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56. Vor, Während und nach dem Hofdiner

Das große Hofdiner am heutigen Neujahrstage ging, wie alle dergleichen Festlichkeiten, feierlich und sehr langweilig vor sich. Es war in den Sälen eine außerordentliche Pracht zu sehen an reich gestickten Uniformen, an Sternen, Ordensbändern, an rauschenden Seide- und Sammetroben, an goldgestickten Stoffen aller Art, an Brillanten und sonstigem glänzendem Schmucke.

Ehe die Tafel anfing, stand Alles nach Rang und Stand nebeneinander an den Wänden aufgestellt, und Alles blickte auf die höchsten und Allerhöchsten Herrschaften, die soeben zur gegenüber liegenden Thüre hereingetreten waren und mit freundlichem Kopfnicken die tiefen Knixe und feierlichen Verbeugungen entgegengenommen hatten.

Hierauf hielten die Majestäten ihre kleinen Cercles, was aus der Hofsprache für dich, geliebter Leser, in ganz gewöhnliches Deutsch übersetzt, so viel sagen will, als sie gingen bei den Umherstehenden vorbei, sprachen mit den Begünstigten einige gnädige Worte, nickten den minder Glücklichen huldreich zu, sahen Andere wenigstens mit einem freundlichen Blicke an und ließen die Unbedeutenden oder gerade nicht in der Gnade Stehenden so vollkommen links liegen, als ob diese gar nicht in der Welt existirten.

Es ist in solchen Augenblicken sehr amüsant, anzuschauen, wie sich die Physiognomien verändern, sobald eine der Allerhöchsten Herrschaften langsam vorschreitet. Es ist das gerade, als wenn der Mond aufsteigt und so nach und nach mit seinem sanften Lichte hier eine frische Wiese, eine freundlich murmelnde Quelle, eine alte Ruine, dort eine finstere Schlucht, eine kahle Felspartie und viele steife, langweilige Tannenwälder bestrahlt und milde beleuchtet. Gerade wie diese Gegenstände klären sich auch hier die Gesichter auf; die Augen blicken starr nach dem aufsteigenden Gestirne, der Mund spitzt sich zierlich oder legt sich in wichtige Falten. Die frische Wiese kokettirt vielleicht mit ein paar hübschen Armen, indem sie zierlich den Fächer sinken läßt; die Quelle hört auf zu rauschen, sammelt ihre Wasser, um gleich darauf eine mächtige Redeschleuse aufziehen zu können. Die Ruine denkt vergangener Tage, wo auch sie in erster Linie stand und blickt sehnsüchtig nach dem Monde, der sich aber jetzt zufällig hinter einer Wolke verbirgt, ohne ihr einen süßen Blick geschenkt zu haben. Die finsteren Schluchten und kahlen Felspartien – ach! und deren gibt es hier eine große Anzahl! – zucken die mageren Achseln, neigen spöttisch zusammenflüsternd ihre brillantenbedeckten Köpfe und versichern einander gegenseitig, daß es auf der Welt nichts Langweiligeres gebe, als diese ewigen Cercles vor der Tafel. Ach! für sie sind diese wirklich langweilig; dort hinein dringt kein erleuchtender Strahl; diese düsteren, erstorbenen Gegenden werden von keinem freundlichen Scheine mehr belebt. – Aber die Tannenwälder, sie stehen da in geschlossener Phalanx und trotzig, mit herausforderndem, wenn auch grämlichem Lächeln. Das sind starke Bäume mit spitzigen Nadeln, und wenn der Mond sie nicht besonders freundlich bescheint, so sagen sie: »Er wird vergeßlich, dieser gute Mond, wie wäre es ihm sonst möglich, uns zu übersehen, uns in unserer unergründlichen Langweiligkeit und Steifheit!« –

Hinter den höchsten Herrschaften, das heißt, sobald sie vorübergegangen sind, fällt Alles wieder in's frühere trostlose Dunkel zurück; man sieht da seltsame Blicke, verstecktes, aber sehr bedeutungsvolles Achselzucken, und hört auch wohl ein spitziges Wort, und, geneigter Leser, die gewissen Husten – von denen dir zu erzählen wir schon die Ehre hatten – hier aber so mannigfaltig und bedeutungsvoll, daß man Bände darüber anfüllen könnte.

Aber, wie gesagt, der lichte Glanz ist nun vorbeigezogen, verschwunden, gerade wie beim Schattenspiele an der Wand der runde glänzende Kreis, nachdem die Gläser weggezogen und die Lampe ausgelöscht ist. Nur hie und da strahlt noch ein erhelltes Gesicht aus dem allgemeinen Grau hervor; das gehört vielleicht einem jungen Ehrenfräulein oder einem neugebackenen Kammerherrn, die zum erstenmal bei der Hoftafel erscheinen und die zum erstenmal mit einem freundlichen Worte beglückt worden.

Graf Fohrbach hatte sich mit jüngeren Offizieren und anderen Herren vom Hofe bescheiden in eine Ecke zurückgezogen; sie standen hinter der Person des Hofmarschalls, der, den Hut unter dem Arm, den Stab in der Hand, in größter Wichtigkeit verharrte, mit einem Auge die Kammerdiener an der Thüre des Speisesaales, mit dem anderen die Majestäten betrachtete.

