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Zwischen seinen Büchern und alten bekannten Möbeln und Geräthschaften ging der Doktor längere Zeit auf und ab und gedachte der eben vergangenen Scene. Der Anblick all' der bekannten und traulichen Gegenstände, die ihn schon seit langen, langen Jahren umgaben, – Manches stammte ja noch aus seiner Kinder- und Schulzeit her, – beruhigte allmählich seine Nerven und ließ sein Herz langsamer schlagen. – War er zu heftig gewesen? – Anfänglich gewiß nicht, und am Ende hatte sie ja mit Gewalt seine Geduld zerrissen. – Nein, nein! Diesmal konnte er sich nicht selbst anklagen; er hatte ihrem Kommen mit den besten Gedanken entgegengesehen; hätte sie ihm nur die Hand gereicht und gesagt: Es ist mir leid, daß das Alles geschehen, laß es gut sein! – o, dann hätte er einen heiteren Abend erlebt, anstatt daß er sich jetzt so trostlos und unglücklich fühlte. – Hatte sie doch ruhig auf eine Scheidung angespielt, und den Gedanken konnte er nicht fassen und ertragen bei allen Fehlern, die sie hatte; auch war sie ja die Mutter seiner Kinder, und er hatte noch immer gehofft. – Wenn sie aber an dem ausgesprochenen unglücklichen Gedanken festhielt, so war Alles für ihn verloren, denn er liebte sie immer noch.
Von diesen finsteren Gedanken überwältigt, warf er sich in seinen Lehnstuhl und vergrub den Kopf in beide Hände. Er verfiel in jenen Zustand, wo man nicht mehr denkt, sondern wachend träumt, wo traurige und heitere Bilder miteinander kämpfen, wo jener wilde Schmerz, der unser Innerstes empört, ruhiger wird, wo nur tief im Herzen die eben überstandenen Leiden bei jedem Athemzuge nachzittern.
Draußen an der Glasthüre wurde jetzt die Klingel sanft gezogen; die Köchin öffnete, eine leise Stimme flüsterte etwas und darauf antwortete Jene: »Der Herr Doktor sind nur zu sprechen Mittags von Zwei bis Drei, sowie Mittwoch und Samstag Nachmittag zwischen sechs und sieben Uhr.«
Die fragende Person schien nichts darauf zu antworten, wenigstens vernahm man im Zimmer nichts.
»Auch werden Sie wohl wissen, daß heute der Weihnachtsabend und schon acht Uhr vorbei ist. – Nein, ich kann dem Herrn Doktor Niemand melden, Sie müssen schon morgen Früh wiederkommen.«
»Das kann ich auch,« hörte man die andere Stimme sagen, »das kann ich auch und bitte ich sehr zu entschuldigen.«
Der Doktor fuhr aus seinen Träumereien empor und zog die Klingel, die neben seinem Schreibtische hing.
Da draußen war eine Leidende, die man eben abweisen wollte; ihm erschien es aber in diesem Augenblicke als eine Beruhigung, das Unglück Anderer zu hören, es vielleicht lindern zu können. Auch zog ihn der Klang der Stimme draußen an; er war so leise und klagend.
Die Köchin trat in das Zimmer.
»Wer war draußen? – Wer hat geschellt?«
»Eine unbedeutende Person – ein ärmlich aussehendes Frauenzimmer; ich habe sie auf morgen früh wiederbestellt.«
»Lassen Sie sie nur herein kommen.«
»Ja, sie wird schon fort sein.«
»So eilen Sie die Treppe hinab und holen sie herauf.«
Die Köchin ging hinaus, schloß die Glasthüre hinter sich, man hörte sie in den unteren Stock hinunter laufen, und wenige Augenblicke darauf kam sie wieder zurück, öffnete die Thüre zum Arbeitszimmer ihres Herrn und ließ ein Frauenzimmer eintreten, das schüchtern auf der Schwelle stehen blieb.
»Sie haben mich noch heute Abend sprechen wollen?« fragte sanft der Doktor.
