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Wir kamen von Santa Cruz, der Hafenstadt der schlummernden Märcheninsel Teneriffa. Die Fahrt war schlimm gewesen, das winzige, nur noch zur Hälfte befrachtete Schiff hatte recht unangenehm gestampft und geschlingelt und selbst die seefestesten Leute waren froh, als endlich Madeiras waldige Höhen im Sonnenglanz am Horizont auftauchten. Bis Hamburg hatten wir zwar noch eine hübsche Strecke, aber wir durften für ein paar kurze Stunden doch einmal noch festen Boden betreten. Nur für ein paar kurze Stunden: wenn in Funchal der süße Wein verladen war, sollte die Reise gleich weiter gehen. So blieb keine Zeit, die Insel der Schwindsüchtigen zu durchstreifen oder gar auf dem Ochsenschlitten ins Waldrevier zu gleiten, von dessen Wunderwildniß die flinken Portugiesen so verlockend zu erzählen wissen. Wir konnten nur einen flüchtigen Eindruck mitnehmen, eine starke Sensation, deren Spur im Gedächtniß aber nie wieder verwischt werden kann. Ein herrlich prangendes Land mit bunt blühenden Gärten, dicht daneben die Wesenszeichen vulkanischen Lebens; viel Sonne, mächtige Palmen, strotzende Bananen, vorn das erregte Meer und im Hintergrunde ein beinahe nordisch düsteres Waldgebirge. Ein heißes Eiland, das sich zwischen Europa und Afrika aus den Wogen reckt, ein Weinland, dessen fast nie ganz reiner Trank das Blut bald in Wallung jagt, ... und in dieser sonnigen Pracht bleiche, fröstelnde und hustende Gestalten, die den Todeskeim lange schon in sich tragen, – eine sterbende Menschheit aus allen Zonen. Das ist für mich seitdem Madeira. Mehr drang von der besonderen Art der fruchtbaren Insel mir nicht ins Bewußtsein. Dieses Bild, das die Erinnerung untilgbar bewahrt, ist gewiß sehr unvollkommen, sehr lückenhaft und vielleicht nicht einmal in den erhaltenen Zügen ähnlich. Aber gehts uns nicht beinahe immer so? Wie selten gelingt es dem begrenzten irdischen Sinn, alle Seiten eines Dinges mit schweifendem Blick zu umfassen, wie selten, auch nur eines uns nahen Menschen vielfarbige Natur in ihrer Ganzheit, ihrer schillernden Fülle und Komplizirtheit zu sehen! Wir müssen froh sein, wenn eine Seite, die dem eigenen Empfindungcentrum die nächste ist, sich dem Gedächtniß eindrückt und uns die Möglichkeit läßt, aus dem Theil rückschauend auf das Ganze zu schließen.
Dieser Eindruck wurde mir wieder lebendig, als die Nachricht vom Tode der Frau Charlotte Wolter kam. Mit der großen Schauspielerin ist mirs gegangen wie mit der waldigen Insel im Ozean: ich kenne nicht alle Seiten ihres Wesens und habe kaum mehr von ihr bewahrt als ein Erinnerungbild, dessen Farben nicht verblaßt sind, dessen Konturen aber falsch oder mindestens mangelhaft sein mögen. Ich habe die Wolter nicht oft und in den letzten Jahren gar nicht auf der Bühne gesehen. Sie spielte nicht mehr in Berlin, seit bei uns alljährlich neue Genies entdeckt werden; sie wollte sich wohl nicht von dummen Jungen bescheinigen lassen, daß sie zum alten Eisen gehöre. Sie kam nach Parvenupolis, um endlich einmal die »neue Richtung« oder den »neuen Stil« kennen zu lernen, von denen so fürchterlich viel geschwatzt wird, aber es ging ihr wie anderen erfahrenen Leuten: sie fand sie nicht, trotz emsigstem Suchen, und erzählte später, sie habe gute und schlechte Vorstellungen gesehen, aber das fabelhaft Neue nirgends erschaut. Damals sah man ihren strengen, klassischen Kopf in den Logen und konnte ahnen, was sie bei der fahrigen, undisziplinirten Spielerei empfand, die in Berlin als modernste und deshalb höchste Kunstleistung gepriesen wird. Als ich sie zum ersten Male auf den Brettern sah, war ich noch sehr jung, sehr hitzig für alle Theatervorgänge interessirt, aber schon kritisch genug, um die Judith der Frau Ziegler und den Uriel des Herrn Barnay kühl zu verschmähen. Und da ich den frühen Eindrücken jetzt nachdenke, ist mirs, als hätten Phädra, Messalina, Orsina, Lady Macbeth und Hebbels Maria Magdalena damals in meinem jungen Sinn erst die Gestalt, die nie mehr veränderliche, empfangen. Und nun spüre ich auch, weshalb mir, als ich von der Wolter sprechen wollte, unwillkürlich die paar Stunden einfielen, die ich auf Madeira erlebte. Auch vor der Tragoedin, der ersten und letzten, die ich im vollen Besitz ihres Vermögens sah, stand ich wie vor einer fremden Welt, vor einem heißen Eiland, das sich zwischen zwei Zonen, zwischen Europa und Afrika, aus den Wogen reckt und von leidender, sterbender Menschheit bevölkert ist. Auch der üppige, beinahe tropische Reichthum ihres Genies entsproßte vulkanischem Boden und hinter der südlichen Pracht, die Phädra und Messalina mit schleppendem Schritt durchkeuchten, dehnte sich drohend der wilde Nordlandswald, der in der Schicksalsstunde vor Macbeths Königsburg rückt ...