»Lieber Doktor,« sagte der dienstthuende Adjutant zu dem Generalstabsarzte, der wie immer das ganze Getreibe mit einem eigenthümlichen Grinsen betrachtete, »treten Sie ein bischen vor, neben den Hofmarschall; ich sehe, die Frau Herzogin brennt vor Begierde, Ihnen ein freundliches Wort zu sagen.«

»Ja, ja,« entgegnete dieser, »ihr hättet jetzt wohl wieder einmal Lust zu sehen, wie eine arme Fliege gegen das Licht hinschnurrt und sich die Flügel verbrennt. Seit ich Seine Durchlaucht nicht für tauglich zum Garde-Dragoner erklärte, bin ich für einen Theil der höchsten Herrschaften gar nicht mehr in der Welt.

»Das wird Sie ungeheuer kränken?«

»Ich kann es Ihnen gar nicht sagen, wie es mich betrübt,« erwiderte der Arzt in komischem Tone. »Habe ich doch dadurch einen wichtigen Theil meiner Praxis verloren. Denken Sie sich, Graf, die Kammerfrauen lassen mich des Nachts nicht mehr holen, wenn sie Abends zu stark soupirt haben.«

»Bssst!« machte der Hofmarschall leise, ohne übrigens Stellung und Miene im Geringsten zu verändern; denn er hatte Alles wohl verstanden und fürchtete die freche Zunge des Doktors und dessen schrille Stimme.

»Uebrigens soll es mich gar nicht wundern,« fuhr dieser fort, »wenn mir nicht heute auf's Eklatanteste gezeigt wird, welch' niederträchtiger Sünder ich eigentlich bin.«

Und der Doktor hatte diesmal wahrhaftig Recht, denn ein paar Sekunden darauf machte der Hofmarschall vor der Front eine scharfe Wendung nach links, begleitet von einer außerordentlich tiefen Verbeugung, welche Ihrer Hoheit, der ebengenannten Frau Herzogin galt, die rauschend und majestätisch wie ein prächtiges Gewitter einherzog gegen den Kreis der jungen Leute, dort anhielt, um mit einem Major von der Kavallerie einige sehr freundliche Worte zu sprechen. Dabei aber wandte sie sich so dicht vor dem unglücklichen Leibarzte um, daß dieser kaum Zeit hatte, sich durch einen großen Schritt in die Ecke zu retten, sonst würde er unfehlbar mit Ihrer Hoheit zusammengestoßen sein. – Und dann, welcher Eklat! Da hätte man deutlich wieder einmal gesehen, wie diese Leute von bürgerlicher Herkunft doch so entsetzlich ungeschickt sind und sich so gar nicht in den Hofzirkeln zu benehmen wissen.

Ihre Hoheiten sprachen fast mit Jedem der ganzen Gruppe, den Doktor natürlicherweise ausgenommen, der für sie, wie er vorhin vollkommen richtig bemerkt hatte, gar nicht mehr in der Welt war.

Endlich schritt Seine Majestät auf die Thüre des Speisesaales zu; die Flügelthüren wurden geöffnet, der Hofmarschall schaute auffordernd rings im Kreise umher, und hinter ihm drein rauschte nun Alles in den anstoßenden Saal, um sich dort an der Tafel und zum Speisen niederzulassen.

Dies ging nun vor sich fast wie bei einem anderen Diner, nur daß am heutigen Tage die steifen Uniformskragen und die fest zusammengeschnürten Taillen der Eingeladenen nicht erlaubten, viel zu sich zu nehmen. Doch – »Die Ehre macht satt«, meinte der Doktor am unteren Ende der Tafel. Er saß neben dem dienstthuenden Adjutanten und nicht weit vom Hofmarschall, der aber nur mit hoch emporgezogenen Augenbrauen und sehr ernstem Gesichte zu ihm sprach.

Glücklicherweise ging Alles schnell vorüber; nachher wurde freilich noch ein kleiner Cercle gehalten, aber ungezwungener, freier als vor der Tafel.

Der Adjutant, dessen Dienst nun bald zu Ende ging, erkundigte sich an der Thüre des Saales, ob sein Jäger nicht zurückgekommen sei, worauf er sich, als ihm diese Frage verneint wurde, über den gegebenen Auftrag beruhigt, an eine Fensternische zurückzog, theils um auf den Kastellplatz sehen zu können, theils aber auch, um, selbst ungesehen, einige der Anwesenden zu beobachten.

Wir wissen wohl, wohin seine Blicke gingen, und nicht blos er allein, sondern die meisten der jungen Leute schauten nach jener prachtvollen Gestalt, der sich aber, da sie sich unmittelbar bei der Person Ihrer Majestät halten mußte, Niemand ohne höhere Aufforderung so recht nahen durfte; der arme Graf Fohrbach in seiner dienstlichen Stellung am allerwenigsten.

