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Es gibt auf der ganzen Welt nichts Heimlicheres und Angenehmeres, als im eigenen bequemen Wagen mit Postpferden von einem Ort zum andern zu reisen. Der Wagen ist eingerichtet wie eine gut möblirte Wohnstube; man hat alle Reisebedürfnisse des menschlichen Lebens rings um sich vereinigt. In jener Ecke ruht Pfeife und Taback verborgen, in der andern eine ganze Bibliothek. In Fond befindet sich die Uhr, vorne liegt das Fernrohr; und man braucht nur unter den Sitz zu langen, um eine wohlgefüllte Korbflasche zu ergreifen; das nöthige Glas hierzu findet man in einer der Seitentaschen. Ja, und bei dieser höchst liebenswürdigen Art zu reisen, hat man in Vergleich mit allen andern Arten des Fortkommens ungeheure Vorzüge. Ich brauche mich nicht nach einer eigensinnigen Postuhr zu richten, die mich grausam straft, wenn der Oberkellner meines Hotels die Rechnung zu langsam anfertigt, oder wenn der Hausknecht mit meinen schweren Koffern nicht schnell genug auf das Bureau trabt. Dabei fahre ich in meinem eigenen Wagen schneller und überhole die Post, d. h. in Deutschland, schon nach den ersten Stationen, wenn ich vielleicht auch eine Stunde später abgefahren bin. Nebenbei ist meine persönliche Freiheit in keiner Weise eingeschränkt. Ich kann meine Beine ausstrecken, wie ich will, und der unberechenbarste Vortheil ist unstreitig der, daß ich keinem reisenden Engländer gegenüber zu sitzen brauche. Fahre ich mit einem liebenswürdigen Begleiter oder mit einer noch liebenswürdigeren Begleiterin, so brauche ich dem Postillon nur an einer schönen Stelle zuzurufen, daß er halten soll, und wir können eine anmuthige Gegend, ein schönes Schloß, eine herrliche Ruine mit aller Muße beschauen. Bin ich allein, so kann ich, wenn es mir darum zu thun ist, Gesellschaft zu haben, und ich zu Thorheiten aufgelegt bin, überall welche finden. Und dann erst das Fahren in einer schönen Sommernacht! Es muß im Laufe des Tages ein wenig geregnet haben, damit der Staub nicht aufwirbeln kann. Dichte Wolken ziehen noch langsam über der Erde hin, und der volle Mond arbeitet sich ruhig hindurch, die Gegend mit hellen Streiflichtern verzierend. Ein Postillon lobt dem andern beim Umspannen die Größe des Trinkgeldes, und alle fahren wie besessen darauf los. Du liegst in die Ecke des Wagens geschmiegt, vorn auf dem Bocke sitzt der Bediente, leise mit dem Schwager plaudernd. Die Wagenlaterne wirft einen zitternden Schein auf den Boden, und wie Mücken ein Licht in der Stube umflattern, so springen, vom raschen Fahren aufgeregt, kleine Erdklümpchen in dem hellen Scheine hin und her. Ach, und die ganze Natur ist so still und feierlich; es wird dunkel nah und fern, und Alles nimmt eine phantastische Gestalt an. Die riesenhaften Pappeln an der Chaussee huschen eilfertig vorbei, und wenn man auch von Weitem ganz genau sah, wie sie dicht beisammen standen und mit einander plauderten, so stehen sie doch beim Näherkommen gerade und vereinzelt da, wie ertappte Schulbuben. Und dann in der Nacht die Einfuhr in eine Stadt, das Klirren auf dem Pflaster, die schlafenden Häuser, das Blasen des Postillons – das ist die Poesie des Reisens!
Ja, dies ist freilich die Poesie des Reisens, aber sie ist sehr theuer und schon fast ganz verschwunden; man wird bald nur noch von ihr den Kindern und Enkeln erzählen können, wie von einer alten, fabelhaften Geschichte. An die Stelle der Chaussee, die sich malerisch zwischen Thal und Berg windet, ist der Schienenweg getreten, der einförmig und langweilig in gerader Linie dahin zieht. Statt des sanft schaukelnden Wagens sind Diligencen, Waggons, Charabancs, und wie alle diese Marter-Instrumente noch heißen mögen, entstanden, die in einer ewigen, nervenzerstörenden Bewegung durch ein feuerspeiendes Ungeheuer, Locomotive genannt, mit rasender Schnelligkeit dahin gerissen werden – bald auf hohen Dämmen über tiefe Thäler hinweg, bald mit entsetzlichem Gekrach und Geseufze, durch den Schooß der Erde.
Immer zu, immer zu, Ohne Rast und Ruh'. |
Es war im Sommer 1844 zu Cöln am Rhein. Da saßen wir etwa unser Zehn, einträchtig in den großen Omnibus des Königlichen Hofes gezwängt, um hinaus nach dem Bahnhof zu fahren. Es wäre ungefähr Zeit gewesen, um nicht gerade in der letzten Minute anzukommen. Doch gefiel es dem lieben Gott, unsere Geduld in der Gestalt eines reisenden Engländers, eines langbeinigen, klapperdürren und rothhaarigen Gentleman aus dem Specereiladen, hart auf die Probe zu stellen. Obgleich dieser Edle, wie wir, vor Fünf aus dem Schlaf war aufgestört worden, obgleich man ihn fünf- bis sechsmal geweckt hatte, so forderte der liebenswürdige Ausländer gerade in dem Augenblick warmes Wasser zum Rasieren, als wir nach hastigem Verschlingen unseres Frühstücks in den Wagen stiegen. Und wir mußten warten, wir alle, unser Zehn, mußten warten dieses einzigen lumpigen Engländers wegen. So will es das Gasthofgesetz. Endlich kam er die Treppen herab, bezahlte aufs Umständlichste seine Rechnung, zankte sich über einige Pfennige, die ihm zu viel angerechnet seien, und war nicht eher zum Einsteigen zu bringen, als bis der Kutscher in die Pferde hieb und alles Ernstes Miene machte, davon zu fahren.