»Ja, und ich bitte sehr um Verzeihung,« entgegnete die Eingetretene; »ich weiß wohl, daß ich eine ziemlich unpassende Zeit gewählt habe.«
»Wenn man krank ist, so kann man das nicht so genau nehmen. – Womit kann ich Ihnen helfen? Sind Sie von Jemand anderes zu mir geschickt oder selbst krank?«
Das Mädchen schwieg einen Augenblick still, dann aber näherte sie sich mit einigen schüchternen Schritten dem Arzt, faltete ihre Hände und sagte: »Beides ist nicht der Fall, Herr Doktor, ich bin von Niemandem geschickt und auch nicht selbst krank.«
»So wollen Sie auf andere Art meine Hilfe in Anspruch nehmen?« entgegnete der Arzt indem er die Hand an eine Schublade seines Schreibtisches legte, da er dachte: »Man will ein Almosen von mir haben.«
Mochte nun das Mädchen die Bewegung des Doktors verstanden oder den Blick begriffen haben, den er zu gleicher Zeit über ihre ganze Gestalt hinlaufen ließ, genug, sie sagte eifrig: »Um Ihre Hilfe bitte ich wohl, Herr Doktor, das heißt, nur um Ihre Hilfe in Worten – um Ihren Rath.«
»Aha! – Also doch eine Art ärztlicher Konsultation? – So bitte ich, Platz zu nehmen.«
Dabei stand er auf, schob ihr einen Stuhl hin und hob alsdann den Schirm von der Lampe, so daß das volle Licht auf das Mädchens Gesicht fiel. Ein Blick auf diese Züge belehrte übrigens den Arzt, daß er doch eine Kranke vor sich habe, und zwar eine schwer Kranke, eine Unheilbare. – Es war Katharine, die Nähterin, die sich nun vor ihm auf den Stuhl niederließ, und deren Brust sich heftig hob und senkte, wobei sie den Mund leicht geöffnet hatte und die Nasenflügel zitternd jedem Athemzuge folgten. Die Wangen waren noch bleicher als vor einiger Zeit, und die Röthe auf denselben dunkler und brennender.
»Vor allen Dingen,« sprach das Mädchen, »muß ich Sie um Verzeihung bitten, daß ich es gewagt, Sie am heutigen heiligen Abend zu stören; vielleicht hatte ich Unrecht, aber ich dachte mir, der Christabend mit seinen Freuden, mit den angenehmen Stunden, wenn man den Kindern etwas bescheert hat, mache Sie noch freundlicher gesinnt, als Sie sonst wohl sind, und geneigter, etwas für mich zu thun.«
»Wenn es in meiner Macht liegt, Ihnen zu helfen, so soll es geschehen,« entgegnete der Doktor. – »Sprechen Sie!«
Katharine that einen tiefen Athemzug, dann zog sie ihr Umschlagtuch mit den zitternden Fingern etwas von den Schultern herab und sagte, indem sie die glänzenden Augen niederschlug: »Es wird mir recht schwer, anzufangen, Herr Doktor; aber dem Arzte kann man ja Alles sagen, wie dem Pfarrer, und so will ich denn auch Ihnen beichten. – Ich hatte ein Kind, ein kleines, liebes Kind –«
Der Doktor wollte eine Frage thun, doch kam ihm Katharine zuvor, indem sie fortfuhr:
»Nein, nein, ich bin nicht verheirathet.«
»Nun denn, so erzählen Sie weiter,« sprach er mit gutmüthigem Tone.
»Dieses Kind hatte ich zu einer Frau gethan, die es recht ordentlich verpflegte; es gedieh auch – so schien es mir wenigstens – denn wenn ich Sonntags zu ihm ging, so konnte ich schon bemerken, daß seine Bäckchen dicker wurden, und auch die Aermchen und Hände. – Man sieht so was leicht.«
»Und das Kostgeld bezahlten Sie aus eigenen Mitteln?« fragte der Doktor. – Er hatte sich in seinen Stuhl zurückgelehnt und betrachtete die Person vor sich mit aufmerksamen Blicken.
»Aus eigenen Mitteln,« wiederholte sie. »Ich brauche ja für meine Person nicht viel, und wenn man für sein Kind arbeitet, so ist es gar nicht mühsam, vom Morgen bis in die Nacht zu nähen – gewiß nicht.«
»Aber der Vater dieses Kindes?« fragte der Doktor zögernd.