Charlotte Wolter glich dem Geist der Tragoedie. Ein dunkler Kameenkopf, der, selbst wenn er verführerisch lächelte, noch schwarz und schreckend blieb, wie die Maske der Melpomene. Ein ernstes, fast finsteres Auge, das streicheln und strahlen, höhnen und jubeln, locken und sengen konnte, seiner Wirkung aber am Sichersten war, wenn es drohen, in jähem Blitzfeuer flammen, vernichten durfte. Eine metallische, durch den rein materiellen Reiz schon bezaubernde Stimme von Cellofärbung, eine zum dunklen Haupt passende dunkle Stimme, die gern im eigenen Wohllaut schwelgte und zu den Worten der Dichter oft wundersam eintönige Weisen sang. Ihre Vortragsart hat man ihr abgeguckt und auf allen deutschen Bühnen wurde Jahrzehnte lang wüst gewoltert; leider ließ die Persönlichkeit, ließ das strotzende Genie dieser Frau sich vom Affentalent nicht kopiren. Sie war nicht groß, nicht von dem Walkürenmaß, an das die Riesengarde der deutschen Heldinnen uns seit der Zieglerzeit gewöhnt hat und das den schönen und schlimmen Frauen unserer tragischen Dichtung die Weiblichkeit raubt; aber sie hatte die innere Größe, die auch die Buhlerinnen noch, Kleopatra und Messalina, über den Troß der gemeinen Straßenhetären erhöht, und konnte deshalb Thusnelda, Kriemhild, die Königin von Messina und die Mutter der Makkabäer sein. Adelaide Ristori, von der sie so viel gelernt hat, war körperlich noch kleiner gewesen und hatte in ihrer Kunst doch das Größte und Großartigste vermocht. Beide waren Meisterinnen der Plastik, aber Beiden war es nicht um die schöne, sondern um die charakteristische Linie zu thun: wie die Ristori Medea als wilde, barbarische Kolchierin spielte, deren Wesen sich düster von der hellen Hellenenwelt abhob, so gab die Wolter dem Weibe des Klaudius nicht eine stilisirte Kaiserinpose, sondern die schlangenhafte Beweglichkeit eines brünstigen Weibes. Doch selbst in dieser Rolle, die man von keiner Anderen sehen kann, ohne von Ekelgefühl vor dem jämmerlichen Machwerk eines kraftlosen Erfolghaschers gepackt zu werden, bewahrte ihr Genius sie vor dem Fall in den stinkenden Schlamm der Gassendirne; die Leidenschaft dieser Messalina war zu mächtig, als daß man sie mit gemeinem Maß messen durfte; und diese große, wirbelnde Passion wurzelte nicht nur in tierischen Trieben. Das verbuhlte Weib empfand wie ein keusches Mädchen, wenn es im Venustempel den Epheben umfing, und litt wie eine flügellos in den Abgrund gestürzte Göttin der spendenden Liebe, wenn es zagend, als ginge es zum Richtplatz, sich, mit dem Weinlaub der Bacchantin im Haar, an die Leiche des letzten Geliebten schlich. Daß Marcus ihr letzter Geliebter war, das letzte Lächeln in einem zerstörten Leben: darin suchte und fand die Wolter die Tragik dieser unreinen, verzerrten Gestalt. Vielleicht brauchte sie gar nicht zu suchen; der spähende Geist war, wie man sagt, nicht allzu stark in ihr und sie gehörte nie zu der scheusäligen Schaar der denkenden Künstler: der Instinkt aber witterte, was der Verstand nicht klar erkannte, und trieb sie unbewußt stets an den einen, den tiefsten Punkt, von dem aus die Summe des Wollens, die man den Charakter nennt, in einem Menschengeschöpf zu begreifen und nachschaffend zu gestalten ist ... So wurde Hebbels Klara in ihrer Darstellung zur echten Tochter des igligen Meisters Anton, zur unbeugsamen Virago, die, da sich in ihrem Schoß schreckend schon Leben regt, noch immer in Jungfrauenscham die vom Vater ererbten Stacheln ausstreckt. So blieb ihre Phädra auch im athenischen Palast noch Ariadnes Schwester, die früh Treulosigkeit und Entpflichtung gekannt und an die Pflicht einer Treue fürs Leben niemals geglaubt hatte. So stützte sie auf die erlesene und ersonnene Tollheit der Verlassenen die morsche, in dunkelrother Pracht von den fahlen, flackernden Lichtern des Irrsinns umspielte Gestalt der Gräfin Orsina.