Man muß es dem Bahnhof in Cöln nachsagen, daß er aufs Zweckmäßigste eingerichtet ist. Die Anfahrten sind alle sehr bequem, die Räumlichkeiten für Passagiere und Güter wohl eingerichtet, und das Personal sehr zuvorkommend und höflich. Es war, wie gesagt, schon ziemlich spät geworden, und um die Kasse wogte und drängte es ganz gewaltig. Man hat hier eine sinnreiche Einrichtung getroffen, um das heranströmende Publikum zu vermögen, daß es sich von einer Seite zur Kasse hinbegibt und von der andern Seite wieder wegflutet. Sie besteht in einer Barriere, die in einem spitzen Winkel gerade so nahe vor das Kassenfenster gerückt ist, daß sich allenfalls noch ein ziemlich wohlbeleibter Mensch durchdrängen kann. Zum Ueberfluß für Jemanden, der, obgleich er eine ganze Reihe Leute dort ankommen und hier abgehen sieht, noch im Zweifel sein könnte, ob sie auch den richtigen Weg gewählt, sieht man an jeder Seite der Barriere eine große fette Hand gemalt, die ruhig und gemessen jedem Ankommenden den Weg zeigt. Man muß also schon sehr verhärtet oder ein ganzer Engländer sein, um trotz diesen deutlichen Hinweisungen die Sache verkehrt anzugreifen. Heute Morgens aber passirte es nicht nur einem Einzelnen dieses seltenen Volkes, sondern als ich in die Barriere trat und ungefähr noch der Sechste bis zum Kassenfenster war, lenkte drüben eine ganze Familie Engländer nach sorgfältigem Umherschauen und Prüfen in den verbotenen Weg ein, uns entgegen. Es war ein Engländer Vater, eine Engländerin Mutter, und sechs englische Kinder, alle acht sehr pikant blond und äußerst mager. Alle hatten den Mund weiter geöffnet, als gerade nöthig war, – ein stark ausgeprägter Familienzug – nur ließen die drei jungen Gentlemen gleich dem Vater die Unterlippe herabhangen, während die drei Ladies, analog der Mutter, die Oberlippe emporzogen. So standen wir, zwei feindliche Parteien, einander gegenüber, und meine überhöflichen Landsleute, wenn sie bei dem Kassenfenster vorbei sich durch die wegsperrenden Engländer mit Mühe hindurch zwängten, baten diese freundlichst um Verzeihung. Gerade vor mir in der Barriere stand ein Mann von ganz kolossalem Körperbau. Der Raum war ihm eigentlich zu klein, denn er mußte halb links vorwärts marschiren, um die Barriere nicht auseinander zu drücken. Ich war recht auf den Augenblick gespannt, wo dieser Koloß der englischen Familie drüben begegnen würde, weil neben ihnen ein Ausweichen nicht zu denken war. Jetzt hatte er sein Billet gelöst und stand nun mit einer sonderbar lächelnden Miene dem Engländer gegenüber. Dieser drängte seinerseits auch vorwärts, Madame drängte ihren Herrn Gemahl, und die sechs Kinder im entsetzlichsten Gedränge drückten die Mutter vorwärts. Es war ein Kampf auf Leben und Tod. Sie öffneten ihre Mäuler weiter und zogen sie krampfhaft zusammen, wie Fische auf trockenem Sand. Aber alle Anstrengungen waren vergebens. Der dicke große Mann ging unaufhaltsam und ruhig weiter, wie das Verhängniß, und riß alles Widerstrebens ungeachtet die ganze Familie mit sich fort. Der Engländer fluchte auf Englisch, der dicke Mann schimpfte Deutsch dazwischen, einige Bahnaufseher bemühten sich, die Streitenden zur Ruhe zu bringen, der Kassier streckte seinen Mund an die kleine Oeffnung und bat um Stille, dazwischen begann die große Glocke zu läuten und gab das Zeichen zur Abfahrt. Alle, mit Ausnahme jener Insulaner, hatten ihre Billets und eilten in die Säle, die auf den Bahnhof führten. An der Ecke schaute ich mich noch einmal um, und der Engländer, dem jetzt Ein- und Ausgang zu Gebot stand, wählte trotz der Ermahnung des Kassiers aufs Neue den letztern, um vorzudringen, und ging, als er endlich seine Billets errungen, ruhig auf der andern Seite ab. Ich kann es mir nicht anders erklären, als daß der Engländer dieses Gegen-den-Strom-Schwimmen mit allen Seefischen gemein hat. Es liegt in seiner Natur, er kann nicht anders.
Die Plätze aus der Eisenbahn sind bekanntlich in drei Classen eingetheilt, erste, zweite und dritte, oder Diligence, Charabancs und Waggons, und fast ohne Unterschied ist auf allen Bahnen für die Bequemlichkeit des zweiten und dritten Platzes sehr schlecht gesorgt, obgleich sie, namentlich der zweite, bei Weitem mehr als der erste benutzt werden. Auf der rheinischen Bahn sind die Diligencen allerdings recht zierlich und elegant eingerichtet. Sitz und Lehnen sind gepolstert, und durch die Eintheilung der Plätze ist es möglich geworden, daß jeder Reisende eine Ecke hat. Auf der zweiten Classe dagegen sind die Sitze kaum mit einem magern Polstern versehen, die Wagen haben keine Scheiben und man kann sich vermittelst eines zwilchenen Vorhanges kaum gegen Regen und Wind schützen. Da das Wetter im Verhältnisse zum Charakter des ganzen Sommers gut zu nennen war, so nahm ich mir einen Platz der zweiten Classe, setzte mich aber auf einen der dritten, deren Wagen gänzlich unbedeckt sind und eine freie Aussicht gewähren.
Es war die höchste Zeit, und kaum hatten wir uns niedergelassen, als die Locomotive, das dritte Geläute auf dem Bahnhofe mit ihrem eigentümlichen gellenden Pfiff beantwortend, sich langsam in Bewegung setzte und davon fuhr. Die ersten Stationen auf der Bahn von Cöln nach Aachen bieten nicht viel Interessantes dar. Das Terrain ist eben und flach, und kleine Hügel haben höchstens einen zwanzig Fuß tiefen Einschnitt oder einen eben so hohen Damm bedingt.
Die Gesellschaft unseres Wagens bestand theils aus Arbeitern, Handwerksleuten, Soldaten, Krämern, meistens Leuten, die in Geschäften reisten; theils befanden sich viele Passagiere der ersten und zweiten Classe hier, die wie ich einen Blick auf die Gegend thun wollten. Mir gegenüber saßen ein paar gelehrte Herren aus der Schweiz, die sich freuten, an mir Jemanden gefunden zu haben, der hier bekannt war und sie über Manches aufklären konnte. Wir wurden in kurzer Zeit recht bekannt mit einander, und da sie auch nach Brüssel und weiter hinaus wollten, so würden wir uns wahrscheinlich zu einer Gesellschaft vereinigt haben, wenn nicht der Dämon der Zwietracht schon auf der nächsten Station eine junge hübsche Wienerin zwischen uns gesetzt hätte, die durch ihr freies, munteres Benehmen den würdigen Herren ein Aergerniß gab, welches sie bis auf mich auszudehnen Ursache zu haben glaubten. Diese junge Dame, sehr fein und elegant gekleidet, hüpfte, als der Wagen hielt, herein, schaute sich neugierig nach allen Seiten um, und kam erst im Augenblicke, als der Zug wieder fortging, auf eine etwas gewaltsame Art zum Sitzen, indem sie durch das Prellen der Wagen fast umgeworfen wurde und sich wahrscheinlich wehe gethan hätte, wenn ich sie nicht in meinen Armen aufgefangen. Erstes Aergerniß der beiden Herren, welches sich durch eine nur sparsam fortgesetzte Conversation kund gab. Desto mehr aber plauderte meine kleine Nachbarin, und bald hatte sie mir Zweck und Ziel ihrer Reise anvertraut. Sie war kürzlich verheirathet und reiste in Begleitung ihres Mannes, der aber, häufig an Kopfschmerzen leidend, es nicht wagte, sich der Zugluft auszusetzen, und deshalb auf der ersten Classe geblieben war. Sie zeigte mir oben an der Stirn die Stelle, wo er zu leiden pflegte, und erzählte, daß sie nach Aachen wollten, um dort die Bäder zu gebrauchen. So ein Wagen auf der Eisenbahn ist eigentlich recht dazu gemacht, um eine heimliche Conversation zu führen, denn das Rasseln und Dröhnen ist so groß, daß die Nebensitzenden genau Achtung geben müssen, um von dem Gespräch etwas zu erlauschen.
