es erst heute gesagt, weil ich ja wohl weiß, daß nichts mehr zu ändern ist, und weil ich dir und Mama nicht den Kummer machen wollte, irgend etwas an dem zu ändern, was euch Freude macht.«
»Meine gute, gute Lucy!«
»Die Festlichkeit wird und muß also vor sich gehen, verstehst du, mein guter Vater – sie muß vor sich gehen, denn ich möchte den Schmerz der guten Mutter nicht mit ansehen, wenn das, was sie so mühsam fast zu Stande gebracht, vereitelt würde – und durch meine Schuld – o, nie, nie!«
Der alte Mann hatte sein Kind mit einer so hastigen Bewegung von sich geschoben, daß ihm Lucy erschreckt nachsah, als er, nachdem er nun rasch aufgestanden war, in dem Zimmer auf- und abschritt.
Er schien plötzlich mit einem Gedanken beschäftigt, der ihm beim ersten Erfassen fürchterlich erscheinen mochte, denn er zuckte mit dem Kopfe und wehrte mit der rechten Hand etwas Unsichtbares hastig von sich ab; doch glättete sich bald darauf seine Stirn wieder, seine Augen verloren den Ausdruck des Entsetzens, und nachdem er noch einige Male, sinnend auf den Boden blickend, an Lucy vorübergeschritten war, blieb er vor ihr stehen und sagte: »Ja, ja, es müßte allerdings ein ganz erstaunliches Aufsehen machen, wenn plötzlich ein solch' störendes Ereigniß einträte!«
»O nein, nein!«
»Nicht gerade durch deine Schuld, Lucy,« sprach er mit einem traurigen Lächeln; »es könnte ja ein wohlthätiges Erdbeben kommen, oder der Himmel einstürzen, oder etwas Anderes dergleichen.«
»Dein Scherz thut mir weh, denn ich sehe wohl, er kommt nicht aus einem frohen Herzen – aber verzeihe, lieber Vater,« rief sie, auf ihn zueilend und ihre beiden Hände auf seine Schultern legend, »daß ich an Einem fort nur von mir gesprochen und nicht nach deinem Befinden gefragt, obgleich es mir beim Eintreten aufgefallen, wie blaß du bist!«
»Ja, so ein Ereigniß,« sagte er, ohne auf ihre Worte zu achten – »wer weiß – wer weiß – vielleicht daß auch die Hartenstein verhindert sind oder daß es sonst etwas gibt – wir haben wohl noch eine halbe Stunde, ehe dein Heirathsvertrag unterzeichnet wird.«
In diesem Augenblick öffnete der Kammerdiener langsam die Thür und meldete, daß auf der Höhe des Weges einige Wagen gesehen würden.
»Wie heißt es doch in jenem Gedichte?« fragte Herr von Rivola mit einem matten Lächeln. »Ah, richtig – ›und das Unglück schreitet schnell‹ – ich lasse meine Frau bitten, die Herrschaften zu empfangen.«
Als der Kammerdiener die Thüre leise hinter sich zugezogen hatte, blickte Herr von Rivola wohl eine halbe Minute lang in die Höhe, wobei er seine Unterlippe zwischen die Zähne klemmte; dann legte er rasch seine beiden Hände um Lucy's Haupt, und ohne irgend welche Anstrengung zu machen, seine hervorstürzenden Thränen zu verbergen, rief er mit einem wilden, leidenschaftlichen, herzzerreißenden Tone: »Und nun lebe wohl, meine Lucy, mein innig geliebtes Kind, du, mein Glück, du, die Freude meines Lebens! Gehe jetzt zu deiner Mutter – es ist die höchste Zeit!«
»Nein, nein, so verlasse ich dich nicht! O, wie bin ich jetzt doppelt unglücklich, dir diesen Kummer, diese Aufregung verursacht zu haben!«
»Du nicht, du nicht – bei Gott, du nicht, mein Kind! Es ist mein Verhängniß, es ist die ewige Gerechtigkeit, die einen so tiefen Schatten wirft in mein Leben gerade an dem Tage, der mir so froh und festlich erschien – geh' zu deiner Mutter und laß mich jetzt allein, um – mich zu sammeln – ich bitte dich herzlich, Lucy, verlasse mich!«