Eugenie verdunkelte den ganzen Kreis, in dem sie stand, sowohl durch die Schönheit ihres Kopfes und ihrer Gestalt, als durch die Einfachheit ihres Aeußeren. Sie trug ein weißes, anliegendes Kleid von matter Seide, fast ohne Schmuck; nur an dem feinen Handgelenk hatte sie ein schwermassives Armband – ein Erbtheil ihrer Mutter. Ihr schwarzes Haar war glatt gescheitelt, die überaus dicken Flechten hatte sie einfach um den Kopf geschlungen, und es war das, wie die Obersthofmeisterin gegen die Hofmarschallin bemerkte, eigentlich keine Frisur zu nennen – »und kann auch nur der Fräulein von S. gestattet werden, weil sie einmal die Fräulein von S. ist, ein so schönes und in der That sehr liebenswürdiges Mädchen.«

Dieses Wort der alten Dame hörte Graf Fohrbach hinter seinem Vorhang und ebenso, wie die Hofmarschallin antwortete:

»Es ist in der That ein einziges Geschöpf; man muß sie lieben, denn sie hat wahrhaftig keinen Fehler.«

»Ja, man muß sie lieben!« seufzte er in sich hinein. »Ah! wenn das sogar diese beiden alten Excellenzen von Eugenie sagen, welche Worte soll dann ich gebrauchen?«

Der junge Herr Herzog hatte allein das Recht, sich seiner Mutter und also auch dem Ehrenfräulein zu nähern. Und er machte von diesem Rechte, wie immer, so auch heute, einen solch' umfassenden Gebrauch, daß sich der arme Graf in der Fensternische fast die Lippen blutig biß und den Griff seines Säbels faßte, als habe er nicht übel Lust, diesen gegen einen sehr gefährlichen Feind zu ziehen.

Bis jetzt hatte der Herzog dort hinten bei der Gruppe, wie es schien, nur allgemeine Redensarten an die Damen, die um ihn standen, gerichtet; jetzt aber – »der Teufel soll ihn holen!« dachte der Adjutant – wußte er sich so geschickt zu drehen, und so schön zwischen den ehrerbietigst ausweichenden Hoffräuleins zu manövriren, daß er Eugenie von den Uebrigen trennte, und nun auf einmal abseits mit ihr stand. – »Verdammt! was hat er da zu sagen?«

Der Herzog that eine Frage – Eugenie von S. schlug leicht die Augen nieder und gab ihm eine kurze, doch wie es schien, nicht unfreundliche Antwort. Darauf zuckte er die Achseln und machte ein betrübtes Gesicht, schien aber gleich darauf über etwas nachzudenken, in Folge dessen sich sein Gesicht aufklärte. Er that noch einen halben Schritt näher zu dem schönen Mädchen hin und flüsterte ihr etwas auf sehr verbindliche Weise zu. Sie machte eine leichte Verbeugung, vermittelst welcher sie aber um einen ganzen Schritt zurückwich. Der Herzog entfernte sich und der Graf athmete tief aus.

»Und doch ist die Sache nicht ohne allen Grund,« sprach er nach einer Pause ergrimmt zu sich selber. »Wenigstens von seiner Seite nicht. Teufel! da gilt es, aufzupassen! Wenn man sich nur wenigstens der Gruppe auch nähern dürfte! Aber Ihre Majestät und die Frau Herzogin scheinen wahrhaftig gerade auf diese Stelle des Saales wie verpicht zu sein. – Ah! jetzt machen sie ihre Komplimente! – Die Damen verneigen sich; Gott sei Dank! – Aber auch Eugenie muß folgen. Weiß Gott im Himmel, ich habe heute kein Glück; war es mir doch nicht möglich, auch nur eine einzige Silbe vor oder nach der Tafel an sie zu richten. – Doch halt! – sie bleibt an der Thüre stehen. Ah! wenn sie sich umschaut! – Vielleicht nach dem Herzog; doch wenn sie es thut, so werde ich es augenblicklich sehen.«

Der Herzog stand auf der andern Seite des Saales, und also war es in der That nicht zu verkennen, wohin sich ihre Blicke richten würden. –

Jetzt trat sie unter die Thüre, in der langen, glänzenden Reihe die Letzte und Schönste. – Ah! sie blieb wirklich einen Augenblick unter der Thüre stehen, sie wandte wirklich den schönen Kopf rückwärts und blickte nach der Seite hin, wo der Herzog stand, aber dieser Blick war flüchtig wie ein Blitz, und sie wandte ihn alsbald wieder fort und ließ ihn unverkennbar durch den ganzen Saal gleiten. Suchte sie etwas mit ihren Augen? O, wenn sie ihn suchte! – Wie schlug sein Herz! Er konnte unmöglich ruhig in seinem Verstecke hinter dem Vorhange stehen bleiben, er mußte aus demselben heraustreten, und als er das rasch that, glitt ihm der Säbel aus der Hand und stieß klirrend auf den Parkettboden. – Gott im Himmel! flog nicht in diesem Augenblicke ein leichtes Lächeln über ihre Züge? – O Glück! O Seligkeit! Neigte sie nicht leicht das Haupt gegen ihn, ehe sie durch die Thüre verschwand? – Er hätte darauf schwören können, daß sie es gethan. Doch dies Glück wäre zu groß gewesen; er durfte nicht leichtsinniger Weise daran glauben. – Aber etwas Anderes war nicht wegzustreiten, was in diesem Augenblicke geschah: Eugenie ließ nämlich, auf jeden Fall ganz absichtslos, ihr Battistsacktuch auf der Thürschwelle fallen, wobei es in der That komisch anzusehen war, wie im gleichen Moment sämmtliche noch anwesende Offiziere und Herren vom Hofe sich mit einer wahren Wuth darauf stürzten.

Wir brauchen wohl dem geneigten Leser nicht zu versichern, daß Graf Fohrbach eher sein Leben als das Taschentuch in anderen Händen gelassen hätte; er hob es im gleichen Augenblicke auf, als der Herzog neben ihm ankam.