Hinter uns saßen ein paar ehrliche Handwerker mit ihren Frauen, welche sich über die verschiedenen Unglücksfälle laut genug unterhielten, die auf den Eisenbahnen schon passirt seien. Obgleich durch die guten Einrichtungen der Direktion und die Umsicht der Locomotiv- und Zugführer in der Art sich nicht viel zugetragen hat, so wurden doch einzelne Vorfälle von den guten Leuten so ins Entsetzliche gezogen, daß meiner kleinen Nachbarin angst und bang wurde. Namentlich die Geschichte des armen Mädchens, vor kurzem passirt, die, in einem der offnen Wagen sitzend, sich bis zum Tunnel mit einer Nachbarin recht freundlich unterhalten hatte, aber verschwunden war, als der Convoi aus der jenseitigen Oeffnung wieder hervorkam. Mau schickte natürlich von der nächsten Station gleich wieder zurück und fand die Unglückliche in höchst beklagenswertem Zustande im Tunnel liegen. Obgleich sie nichts gestand, erklärte man sich die Sache auf die natürlichste Weise, daß sie nämlich aus dem Wagen gesprungen sei, um freiwillig ihrem Leben ein Ende zu machen.
Meine kleine Nachbarin, die nicht gut begreifen konnte, wie ein Mensch seines Lebens so überdrüssig sein könne, rückte näher an mich heran und erkundigte sich etwas ängstlich, ob es denn nicht vielleicht möglich sei, daß das Mädchen schwindelig geworden oder daß der sehr starke Luftzug etwas zu dem Unglück beigetragen. Sehr naive Fragen, die ich im Angesichte des unterirdischen Weges aus wohl erklärbaren Gründen achselzuckend beantwortete. Jetzt stieß die Locomotive einen gellenden Pfiff aus. Das Rasseln und Klappern der Maschine, die jetzt in den Eingang des Tunnels fuhr, war wirklich betäubend. Meine kleine Nachbarin fuhr aus Schrecken heftig zusammen und gegen mich hin, ich fuhr aus Mitgefühl etwas Weniges gegen sie hin, und so fuhren wir zusammen durch den fast eine halbe Stunde langen, gänzlich finstern Tunnel. Eine wahre Höllenfahrt, das Dröhnen, Rasseln, Klappern der Maschine, das Knirschen der eisernen Räder gegen die Schienen, doppelt fürchterlich durch das Gewölbe, das uns rings einschließt, hiezu der Lärm des Dampfes, der Weg, den wir durchfliegen, finsterer als die dunkelste Nacht, nur zuweilen erhellt von den rechts und links umherfliegenden feurigen Kohlen, die Alles noch schrecklicher machen und hier und da in tausend Funken zerstieben, auf wenige Sekunden die erstaunten und ängstlichen Gesichter beleuchtend. Auch ohne Furcht athmet man jenseits etwas leichter auf, beim Eintritt ins rosige Licht.
Meine Nachbarin hatte, wie sie mir gestand, die Augen fest geschlossen gehabt und alle Heiligen zum Schutz angerufen. Doch wollte sie gefunden haben, daß der Luftzug nicht so stark sei, als sie sich vorgestellt. Auch glaubte sie nicht, daß er im Stande wäre, ein Mädchen zu entführen. Ihren eleganten weißseidenen Hut hatte er aber dennoch ein wenig auf die Seite gerückt. Auch auf die beiden erwähnten Herren schien der Druck der Luft sonderbar eingewirkt zu haben, denn sie, die früher gegen uns gekehrt waren, hatten jetzt plötzlich eine ganze Schwenkung gemacht und zeigten uns ihre Kehrseite.
Unterdessen fuhren wir rasch vorwärts, erreichten Düren mit seinen vielen Dampfmaschinen und mit seinem unausstehlichen Glockenspiel, das alle Viertelstunden, seit den zwanzig Jahren, die ich diese Stadt kenne, die Melodie des bekannten Liedes: »Heil dir im Siegerkranz« spiele, sahen bald darauf Stolberg mit seinen Kupferwerken und Galmeigruben, deren große flackernde Feuer sich namentlich Abends sehr gut ausnehmen, und kamen so in die Gegend von Aachen. Die Eisenbahn hat hier einen sehr schönen Wald durchschnitten, der früher in seinem dichten Laubwerk zwei malerisch gelegene Burgen des alten Kaisers Karl verbarg, zu welchen man nur auf vielfach gewundenem Wege hingelangen konnte. Es that mir leid um die schönen alten Ruinen. Ihre heimliche Lage ist verschwunden, der Damm der Bahn führt haushoch neben ihnen vorbei und stellt sie neben sich und der kolossalen Brücke über das Wurmthal, das hier beginnt, den Blicken recht kalt und prosaisch bloß.
Jetzt sind wir in Aachen, haben zur Rechten die alte Kaiserstadt mit dem Dome Karls des Großen, rings von freundlichen Bergen umgeben, unter denen der sogenannte Lußberg hoch emporragt. Links liegt das kleine Burtscheid mit seiner stattlichen Abtei und den steilen engen Straßen. – Arabien mein Heimathland! – –
Der Zug hält hier eine halbe Stunde an, und alle Passagiere verlassen die Wagen, um sich durch einige freie Bewegungen von dem heftigen Zusammenrücken zu erholen. Meine kleine Nachbarin suchte ihren Mann auf, mit dem sie gleich darauf zurückkam und uns gegenseitig vorstellte. Eine unglückliche vertrocknete Gestalt, der Herr Gemahl, und ganz das Gegentheil seiner Begleiterin. Er hatte, obgleich es nicht kalt war, drei Röcke über einander an, wenn ich nicht irre, eine ungeheure Halsbinde à l'Anglaise bedeckte ihm Kinn und Mund, und unter dem Hute blickte eine schwarzseidene Mütze hervor, die er als Mittel gegen das Kopfweh trug. Die junge Dame, der ich von den Schönheiten der nun folgenden Bahn keine schlechten Schilderungen gemacht, sah mit Sehnsucht nach Westen, wo sich der Schienenweg den Berg hinanzog, und machte einige leise schüchterne Versuche, den Herrn Gemahl zum Weiterfahren zu bewegen.
