Heinrich Hansjakob
Meine Madonna
Heinrich Hansjakob

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1.

Seitdem ich in den »Erinnerungen einer alten Schwarzwälderin« die Geschichte meines mütterlichen Großvaters und seiner Hausierliste geschrieben, sind alle Familienstücke, die ich besitze, unruhig und lebendig geworden. So oft ich eines derselben ansehe, mein' ich immer, es wolle reden und erzählen.

Und mein »Genius«, dieser boshafte Musen-Bastard, hilft ihnen noch und plagt mich auch immer, wenn ich in einsamen Stunden die Andenken an meine Bäcker- und Hausierer-Ahnen betrachte. Er sagt mir dann jeweils: »Löse doch diesen stummen Zeugen einer kleinbürgerlichen, dir aber so nahestehenden Vergangenheit die Zunge, und laß sie reden von alten Zeiten und von längst vergangenen Menschen!«

Im Frühjahr des Jahres 1901 habe ich in Haste ein weiteres altes Familienstück entdeckt und erworben, das mein Urgroßvater, der Bäcker Tobias Hansjakob, anno 1755 in seiner Backstube aufstellen ließ, und das dort geblieben ist bis zum Jahre 1858. Also mehr als ein Jahrhundert lang hat dies Gebilde zugeschaut der Arbeit und den Mühen einer Bäckersfamilie, hat alles gehört und gesehen, was in dieser langen Zeit in der Backstube getan und geredet und erzählt worden ist.

Eine Backstube, in der die Nachbarn des Bäckers mit Vorliebe sich einfanden, war in der guten, alten Zeit eine kleine Welt. Drum, wer aus ihr erzählen könnte, wüßte viel.

Leider lebt kein Mensch mehr von all denen, die in meines Urgroßvaters Backstube arbeiteten, redeten und erzählten. Selbst das Haus ist verschwunden, das ihm gehörte, und aus seiner Werkstätte existierte im oben genannten Frühjahr nur noch ein einziges Wesen, und das war das eben genannte Gebilde, seine – Backmulde.

Ein heutiger Bäcker in Hasle hatte sie in seinem Holzschopf stehen und sagte mir davon, als ich einige Tage im »Paradies« war. – Ich besah sie, las daraus ins Holz geschnitten: Tobias Hansjakob 1755, kaufte sie sofort um wenige Mark und ließ sie nach Freiburg schicken.

Aber was nun machen aus einer alten, wurmstichigen Backmulde? Ich beriet mich mit einem bewährten Kunstmeister, dem Baudirektor Meckel, und bald waren wir dahin schlüssig, aus dem alten Familienstück eine gotische Madonna schnitzeln zu lassen.

Der Plan war sicher originell. Aber wer sollte ihn ausführen? Auch da war das Glück mir hold. Wir haben in Freiburg seit einigen Jahren einen jungen, gottbegnadeten Künstler in dem Bildhauer Josef Dettlinger, aus dem benachbarten Dörflein Heuweiler gebürtig. Der ist in Meckels Schule ein Bildschnitzer gotischen Stiles geworden, wie unser badisches Ländchen wohl keinen zweiten besitzt.

Ihm ward die Mulde anvertraut. Er ließ sie in Riemen schneiden und zu einem Klotz zusammenleimen. Aus diesem Klotz schuf er dann eine spätgotische Madonna allererster Güte.

Die jungen Maler Gebrüder Endres haben sie gefaßt, und mein alter Tapezier Muttelsee hat sie in der Karthause aufgestellt und drapiert. So ist aus der alten Backmulde der schönste Schmuck meiner Klause geworden.

So oft ich aber das goldglänzende Bild anschaue und mich freue, die Backmulde meines Urahnen also veredelt vor mir zu sehen, raunt mir mein Plaggeist zu: »Laß sie reden und erzählen aus den Tagen, da sie in deines Urgroßvaters Backstube stand!«

»Es wär' eine Schande,« – so fährt er dann fort – »wenn ich und du es nicht fertig brächten, ein hölzernes Madonnabild zum Sprechen zu bringen, nachdem uns dies bei einer Hausierkiste gelungen ist.«

Und wenn ich ihn dann zur Ruhe weise, hört er doch nicht auf und spricht weiter: »Nu bist es deinen väterlichen Ahnen schuldig, auch ein Familienstück aus ihrer Zunft in die Welt einzuführen, nachdem du die Hausierkiste deines mütterlichen Großvaters in ihr bekannt gemacht hast.«

Und zu all dem Raunen und Reden und Plagen des Kleinen schaut mich das Madonnabild immer an, wie eine stumme Heilige, welche, dankbar für die herrliche Gestalt, die ich ihr verliehen, mir erzählen möchte von ihrer Vergangenheit im Hause meiner Bäcker-Ahnen.

Darum will ich's probieren. Ich will mich jeden Tag, den ich in der nächsten Zeit in der Karthause zubringe, eine und die andere Stunde vor das schöne Bild hinsehen und lauschen dem, was mein Bäckersbubengeist herausbringt aus dem alten Holz, das ich verjüngt habe, und das so lange in der Familie meines Urgroßvaters gelebt hat.

Die himmlische Jungfrau wird es mir nicht verübeln, wenn ich dem Holz, aus welchem ihr Bild geschnitzt wurde, irdische, menschliche Dinge in den Mund lege und solche aus ihm heraus lese. Sie, die getreue Magd des Herrn, lebte ja selbst viele Jahre in der Hütte und Werkstätte eines Handwerkers. Nachbarn und Nachbarinnen gingen da ein und aus, und nichts Menschliches, die Sünde ausgenommen, ist der himmlischen Jungfrau in der Werkstätte des Zimmermanns von Nazareth fremd geblieben. –

Unsere Literatur kennt Wachstubengeschichten, die der bekannte Schriftsteller Hackländer geschrieben. Ich möchte nun einmal Backstubengeschichten schreiben, zu denen das alte Holzgebilde aus meines Urgroßvaters Werkstätte mich angeregt hat.

Ich nehme an, es sei alles, was in der Backstube meines Urahnen gesprochen und erzählt wurde, phonographisch in das alte Holz gedrungen, aus dem ich es nun wieder herauslese, um eine Art Familien- und Zeitchronik zu bekommen. Es läßt sich ja auch aus der Vergangenheit einer Bäckersfamilie, aus dem Städtle, in dem sie gewohnt, und aus der Zeit, in der sie gelebt hat, manches erzählen, was andern interessant ist und sie unterhält.

Ich werde aber die Madonna nur die Einleitung sprechen lassen und mir dann von ihr das Wort erbitten, um das, was ich aus ihr herausgelesen und sonst noch weiß, selbst zu erzählen.


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