Dieser streckte die Hand gegen den Adjutanten aus, als wünsche er das Taschentuch ausgeliefert zu erhalten.

»Es gehört wohl nicht Euer Durchlaucht?« fragte Graf Fohrbach. – »Ich werde mir schon erlauben dürfen, es dem Fräulein nachzubringen.«

»Versteht sich von selbst!« entgegnete höhnisch lachend der Herzog, indem er einen Schritt zurücktrat. »Dem Sieger gehört der Dank, und den will ich Ihnen nicht streitig machen.«

Wäre der arme Graf nur Hofmann gewesen, so würde er das Tuch respektvollst dem Herzog zugestellt und sich mit dessen Erkenntlichkeit begnügt haben. – So aber war er verliebt und – eifersüchtig, weßhalb er denn auch nur eine flüchtige Verbeugung machte und eilig durch die Zimmerreihe davon schoß.

Das Ehrenfräulein hatte schon mehrere Thüren hinter sich und war gerade im Begriff, das Vestibül zu betreten, wo die Treppe zu ihren Appartements mündete, als sie vernahm, daß Jemand mit klirrenden Schritten ihr eiligen Laufes folge. Sie wandte den Kopf zurück, und als sie sah, daß es Graf Fohrbach sei, der ein weißes Tuch in der Hand hielt, schien sie erst ihren Verlust zu bemerken und machte ein paar Schritte gegen den glücklichen Finder.

Dieser, so nahe am Ziele, wo er den für ihn so köstlichen Fund wieder abgeben mußte, konnte sich nicht enthalten, ehe er das that, das feine Tuch sanft an seine Lippen zu drücken, worauf er eine Verneigung machte, die mit einer halben Kniebeugung sehr viel Aehnlichkeit hatte.

»Ah! ich danke Ihnen, Herr Graf!« sagte das schöne Mädchen, während sie das Tuch in Empfang nahm. »Ich habe meinen Verlust jetzt erst bemerkt, und freue mich in der That, daß gerade Sie der Finder sind.«

»Gewiß, ein glücklicher Zufall für mich, Fräulein Eugenie,« erwiderte er; »denn er verschafft mir das bis jetzt schmerzlich entbehrte Glück, mich Ihnen einen Augenblick zu nähern, Ihnen zwei Worte sagen zu dürfen.«

»Richtig, Sie sind im Dienst,« sprach sie lächelnd.

»Weßhalb es mir um so weniger erlaubt ist, mich unaufgefordert dem hohen Kreise zu nähern, wo Sie als Königin glänzen.«

»Ei, ei! Herr Graf!« antwortete sie mit einem Lächeln, das gleich darauf wieder verschwand, als sie rings um sich schaute; »solche Unwahrheiten darf man hier nicht hören.«

»Leider! leider!« versetzte er hastig. »Sie haben recht, Eugenie; man muß sich hier in diesen Mauern mit seinen Worten in Acht nehmen; man darf nur denken. Und das erlauben auch Sie mir, gestrengste aller Damen?«

»Da müßte ich vor allen Dingen erst wissen, was Sie denken.«

»O, ich denke nur« – an Sie! wollte er leidenschaftlich ausrufen, doch schloß er diesen Satz anders, indem er sagte: »Ich dachte, ob Sie vielleicht vorhin im Saale meine ehrerbietige Begrüßung bemerkten?«

»Als Sie so plötzlich aus der Fensternische hervortraten?« –

»Also Sie haben mich bemerkt, mein Fräulein?« sprach er entzückt, denn er dachte, wenn sie mich gesehen, so galt mir auch jener Blick, jener leichte Gruß, – o Gott! vielleicht sogar die kleine Verwirrung, die ich auf ihrem schönen Gesichte bemerkt.

»Diese Fensternische ist ein artiger Winkel zum Beobachten,« antwortete sie, seiner Frage ausweichend.

»O, ich habe auch dort beobachtet!«

»Das müssen Sie mir ein andermal erzählen,« sagte sie mit einem liebenswürdigen Lächeln. – »Recht bald, vielleicht heute Abend noch. – Sie kommen doch zu S.?«

»Gewiß werde ich kommen, Fräulein Eugenie, gewiß! O ich freue mich wie ein Kind darauf! – Und Sie?« – Er betrachtete sie mit flammendem Blick und erwartete angstvoll ihre Antwort.

»Auch ich gehe gerne zu S.,« erwiderte das schöne Mädchen und schlug absichtslos die Augen nieder. Gewiß ohne weitere Absicht, als um ihr Bracelett zu betrachten, das sie an ihrem runden weißen Arm ein klein wenig drehte. »Namentlich heute Abend gehe ich gerne hin, weil wir, wie ich höre, ganz unter uns sind.«

In diesem Augenblick vernahm man Tritte im Nebensaal, weßhalb Eugenie dem Grafen einen flüchtigen Gruß sagte, in das Vestibül hinaus trat und dort zwischen den Säulen verschwand.

Es war gut, daß sie ging, denn der entzückte und glückliche junge Mann war nahe daran, vollkommen den Kopf zu verlieren und dem Ehrenfräulein Ihrer Majestät hier bei offener Thüre eine Liebeserklärung zu machen, wozu er auch in der That den Zeitpunkt nicht schlechter hätte wählen können. Denn kaum war Eugenie verschwunden, so kam der Herzog, gefolgt von einigen Offizieren, lachend und plaudernd daher.