»Lieber Fritz,« sprach sie, mit der vollen Kraft ihrer einschmeichelnden Stimme, »wir wollten ja ohnehin nach Brüssel. Wenn Ihnen nun das Fahren Erleichterung verschafft, so wäre es am Ende besser, wir setzen heute unsere Fahrt bei dem guten Wetter fort.«
Obgleich ich der jungen Frau, aber natürlich in dem gleichgültigsten Tone half, so warf ich doch einige nicht schlechtklingende Phrasen dazwischen, und am Ende sagte der Gemahl Ja und ging hinweg, um Karten bis Brüssel zu holen. Als er zurückkam, versprach er obendrein, er wolle einen Versuch machen, bei uns auf dem offenen Wagen zu fahren, was von der hübschen Wienerin mit großer Freude aufgenommen wurde.
Während dieser Zeit gingen die gelehrten Herren um uns herum, wie brüllende Löwen, und wandten ihr Gesicht weg, wenn sie in meine Nähe kamen. Auch sah ich hier die ganze Heerde maulaufsperrender Engländer wieder, die sich in allen Ecken des Bahnhofes umhertrieben, an der Spitze Vater und Mutter, denen die Kinder alle Bewegungen, alle Ausrufe des Erstaunens oder der Mißbilligung auf das Genaueste nachmachten. Jetzt ertönte die Glocke wieder und Alles strömte in die Wagen, um einen guten Platz zu bekommen, unter dem hier das Umgekehrte wie bei gewöhnlichen Fuhrwerken zu verstehen ist, indem die Rücksitze des Luftzugs wegen sehr gesucht sind. Hier beginnt mit einer sehr starken Steigung, von einer stehenden Maschine gezogen, die Fahrt nach Verviers und Lüttich, die jeden Schritt Terrainhindernisse zu überwinden hat und deshalb vielleicht zu den merkwürdigsten Eisenbahnen der ganzen Welt gehört.
Ein galvanischer Telegraph gibt der zwei Stunden von Aachen auf der Höhe stehenden Maschine ein Zeichen, daß Alles bereit sei, worauf sie sich in Bewegung setzt. Im Vergleich zu der sehr starken Steigung geht es rasch genug hinauf. Oben wartet die Locomotive, die von hier bis Herbesthal ihre ganze Kraft gebrauchen muß, da die Bahn beständig im Verhältniß von 1 bis 120 aufsteigt.
Es ist nicht meine Absicht, alle Einzelnheiten der schönen rheinisch-belgischen Bahn genau und ausführlich, wie es schon oft geschah, zu beschreiben. Nur freut es mich, daß selbst mein kranker Wiener versicherte, es gereue ihn nicht, die Tour zu machen, und daß seine liebenswürdige Frau ganz außer sich war. Bald stand sie auf, um so die Sache besser übersehen zu können, bald wandte sie sich um, und lachte, wenn der Kohlenstaub der Maschine sie augenblicklich nöthigte, die Augen zu schließen.
Gleich auf der Höhe hinter Aachen windet sich die Bahn durch tiefen Sand fort, und man verläßt nur die unterirdischen Wege, um auf hohen Brücken über tiefe Thäler zu fliegen. Dabei ist die Gegend sehr schön – ein dichter Wald, der sogenannte aachener Busch, mit kleinen, aber sehr tiefen Thälern, aus denen hier und da freundliche Häuser hervorblicken – vorbei, vorbei! Kaum sieht man einen bemerkenswerthen Punct vor sich, so hat man ihn erreicht und läßt ihn gleich darauf weit hinter sich. Jetzt pfeift die Maschine aufs Neue, und wenn man aus dem Wagen späht, um das Stationshaus oder einen Tunnel zu erblicken, dem das Signal gelten könnte, wird man überrascht, ich möchte sagen, erschreckt, da man bemerkt, wie der Zug auf ein sehr breites und tiefes Thal losrast, und man keine Idee hat, wie da hinüber zu kommen. Jetzt biegt sich die Bahn etwas, und man sieht durch das Thal lang hingestreckt ein wahrhaft riesenhaftiges Werk, eine ungeheure Brücke, die von einer Höhe zur andern führt. Die Bogen sind doppelt über einander gesetzt, und die Höhe der mittleren beträgt an 220 Fuß. Dies Werk ist, was elegante Bauart anbetrifft, nur mit den schönsten der altrömischen Wasserleitungen zu vergleichen, vielleicht mit der des prachtliebenden Justinian bei Konstantinopel. Es ist die bekannte und berühmte Brücke über das Geulthal.
Bei Herbesthal an der preußisch-belgischen Gränze, durch eine große eiserne Brücke repräsentirt, welche diesseits den preußischen Adler, jenseits den belgischen Löwen führen wird, mußten wir eine Zeit lang warten, theils der Mauth halber, theils um einen Eisen-Convoi zu erwarten, der von Lüttich hier angezeigt war.
Bald darauf setzten wir uns wieder in Bewegung, begleitet und beaufsichtigt von einer Menge belgischer Zollbeamten, die hoch auf den Wagen thronten, um zu überwachen, daß nicht ein vorwitziger Passagier unvisitirt den Zug verließe. Obgleich an diesen Gränzen alles Mögliche gethan ist, um den Verkehr zu erleichtern, und das Visitiren selbst ohne sonderliche Strenge vor sich geht, so hat man sich doch z. B. sehr in Acht zu nehmen, daß man nicht ein kleines Päckchen, einen Nachtsack oder dergleichen bei sich im Wagen hält, indem man es den Blicken der nachsuchenden Officianten zu entziehen weiß. Ein solches würde nämlich in Verviers fortgenommen und ohne Gnade plombirt nach Aachen zurückgeschickt werden. Meine Nachbarin führte eine kleine zierlich gearbeitete Reisetasche bei sich, in welcher sie allerlei überflüssige Gegenstände hatte, die ihr aber sehr nothwendig erschienen, als Flacons, einige Bücher, verschiedene Schachteln mit Magenpastillen u. dgl. m. Doch war ihre Furcht und Gewissenhaftigkeit so groß, daß sie dem Mauthoffizianten die ganze Geschichte einhändigen wollte, der sie aber lachend zurückwies. Ueberhaupt kann ich nicht umhin, sowohl den preußischen als den belgischen Douanen das Zeugniß zu geben, daß sie sich bei ihrem delicaten Geschäft mit äußerster Schonung und Artigkeit benehmen.
Von Dolhain, das neben dem hohen Damme der Bahn tief im Grunde liegt, und wieder hoch von der Veste Limburg überragt wird, fällt die Bahn noch stärker, als sie von Aachen nach Herbesthal stieg. Die Locomotive arbeitet hier gar nicht, sondern der Zug läuft von selbst hinab, sorgfältig überwacht von den Maschinisten und Conducteuren, von denen sich jeder bei seinem Posten an Bremse und Hemmmaschine befindet. Auch ist diese Vorsicht hier nicht unnöthig. Der Weg geht an einem felsigen Thalgeländer vorbei, und da oft große Steinmassen es gänzlich unmöglich gemacht haben, die Bahn geradeaus zu führen, so bildet sie zuweilen starke Krümmungen. Bei abschüssigen Stellen und starken Biegungen hat man die inwendige Schiene einige Zoll tiefer gelegt, wodurch die Wagen etwas schief zu stehen kommen. Obendrein hat man auch noch zwischen den Geleisen eine dritte höhere Schiene angelegt, und durch diese Vorsichtsmaßregel ist an solchen gefährlichen Stellen das Ausspringen des Zuges gänzlich unmöglich gemacht.