»O, ich wollte nichts von ihm,« erwiderte Katharine, indem sie die Hand ausstreckte, »nicht einen Kreuzer mehr, nachdem er mich verlassen.«
»Ah so! – ich verstehe.«
»Ich war so glücklich mit meinem kleinen Kinde, so glücklich, daß ich es gar nicht sagen kann. Ich muß Ihnen das gestehen, Herr Doktor, damit Sie auch begreifen, wie sehr mich der fürchterliche Schlag traf, als man mir eines Tages sagte, das Kind sei plötzlich gestorben.«
»Und Sie wußten nichts von seiner Krankheit?«
»Nicht das Geringste.«
»Und man rief Sie nicht, als das Kind im Sterben war?«
»Man rief mich nicht; man hatte es sogar schon begraben, als ich seinen Tod erfuhr und man mir diesen Todtenschein hier einhändigte.«
»Lassen Sie sehen.«
Katharine reichte dem Arzte das Papier, das er auseinander faltete und genau durchsah. »Nach diesem Schein,« sagte er, »ist freilich kein Zweifel, daß bei einer Frau – Bilz ein Kind, Mädchen, von zwei Jahren in der Nacht von dem auf den gestorben ist. – Alles ist hier in Ordnung, jede Formalität erfüllt und die Unterschrift richtig.«
»Aber das Kind ist darum doch nicht gestorben,« sprach das Mädchen mit einem seltsamen Lächeln.
»Wie meinen Sie das?« entgegnete aufmerksam der Doktor. – »Meinen Sie vielleicht, nicht von selbst gestorben? – Vielleicht gar getödtet worden? – O seien Sie unbesorgt, die Leichenschau nimmt es, namentlich in diesen Fällen, sehr genau.«
»O nein,« antwortete das Mädchen, »es ist da nichts Schlimmeres geschehen, als daß man mein Kind heimlich fortgenommen und ein anderes untergeschoben hat, über welches dieser Schein ausgestellt wurde.«
»Ich verstehe Sie nicht recht,« sagte der Doktor; »es mußte doch Jemand einen Zweck dabei gehabt haben, Ihr Kind verschwinden und Ihnen als todt erscheinen zu lassen.«
»O, an einem Zweck fehlt's nicht!« versetzte Katharine, nachdem sie leicht gehustet; »der Vater des Kindes – er ist von sehr ordentlicher Familie,« sprach sie mit einigem Stolze – »steht im Begriff, sich zu verheirathen. Seine Verwandtschaft nun, der mein armes Kind schon lange im Wege war, hat endlich die Mittel gefunden, es auf die angegebene Art auf die Seite zu schaffen.«
»Das ist ja ein Verbrechen!« rief der Arzt.
»Gott sei Dank, daß sie kein schlimmeres begingen, daß sie wenigstens das Kind am Leben ließen! – Sie haben es also fortgeschafft und ein anderes krankes Kind dafür hingebracht, das nun gestorben ist und über dessen Tod jener Schein ausgestellt wurde.«
»Möglich! – möglich!«
»Nicht nur möglich,« entgegnete das Mädchen, während es sich mit seiner zitternden Hand über die Stirne fuhr, »es ist gewiß, wir haben Beweise dafür, die besten, vollgiltigsten Beweise; wir wissen, wo sich das Kind aufhält, können es aber nur mit großen Schwierigkeiten wiedererlangen.«
»Das kann ich mir wohl denken,« versetzte der Doktor. »Doch bitte, erzählen Sie mir das, wenn es Sie nicht zu sehr anstrengt.«
»O nein,« erwiderte das Mädchen mit strahlenden Augen. »Diese Erlaubniß macht mich glücklich; ich kam auch deßwegen hieher, und weiß nicht, wie sehr ich Ihnen danken soll, daß Sie so freundlich sind, die Leidensgeschichte eines armen unbedeutenden Geschöpfes, wie ich bin, anzuhören.«
»Das ist ja für uns nichts Neues,« sagte freundlich der Arzt, »wir sind auch eine Art von Beichtigern, und da wir den Ursprung der äußerlichen menschlichen Leiden im Verlaufe der Krankheiten meistens erkennen, so ist es uns leicht, aus einzelnen Ausrufen des Schmerzes und der Verzweiflung eine ganze Lebensgeschichte zu erfahren. Und da hat ein Wort des Trostes aus unserem Munde oft schon besser gethan, als die kräftigste Arznei; darum sprechen Sie ohne Rückhalt.«
»Ich stehe ziemlich allein in der Welt,« sprach das Mädchen hierauf mit einem trüben Lächeln; »es kümmert sich wohl Niemand um mich, und ich mich, seit das Kind verschwunden ist, leider auch nicht mehr so recht innig um irgend eine Seele. Früher war das anders und ich hatte die Menschen viel lieber. – Also das Kind war verschwunden, es sollte todt sein; man gab mir ja den richtig ausgestellten Schein darüber. Ich muß gestehen, daß ich damals so schwach war, in eine Ohnmacht zu fallen. Das war im Hause einer gewissen Madame Becker.«
Der Doktor blickte nachdenkend in die Höhe und zog die Augenbrauen zusammen.