Und als sie ging, gehorsam seinem Befehle, als sie schon an der Thür war, um das Zimmer zu verlassen, da rief er: »Lucy!« mit einem Tone, der tief in ihre Seele schnitt, da eilte er auf sie zu, schloß sie nochmals heftig in seine Arme, küßte ihre Stirn, ihre Lippen, ihre Augen, ihr Haar, und sagte dann, während ein Thränenstrom ihn fast erstickte: »Und nun, mein geliebtes Kind, mag kommen, was will – können wir doch nicht verlangen, daß unser Lebenspfad immer glatt und eben ist, daß die Sonne beständig von einem wolkenlosen Himmel auf uns herablächelt – aber was auch geschieht, was auch kommen mag, denke, Lucy, – denke, Lucy, daß es von jeher mein innigstes Bestreben war, dein Glück, nur dein Glück zu begründen! Denke oft an diese Stunde, und sei versichert, daß dein armer Vater nicht anders handeln konnte, als er handelte! Halte mich deßhalb so lieb in deinem Gedächtniß, wie ich dich liebe – und nun lebe wohl, Lucy!«
Darauf drängte er sie sanft zur Thür hinaus, und als sie hörte, daß er den Schlüssel im Schlosse zweimal umdrehte, war es ihr gerade, als müsse sie wieder gewaltsam zu ihm eindringen und an seiner Seite bleiben, bis er sich gesammelt habe, bis er mit ihr hinaus in den Salon gehen könne. Doch hatte sie weder Zeit zum Handeln, noch zum Überlegen, denn sie vernahm jetzt die Stimme ihrer Mutter, welche beunruhigt nach ihr fragte.
Herr von Rivola war an der Thür stehen geblieben und streckte seine Hände aus, wie sein verschwundenes Kind segnend, und so verharrte er wohl eine Minute, das Antlitz nach oben gerichtet, sich innig flehend an Ihn wendend, der unser Aller Vater ist. Es war ein stummes Gebet, das er dachte und das ihn wunderbar gestärkt zu haben schien, denn das fieberhaft Erregte in seinen Zügen war verschwunden und hatte einem so ruhigen Ausdrucke Platz gemacht, daß Lucy, wenn sie es gesehen hatte, darüber erstaunt und erfreut gewesen wäre. Aber er schien noch nicht daran zu denken, in den Salon zu gehen, um dort seine hohen Gäste zu empfangen, obgleich er das Rollen ihrer Equipagen, das Anhalten derselben vor der Terrasse, ja, sogar vereinzelte Ausrufungen freudiger Begrüßung vernommen hatte; vielmehr öffnete er die Thür des Bibliothekzimmers und bat Herrn Merkel, für einen Augenblick bei ihm einzutreten – »nur für einen Augenblick, mein verehrter Herr Polizeirath,« wiederholte er und setzte alsdann mit einem fast heiteren Ausdrucke hinzu: »Sie haben mir zwei Stunden bewilligt, und wenn ich auch vielleicht diese ganze Zeit nicht auszunutzen brauche, so wissen Sie, daß ich da draußen noch ein Geschäft abzumachen habe, nach dessen Beendigung erst ich mich ganz zu Ihrer Verfügung stellen kann. Um Ihnen aber zu beweisen, wie sehr es mir darum zu thun ist, mich für Ihre Freundlichkeit und Schonung dankbar zu bezeigen, so will ich vorher, ehe ich meinen Weg da hinaus antrete, Ihnen die gewünschte rothe Mappe mit ihrem ganzen Inhalte einhändigen.«
Herr Merkel verbeugte sich schweigend, und als er nun näher zum Tische trat, war er überrascht, ja, erfreut von der Ruhe und Fassung, mit welcher Herr von Rivola zu ihm sprach, und von der festen Hand des alten Herrn, mit welcher er das uns wohlbekannte geheime Fach aufschloß, die rothe Mappe herausnahm, sie behutsam öffnete und alsdann eine Masse von Banknoten, Tausender und Fünfhunderter, wohlgeordnet in bezeichneten Paketen, seinen erstaunten Blicken darlegte.
»Dies war doch, was Sie gewünscht?« sagte der alte Herr.