Bald sahen wir Verviers vor uns; eine sehr gewerbfleißige Stadt, liegt sie in einem schönen Thale, zwischen großen Gärten und Parkanlagen der reichen Fabrikherren versteckt. Der Schienenweg läuft längs einem ziemlich lebhaften Theile Verviers vorbei, um auf die andere Seite zu dem Bahnhofe zu gelangen. Sie schneidet hier die schönsten Gartenanlagen zuweilen mitten entzwei, und die reichen Eigenthümer haben ihr Besitzthum durch kolossale Brücken, die sie über die Bahn hinwegführten, nothdürftig wieder zusammengeflickt. Hier in Verviers wird alles Passagiergut, das am Platze bleibt oder weiter ins Belgische geht, visitirt, zu welchem Ende das ganze Gepäck in einen großen Saal geschleppt wird, wo man es auf Tische legt, die dort im Quadrat aufgestellt sind. Ich hätte mir diese Ceremonie noch gefallen lassen, wenn man einzeln oder wagenweise dort hineingeführt worden wäre, aber wir mußten alle auf einmal in den Saal, wurden mit den freundlichsten Mienen und lieblichsten Worten angelockt, und kaum war man darin, so war man gefangen und wurde nicht wieder hinausgelassen.
Da unser Convoi sehr stark war, so herrschte in dem Saale ein wahrhaft betäubendes Gewühl und Spectakel. Da wurde gedrängt, gestoßen, gerufen, geweint, geflucht, gebeten, gelacht, Alles in mehren Sprachen; doch war deutsch und französisch vorherrschend. Eine unglückliche, sehr dicke und ältliche Dame arbeitete sich wie rasend durch das Gedränge und suchte nach einer Haubenschachtel, die ihr abhanden gekommen. Wo sie ein Gepäckstück erblickte, das mit dem verlorenen irgend eine Aehnlichkeit hatte, stürzte sie furienartig darauf hin, und es begann dann nicht selten ein Kampf auf Leben und Tod. So mit der maulaufsperrenden englischen Familie. Die beiden jüngsten Sprößlinge derselben waren vom Papa in eine Ecke postirt worden, wo ihr ganzes Gepäck beisammen lag. Unglücklicherweise hatte sich die Haubenschachtel der dicken Dame hinter zwei riesigen Koffern der englischen Familie verkrochen. Aber was bleibt dem ängstlich suchenden Blick einer Mutter verborgen? Bald hatte sie ihren verlorenen Liebling entdeckt, und die beiden jungen Engländer bei Seite schiebend, wollte sie sich ihrer Schachtel bemächtigen. Doch Albions Jugend wich nicht vom Platze, und der Aeltere behauptete: dies Stück gehöre seinem Papa. Unglückliche alte Dame! Vergebens war ihr Bemühen, zu der Schachtel zu dringen; die beiden riesigen Koffer dienten den Insulanern als Bollwerk, und sie gaben die Schachtel nicht heraus, denn sie behaupteten, es sei ein Stiefelkoffer der Mama. Anfänglich erstarrte die dicke Dame bei dieser frevelhaften Aeußerung, und die Arme sanken ihr matt herab. Dann aber machte sie mit verdoppelter Wuth einen neuen Angriff, wälzte sich über einen der Koffer hin, riß mit augenblicklicher Geschwindigkeit von der Schachtel den Deckel ab und zog eine ungeheure Haube hervor mit handbreiten Kanten und feuerrothem Bande, und darauf begann sie dies Beweisstück den jungen Engländern so kräftig wie möglich um die Köpfe zu schlagen. Diese ließen überrascht ihre Unterlippen noch weiter herabhangen als sonst, und die dicke Frau entfernte sich triumphirend mit ihrem wieder eroberten Schatz. Man muß aber ja nicht glauben, daß diese Scene große Aufmerksamkeit erregt hätte. Es wurden deren an allen Ecken des Saales mehr oder minder starke gespielt. »Nehmen Sie sich nur in Acht,« schrie eine Stimme, »Sie werfen mir ja Ihren Koffer auf meinen Nachtsack!« – »Hören Sie, mein Herr,« schrie eine andere, »ich finde es durchaus nicht gentil, sich so vorzudrängen.« – »Herr Controleur, ich bitte Sie, einen Augenblick!« – »Mir fehlt mein Nachtsack!« jammerte ein Anderer dazwischen. – »O, er wird sich finden!« – »Ich versichere Sie, nein, er fehlt, er ist grün, roth und weiß, mit einem messingenen Schloß. Ich kenne ihn unter Tausenden heraus.« So ging es in dem Saale fort. Das war ein entsetzliches Durcheinander von Effecten, Menschen und Stimmen. Dazwischen rasselten die Schlüssel und dröhnten die schweren Koffer, wenn sie mit voller Kraft zugeschlagen wurden. Damen öffneten ihre Riechflächschen, und auf allen Gesichtern malte sich eine gewisse Angst; kam es von der stürmischen Menschenmenge her, oder erblaßte manch hübsches Gesicht, wenn es sah, mit welcher Fertigkeit die Beamten ein verborgenes Fach im Koffer aufzufinden wußten?
Ich stand in einer Ecke an der Thüre und beschützte meine kleine Wienerin aus allen Kräften gegen die stoßende und herandrängende Volksmenge. Ich deckte sie so viel wie möglich mit meinem Körper und brauchte meine Ellbogen auf das Kräftigste, um einiger Maßen Platz zu machen. Doch vergebens. Unser Platz an der Thüre war einer von den schlechtesten. Der Herr Gemahl hatte sich entfernt, um nach seinen Koffern zu sehen, und wenn wir auch vor wenigen Augenblicken seine schwarzseidene Mütze hier und da auftauchen sahen, so war er doch jetzt im Gedränge verschwunden, und ich konnte ihn nirgends mehr entdecken. Seine großen Koffer standen noch unangerührt auf dem Tische, und einer der Beamten klopfte zuweilen laut mit der Hand daran, um den Eigentümer herbei zu locken, da nicht viel Zeit mehr übrig war. Meine Begleiterin suchte in steigender Angst mit den Augen ihren Gefährten und wurde blaß und immer blasser. Sie hielt sich krampfhaft an meinen Arm und zitterte heftig. Auch mir war es unbegreiflich, wo ihr Mann mochte hingerathen sein. Plötzlich schaue ich durch die Glasthür neben mir und sehe ihn von den Wagen kommen, ein kleines Packet in der Hand, das er wahrscheinlich vergessen hatte. Das Gedränge um uns wurde immer heftiger. Alles strömte vorbei, um den andern Ausgang zu gewinnen. Trotz dem, daß ich meine Nachbarin so gut wie möglich beschützte, konnte ich doch nicht verhindern, daß ein schwerer Koffer, der bei uns vorbeigeschleppt wurde, sie etwas unsanft berührte. Sie zuckte zusammen, schloß die Augen und fiel ohnmächtig in meinen Arm. Da befand ich mich denn in einer ganz verfluchten Stellung. Draußen der Gemahl an der Glasthür, den die Beamten als ihrem Reglement zuwider dort nicht hereinlassen wollten. »Oeffnen Sie doch!« schrie der unglückliche Mann, und dabei blickte er mich an, als er sah, daß seine Frau mit geschlossenen Augen in meinem Arme lag. »Oeffnen Sie doch!« Was sollte ich um Gotteswillen anfangen? der Beamte, der innerhalb stand, und der, wenn von der Thür die Rede gewesen wäre, doch wohl selbst am besten hätte öffnen können, wandte sich beim Anblick meiner ohnmächtigen Gefährtin zu mir hin, indem er mir sagte: »Ja, mein Herr, öffnen Sie, es ist besser!« Und mir flammte in diesem Augenblick ein ungeheures Licht auf. Doch wie sollte ich Aermster öffnen, da ich genug zu thun hatte, um die unglückliche Wienerin festzuhalten. Alles strömte unerbittlich bei mir vorbei. Da gewahrte ich zum Glück jene dicke Dame, deren pfiffig lächelndes, freudestrahlendes Gesicht verkündete, daß sie irgend eine unbedeutende Kleinigkeit glücklich eingeschmuggelt habe.