»Aha! unser Ritter!« sagte er. – »Haben Sie Ihre Dame noch erreicht? – Gewiß, Sie haben, denn ich sehe das Siegespfand nicht mehr in Ihrer Hand!«

Der Adjutant war zu glücklich, um diese sonderbare Anrede, in deren höhnischem Ton das Verletzende lag, gebührend zu erwidern. Auch war es ja ein Prinz des Hauses, der sich einen gnädigen Scherz mit ihm erlaubte, weßhalb er sich begnügte, Seiner Durchlaucht mit einer höflichen Verbeugung zu antworten: »Ich hatte in der That das Vergnügen, Fräulein von S. das verlorene Tuch zu übergeben.«

»Diese Adjutanten Seiner Majestät sind doch in Wahrheit bevorzugte Leute,« mischte sich ein Dragoneroffizier in das Gespräch, augenscheinlich in der Absicht, um dem Herrn Herzog Stoff zur Fortsetzung eines so pikanten Gesprächs zu geben.

Wogegen Graf Fohrbach trotz seiner guten Stimmung durchaus nicht geneigt schien, einem Anderen auch nur die leiseste Idee eines Scherzes über sich zu erlauben, denn er sagte ziemlich ernst und mit festem Blick: »Dürfte ich wohl um eine kleine Erläuterung Ihrer nicht ganz klaren Aeußerung bitten, Herr von Werthen?«

»Nun das liegt doch auf der Hand,« nahm der Herzog das Wort. »Werthen meint, es sei doch eine recht angenehme Beschäftigung für einen Adjutanten Seiner Majestät, den Ehrenfräuleins die Schnupftücher nachzutragen.«

»Meint Herr von Werthen das wirklich?« fragte der Graf mit einer seltsam klingenden Stimme.

»Nein, nein, nicht so ganz!« antwortete der Dragoneroffizier mit einem verlegenen Lachen. »Seine Durchlaucht haben den Sinn meiner Worte nicht vollkommen richtig ausgelegt.«

»Ja, sehen Sie, Herr von Werthen,« sagte der Adjutant nun ebenfalls lachend, wobei jedoch seine Mundwinkel leicht zuckten, »das kann Einem schon widerfahren, wenn man sich unberufen in anderer Leute Gespräch mischt. – Würden Sie dann jetzt wohl selbst die Freundlichkeit haben, mir den Sinn Ihrer Worte zu erklären?«

»Ah! lassen Sie es gut sein, Werthen!« rief der Herzog. »Das sieht ja aus wie eine kleine Neckerei. Auch dürfen wir die Zeit des Herrn Grafen nicht so sehr in Anspruch nehmen: der Herr Graf sind ja im Dienst. Sie sehen – Schärpe und Cartouche.«

»Euer Durchlaucht verzeihen,« erwiderte ruhig der Graf, während er sich hoch aufrichtete und jedem Einzelnen, den Herzog nicht ausgenommen, fest in die Augen blickte, »mein Dienst ist nach der Tafel zu Ende und ich habe die vollkommenste Zeit für jeden dieser Herren.« – Die letzten Worte sprach er mit scharfer Betonung. Dann fuhr er mit einer gefälligen Handbewegung fort: »Ich bitte also, Herr von Werthen!«

»Nun ja, bester Graf Fohrbach,« entgegnete dieser, indem er sich, einigermaßen in Verwirrung gebracht, hin und her wandte und drehte; »ich wollte in der That nur so viel sagen, als es sei doch recht angenehm, – und es sei wirklich ein bevorzugter Dienst, der Einem zugleich gestatte, einer so hochverehrten jungen Dame, wie Fräulein Eugenie von S. ist, das Schnupftuch aufheben zu dürfen.«

»Ah so!« erwiderte nach einem tiefen Athemzuge lächelnd der Adjutant, dem der höhnische Blick des Herzogs, mit welchem ihn dieser fortwährend beschaute, das Blut gewaltsam nach dem Kopfe trieb, ohne ihn jedoch glücklicherweise vergessen zu lassen, wen er vor sich habe und wo er sich befinde. – »Ah so! also Sie betrachten das Schnupftuchaufheben nur als eine angenehme Nebenzugabe? Das kann ich mir schon gefallen lassen. Und daß das mit dem Dienst eigentlich nichts zu thun hat; – sonst wäre es ja sehr leicht, Adjutant Seiner Majestät zu werden, denn Schnupftücher aufheben können Viele, Herr von Werthen. Aber in die Umgebung Seiner Majestät werden nur Wenige gezogen. – Nein, nein!« setzte er lachend hinzu, indem er die Hand des einigermaßen erstaunten Offiziers ergriff und sie freundlich schüttelte, »ich hatte Sie mißverstanden, Herr von Werthen. Stellen Sie sich aber in meine Lage, oder nehmen Sie an, man sagte zu Ihnen: ein Schnupftuch graziös aufheben zu können sei genug, um zum Beispiel in das Gardedragonerregiment eintreten zu können; das würden Sie ja auch übel nehmen, mein lieber Herr von Werthen, da Sie doch fest überzeugt sind, daß auch noch andere Sachen dazu gehören, um Adjutant Seiner Majestät oder um Offizier in einem Gardedragonerregiment zu werden.«

Wir wollen gerade nicht behaupten, daß diese Aeußerung des Grafen vor den Umstehenden, namentlich vor dem Herzoge, sehr klug gewesen sei, und sie war vielleicht nur insofern verzeihlich, als er in Letzterem einen, wenn auch nicht gefährlichen, doch zudringlichen und kecken Nebenbuhler sah.