»Allerdings, und ich kann Ihnen dabei nicht verhehlen, daß es mehr ist, als ich erwartet.«
»Sie sehen daraus, Herr Polizeirath, was für ein vortrefflicher Haushälter ich bin – nehmen Sie Alles, wenn ich bitten darf.«
»Nachdem Sie mir vielleicht eine Zählung gestattet und ich hierauf ein kleines Protokoll aufgenommen über den allerdings erstaunlichen Inhalt dieser Mappe.«
»Wozu diese Förmlichkeiten? Herr Polizeirath, Sie dürfen mir glauben, daß meine Zeit unendlich kostbar ist – machen wir die Sache für den Augenblick einfacher; hier ist Bindfaden, Siegellack und Petschaft, verschließen Sie die Mappe damit, und wenn Sie dieselbe später eröffnen, so können Sie ja, wenn Sie wollen, das unverletzte Siegel vorher constatiren lassen.«
»Wenn es Ihnen so lieber ist . . .«
»Ich bitte darum – nehmen Sie Platz.«
»Nur für einen Augenblick, wenn Sie erlauben – ich will Ihre kostbare Zeit nicht unnöthig in Anspruch nehmen,« sagte Herr Merkel, indem er rasch einen Stuhl an den Schreibtisch schob, sich vor die Banknoten setzte, um dieselben, ehe er sie wieder in die Mappe verschloß, noch einmal mit aufrichtiger Bewunderung zu betrachten. »Welche Arbeit,« rief er dann – »welche erstaunliche Arbeit!«
»Was wollen Sie – das Ergebniß langer, mühe- und arbeitsvoller Jahre – dieser Schatz, Herr Polizeirath, könnte noch ungleich größer sein, wenn ich nicht große Summen für das allgemeine Wohl geopfert hätte durch meine Betheiligung an gemeinnützigen Anstalten, die leider zum kleinsten Theile für mich nutzbringend gewesen sind.«
»Wer weiß das nicht, Herr Baron! Sie haben große Summen geopfert auf eine edle, uneigennützige Art; es wird das gewiß nie vergessen werden.«
»Ich hoffe so, wenn auch nicht für mich – ich bin ein alter Mann – so doch vielleicht für meine Frau und meine einzige Tochter. O, meine arme Lucy!« rief der alte Mann plötzlich in einem so schneidenden Tone, daß der Polizeirath ihm mit warmer Empfindung die Hand auf den Arm legte und mit einem leichten Drucke sagte:
»Vergessen Sie nicht, Herr von Rivola, daß Sie mächtige Freunde haben, und daß auch ich, der hier vor Ihnen sitzt, ein aufrichtiger Bewunderer bin ebensowohl Ihrer großen Kenntnisse als Ihrer sonstigen ausgezeichneten Eigenschaften. O, Herr von Rivola, man spricht uns Polizeileuten gern das tiefe Gefühl ab, und doch kann ich Ihnen den Jammer nicht beschreiben, der mich befällt, wenn ich bedenke, was aus Ihnen geworden wäre, wenn Sie Ihr tiefes Wissen nur dem allgemeinen Wohle gewidmet hätten!«
Hier zeigte sich auf dem Gesichte des alten Herrn ein ganz eigenthümliches Lächeln, als er versetzte: »Und soll ich Ihnen vielleicht sagen, was aus mir geworden wäre? Ein armer Mann, ein Bettler! Wer hat mir Ersatz geboten, als ich große Summen hier und da verlor, als ich Dampfschiffe bauen ließ, als ich Wasch- und Badeanstalten einrichtete, als ich versuchte, aus ordinärem Gußeisen Stahl zu machen? Niemand! Der Narr hieß es, mit seinen schwindelhaften Projekten, dieser unruhige Kopf, der nicht genug zusammenscharren kann! – Doch lassen wir das jetzt,« setzte er hinzu, einen Blick auf die Standuhr über dem Kamine richtend, »unaufhaltsam rennt der Zeiger – der Zeiger dort, wie der unserer Lebensuhr – was hilft alles vergebliche Klagen? Sind wir doch nicht im Stande, auch nur den hundertsten Theil der vorbeigezogenen Sekunde zurückzukaufen! Also vorwärts mit festen Augen, bis unsere Stunde ausgeschlagen hat!«
Der Polizeirath hatte die Mappe mit Bindfaden umwunden und sorgfältig versiegelt; er nahm sie unter den Arm und sagte alsdann, sich nach der Thür des Nebenzimmers zurückziehend: »Besorgen Sie Ihre Geschäfte mit aller Bequemlichkeit, Herr von Rivola; ich warte gern auch über die bedungene Zeit. Rufen Sie mich, wenn es Ihnen gefällig ist, daß wir mit einander das Haus verlassen.«
Darauf war Herr von Rivola allein und horchte aufmerksam, weil er vernahm, daß abermals Wagen an der Terrasse anfuhren und daß abermals ankommende Gäste von seiner Frau auf's heiterste begrüßt wurden.
