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39. An meine Mutter
Alexandrien, Mittwoch, März 6, 1844
Zur Veränderung, meine liebe Mutter, bin ich nun auch in einem Ort, wo die Pest ausgebrochen ist, und meine einzige Sorge ist die, daß Du diese Nachricht früher in den Zeitungen lesen, als von mir mit dem Beisatz erhalten wirst, daß ich gestern angekommen bin und morgen abreise. Natürlich macht man hier gar nichts aus dem Anfang der gräßlichen Krankheit, die sich seit dem zehnten Februar kaum täglich mit einem oder zwei Fällen gezeigt hat; indessen bekommen wir, um morgen mit dem französischen Dampfschiff le Dante abzugehen, nicht mehr die patente nette, welche nur dann ausgestellt wird, wenn sich hier in vierzig Tagen kein Pestfall gezeigt hat und das mag wohl unsere Quarantäne in Syra verlängern. Hat die Pest so weit um sich gegriffen, daß die fremden Konsuln ihre Häuser absperren, so nehmen die französischen Dampfschiffe keine Passagiere mehr an; jetzt sind nur die des vierten Platzes ausgeschlossen. Diese Dampfschiffe sind die einzigen, welche von Alexandrien nach Athen, und zwar dreimal im Monat gehen. Die englischen gehen geradewegs nach Malta ohne irgend einen Punkt Griechenlands zu berühren, und die österreichischen haben in ihre Verbindungslinie zwischen Triest, Griechenland und der Levante Alexandrien noch nicht aufgenommen.
Nach einem abermaligen Aufenthalt von vierzehn Tagen war mein Interesse für Kairo insoweit befriedigt, daß es meine Person nicht mehr fesselte; in Alexandrien wollte ich nur die notwendigen vierundzwanzig Stunden hinbringen; und so glaubten wir uns vortrefflich eingerichtet zu haben, wenn wir drei Tage für die Nilfahrt rechneten. Man hatte uns gesagt man mache sie in 36 Stunden stromab; das schien uns zweifelhaft und nur für besondere Fälle, etwa für die Reisen des Pascha gültig, denn das Dampfboot braucht 24 Stunden. Wir gingen Sonntag den dritten von Bulak fort und dachten am fünften spät oder am sechsten früh hier anzulangen; mit uns zugleich noch eine Barke von einem französischen Obersten, der sechs Jahre in Indien gedient hatte und sich unendlich freute Europa wiederzusehen. Die Barken waren sehr leicht und klein, und besonders von einer höchst unbequemen Schmalheit, denn zwischen den beiden Sofas hatte kein Tisch Platz; man mußte einen künstlichen organisieren. Um so mehr rechneten wir auf einen guten, durch acht Ruderer beschleunigten Gang. Aber siehe da! Der Nordwestwind, der seit el Arisch nur auf einzelne Tage gefallen war, erhub sich mit einer solchen Vehemenz am Nachmittag, daß das langweilige und langsame Lavieren wieder begann, und endlich in völligen Stillstand überging: wir mußten anlegen und den Sturm vorübergehen lassen, der auch mit Sonnenuntergang schwächer wurde, ohne ganz nachzulassen, so daß die Ruderer aber doch ein paar Stunden arbeiten konnten. Dann kam er wieder auf, und so im anmutigen Wechsel, bald lavierend, bald ganz still liegend, bald mühselig rudernd, verging die Nacht und der darauf folgende Montag. Der französische Oberst, der nur sechs Ruderer an Bord hatte, war längst hinter uns zurückgeblieben, und wir hatten einen anderen Reisegefährten bekommen, einen halben Landsmann, einen Holsteiner, dem es nichts geholfen, daß er vierundzwanzig Stunden früher von Bulak fortgegangen war. Der Sturm hatte ihn gefesselt und wir holten ihn ein. Wir erkannten sämtlich, daß es unmöglich sei in dieser Weise Alexandrien zu rechter Zeit zu erreichen, wo man, wenn man auch gern Pompejussäule und Obelisk im Stich ließe, doch mit Gesundheitspatent und Paßangelegenheiten zu tun hat; denn am Abend des Montag fiel der Sturm nicht bei Sonnenuntergang. Er wollte sich das Wetter noch zwölf Stunden betrachten, und wenn es nicht besser würde quer durchs Land nach Alexandrien reiten; – wir an Bord des Dampfschiffes gehen, wenn es sich nämlich mitten im Fluß für unsre Überschiffung würde aufhalten wollen. Wir glaubten so weit von Kairo zu sein, daß es ungefähr gegen Mitternacht uns einholen würde; aber es geschah bereits um neun Uhr, nachdem es um vier von Bulak abgegangen. In fünf Stunden hatte es den Weg zurückgelegt an dem wir seit 32 arbeiteten! Angerufen, erklärte es sich bereit für fünf Pfund Sterling die Person Halt machen und uns aufnehmen zu wollen. Von Kairo kostet es nur drei und ein halbes Pfund – Du siehst also, liebe Mutter, daß es mir übel geht, wenn ich einmal versuche Ökonomie zu machen, denn unsre Barke mußte natürlich für die ganze Reise bezahlt werden. Wir siedelten uns über mit unsrer ganzen weitläufigen Wüsten- und Barken-Bagage, die wir im Lazarett zu Syra ganz notwendig brauchen werden, und ich war sehr froh nach einer Viertelstunde dahinzubrausen und meiner Ankunft in Alexandrien zu rechter Zeit gewiß zu sein.