»Madame,« rief ich ihr zu, indem ich sie beim Kostbarsten, was sie besaß, bei ihrer Haubenschachtel, festhielt, »stehen Sie mir einen Augenblick bei.«
»Oeffnen Sie,« schrie der Gemahl draußen. – »Oeffnen Sie,« sagte der Beamte. – Und ich setzte mit halb angewandtem Gesicht hinzu: »Ja, Madame, öffnen Sie.«
Eine zierlich gearbeitete Broche war von der kunstfertigen Hand der alten mitleidigen Dame alsbald beseitigt; im selben Augenblick verschwand der Gemahl an der verschlossenen Glasthür, um auf der andern Seite den Eingang zu gewinnen. Meine arme kleine Ohnmächtige athmete tief auf und wollte noch immer nicht die Augen öffnen, obgleich an ihrem schwarzseidenen Oberrock schon drei Schleifen geöffnet waren. Dem Himmel Dank, daß in diesem Augenblick der bestürzte Wiener herbeikam und ich ihm seine Frau überliefern konnte, bevor die unermüdlich dicke Dame in ihrem Enthüllungs-Geschäft weiter fortschritt. Ich wollte die Götter nicht ferner versuchen, und eilte zu meinem Koffer, denn es war in jeder Hinsicht die höchste Zeit.
Als guter Staatsbürger führte ich natürlich nichts Mauthbares bei mir, und wurde in wenig Augenblicken erlöst. Man machte auf meinen Koffer, wie auf alle übrigen, einen Kreidestrich, und so bezeichnet, durfte ich mit meinen Sachen die Ausgangsthür passiren. Bald saßen wir wieder im offenen Wagen beisammen, der Wiener nämlich, die Wienerin und ich. Die beiden gelehrten Herren dagegen hatten einen andern Waggon bestiegen: sie flohen meine Nähe! England war in einem Charabane, und auch die dicke freundliche Dame befand sich in demselben Waggon, nur in einer andern Ecke. Hier in Verviers fing man schon an, Zeitungen und Broschüren öffentlich auszubieten, wie es in Belgien und Frankreich in den Theatern Mode ist. Auch lief ein Mensch in einer weißen Blouse den Zug auf und ab, seine Beinkleider hatte er auf das Solideste unten mit Leder besetzt. Er redete jeden Wagen ungefähr an, wie folgt; »Meine Herren und Damen, viele von Ihnen werden Paris sehen wollen, die Hauptstadt Frankreichs und Europa's, den Mittelpunct der ganzen Welt! Ich erlaube mir, Ihnen eine Karte zu überreichen, eine Karte der uneigennützigsten und solidesten Gesellschaft, die je von Brüssel nach Paris gefahren. Nehmen Sie, meine Herren, nehmen Sie! Mittags und Abends! In zwei und zwanzig Stunden! eher früher als später, die besten und bequemsten Wagen.« Auf diese Art schrie der Kerl in Einem fort, während er bald rechts, bald links bei uns vorbei lief. Obgleich ich im Ganzen dergleichen Anpreisungen hasse, und mich wie bei Privat-Lotterien und allen dergleichen Geschichten nicht gern darauf einlasse, so kam ich doch hier zu einer Karte und wußte nicht, wie. Ich hatte wohl, aber sehr entfernt, daran gedacht, Paris zu sehen, und wandte mich bei dem Anruf des Menschen etwas herum. In demselben Augenblick schob er mir auch schon eine Karte zwischen die Finger und versicherte mir nochmals, es sei die beste Gesellschaft. Jetzt zog die Locomotive langsam an, und ich hörte durch das Geräusch des Dampfes nur einzelne Sätze, die er stärker betonte. »Ganz bequeme Wagen – in zwei und zwanzig Stunden präcis!« Ich steckte die Karte zu mir und konnte nicht begreifen, wie ein Mensch sich zu einem solchen Commissions-Geschäfte hergab, das doch gewiß nichts einbrachte.
War schon von Aachen nach Verviers die Gegend reizend und interessant gewesen, so konnte man in der That nichts Anmuthigeres sehen, als die Thäler, durch welche wir nun dahin flogen. Die Bahn, welche sich so recht eigensinnig auf dem geraderen Wege über Thal und Berg einen Durchgang erzwang, deckte so viele heimliche Schönheiten auf, die sich bis dahin fern von der staubigen Landstraße verborgen hatten. Bald kamen kleine freundliche Dörfer, deren Häuser um ein ungeheures Fabrikgebäude mit rauchendem Schornstein gruppirt waren, gerade wie sich in alter Zeit die Landbewohner um Thurm und Warte eines alten Ritterschlosses schaarten, nur in anderm Sinne: hier suchten sie Schutz, dort fanden sie Nahrung.