»Man wird mich nicht eher vermissen, als bis Alle versammelt sind, das heißt, bis der alte Graf Hartenstein da ist, und da er nie vor der bestimmten Stunde kommt, so habe ich noch gut zehn Minuten für mich – viel, und doch wie wenig, wie entsetzlich wenig!«
Er setzte sich rasch an seinen Schreibtisch, nahm einen Briefbogen und füllte alle vier Seiten desselben in fliegender Eile; dann steckte er ihn in einen Umschlag, siegelte denselben zu, überschrieb ihn an seine Frau und steckte den Brief so unter die Papiere, welche auf seinem Schreibtische lagen, daß er erst nach einigem Suchen gefunden werden konnte. Hierauf öffnete er mit fester Hand eine andere verborgene Schublade seines Schreibtisches, wobei die Schlüssel zwischen seinen Fingern auch nicht im geringsten klirrten, und holte dort eine kleine Büchse von einem matten, silberähnlichen Metall – es war Platina – hervor. In dieser befand sich ein Metallfläschchen, das vielleicht zur Hälfte mit einer weißen Flüssigkeit gefüllt war. Er goß davon etwas in einen kleinen Löffel, den er alsdann behutsam neben sich hinlegte, worauf er das Krystallfläschchen wieder in den Platinabehälter verschloß, nachdem er vorher die Flüssigkeit vermittelst einer auf seinem Tische stehenden Wasserkaraffe durch Aufgießen bis zum Rande des Fläschchens verdünnt hatte.
Sorgfältig brachte er nun die kleine Büchse wieder an ihren Platz und drückte ein Miniaturportrait seiner Tochter Lucy, welches sich stets auf dem Tische befand, dicht vor seine Augen – vor seine umflorten Augen mit den zuckenden Wimpern – vor seine Augen, die, mit Thränen angefüllt, ihm kaum gestatteten, den kleinen Löffel mit Sicherheit zum Munde zu führen. – –
Welden war nicht im Stande gewesen, das dichte Gebüsch zu verlassen, in welchem er sich verborgen hielt und von wo aus er die Terrasse vor dem Landhause, sowie eines der Fenster in dem Schreibzimmer des Herrn von Rivola sehen konnte; ja, er vermochte nicht, sich hier loszureißen, obgleich er wußte, daß er nicht unentdeckt geblieben, denn von den Bedienten des Hauses hatten ihn einige in den Park gehen sehen, und dann waren noch Leute, welche er bisher nie unter der Dienerschaft bemerkt, mehrere Male an ihm vorübergegangen und hatten ihn mit mißtrauischen Blicken betrachtet. Das kümmerte ihn indessen wenig, denn er konnte sich denken, wer diese Leute waren, und gerade weil er sie hier umherschleichen sah, fiel es ihm um so weniger ein, seinen Platz zu verlassen.
Endlich fuhren die ersten Wagen durch das Gitterthor, glänzende Equipagen mit reich geschirrten, prächtigen Pferden und galonirten Bedienten. Sie hielten nach einander droben auf der Terrasse, und er kannte die vornehmen Leute wohl, welche da ausstiegen und die zuerst von der Frau des Hauses allein empfangen wurden. Dann sah er auch Lucy erscheinen, und ihr Gesicht erschien ihm bleicher, als der weiße Stoff ihres Gewandes; sie stand an der Hand ihrer Mutter und lächelte den Ankommenden entgegen, aber es war das kein frisches, fröhliches Lächeln, wie er es an Lucy gewohnt war, vielmehr ein Lächeln, welches hart an der Grenze des Weinens stand.
Auch schienen ihre umflorten Augen, anstatt auf den Ankommenden zu haften, über diese hinweg in dem Garten umher zu irren; zuweilen auch dünkte es ihm, als zucke sie schmerzlich zusammen und wende dann ihren Kopf rascher rückwärts gegen das Schreibzimmer ihres Vaters.