In der winzigen Damenkabine fand ich eine sehr hübsche und wohlerzogene Engländerin, so recht ein Typus der guten Gesellschaft im allerbesten Sinn: angenehme Manieren, Verstand, Talent, ernste Bildung, und nicht ein Funke von Eigentümlichkeit im Urteil, oder im Streben, oder im Sein. Sie bereist mit ihrem Mann und ihrem Kinde in einer eigenen Yacht die Küsten des südlichen Europas und die Levante, und kam jetzt aus Kairo zurück um auf ihrer »Gitana« nach Beirut zu gehen. Ich erwachte als das Dampfboot gestern früh um fünf Uhr bei Atfeh anhielt, wo man den Nil verläßt und auf dem großen Kanal Mahmudijeh, den Mehemed Ali in einem Jahr von 25.000 Fellahs hat graben lassen, die Fahrt nach Alexandrien fortsetzt, und zwar folgendermaßen: ein kleines Dampfboot von vier Pferden Kraft nimmt eine große bequem eingerichtete Barke ins Schlepptau und schafft sie ungefähr in zehn Stunden nach ihrem Bestimmungsort. Wir landeten gestern nachmittag um vier Uhr, fanden die ganz europäische Einrichtung, daß der Gastwirt des Hôtel d'Orient seine Kalesche zum Landungsplatz geschickt hatte, und fuhren an der Pompejussäule vorüber, die einen wunderbar geisterhaften Eindruck macht, an großen Schutthügeln grünbewachsen, an einzelnen wenigen Palmen, durch ein tiefes, gewundenes Festungstor ins Frankenquartier von Alexandrien hinein. Hier hat Ägypten aufgehört! Dies ist die Niederlassung einer europäischen Handelswelt! Lange hab' ich nicht etwas so Nüchternes gesehen, als dies Frankenquartier mit seinen großen Häusern, alle ganz weiß, alle mit grünen Jalousien, alle so langweilig wie in Europa die moderne Dressur sogar die tote Steinmasse macht!
Was nun das Land von Unterägypten betrifft, so habe ich auf dieser Fahrt leider sehr wenig davon gesehen. Die kleine Strecke, welche ich in der Barke befuhr, zeichnete sich nicht durch größere Kultur vor den mir bekannten Nilufern aus. Darauf verschlang die nächtliche Fahrt auf dem Dampfboot einen großen Teil unseres Weges, und von Atfeh an fuhren wir in dem tiefgegrabenen Bett des Kanals, ohne etwas anderes gewahr zu werden als seine öden Uferwände. Erst in der Nachbarschaft von Alexandrien erhoben sich über dieselben einige Campagnen von Kaufleuten und Bankiers, weiße Landhäuser mit eisernen Gittertoren und dürftigen Gärten, bei denen sich nichts so deutlich ausspricht als das Streben nach europäischer Eleganz. Von der Stadt selbst gewahrt man auch in nächster Nähe nichts, so tief ist der Boden auf dem sie liegt. Wo sind die herrlichen Baumpflanzungen von Kairo? Wo sind die Moscheen, die Minarette, die Kuppeln, welche jede orientalische Stadt – wenn auch keine in der Menge und der Vollendung wie diese echte Tochter des siegenden Islams und des ritterlich ausgebildeten Kalifats, wie die edle, fantastische Sarazenin Musr el Cahirah – besitzt? Das Einzige was noch orientalisch, sind die Schutthaufen um die Stadt – aber auch sie nicht mehr in arabischer Blöße, sondern schon ganz nordisch mit jungen grünem Gras, das mir in seiner Art Freude machte, bedeckt. Es ist ein Zeichen, daß es hier mehr regnet. Ein Fleckchen fürs junge grüne Gras gibt's um Kairo nicht; nur reiche gepflegte Vegetation oder starre Sandwüste.