Seine Durchlaucht biß sich denn auch heftig auf die Lippen und erblaßte etwas Weniges, faßte sich aber im nächsten Moment wieder, und versuchte ein Lächeln, welches man aber als sehr mißlungen betrachten konnte. Besser gelang ihm eine ziemlich hochmüthige Verbeugung, als er im Weggehen sagte: »Nun sind Sie also wohl ebenso zufrieden gestellt, Werthen, wie der Herr Graf Fohrbach? – Wenn dem so ist, so können wir für heute diese Unterredung abbrechen; ein andermal vielleicht findet sich eine bessere Gelegenheit, dieselbe fortzusetzen.«

Damit eilte er hinweg und seine Begleitung folgte ihm.

Der Adjutant blickte ihnen eine Weile nach, dann nahm er seinen Säbel unter den Arm und ging durch die noch immer glänzend erleuchteten Zimmer zurück nach dem Speisesaal, während er vor sich hin murmelte: »Es thut auf die Länge der Zeit nicht gut, daß man diesem hohen Herrn in einigermaßen abhängiger Stellung wie ich heute hier im Schlosse zu begegnen gezwungen ist. Wäre er mir so an drittem Orte gekommen, ich hätte ihm einige passende Worte weiter gesagt, und bin überzeugt, Seine Majestät hätte mir das gar nicht übel genommen. – Doch denken wir nicht mehr daran! Mein Wagen wird unten auf mich warten; für heute gute Nacht, Herrendienst! Wenn ich dann in der Ecke meines Coupés sitze, so bin ich wieder, Gott sei Dank! ein freier Mann. – Und dann wird Eugenie heute Abend hoffentlich das Gespräch mit mir fortsetzen, um auf meine Fragen von vorhin zu antworten. – Die Majorin ist eine kluge Frau, wer weiß, im Laufe dieses Abends werde ich vielleicht noch unsäglich glücklich werden.

So dachte der dienstthuende Adjutant Seiner Majestät und schritt mit wahrhaft seligen Gefühlen im Herzen durch den Speisesaal, wo die Lakaien eifrigst beschäftigt waren, das Tafelgeräthe hinweg zu räumen.

Die Lampen an den großen Lustres waren schon ausgelöscht und nur auf einem Nebentische, der mit Kristall und Silber bedeckt war, brannten noch die Kerzen in einigen Armleuchtern; die Thüren standen offen und die flackernden Lichter strahlten auf dem glänzenden Metall und dem feingeschliffenen Service in einer Menge buntfarbiger Blitze und feuriger Punkte wider.

Als der Graf vorüber ging, hustete einer der Lakaien bedeutungsvoll und sagte zu dem Tafeldecker: »Dort kommt Seine Erlaucht.«

Worauf dieser sich umwandte, dem Adjutanten ehrerbietigst sich näherte und ihm leise zuflüsterte: »Seine Excellenz, der Herr Hofmarschall, haben schon einige Mal nach Euer Erlaucht gefragt und werden im Augenblick wieder hieher zurückkommen.«

»Was gibt's denn?« fragte Graf Fohrbach ärgerlich. »Was will man von mir? Es ist doch heute Abend hier nichts mehr zu thun, denn Seine Majestät sind wahrscheinlich in's Theater.«

»So ist es,« entgegnete händereibend der Tafeldecker.

»Nun denn?«

»Ihre Majestät und die Frau Herzogin befahlen eine Whistpartie.«

»Dabei habe ich doch nichts zu thun?« fragte er so erschrocken, daß der gewandte Hofbediente unwillkürlich lächeln mußte und entgegnete:

»Ich glaube nicht, Euer Erlaucht, denn Seine Excellenz, der Herr Hofmarschall, sowie der Herr Herzog werden von der Partie sein. – Doch da kommt seine Excellenz.«

Wirklich erschien auch der Hofmarschall in diesem Augenblicke unter der Thüre des Speisesaals, blickte mit vorgehaltener Hand in diese hinein, und als er den Offizier entdeckte, rief er vergnügt aus: »Ah! da sind Sie ja! Ich habe Sie lange gesucht.« – Bei diesen Worten nahm er ihn unter den Arm und zog ihn mit sich fort in den Korridor.

Dem Grafen, der den Hof genau kannte, ahnte nichts Gutes, denn er wußte wohl, daß Seine Excellenz nicht so ohne weitere Ursache nach ihm fragen würde. – Vielleicht ein Auftrag Seiner Majestät, dachte er sich selbst beruhigend, denn eine andere Idee, die ihn durchfuhr, wäre doch gar zu schrecklich gewesen.

Die beiden Herren machten einige Schritte in dem halbdunklen Gange, ehe die Excellenz etwas sprach, und ehe der junge Mann den Muth hatte, eine Frage zu stellen.