Ganz Reines und ganz Kleines, scheint mir, lag außerhalb der Grenze ihres Vermögens. Sie war zu sinnlich, zu heftig in jeder Empfindung für Iphigenie, zu stark, zu gebietend für die Kameliendame. Ihre große Kunst gestattete ihr, auch auf Tauris und in Paris als Siegerin zu erscheinen, aber ihr eigenster Bereich lag doch in anderem Gelände. Ich sah sie als Marguerite Gautier. Sie war schön, leidenschaftlich, ergreifend, aber ihr fehlte der krankhafte Reiz, der Reiz der kränkelnden Cocotte, der Sarah Bernhardt in dieser Rolle so einzig macht, und sie war zu gewaltig, als daß man glauben konnte, sie habe mit wurmstichigen Baronen und Grafen seit Jahren Tisch und Lager getheilt; man führt die tragische Muse, nicht ins cabinet particulier, zahlt Melpomene nicht einen Hemdenzins. Bei Dumas schlug die Französin die Deutsche; Racine brachte der Deutschen über die fremde Eroberin einen Triumph. Sarahs Phädra ist entzückend, ist in ihrer feinen Weichheit ganz dem racinischen Stil angepaßt und labt unser Ohr mit jauchzenden und schluchzenden Tönen einer Stimme, die aus Gold und Demant geschmiedet scheint; aber sie hat nicht die Wucht, nicht die lechzende Fieberhitze der Wolter, die von dem anmutigen Hügellande Racines mit Dämonengriff uns auf die Gletscher der großen Tragiker riß ... Da erst, wo Andere nicht mehr athmen können, fühlte sie sich recht wohl und behaglich, blähte die im Thal stets nervös zuckenden Nüstern und sog gierig die Höhenluft ein. Und wenn sie in sieghafter Schöne dort oben stand, auf schwindelndem Steg, dann achtete der staunend emporstarrende Betrachter nicht mehr ihrer Mängel, dann verschwand die nie völlig dialektfreie Sprache, die übertreibende Heftigkeit der Tigerinnengeberde und die manchmal launische Willkürlichkeit ihres Spieles, – dann tobte eine mächtige Naturkraft in fegenden Gewittern sich prachtvoll, beglückend und glücklich, aus. Bis auf den eisigsten Gletschergrpfel wehte plötzlich dann der Scirocco und dem Hörer gefror in der schwülen Stille das Blut. Hoch oben aber, vom letzten Licht gelber Blitze umlodert, stand aufrecht noch immer die Furchtbare, Holde, nur in ihren Schleier gehüllt, das einzige Gewand, das sie niemals ablegen mochte. Ihr Schleier war ein Theil von ihrem Selbst, ihn breitete sie um alle ihre Gestalten: und diese dünne, durchsichtige Hülle trennte die Geschöpfe der Tragoedin, wie ein feiner, silberner Nebel, von der gemeinen Wirklichkeit der Dinge und verlieh ihnen, über dem dumpfen Thal der Bürger, das adelige Lebensrecht in der poetischen Welt.
... Frau Duse, die kätzchenhaft kluge und geschmeidige Virtuosin der Natürlichkeit, sah die einsame Riesin eines Abends dort oben stehen, hörte von der Höhe den Wolterschrei und folgte mit entsetztem Blick Macbeths gespenstischem Gemahl durch die öden Hallen des blutigen Schottenschlosses. Am nächsten Tage stand die zierliche Italienerin vor der sehnigen Frau und sagte ihr allerlei Schönes; als aber die Wolter sie fragte, ob auch sie schon einmal die Lady Macbeth gespielt habe, da ging ein Frösteln durch die müden Glieder der Duse, sie schüttelte hastig das blasse Haupt und hüllte sich fester noch in den weichen Pelzmantel. Das Nervenbündelchen fühlte, daß vor ihm eine unheilvoll Begnadete stand, – Eine von Denen, die wie eine Elementargewalt über die Erde brausen, große Sünderinnen oder große Tragoedinnen oder Beides werden und mit dem dräuenden Blick den Tod sogar, den Allmächtigen, für eine Weile bannen.