Aus der Pharaonenzeit ist nichts übrig, als zwei Obeliske, ein umgestürzter und ein aufrecht stehender, beide mit Namensschildern von Thotmoses III. und Hieroglyphen, die weit weniger scharf und rein geschnitten sind, als in die Obeliske von Luxor und Karnak. Sie befinden sich jetzt in einer jener jämmerlichen Vorstädte des armen Volks, die aus zerfallenen Backöfen und Kehrichthaufen zusammengesetzt scheinen, und die durch ihre fürchterlichen Emanationen ganz geeignet sind die Pest an- und aufzuziehen. – Ungleich schöner und imponierender erhebt sich die Pompejussäule einsam auf einer flachen grünen Anhöhe vor der Stadt, die zu einem Gottesacker gedient hat, oder noch dient, und daher eben nicht anders als ein Schutthügel aussieht. Wie ein großer Schatten aus einer großen Vergangenheit, wie die Verkörperung eines mächtigen abgeschiedenen Geistes, so einsam, edel und melancholisch überragt dies herrliche Monument Land und Meer. Es ist eine korinthische Säule von rotem Granit, der Schaft ein Monolith 68 Fuß hoch, die Politur aufs beste erhalten. Das Piedestal ist ganz leer und ungeschmückt, und der Knauf zwar verziert, aber unfein, ohne Grazie und ohne Pracht, nicht wie es sich für die Säule geschickt hätte; er ist gewiß aus einer anderen Zeit, und vielleicht von einem der römischen Kaiser als Ergänzung auf die Säule gesetzt. Weshalb sie den Namen des Pompejus trägt, weiß man nicht recht; die Urne soll auf ihr gestanden haben in welcher sein Haupt einbalsamiert ward nachdem er hier unter Mörderhand gefallen. – Ob noch andre alte Überreste sich in der Stadt finden, weiß ich nicht, denn in ihr Gewühl wagten wir uns nicht hinein. Bei unserer Fahrt zum alten Hafen kamen wir an einem Hause vorüber das kleine antike Säulen zu haben schien, wir fuhren schnell, ich konnte es nicht genau sehen. Aber es war mir etwas ganz Neues bei meinen Exkursionen in einer Kalesche, nicht auf einem Esel zu sitzen. Es gibt ihrer ebensoviel hier als in Kairo. Von den großartigsten Bauwerken mit denen die Ptolemäer ihre Residenz ausstatteten, was ist übrig geblieben? Nichts!... ein unsterblicher Ruhm! – Mit den verschiedenartigen Kleinodien des alten Alexandrien schmückten sich erst Rom und dann Byzanz. Doch blieb es noch glänzend unter den arabischen Kalifen und blühte durch Handel mit Asien und Europa bis ins dreizehnte Jahrhundert hinein. Als darauf die fremdländischen Dynastien der Zirkassier zur Herrschaft gelangten, und innere Unruhe und äußere Kampfe den Verfall des unglücklichen Landes herbeiführten, sank auch Alexandrien immer mehr und mehr, am tiefsten unter den Türken, und Meereswellen, Morast und Schutt bedecken jetzt seine ehemalige Herrlichkeit. Übrigens stelle ich mir vor, daß es eine recht ägyptische Stadt, wie früher Memphis und Theben, oder eine recht arabische, wie später Kairo, nie gewesen ist sondern mehr dem griechischen Geist angehörte, der es geboren und gepflegt hatte. Der feine Kunstsinn, der Eifer für Wissenschaft, das Streben nach Genuß und Glanz des Lebens, die Tätigkeit, die vielseitige Bildung, die unruhige Beweglichkeit und Neuerungssucht und dialektische Spitzfindigkeit – das alles gehört dem griechischen Ursprung an. Mit einer gutafrikanischen Leidenschaftlichkeit war er versetzt und den dritten Teil der Mischung machte die Charakterlosigkeit einer Welthandelsstadt aus, in welcher sich die Nationen kreuzen. Diesen letzten Zug, aber ganz en miniature, trägt es gegenwärtig.