»Meine Eltern hatten diese Madame Becker gekannt,« fuhr Katharine schüchtern fort, da sie die sonderbare Miene des Arztes bemerkte. »Ich weiß, man sagt dieser Frau nicht viel Gutes nach, aber ich kenne besonders ihre Nichte, die ich auch früher häufig besuchte –«
»Ah! die Tänzerin! –«
»Dieselbe; – gewiß in jeder Beziehung ein braves und rechtschaffenes Mädchen.«
»Ja, das soll sie sein,« sagte der Doktor mit einem eigenthümlichen Lächeln. »In der That eine Tugend, die schon manchen bösen Winken widerstanden. – Ich habe davon gehört,« setzte er mit dem Kopfe nickend nach einer kleinen Pause hinzu. – »Aber fahren Sie fort!«
»Ich verlor also die Besinnung,« erzählte Katharine weiter, »als jene Frau, der ich mein Kind anvertraut hatte, mir bei Madame Becker so unverhofft die Todesnachricht brachte.«
»Wie hieß diese Frau?«
»A – a – a – h!«
»Meine Freundin, die Tänzerin, die mein Schicksal außerordentlich interessirte, hörte nun ein paar Worte, welche jene beiden Frauen im Nebenzimmer zusammen sprachen, und glaubte daraus zu entnehmen, daß mein Kind nicht gestorben, sondern, wie ich schon früher sagte, mit einem anderen vertauscht worden sei. – Ich wandte mich an einen Polizeidiener, den ich kannte, dieser versicherte mir aber, wie eben der Herr Doktor, der Todtenschein sei richtig, und wenn man die Sache anhängig machen könne und das Kind wieder ausgraben lasse, so werde es mir dagegen schwer, ja unmöglich sein, Beweise dafür beizubringen, daß das verstorbene Kind nicht das meinige gewesen sei. Eine gleiche Antwort erhielt ich von einem Advokaten, an den ich mich wandte, welcher obendrein meinte, ich solle lieber die Sache auf sich beruhen lassen, möglich sei es ja doch, daß mein Kind wirklich gestorben, und ich sei dadurch bei meiner augenscheinlichen Armuth und Kränklichkeit einer großen Last überhoben. – Der Advokat aber hatte keine Kinder, Herr Doktor, und wußte nicht, wie lieb man ein solches kleines Wesen haben kann, welche Seligkeit es ist, sein Gesicht, seine Aermchen und seine Hände mit Küssen zu bedecken und zu sehen, wie es täglich größer wird und erstarkt, – oder wenn es elend und schwach bleibt, wie wohl es ihm thut, wenn man es an's Herz drückt, und wenn man es in den Armen einschläfert. – Aber da schwätze ich wieder,« unterbrach sie sich, schmerzlich lächelnd, indem sie mit der Hand einige Schweißtropfen abwischte, die auf ihrer kalten Stirne standen. – »Verzeihen Sie mir, Herr Doktor, aber ich will jetzt ganz bei der Sache bleiben.«
Ihr Zuhörer hatte den Kopf in die Hand gestützt, und er hatte die Worte des armen Mädchens wohl begriffen. »Ah!« dachte er seufzend, »noch ungleicher als die Glücksgüter sind in diesem Leben die schönen und zarten Gefühle vertheilt. Warum denkt nicht jenes Weib wie dies arme Geschöpf!«
»Da uns also der gewöhnliche Rechtsbeistand nicht helfen wollte,« fuhr Katharine fort, »so besprachen wir unter uns mein Schicksal, die Tänzerin Marie, eine Andere vom Ballet, welche sie genau kennt, und die uns sagte, es gäbe in der Stadt mehrere Häuser, wo man kleine Kinder für ein Billiges in die Kost nimmt, und wo sie auch vielleicht mein armes Kind hingethan hätten. – Nicht wahr, Herr Doktor, es gibt solche Anstalten?«
»Leider, leider! Und wie sehr man sich auch bemüht, man ist nicht im Stande, sie aufzuheben, sie zu verbieten oder wenigstens unter Aufsicht zu stellen, denn ich kann am Ende meinem Nebenmenschen nicht befehlen, für sein Kind nahrhafte Speisen zu kochen oder ihm sorgfältige Wartung angedeihen zu lassen, wenn ihm das Geld hiezu mangelt. Zuweilen hebt die Polizei wohl auf Verdacht hin so ein Nest aus, aber sie sind verflucht schlau und nehmen sich in Acht.«
»Und die Kinder haben es dort sehr schlecht?« fragte ängstlich das Mädchen.