Nach der Scene im Mauthhause hatte ich mit meiner Nachbarin noch kein Wort gewechselt. Der Herr Gemahl schaute etwas verdrießlich drein und behauptete, sein Kopfweh plage ihn mehr als vorhin. Die Dame schaute zum Wagen hinaus und hatte mir noch keinen einzigen Blick geschenkt. Ich wußte aber auch wahrhaftig nicht, wie ich das Gespräch wieder beginnen sollte – von der Gegend und dem Wetter, das war zu gesucht, ich wollte unbefangen erscheinen. Die Wienerin hatte ihren Shawl etwas zurückgeworfen und ich konnte kein Auge von der verfluchten dritten Schleife verwenden. Ueberhaupt war mir das ganze Schleifensystem etwas Neues, doch hielt ich in Gedanken der ganzen Mode der Ueberröcke eine kleine Lobrede, malte mir die hohe Nützlichkeit und Brauchbarkeit dieses Kleidungsstückes so lebhaft aus, daß meine Phantasie nun plötzlich Worte bekam und ich, vielleicht ein wenig unpassend, meiner hübschen Nachbarin versicherte, gegen ein gewöhnliches Kleid, habe ein Ueberrock für mich etwas ungemein Reizendes, ja, Poetisches. Sie wandte den Kopf herum und sah mich mit einem seltsamen Blick an. Anfänglich war dieser Blick etwas ernst, doch spielte er ins Freundliche, und plötzlich brach sie in ein lautes Lachen aus, wobei sie auf eine Schaar junger Fohlen zeigte, die neben der Bahn auf einer Wiese ihre possierlichen Sprünge machten. Wenn ich nur hätte heraus bringen können, wem das Gelächter gegolten, den Fohlen oder der dritten Schleife! Doch war ich schon zufrieden, daß ihre ernste Laune gewichen war und sie mit mir über die lustigsten Dinge lachte und sprach. Obgleich mir einer der Conducteure versicherte, die Wagenzüge von Verviers nach Lüttich würden, der vielen Brücken, Tunnels, Krümmungen wegen, nur sehr langsam geführt, so konnte ich doch das gar nicht finden, sondern wir waren im Umsehen in letzterer Stadt. Das Aus- und Einpacken der Passagiere dauert hier eine kleine halbe Stunde; dann geht der Convoi, von einer stehenden Maschine gezogen, ziemlich steil den Berg hinauf, nach Ans, wo die schöne malerische Gegend aufhört und man auf einer ungeheuren Ebene dahin fliegt. Wenn auch alles Land rechts und links aufs Herrlichste angebaut ist und einem üppigen Garten gleicht, so ermüden doch die unabsehbaren Flächen das Auge, und man kann in Versuchung kommen, die ungeheure Schnelligkeit, mit welcher der Zug dahin fährt, noch langsam zu finden. Wir verließen die Waggons, und mein guter Wiener mit seiner schönen Frau nahm seinen Platz in der Diligence wieder ein. Da ich den meinigen in einem Charabane genommen, so hätte ich sie verlassen müssen, doch waren diese zweiten Plätze so entsetzlich überfüllt, daß ich blos aus dem Grunde mein Billet zur ersten Wagenclasse umtauschte. Und so saßen wir wieder beisammen im traulichen Verein. Auch die dicke Dame hatte sich zu uns gefunden. – Doch die gelehrten Herren sah man niemals wieder! So kamen wir nach Tirlemont, woselbst noch als schwache Erinnerung an die Berge ein kleiner Tunnel zu passiren ist, erreichten bald Löwen, dann Mecheln, das Eisenbahnherz Belgiens, wo alle Linien ihren Zusammenfluß haben und Alles aus- und einströmt.
Hier dauert das Ein- und Aussteigen eine ziemliche Zeit. Von hier aus werden Wagen gewechselt, und man muß sich genau in Acht nehmen, daß man auf den richtigen Zug gelangt, denn es gehen zuweilen zu gleicher Zeit hier Züge nach Aachen, Antwerpen, Brüssel und Ostende ab. In der letzten Zeit hatten wir in unserer Diligence große Beratungen über die Wahl des Gasthofes angestellt, den wir in Brüssel gemeinschaftlich beziehen wollten. Die kleine Frau meinte: Wir sind unser drei, wir können Morgens ausgehen, um zusammen zu frühstücken, können ohne zu große Kosten einen eigenen Wagen nehmen, kurz, leben ganz en famille. Der alte Herr, der mich liebgewonnen zu haben schien, indem er mich für einen sehr practischen Menschen hielt, da ich nämlich zufällig in Tirlemont die Flucht seines Nachtsackes verhütet, willigte ebenfalls in dieses Zusammenleben, und ich sträubte mich wahrhaftig nicht dagegen.
In Mecheln stiegen die Beiden einen Augenblick aus, und ich unterließ nicht, ihnen nochmals die größte Vorsicht anzuempfehlen, damit sie den richtigen Wagenzug nicht verfehlten. Indessen nahm das Getümmel auf dem Bahnhofe zu, es war hier eine wahre Ueberschwemmung von Passagieren, Koffern und Mantelsäcken, Alles drängte und wogte durcheinander. Die Locomotiven fuhren zischend auf und ab, es begann die große Glocke zu läuten, und Alles eilte seinen Plätzen zu. »Nach Brüssel!« schrie der Conducteur, der auf unserm Wagenschlage stand; ich wiederholte eben so laut: nach Brüssel, und spähte dabei ängstlich um mich her, ohne von den Beiden auch nur das Geringste zu entdecken. Der Menschenknäul auf dem Bahnhofe war aber auch gar zu groß, und die lebendige Strömung aus den Wartesälen wollte gar nicht aufhören. Jetzt blasen die Conducteure des antwerpener Zugs, der zuerst fortging, und die Locomotive fährt dicht bei unsern Wagen vorüber. Hinter der Locomotive kommt der Tender, dann einige Packwagen, und die Geschwindigkeit des Fahrens nimmt zu. Nun folgen einige offene Wagen, jetzt die Diligence, und in einer derselben sehe ich zu meinem größten Schrecken meine hübsche Wienerin mit ihrem Gemahl sitzen, die lustig nach Antwerpen steuerten. Ich lehne mich zum Wagenschlage hinaus und schreie so laut wie möglich: »Aber um Gottes willen! wo wollen Sie hin?« – »Nach Brüssel,« antwortete die Dame und setzte mit einem sonderbaren Blick hinzu: »Warum haben Sie Ihre Reiseroute geändert?« – Heilige Gerechtigkeit, das war zu hart bestraft. Ich stürze an den Wagenschlag, welchen der Conducteur eben abgeschlossen. »Wohin, mein Herr?« ruft mir dieser zu, als ich versuchte, das Schloß zu öffnen. – »Nach Brüssel,« schreie ich ihm entgegen. – »Sie sind auf dem rechten Zuge.« – »Nein, nein,« entgegnete ich, ich muß nach Antwerpen.« – »Ja so,« antwortete er mir eben so gleichgültig, »das ist zu spät. Der Convoi hat schon den Bahnhof verlassen.« Sehr verstimmt werfe ich mich in die Ecke der Diligence, konnte aber nach einigen Augenblicken ruhigen Nachdenkens nicht umhin, über diese höchst unangenehme Verwechselung zu lachen, indem ich bei mir überlegte, welch' merkwürdigen Einfluß die Eisenbahnen auf unsere socialen Verhältnisse ausübten.