»Es ist mir in der That lieb, daß ich Sie gefunden habe,« sagte endlich der Hofmarschall sehr wichtig. »Sie wissen, ich protegire Sie, wo ich kann, und habe das auch heute Abend gethan. Sie sind im Glücke, Graf Fohrbach; ich versichere Sie, Sie sind im Glück.«

»Daß ich noch nicht wüßte, Excellenz!« entgegnete der Andere mit beklommener Stimme. »Und ich wäre wahrhaftig begierig, das zu erfahren.«

»Sogleich – sogleich! – Ihre Majestät haben eine Partie Whist befohlen –«

»Das weiß ich,« unterbrach ihn hastig der Adjutant. – »Die Frau Herzogin, Sie und der Herzog.«

»So war es bestimmt,« versetzte lächelnd die Excellenz. »Doch hat sich der Herzog bei seiner Mutter entschuldigt.«

»Großer Gott!« dachte der Graf.

»Nun hätte man allerdings den Obersthofmeister Ihrer Majestät zur Partie nehmen müssen, – aber sehen Sie, Graf Fohrbach, wie sehr ich Ihr Freund bin: ich habe Sie vorgeschlagen.«

»Mich?« rief der unglückliche junge Mann mit fast tonloser Stimme.

»Sie,« wiederholte die Excellenz, indem sie stehen blieb und den Adjutanten vertraulich mit dem Finger auf die Brust stieß. »Sie, junger Mann! Lernen Sie mich schätzen.«

»Als meinen größten Feind,« dachte der Andere, »als meinen Verderber! – Gerechter Himmel! womit habe ich diese schreckliche Gnade verdient?«

»Jetzt kommen Sie aber,« fuhr der Hofmarschall eilig fort. »Es ist das keine Kleinigkeit, mein lieber Freund, zum intimen Spiel Ihrer Majestät gezogen zu werden. Ich bitte, das morgen Früh dem Papa zu sagen. Wissen Sie: manus manum lavat, sagt der Lateiner, und mein leichtsinniger Sprößling macht gerade sein Offizierexamen.«

»Daß er durchfiele!« sprach der Adjutant grimmig zu sich selber, indem er die Zähne fest übereinanderbiß. »Daß er durchfiele, zehntausend Klafter tief in den Erdboden hinein, und die ganze Whistpartie ihm nach! – Gott verzeih mir diesen schrecklichen Gedanken, aber das ist zu fürchterlich!« – »Und wie lange wird die Partie dauern?« fragte er nach einer längeren Pause ängstlich den Hofmarschall.

Dieser nahm den Hut fest unter den Arm und erwiderte: »Was weiß ich? Vielleicht bis Zehn, halb Elf, und dann haben wir ein ganz kleines, kleines Souper; es wäre auch möglich, daß Seine Majestät noch auf einen Augenblick kommt. – Nun, freuen Sie sich doch!«

»O ich freue mich über alle Maßen!« rief der tiefbetrübte Adjutant, dem allerlei schreckliche Gedanken im Kopfe umher liefen. – »Und wo ist denn der Herzog?« fragte er ängstlich nach einer Pause.

»Wo wird der sein!« entgegnete die Excellenz, »wichtige Geschäfte, irgend eine verliebte Zusammenkunft oder so was. Der denkt ja an nichts Anderes; macht vielleicht irgendwo eine Partie quarré. – Nun, unter uns gesagt, wäre mir das an seiner Stelle auch lieber, als mit Mama und Tante eine Partie Whist zu spielen. – Verstehen Sie: für ihn; aber für uns ist das etwas ganz Anderes. Wissen Sie, Graf, morgen wird Sie der ganze Hof beneiden. – Aber hier ist das Adjutantenzimmer; legen Sie Ihre Schärpe und Geschichten hinein und kommen gleich hinauf. – Keinen Dank weiter: ich habe das gern für Sie gethan.«

»O ich danke Ihnen herzlich!« seufzte der junge Mann, indem er die Hand des Andern ergriff und sie krampfhaft schüttelte. »Sie verschaffen mir einen wunderbar genußreichen Abend.« – Hol' Sie der Teufel!

Das Letztere dachte er blos, oder wünschte vielmehr, daß dies schon vor einer halben Stunde geschehen wäre.

In dem Adjutantenzimmer brannte ein einsames Licht, das in den Ecken des weitläufigen Gemachs tiefe Schatten liegen ließ. Der Graf schritt ingrimmig auf und ab, wie ein gefangener Löwe in seinem Käfig; und gerade so war es ihm auch zu Muthe. – »Freiheit! Freiheit!« seufzte er. »Bin ich nicht gerade so, als hätten sie mir eine Kette an den Fuß geschlossen oder ein Gitter vor mir herabgelassen, und zeigten mir prächtige, entzückende Gegenden, die ich nicht zu erreichen vermag, weil ich hier eingesperrt bin wie ein wildes Thier oder wie ein elender Sklave! – Ja, Sklaverei ist das rechte Wort; und wenn die Ketten auch von Gold oder Silber sind, Ketten sind und bleiben sie doch einmal. – Und Sklaverei und Ketten in der schlimmsten Art! Darf ich denn wohl daran rütteln? – Darf ich wohl den Versuch machen, sie zu brechen? – Darf ich auch nur eine betrübte Miene zeigen, daß ich diese Fesseln wirklich für Fesseln halte? – Nein! nein! nein! und zehntausendmal nein! Ich muß ja lächeln unter diesem Hieb, den mir das harte Schicksal versetzt. – Ja, das ist ein grimmiger Hieb, und in meiner Lage habe ich wohl das Recht, vom harten Schicksal zu sprechen; dort ein geliebtes Mädchen, die – o Gott! ich mag nicht daran denken! – mit ihren schönen Augen vielleicht oftmals nach der Thüre blickt, durch welche ich nicht hereintreten werde, dabei ein angefangenes, so süßes Gespräch im Herzen, das ich heute nicht fortsetzen kann. – Und die Frage, ob sie wirklich nach mir gesehen, ob sie mich gegrüßt! Heute hätte ich um eine Antwort in sie dringen können. – Ach! und es ist so süß, von der Geliebten eine Antwort zu erflehen, ihr eine Bejahung zu erschmeicheln. – Wenn ich aber morgen oder in einigen Tagen davon wieder anfangen will, so kann ich mich lächerlich machen. – Das Alles steht für mich auf dem Spiel. – Ah! und noch viel mehr! – Vielleicht das ganze Glück meines Lebens, denn wer weiß, ob ich sobald wieder eine ähnliche günstige Gelegenheit finde, mich gegen sie aussprechen zu können. – Verdammt! – Nein, sage noch Jemand, irgend ein Mensch auf dieser Erde habe seinen freien Willen! Das ist eine Lüge, kein Mensch ist frei! Der Wille von Niemanden reicht über die nächste Minute hinaus, Jeder hat die Kette am Fuß, er fühlt sie nur zuweilen weniger, wenn nämlich das Schicksal nicht gerade Lust hat, dieselbe schärfer anzuziehen.« –