»Meistens, ja,« entgegnete der Doktor nach einigem Ueberlegen; »von zehn sterben sieben bis acht.«
»Gerechter Gott! – Aber doch wohl nur von ganz kleinen Kindern müssen so viele sterben?«
»Ja, wenn sie älter sind, halten sie schon mehr aus. – Wie alt war das Ihrige?«
»Zwei Jahre vorbei.«
Der Arzt schüttelte mit dem Kopfe und zuckte die Achseln, als er bemerkte, wie das Mädchen mit höchster Aufmerksamkeit, den Athem an sich haltend, ihn mit ihren unheimlich glänzenden Augen anschaute. – »Aber beruhigen Sie sich, wenn Ihre Angaben richtig sind und das Kind noch lebt, so kommt ja Alles darauf an, wo es sich befindet. Es gibt auch unter den Leuten welche, die ordentlich sind und ihre Pflicht erfüllen.«
»Die Tänzerin Marie,« fuhr Katharine zu erzählen fort, »kennt einen Zimmermann des Theaters, und dieser erfuhr, nachdem er sich umgehört, daß ein anderer Angestellter der Bühne, der Garderobengehilfe Herr Schellinger, draußen in der Vorstadt in einem Hause wohne, wo solche kleine Kinder aufbewahrt werden.«
»Welche Vorstadt ist es und welches Haus?«
»Es ist, wenn man zum E'schen Thore hinaus geht, sich dann rechts wendet und zur Vorstadt des Flusses kommt; das Haus liegt zwischen Gärten an der alten Stadtmauer und ist so versteckt, daß die Nachbarschaft selten Etwas von dem erfährt, was dort vorgeht.«
»Aha!« machte der Doktor.
»Der Garderobengehilfe wohnt in einem kleinen, sehr baufälligen Vorderhause, und hinter demselben ist die Wohnung des Meister Schwemmer, dessen Frau die kleinen Kinder aufzieht.«
»Ah! der Meister Schwemmer!« rief der Doktor, indem er sich aufmerksam emporrichtete. »Ei! ei! – Und nun glauben Sie, daß da Ihr Kind sei?«
»Und ist das eine von den schlimmsten Anstalten?« fragte das Mädchen, erschreckt von dem Gesichtsausdruck ihres Gegenübers.
Dieser zögerte einen Augenblick, Antwort zu geben, dann aber sagte er: »Ich will Ihnen nicht die Wahrheit verbergen. Man spricht von diesem Meister Schwemmer nicht viel Gutes; natürlicherweise bin ich noch nie dorthin gekommen; Unsereins läßt man nicht da eindringen. – Aber es soll ein gar böses Hauswesen sein.«
»Und wären die wohl im Stande, mein armes Kind umzubringen?«
»Mit offener Gewalt gewiß nicht, denn die Leichenschau nimmt es dort außerordentlich genau. Aber –« er zuckte die Achseln und schwieg.