Das See-Arsenal, welches Mehemed Ali gegründet hat, wagte ich nicht zu besehen – aus Respekt vor der Pest. Es wäre wirklich schwer gewesen den Tag hinzubringen, wenn nicht meine englische Reisegefährtin von gestern mich eingeladen hätte ihre Yacht zu besuchen. Neben den wunderlichen Behauptungen von englischer Schroffheit und Impertinenz gegen Unbekannte, kann ich immer nur meine eigenen Erfahrungen genau über das Gegenteil anführen, die ich auf allen meinen Reisen gemacht habe. Vielleicht ist es meine kühle Zurückhaltung, die ihnen Vertrauen einflößt! Ich könnte sehr gut vierundzwanzig Stunden neben einer fremden Person sitzen, ohne auch nur eine Silbe mit ihr zu reden, so gering ist mein Sprechbedürfnis; – ich glaube das gibt ihnen eine Art von Zuversicht. Vielleicht bin ich auch noch schroffer als sie und bemerke daher nicht an ihnen das was andere Schroffheit nennen. Genug, meine Reisegefährtin hatte mich eingeladen bevor sie meinen Namen wußte, was ich ausdrücklich bemerke jenen Behauptungen zum Trotz, daß die Engländer immer auf den Namen warteten, ehe sie sich entschlössen artig zu sein. Eine kleine Schaluppe erwartete uns im Hafen um uns an Bord der Yacht zu bringen. Die Matrosen trugen weiß und grün gestreifte Jacken, auf der Brust rot eingestickt den Namen derselben »Gitana« und darunter die drei Buchstaben R.Y.S. (Royal Yacht Squadron), strohfarbene lackierte Hüte und weiße Beinkleider. Sauber und ordentlich wie sie war die ganze Yacht vom Wimpel bis zur Küche. Das ist ein Schiff! Und die Dahabieh in der ich von Assuan nach Wadi Halfa gefahren bin ist auch ein Schiff! Sie liegen an den beiden Polen der Zivilisation vor Anker, und sind sich eben so unähnlich wie diese englischen Matrosen und unser Berber-Schiffsvolk es ist. Ja, für alles was Glanz, Bildung und Bequemlichkeit des Lebens betrifft, macht die Zivilisation einen stupenden Unterschied. Aber fürs Elend gar nicht. Ob in den englischen Fabrikdistrikten junge Kinder zehn bis zwölf Stunden täglich in den dumpfen Fabrikgebäuden arbeiten müssen – oder ob sie in Kairo, die Kleineren Lehm und Steine zutragen, die Größeren ein Stück Stadtmauer aufbauen müssen, wie ich das gesehen habe – bleibt sich gleich. Es ist ein fürchterlich niederschlagender und doch unabweislicher Gedanke, daß, wie man es auch anfangen möge, für eine Masse von Menschen, vielleicht für den größeren Teil, materielles Elend das unwiderrufliche Los bleibt. Und dann neigt sich wiederum der Vorteil den unzivilisierten Völkern zu: das Elend drückt sie, doch ohne die zweifache Last, welche das Schauspiel der üppigsten und glanzvollsten Kultur den Elenden der Zivilisation aufbürdet. Daher entarten jene weniger dadurch als diese. Vielleicht werden sie stumpfer, doch ganz gewiß nicht so verworfen. Die hauptsächlichsten Diebstähle welche in Kairo geschehen, betreffen Lebensmittel. Räubereien fallen höchst selten vor, Raubmorde gar nicht. Im allgemeinen ist die Sicherheit des Eigentums außerordentlich. Von der Kleinheit der Kaufladen in den orientalischen Städten sprach ich wohl schon in Konstantinopel und Damaskus; die meisten sind auch hier nicht viel größer als eine tiefe Nische, Fußboden, Ladentisch und Sofa sind ein und dasselbe, und ein Mensch hat darin Raum. Wird er abgerufen, oder hat er außerhalb ein Geschäft zu besorgen, so begnügt er sich seine Boutique zu schließen indem er ein großes Netz davor hängt. Das wird respektiert! Stelle Dir vor! Im Gewühl und im verführerischen Halbdunkel eines Bazars! Ich verderbte Europäerin fand dies so ausnehmend tugendhaft, daß ich es gar nicht glauben wollte; es wurde mir aber sehr ernsthaft beteuert. Boutiquen vor denen ein Netz hing hatte ich oft bemerkt, aber ich dachte es würde wohl ein Aufpasser im Hinterhalt liegen.
Dies ist der letzte Brief aus Ägypten. Siehe da! Ich ertappe mich bei diesem Wort auf einem kleinen wehmütigen Gefühl.