Unter diesen anmuthigen Betrachtungen war der Graf an das uns bekannte Fenster getreten, stützte sich mit der Hand auf die Stuhllehne und starrte in den kleinen Hof hinaus. Dieser war jetzt bei Nacht wo möglich noch trostloser als bei Tage; ein paar einsame Gaslaternen in den Ecken warfen einen zitternden und ungewissen Schein in einem kleinen Kreise um sich her, einen Schein, der sich ordentlich vor der Dunkelheit zu fürchten schien, denn dort draußen, wo er mit ihr in Berührung kam, zuckte er jeden Augenblick zaghaft zusammen, und wenn er sich auch zuweilen etwas weiter ausdehnte, so flog er doch gleich darauf wieder erschrocken zurück und räumte der finsteren Nacht das Feld. – Und diese finstere Nacht hatte sich so behaglich in dem Hofe niedergelassen: die hohen Mauern der angrenzenden Gebäude lagen fast ganz finster da; nur hie und da sah man ein schwach beleuchtetes Fenster, oder es schimmerte ein Lichtstrahl durch die Ritze irgend eines Ladens.

»Und ihre Fenster!« dachte traurig der junge Mann, indem er die Scheibe neben dem Tisch, an welchem er stand, öffnete und sich hinaus lehnte, um sie zu betrachten. Man sah gar nichts von ihnen: Alles war eine einzige schwarzgraue Fläche; – Alles, Alles war verschwunden, was er heute Nachmittag so liebend angeblickt; verschwunden die Blumen dort oben, verschwunden auch die goldene Fahne auf dem Dach mit ihrem kleinen Sonnenstrahl, der ihm entgegen geglänzt wie eine süße Hoffnung. – »Und der Herzog!« dachte er plötzlich und richtete sich hoch auf; »was mag er vorhaben, daß er sich bei dem Spiel seiner Mutter entschuldigt? – Auf jeden Fall etwas Wichtiges, sonst hätte er es nicht gethan. – Bah? wer weiß, wo er herumschwärmt! – Nein, nein,« sprach er ängstlich nach einer Pause zu sich selbst, »das ist nicht möglich; das wäre ja schrecklich! – Aber er sagte Eugenie einige leise Worte, er fragte sie etwas – sie antwortete ihm, und dann sah er wie verklärt aus. – Ah, Teufel! – wenn da etwas dahinter steckte! Wenn sie absichtlich mit mir so freundlich gewesen wäre, um allen Verdacht zu entfernen! – Wenn man ein abgekartetes Spiel mit dir getrieben! – Wenn der Herzog statt meiner hinginge! – Aber nein, nein! der Major wird und kann so etwas nicht dulden. – Dulden!« wiederholte er darauf grimmig lachend; »dulde ich nicht auch? – Und ist er nicht eben so gut Sklave seiner Verhältnisse wie ich? – Ich werde hier zum Spiel kommandirt, ihm wird dort befohlen, den Herzog freundlich zu empfangen. – Wenn ich alles das wirklich glauben könnte,« sagte er nach einer Weile mit ruhigerem Tone, »so stände ich wahrhaftig nicht für einige Unannehmlichkeiten, die mir heute Abend bei der allerhöchsten Whistpartei geschehen dürften. – Deßhalb nein, nein! – nein! – aller Welt zum Trotz!«

Da hörte er die Stimme eines Lakaien, der unten im Hofe laut und deutlich rief: »Der Wagen des Herrn Herzogs!« – Darauf rollte eine Equipage mit dumpfem Tone unter das gewölbte Thor, der Schlag wurde geöffnet, der Tritt fiel herab; es mußte Jemand eingestiegen sein, – jetzt dasselbe Geräusch beim Schließen des Wagens. Worauf die Stimme von vornhin abermals rief: »Nach dem Hause des Herrn Major v. S.« –

Im gleichen Augenblicke öffnete einer der Kammerdiener die Thüre zum Adjutantenzimmer und sagte mit leisem angenehmem Flüstern: »Euer Erlaucht werden verzeihen – es schlägt soeben acht Uhr; die allerhöchsten Herrschaften begeben sich in's Spielzimmer.«

 


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