»O, ich verstehe!« rief das Mädchen, dessen Augen flammten, während sie ihre Hände heftig auf die Brust drückte, als wollte sie es dadurch möglich machen, daß der pfeifende Athem leichter aus- und einzöge. – »O, ich verstehe Sie; nicht einen schnellen schmerzlosen Tod gönnen sie den armen Geschöpfen, sondern sie lassen sie langsam verkümmern durch elendes Leben, durch Frost und Hunger. Und da ist auch mein kleines unglückliches Mädchen!«
»Seien Sie ruhig! seien Sie ruhig!« bat der Doktor, während er ihre Hände, die wild umher fuhren, sanft unterdrückte; »das geht nicht so schnell, daß so ein zweijähriges Kind vor Hunger und Frost umkommt; und wenn Sie wirklich auf der Spur sind, so muß man schnelle Hilfe zu bringen suchen.«
»Ja, Sie haben Recht,« erwiderte Katharine, die nach einer Pause der Ermattung nun wieder ihre Kräfte zusammennahm. »Herr Schellinger, dem wir also unser Leid mittheilten – es ist das ein alter, sehr braver Mann – versprach, sich auf Kundschaft zu legen und hat das gethan. – Richtig, Herr Doktor, das Kind lebt und befindet sich dort in dem Hause; er hat es gesehen, obgleich er so recht nicht mit der Sprache heraus und mir sagen wollte, wie es sich befände. Es hatte noch sein blaues Wollenkleidchen an, das letzte, welches ich ihm gemacht, und es saß auf dem Boden und spielte.«
»Nun, sehen Sie,« sagte gutmüthig der Doktor, »es spielte. Da wird's denn doch nicht so schlimm mit ihm stehen.«
»Jetzt vielleicht noch nicht,« entgegnete das Mädchen; »aber es ist mein Kind und ich soll es nicht sehen und küssen dürfen, ich soll es vielleicht nie mehr wieder haben, denn auf gütlichem Wege geben sie mir es nicht heraus.«
»Das glaube ich auch,« meinte der Arzt; »denn sonst würden sie ja den Tausch eingestehen, sowie den unterschobenen Todtenschein.«
»Aber was soll ich machen, wenn ich es nicht in Gutem heraus kriege? – Ich weiß dann nur ein Mittel, und das ist das gleiche, mit dem sie mir mein Kind entwendet, die Gewalt. Und so muß ich es auch wieder zu bekommen suchen.«
»Das wird aber ein schwieriges Unternehmen sein; denn bei den Leuten Gewalt anzuwenden und mit Gewalt etwas zu erlangen, ist wohl kaum möglich.«
»Vor den Schwierigkeiten, die es hat, schrecken wir nicht zurück,« entgegnete Katharine, »aber vor etwas Anderem, und deßhalb bin ich auch eigentlich hieher gekommen, um darüber Ihren Rath zu hören. – Man hat mir also mein Kind gestohlen, und in der Absicht, es mir nicht zurückzugeben, hält man es verborgen und von mir entfernt. Glauben Sie nun, Herr Doktor, daß es von mir Unrecht oder, wenn Sie wollen, eine Sünde ist, wenn ich den Versuch mache, mein Kind wiederzuerhalten, sei es durch Güte, sei es durch Gewalt?«
»Das ist eine eigentümliche Frage, und zur Beantwortung derselben sollten Sie sich eher an einen Pfarrer als an mich wenden, der kann Ihnen diesen Fall klarer und besser auseinandersetzen.«
»Ach mein Gott! das habe ich ja schon gethan,« erwiderte das Mädchen, indem es kummervoll seine Hände faltete; »heute that ich es und trug einem Geistlichen die ganze Geschichte so vor, wie ich sie Ihnen soeben erzählte.«
»Und der meinte –?«
»Ach! wenn ich Ihnen das sage, so sind Sie vielleicht auch derselben Ansicht.«
»O nein, gewiß nicht! Ich lasse mich nicht leicht durch anderer Leute Meinung bestimmen.«