Ahnte sie, was sich dort begab, oder ahnte es ihre stolze, hochmüthige Mutter, oder all die vornehmen Herrschaften? – Die letzteren gewiß nicht, denn das plauderte so unbefangen und vergnügt durch einander dort auf der Terrasse, wo sie beisammen standen und wo jeder neu Ankommende mit einem vergnügten Worte, mit einem heiteren Scherze empfangen wurde.
Ah, wie sie so glücklich waren, diese vornehmen Leute!
Da mit Einem Male fuhr Welden gewaltsam empor aus seinem Versteck, er hielt sich nicht mehr zurück, denn da droben mußte sich etwas Außergewöhnliches begeben haben: Lucy hatte sich von der Hand ihrer Mutter losgerissen und war, einen Schrei ausstoßend, in das Haus zurückgeeilt, während Frau von Rivola furchtbar erbleicht stehen blieb und die Unruhe ihrer Gäste zu beschwichtigen schien.
In wenigen raschen Sätzen hatte der junge Ingenieur, Terrasse und Haus umkreisend, die andere Eingangsthür erreicht und war dort eingedrungen, ohne sich lange zu besinnen, stand aber hier athemlos, als er den Polizeirath Merkel sah, der ihm mit verstörter Miene entgegen trat und ihm zurief: »Einen Arzt, einen Arzt! Wo finde ich Kutscher und Reitknecht, daß man nach der Stadt eilt, um einen Arzt zu holen? O, das ist schrecklich, das ist jammervoll! Dort, dort – gehen Sie in's Schreibzimmer und warten Sie, bis ich zurückkomme!«
Welden durchschauerte es, denn es mußte etwas Furchtbares sein, was den sonst so ruhigen Mann also verwandelt. Die Thür des Bibliothekzimmers stand offen, er konnte durch dieses hindurch in das Schreibzimmer blicken; da sah er Herrn von Rivola auf seinem Stuhle sitzen, sein Kopf war tief auf die Brust herabgesunken, seine Hände hingen schlaff neben den Lehnen seines Sessels, vor ihm kniete Lucy, ihre Hände ringend, an der Thür stand Frau von Rivola schreckensbleich, doch besonnen genug, um den Schlüssel im Schlosse umzudrehen.
Rasch hatte sich jetzt Welden genähert, und ein leichter Ruf des Schreckens, der von seinen Lippen drang, ließ das junge Mädchen aufschauen; er reichte ihr seine beiden Hände, um sie aufzurichten, und mußte es geschehen lassen, daß sie laut aufschluchzend an seine Brust sank, wobei sie ausrief: »Ein Freund, ein wirklicher Freund bei all dem Jammer!«
»Ein namenloses Unglück gerade jetzt!« rief Frau von Rivola und setzte alsdann, näher tretend, mit leiser, unsicherer Stimme hinzu: »Verstehen Sie etwas von all dem, Herr Welden? Sie waren hier vor einer halben Stunde, Sie waren der Letzte, der eine längere Unterredung mit ihm hatte – o, mein Gott, dieses grauenvolle Schicksal! Hier dieses furchtbare Unglück, und unsere Gäste draußen!«
»Deßhalb Fassung und rasches Überlegen – ja, ich war hier bei Herrn von Rivola, ich hatte eine Unterredung mit ihm und fand ihn so aufgeregt, daß ich es fast begreiflich finde – ein Nervenschlag hat seinem Leben ein Ende gemacht.«
Während er so sprach, das ohnmächtig gewordene Mädchen in seinen Armen haltend, hafteten seine Blicke auf dem kleinen Löffel, der den erstarrten Fingern entglitten war und neben dem Stuhle auf dem Boden lag. Auch Frau von Rivola sah diesen Löffel zu gleicher Zeit, und ihn rasch aufhebend, wiederholte sie, mit dem starren Ausdrucke des Entsetzens in ihrem Blicke, mechanisch die Worte Welden's: »Ja, so ist es, ein Nervenschlag hat seinem Leben ein Ende gemacht.« Dann zuckte sie zusammen und verließ mit wankenden Schritten das Zimmer, um denen draußen Mittheilung zu machen von dem furchtbaren Schlage, der ihr Haus betroffen. – –