Ungefähr um drei Uhr Nachmittags langte ich, statt in angenehmer Gesellschaft, allein und ziemlich ärgerlich in Brüssel an. Ich ging ins »Hotel de Flandre,« und befand mich in der Laune, in der man ein schlechtes Zimmer doppelt empfindet, und dies ward mir in dem sonst ausgezeichneten Gasthofe, der großen Menge Fremden wegen, zu Theil. Ich kannte Brüssel schon von früher her, hatte seine Merkwürdigkeiten alle gesehen, und würde mich nur in der angenehmen Gesellschaft von heute Morgen ein paar Tage gut amüsirt haben. Dadurch, daß die Hauptstraße dieser Stadt, die rue de Madeleine, vom Place royal steil den Berg hinab geht, wird das behagliche Flaniren, sonst in fremden Städten eine meiner liebsten Beschäftigungen, hier zu einer wahren Arbeit. Als ich meine Brieftasche auf den Tisch legte, fiel mir die Karte in die Hände, die mir in Verviers der Commissionär gegeben, und mir kam plötzlich der Gedanke: »Wie, wenn du die sechs Tage, die du für Brüssel, Antwerpen, Ostende &c. bestimmt, dazu anwenden würdest, einen Begriff von der Häusermasse zu bekommen, die man Paris nennt?« Mehr konnte ich natürlich in der Zeit doch nicht profitiren, ich zündete mir eine Cigarre an, und schritt die Straße hinab, indem ich die auf meiner Karte angegebene Hausnummer suchte. Endlich finde ich das Haus, das von oben bis unten mit großen Placaten bedeckt ist, auf denen man mit ellenlangen Buchstaben lesen kann: »Paris, midi et soir.« Ich verglich nochmals meine Karte mit der Firma, die über der Thür angebracht war, und als ich nun vor dem Bureau stand und nach den Abfahrtsstunden der Wagen nach Paris forschte, fiel mir plötzlich ein, wie sehr ich heute Mittag Unrecht gehabt, die Thätigkeit des Commissionärs in Verviers für eine nutzlose anzusehen, denn hatte ich mich doch selbst durch ihn bestimmen lassen, gerade diese und keine andere Anstalt aufzusuchen. Der Beamte war sehr artig, und nachdem er mir ebenfalls versichert, seine Gesellschaft habe die bequemsten Wagen, setzte er mir auseinander, daß man hier in Brüssel den Platz bis nach Paris bezahle. Die Gesellschaft lasse alsdann die Passagiere eine halbe Stunde vor der Abfahrt in ihren betreffenden Hotels abholen und nach der Eisenbahn führen. Diese Abfahrtsstunde sei Mittags ein Uhr; man führe mit der Eisenbahn bis Quievrain, wo alsdann die Messagerie bereit stände, um die Passagiere nach Paris zu befördern. Die ganze Fahrt dauerte nicht über zweiundzwanzig Stunden. Nachdem er mir dies Alles auseinander gesetzt, sah er wegen eines Platzes für Morgen in seinen Listen nach, und es fand sich, daß nur noch ein einziger, und dieser gerade in der Rotunde, frei war.
Für den, der die Einrichtung der französischen Eilwagen nicht kennt, bemerke ich, daß ein solcher viererlei Plätze hat, deren Preise sehr verschieden sind. Um mit der Höhe anzufangen, ist oben auf dem Wagen das Banquet, auch Imperiale oder Cabriolet genannt, doch ist die erste Benennung die allgemeine, dann kommt das Coupé, der beste und teuerste Platz, nach demselben der Interieur, der eigentliche Wagenkörper, und an diesem hängt hinten die Rotunde, zu acht Personen eingerichtet, eigentlich nur zu sechs, doch stopft man eher mehr wie acht, als weniger hinein. Von dem Fahren in dieser Rotunde nun hatte mir einer meiner Freunde, der freilich mit außerordentlich langen Gliedmaßen begabt, und dessen Laune überhaupt leicht zu trüben ist, eine wahrhaft jammervolle Schilderung gemacht, wie er, zwischen zwei dicken Damen eingeklemmt, von diesen wie von zwei Mühlsteinen in der Nacht fast gemahlen wurde, während ihm gegenüber ein sechs und ein halb Schuh langer Nationalgardist saß, dessen Beine mit den seinigen nicht gut harmonirten. Wenn ich überhaupt nach Paris fahren wollte, so mußte es, um nicht einen Tag zu verlieren, morgen geschehen. Doch wie gesagt, vor der Rotunde hatte ich einen unüberwindlichen Abscheu, weshalb ich dem Beamten mein Bedauern ausdrückte, diesen Platz nicht annehmen zu können, und mich an eine andere Gesellschaft in derselben Straße wandte. Es war die wohlbekannte und berühmte der Herren Lafitte, Gaillard und Comp. Hier war auch schon Alles ziemlich besetzt, doch fanden sich noch Plätze auf dem Banquet und glücklicher Weise un coin, d. h. Eckplatz, worauf man namentlich in dem Banquet zu sehen hat. Man zeigte mir dort in einem Reservewagen diesen coin auf dem Banquet, den ich einnehmen könnte, und obgleich sich der Sitz sehr in der Höhe befand, so schien es mir doch da oben, was frische Luft und Aussicht anbelangt, nicht übel zu sein. Auch dachte ich: wenn der Wagen umschlägt, was zuweilen vorkommt, so hast du Numero eins und kommst nicht unter die Räder. Ferner wußte mir der Beamte so viel Gutes und Angenehmes von dem Banquet vorzuschwatzen, sogar von der Liebenswürdigkeit des Conducteurs, der morgen zufällig fahre, daß ich mich kurz entschloß, meine 45 Francs bezahlte und eine Karte erhielt Numero 1 auf dem Banquet. So war ich denn unwiderruflich für Paris bestimmt und zog meines Weges. Abends wurden im königlichen Theater »Die Krondiamanten« von Auber gegeben, eine mir bekannte Oper, weshalb ich es vorzog, das kleine neugebaute Théàtre de nouveautés zu besuchen. Hier wurde ein neues Vaudeville gegeben: »Paris voleur,« und obendrein hieß es auf dem Zettel: die Maschinerie würde durch Dampf getrieben. Dies war nun allerdings ein kleiner Puff, denn obgleich sich wirklich zu diesem Zweck eine Dampfmaschine hier befand, hatte man noch keine Concession erhalten, um sie in Wirksamkeit treten zu lassen, weshalb heute noch Alles auf dem natürlichen Wege vor sich ging. Ueberhaupt kann ich die Nützlichkeit und Brauchbarkeit einer Dampfmaschine, um die Dekorationen zu bewegen, nicht einsehen, und wenn auch vielleicht ein Ersparniß an Menschenkräften bewirkt wird, so erfordert doch die Maschine ihren Maschinisten, ihren Heizer &c., und muß vielleicht Nachmittags um 3, 4 Uhr schon geheizt werden, um für jeden Act einmal die Decoration zu wechseln; denn ich kenne keines von den neuen französischen Stücken, weder Oper, Vaudeville, noch Trauer- und Lustspiel, wo die Decoration nicht den ganzen Act stehen bliebe. Was aber die Ausschmückung und Einrichtung dieses neuen Theaters betrifft, so fand ich sie äußerst zweckmäßig, zierlich und elegant. Das Haus ist klein und hat nur vier Logenreihen; statt eines schweren Kronleuchters, der die obere Gallerie teilweise am Sehen verhindert, befinden sich an den Logenbrüstungen des ersten und zweiten Ranges große Gasflammen, mit matt geschliffenen Gläsern bedeckt, die ein helles und schönes Licht geben. Die Decke, welche gewölbt ist, besteht theilweise aus gemaltem Glas, hinter dem ebenfalls Gasflammen brennen, welche auf diese Art ein gedämpftes, wohlthuendes Licht verbreiten.