»Er meinte also,« fuhr Katharine in einem dumpfen Tone fort, nachdem sie mit der Hand über die Augen gefahren – »er meinte – fast dasselbe wie der Advokat, nur mit ganz anderen Worten. Ich soll auf das Heil meiner Seele denken, sagte er, und mich nicht so viel mehr mit dem Irdischen befassen. – Was das Kind anbelange, so fuhr er fort, der Herr habe es gegeben, der Herr habe es genommen, und wenn es sein weiser Rathschluß wäre, es nochmals meinen Händen anzuvertrauen, so würde das gewiß auch ohne mein Zuthun geschehen. – Aber Gewalt mit Gewalt zu vertreiben sei Unrecht, und sündhaft, unserem Nebenmenschen Unrecht zu thun, weil er uns welches gethan. – Und damit entließ er mich, indem er versicherte, in diesem speziellen Falle durchaus nichts für mich thun zu können; er möchte wohl den Versuch machen, das Herz jenes Meister Schwemmer zu rühren und ihm vielleicht ein Bekenntniß zu entlocken, aber es sei ihm das jetzt unmöglich, weil er gerade im Begriffe stehe, zum allgemeinen Kirchentag abzureisen. – Sehen Sie, Herr Doktor, das macht mich zweifelhaft; denn ich will Ihnen nur gestehen, vor langen Jahren im Leichtsinne der Jugend, wo ich noch glaubte, die ganze Welt stände mir offen, hätte ich darauf nichts gegeben, jetzt aber, wo ich wohl fühle, daß meine Tage gezählt sind, hat mich diese Rede durchschauert und ich wußte nicht, was ich machen sollte. Wen konnte ich noch um Rath fragen? – Ich habe ja Niemand in der weiten Welt, der einen innigen Antheil an mir zu nehmen hätte. – – Da sah ich Sie heute, es war bei einer armen Familie in der unteren Stadt, wo ich öfters nähe, und wo auch Sie hinkamen am heutigen heiligen Abend, um nach der kranken Frau zu sehen und den Kindern dabei einige Weihnachtsgaben zu bringen. – Das hat mich so gerührt, daß ich Ihre Hand hätte küssen mögen und daß ich nachher noch lange geweint habe. – Und als die Frau Ihnen klagte, ihre Schwermuth nehme so überhand, sie könne sich wohl nimmermehr aus ihrer Krankheit und ihrem Elend emporraffen, und sie bitte nur Gott um ein sanftes Sterbestündlein, da sprachen Sie: ›Diese Rede ist nicht recht, Frau; man muß freilich auf Gott vertrauen, aber dabei nicht die Hände in den Schoß legen, wer sich selbst verläßt, den verläßt auch er; Wunder geschehen nicht mehr heutzutage, und wenn man in eine schwierige Lage kommt, so muß man Hand und Fuß regen, um über dem Wasser zu bleiben. – Also Muth! Muth!‹ – Dieses Muth! Muth! mit dem Sie das Zimmer verließen, Herr Doktor, klang auch in meinem Herzen wider und tönte dort immer fort. Ja, sagte ich zu mir, wer sich selbst verläßt, den verläßt auch der liebe Gott, Und nun stand auf einmal der Wunsch in mir fest, Sie um jeden Preis zu sprechen, Ihnen meine Sache vorzutragen und um Ihren Rath zu bitten. – Und das habe ich nun nach meinen besten Kräften gethan.«
Der Arzt hatte dieser längeren Rede aufmerksam zugehört, zuweilen mit dem Kopfe genickt und über den Unfall nachgedacht. – »Da wäre freilich zu überlegen, was zu machen ist,« sagte er nach einer größeren Pause. »Mit Hilfe der Gerichte, denke ich mir wohl, ist nichts auszurichten, denn darin bin ich auch einverstanden, daß Sie nicht zu beweisen im Stande sind, jenes Kind, das Sie vielleicht finden, sei das Ihrige. Was nun aber List oder Gewalt anbelangt, so weiß ich nicht, welche Kräfte Sie zu Ihrer Verfügung haben und ob Sie wohl des Gelingens gewiß sind.«
»Der Zimmermann, von dem ich mit Ihnen vorhin sprach,« versetzte Katharine, »hat sich mit Mehreren vereinigt, und die wollen nun in einer Nacht mit Gewalt in das Haus des Meister Schwemmer dringen, nach dem Kinde sehen, und dieses, wenn sie es finden, mitnehmen.«
»Das wäre offenbar Einbruch oder wenigstens Störung des Hausfriedens, und dazu könnte ich Niemand rathen.«
»Aber sie wollen ja nichts stehlen,« entgegnete unbefangen das Mädchen, »sie wollen ja nur mein Kind wieder nehmen.«
Der Doktor schüttelte ernsthaft mit dem Kopfe.