Hiermit schließt unsere Geschichte, hiermit muß sie schließen, da von dem Geheimnisse der Stadt auf so gewaltsame Weise der Schleier abgerissen ward und es nun klar am Tage lag und von einem Dutzend Kaffee- und eben so vielen Theegesellschaften auf's überzeugendste festgestellt wurde, welch' inniger Zusammenhang bestanden zwischen dem Verlangen des Stadtschultheißen, die Gitterthür zuzumauern, und jenem schrecklichen Vorfalle auf Eichenwald. Daß alle Glieder der Kette, welche zwischen diesen beiden Punkten lagen, sich eben so furchtbar ergänzten, wer möchte daran zweifeln? – gewiß Niemand von denen, die es so sehr liebten, mit fühlendem Herzen bei Kaffee und süßem Backwerk den guten Namen ihres Nebenmenschen gründlich zu zerarbeiten. War es doch so klar wie der Tag, daß der Stadtschultheiß irgend einen Antheil hatte an dem verbrecherischen Treiben des alten Freiherrn – warum hätte er denn sonst, als die Sache zum Ausbruche zu kommen drohte, eine so kluge Maßregel befürwortet, wie das Zumauern jener Gitterthür? – gewiß nicht des schlechten Geruches wegen, sondern einzig und allein um eine feste Mauer aufzurichten zwischen sich und jenem unheimlichen Thurme, in welchem ja Verbrechen verübt worden waren, bei deren bloßem Gedanken jeder tugendhaften Klatschschwester die Haut schauderte. Hatte man dort nicht in stiller Mitternacht aus dem unterirdischen Gewölbe hervor so häufig schauerliches Klagen und Stöhnen gehört, seltsames Geräusch aller Art, die unerklärlichsten Töne? Hatte dort nicht eine Frau Mayer mit vielen schönen Töchtern und sehr vielen schönen Nichten gewohnt? War nicht die Frau des alten Dieners Friedrich plötzlich ohne Anzeige und erlangte Erlaubniß hierzu gestorben, also auf eine furchtbare Art ermordet worden? Beweise dafür hatten sich ja genügend in dem unterirdischen Gange vorgefunden: große Massen flüssig gewesenen Metalls, die auf eine raffinirte Todesart schließen ließen, ferner Stricke, Ketten, Beile, kurz, der ganze, vollständige Apparat einer Mörderhöhle!
Daß von all dem Schrecklichen nichts an das Tageslicht gezogen und die Thäter dem strafenden Arme der Gerechtigkeit überliefert wurden, wer mochte sich darüber wundern! Ja, wenn es kleine, unbedeutende Leute gewesen wären – aber so – –
Mit welcher Sehnsucht hofften die betreffenden guten Herzen darauf, daß sich aus allem dem ein recht hübscher Scandal entwickeln würde, und wie waren sie entrüstet, als sie sich getäuscht fanden! Herr von Rivola war allerdings auf seinem Landgute Eichenwald gestorben, aber eines ganz natürlichen Todes, wie die Betreffenden es mit den glaubwürdigsten Mienen Jedermann versicherten, der es hören wollte; allerdings war an dem Neuigkeitshimmel der Residenz ein schweres, prachtvolles Gewitter aufgestiegen, und einige leuchtende Blitze, welche in jenen Tagen die schwarzen Wolken erhellten, zeigten ein großes Verbrechen in räthselhafter Form und von einer fabelhaften Ausdehnung; aber das Gewitter war nicht zum Ausbruche gekommen, sondern es hatte sich verzogen, und man hörte eines Tages mit Erstaunen, daß man der Frau von Rivola am betreffenden Allerhöchsten Orte eine huldreiche Audienz gewährt und daß dieselbe darauf zu einem ihrer Brüder, einem Grafen Hartenstein, auf das Land gezogen sei. Auch war Ferdinand Welkermann nicht nur aus seiner ziemlich langen Haft entlassen worden, sondern man sah sich auch veranlaßt, ihm genügende Erklärungen zu geben, ja, man hätte ihn sogar in seinem bisherigen Amte belassen, wenn er es kluger Weise nicht vorgezogen, in einem anderen Theile der Erde sein Glück zu versuchen. Ob er Steffler, an dem nun ebenfalls keine weitere Schuld gefunden wurde, mit sich nahm, oder ob dieser allein seinen Weg nach Amerika fand, wissen wir nicht genau anzugeben.
Herr Merkel hätte darüber allerdings sowie auch noch über manches Andere, das Geheimniß der Stadt betreffend, sogleich schon genauere Auskunft geben können, doch beobachtete er, so lange er Polizeirath war, über diese Angelegenheit ein ziemlich verdrießliches Stillschweigen, und erst nach einem halben Jahre, als er Polizeidirektor geworden war, gestand er Welden, den er in Kirchheim besuchte, daß es ihn selbst glücklicher als seine Ernennung gemacht haben würde, wenn er einen gewissen, höchst interessanten Fall, den er indessen nicht näher bezeichnen wolle, mit Gründlichkeit hätte zergliedern können.
Der Stadtschultheiß hatte ebenfalls die Residenz verlassen, auf die Empfehlung des alten Heilemann hin jenes Gut bei Kirchheim gekauft und dasselbe mit seiner Frau und seiner Tochter Elise bezogen, welch' letztere noch ein junges Mädchen, ihre beste Freundin, Lucy, nicht ohne Kampf mit sich genommen hatte; denn wenn Frau von Rivola es auch wohl gefühlt, wie dringend nöthig es für Lucy sei, an einem stillen, friedlichen Orte zu weilen, fern von den Zeugen ihres ehemaligen Lebens, fern von allem, was sie an jenen furchtbaren Schlag erinnern mußte, der so schmerzlich ihr junges Dasein betroffen, so hatte sie sich doch in der Liebe zu ihrem einzigen Kinde, sowie in dem Gefühle der Einsamkeit lange gesträubt, Lucy, wenn auch nur auf einige Monate, von sich zu lassen. Doch – die Freundschaft hatte gesiegt. Ob diesem Siege der Freundschaft noch ein anderer Sieg über Lucy's Herz folgte, darüber haben wir im Augenblicke keine Gewißheit, obgleich eine recht angenehme Aussicht.
Das Leben auf dem Gute des Herrn Welkermann gestaltete sich zu einem höchst angenehmen und behaglichen; es lag nicht nur dicht an der Eisenbahnlinie, welche der Ober-Ingenieur Welden baute, sondern es wurde auch durch diese in so fern berührt, als einem Waldbache der Bahnlinie wegen eine andere Richtung gegeben werden mußte, was zu ausführlichen und langen Verhandlungen zwischen dem Bauamte und Herrn Welkermann Veranlassung gab, welche Verhandlungen der Ober-Ingenieur Welden stets in eigener Person zu leiten pflegte.
Dabei ereignete es sich nun – nein, so wollten wir eigentlich nicht sagen, denn es war vor der Hand noch von keinem Ereignisse die Rede, – dabei geschah es – doch auch dieser Ausdruck ist nicht ganz richtig, da einstweilen gar nichts geschah, – da fand es sich, haben wir das Recht, zu sagen, denn es fand sich allerdings, daß Lucy von Rivola sich sehr für die Eisenbahn- und Waldbachfrage interessirte und häufig zu den Verhandlungen hierüber zugelassen wurde, wobei – –
Leider bin ich, der Erzähler dieser wahrhaftigen Geschichte, in den vielleicht nicht ganz unverdienten Ruf gekommen, als sei ich ein unverbesserlicher Hochzeitsstifter. Ob dies in den Augen meiner schönen Leserinnen ein Fehler ist, weiß ich nicht, doch lehrt es mich vorsichtig sein, und darf ich deßhalb zum Schlusse dieser Zeilen, der Wahrheit folgend, nur noch sagen, was ich von einem Augenzeugen weiß, daß nämlich nach Monaten Frau von Rivola selbst gekommen sei, um ihre Tochter abzuholen, daß sie bei dieser Veranlassung zuerst eine große Unterredung mit Herrn Welkermann, dann eine mit dem Herrn Ober-Ingenieur Welden gehabt und daß dieser hierauf eine Stunde später mit Lucy von Rivola auf einer Anhöhe im Walde gesehen wurde, von wo man eine prachtvolle Rundschau auf das rings umher liegende wellenförmige Land hatte. Beide seien sehr heiter, sehr glücklich gewesen: Lucy habe den Kopf an Welden's Schulter gelehnt und ihm etwas zugeflüstert – gewiß kein Geheimniß der Stadt, vielleicht aber das Geheimniß eines seligen Herzens. – –