»Oder,« fuhr Katharine fort, »können sie es auch noch auf andere Art, mit List, versuchen.«
»Das ginge eher. – Aber auf welche Art?«
»Der Garderobegehilfe, von dem ich Ihnen früher sprach, und der zuweilen den Meister Schwemmer besucht, will an einem gewissen Abend hingehen und ihnen von seinen Geschichten erzählen. Er thut das oft, und der Meister Schwemmer, sowie die übrigen Gesellen, die wohl da sind, machen sich alsdann über den alten Herrn Schellinger lustig, und es gibt bisweilen kleine Streitigkeiten, die aber, weil er als ein alter schwacher Mann natürlicherweise nachgeben muß, bald zu Ende gehen. An dem Abend aber will er einen ernstlichen Streit herbeiführen, will nicht nachgeben und sich so lange mit ihnen herumzanken, bis ihn einer von den Leuten anfaßt, – dann schreit er um Hilfe, und der Zimmermann und seine Freunde, die schon lange um das Haus herum versteckt warten, eilen nun herbei, befreien ihn und halten dann ein klein wenig Haussuchung.«
»Das ist schon eher etwas, was sich hören läßt,« sagte lächelnd der Doktor. »Es ist freilich von dem alten Herrn ein gefährliches Unternehmen, in ein solches Wespennest hinein zu stechen; aber am Ende könnte die Sache auf diese Art doch gelingen.«
»Und Sie, Herr Doktor, halten es für kein Unrecht, für keine Sünde, wenn ich einen solchen Versuch mache, mein Kind wieder zu erhalten? – Sie werden mir nicht davon abrathen?«
»Zwischen abrathen und Ihnen zugeben, daß ich es für kein Unrecht oder keine Sünde halte, ist ein großer Unterschied. Was das Letztere betrifft, so sage ich aus voller Ueberzeugung, daß ich es am Ende sogar für verzeihlich halte, wenn Sie alle Schritte thun, Ihr Kind wieder zu bekommen. – Aber Ihnen rathen zu einer That, die, wenn auch mit List begonnen, doch sehr gewaltthätig enden kann, das mag ich nicht.«
»Das ist ja auch mein Hauptkummer,« entgegnete Katharine nach einer kleinen Pause, »daß Andere, die ich eigentlich gar nichts angehe, für mich handeln, ja vielleicht für mich leiden sollen, denn Sie haben Recht: es könnte da eine schlimme Geschichte entstehen. Aber wenn ich bedenke, daß mein Kind in Kummer und Noth zu Grunde gehen soll, und daß ich es vielleicht auf diese Art zu retten vermag – o Herr Doktor, da kann ich nicht lang überlegen; ich nehme die mir dargebotene Hilfe an.«
»Wenn es gelingt,« versetzte er nachdenkend, »so könnte es zu einer hübschen Strafe für jenes Volk werden. – Und ich will Ihnen etwas sagen,« fuhr er lächelnd fort, »da Sie mich nun einmal um Rath gefragt und zum Vertrauten Ihres Geheimnisses gemacht, so will ich Ihnen dazu helfen, so weit meine Kräfte reichen und Ihren Plan etwas ändern, wenigstens, so denke ich, verbessern.«
»O wie danke ich Ihnen für Ihre freundlichen Worte!« rief das Mädchen und wollte seine Hand ergreifen, um sie zu küssen.
Doch zog er sie hastig zurück und sagte: »Thun Sie mir den Gefallen und lassen Sie mich es ein paar Tage vorher wissen, wenn die bewußte Sache vor sich gehen soll. Ich will dann irgend Jemand veranlassen, in der Nähe zu sein, damit, wenn Ihr tapferer Schneider und seine Zimmerleute Hilfe gebrauchten, diese zur rechten Zeit nicht fehlt. Aber sprechen Sie jetzt mit Niemand mehr über diese Sache, gehen Sie ruhig nach Hause und wie gesagt, versäumen Sie es ja nicht, mich zur gehörigen Zeit zu benachrichtigen.«
Damit erhob sich der Doktor, Katharine stand zu gleicher Zeit auf, sprach noch einige innige Worte des Dankes und versicherte, sie werde gewiß nicht vergessen, den Tag und die Stunde genau anzugeben. Sie wandte sich hierauf zum Weggehen, und der Doktor begleitete sie freundlich bis an die Glasthüre, die er öffnete und hinter ihr wieder verschloß. Dann ging er zu seinen Kindern, sah ihren Verband nach und befühlte ihnen Stirne und Hände; doch schliefen sie ruhig, alle Aufregung hatte sich gelegt, und nur die weißen Binden um den Kopf stachen seltsam ab von den frischen blühenden Gesichtern.
Als der Doktor die beiden Kinder so ruhig vor sich schlafen sah und bemerkte, wie behaglich sie in ihren warmen Bettchen ausgestreckt lagen, da dachte er wieder an jene arme Person, die ihn eben verlassen, und er begriff besser, als es der Geistliche gethan, daß eine Mutter, die sich vorstellen muß, ihr Kind, von fremden Leuten festgehalten, werde jetzt mißhandelt und müsse leiden unter Frost und Hunger, leicht zum Aeußersten zu bringen sei und sich gern zu den gewaltsamsten Maßregeln verstehe.
Nach diesen Betrachtungen schritt er kopfschüttelnd in sein Arbeitszimmer zurück, zog seinen warmen Paletot wieder an, nahm Hut, Stock und Hausschlüssel und ging die Treppen hinab, nachdem er vorher die Köchin beauftragt, es Madame, die noch nicht zurückgekehrt war, zu berichten, daß er den Rest des Weihnachtsabends bei seinen Eltern zubringen werde.