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Boulevard Montmorency. Das Eßzimmer des Künstlerhauses, das die Brüder Goncourt in Auteuil gekauft hatten und das weltberühmt ward, seit Edmond es, nach des Bruders frühem Tode, in einem feinen Buch beschrieben hat. Japan und achtzehntes Jahrhundert. Ein Märzabend. Daudet, Zola und der Hausherr beim Mahl. Der kränkelnde Daudet muß seinen Magen schonen. Um so mehr ißt Zola. Gut essen zu können, hat er einmal zu Goncourt gesagt, ist meine höchste Wonne; ich habe nur dieses eine Laster und bin ganz unglücklich, wenn mir nichts Leckeres vorgesetzt wird. Jetzt ist er satt, streckt sich, lächelt den heiteren Bildern der Watteautapeten behaglich zu und wird beim Kaffee gesprächig. Daudet erzählt von seinen Anfängen, von den Hungerjahren, die ihn doch so köstlich dünkten; seine Bücher wurden noch nicht gekauft, aber er war frei, nicht mehr Dienstmann eines launischen Herrn, und konnte leben, wies ihm gefiel. Ja, sagt Zola, wir habens nicht leicht gehabt; und die Freunde wissen schon, was nun kommen wird. Ein elendes Loch als Wohnung, Mantel und Hose beim Pfandleiher, keine Möglichkeit, auf die Straße zu gehen; im Hemd saß er am Schreibtisch und das Mädchen, mit dem er zusammenlebte, rief lachend: Aha, heute wird wieder mal Araber gespielt! Emile achtete des Spottes kaum. Er besann einen Riesenplan, ein ungeheures Epos, das die ganze Geschichte unseres Planeten umfassen sollte. Drei Teile: Genesis, Menschheit, Zukunft. Moderner als Hugo, größer als Balzac. An dem Erfolg zweifelte er nicht; er war so jung, so stark, so unsinnig glücklich: ihm gehörte die Welt. Später, als er sieben Treppen hoch in einer Dachkammer hockte, wars ihm noch nicht hoch genug; er kroch durch die Luke und kletterte bis zum First. Da saß er, neben dem Schornstein, Stunden lang, sah auf Paris herab und träumte von dem Tage, wo die eroberte Stadt ihm zu Füßen liegen würde. Denn erobern mußte er sie; dem guten Alphonse mochte die Freiheit von lästiger Fron genügen: Zolas Sehnen suchte einen Platz unter den Heroen der Menschheit. Und war er seit den Dachkammertagen seinem Ziel nicht schon näher gekommen? Die Leute schimpften, aber sie kauften; kein lebender Romancier hatte solche Auflageziffern. Und dabei noch nicht Fünfzig, also noch weit von der Greisenschwelle. Wieder streckt er sich und greift nach dem Glas und lächelt selig, als trinke er mit einem begeisterten Volk auf sein Wohl, das Wohl des unüberwindlichen Siegers, und merkt gar nicht die bösen Schlänglein, die um die Lippen der Freunde züngeln. Damals trank er noch bei Tisch. Bald danach wurde des Leibes Fülle ihm unbequem, er mied, auf Raffaëllis Rat, Brot und Wein und wurde wieder so schlank, wie er gewesen war, als Manet ihn malte. Er war immer ängstlich und abergläubig; als er sich in Médan eine Villa bauen ließ, ersann er einen besonderen Fensterverschluß; 3, dann 7 war seine Glückszahl; und er zitterte vor jeder Siechtumsgefahr. Nur nicht lange leiden, nicht fühlen, wie von den Rädchen der Maschine eins nach dem anderen rostet. Solches Ende paßt nicht für einen Heros, der im Gedächtnis der Menschheit als Lichtgestalt fortleben soll. La mort de Flaubert – oft sagte ers –, le foudroiement, voilà la mort désirable.
Der Wunsch ward erfüllt. Er legte sich gesund ins Bett und wurde morgens tot gefunden. Kohlenoxydvergiftung, hieß es in den ersten, dunklen Berichten; jedenfalls kann er nicht lange gelitten haben. Auch sein anderer Wunsch ist erfüllt worden. Auf dem weiten Rund der Erde gab es keinen berühmteren Mann. Jedes Kind kannte den Namen Zola. Freilich wars anders gekommen, als er auf dem Dachfirst und an Goncourts Tisch geträumt hatte: nicht seine Dichtung hatte ihm die Herzen der Menschen erobert, sondern eine politische Aktion, zu der er gedrängt worden war, – er, der Verächter aller politischen Betriebsamkeit. Einerlei. Sein Ehrgeiz schien befriedigt. Zwar: ein großer Teil der Landsleute hatte sich von ihm losgesagt. Das konnte aber nicht dauern. Er war seiner Sache sicher. Ein kleines Weilchen noch: und auch die jetzt Blinden lernten ihn bewundern. Er hatte die Sache der Menschlichkeit vertreten, die immer die Sache Frankreichs sein muß; und Frankreich kann nicht undankbar sein. Einstweilen fand er draußen Ersatz. Hunderttausend, Millionen Stimmen priesen ihn als einen Heiland, einen Befreier von brennender Menschheitschmach. Eine hübsche Strecke seit dem Märzabend in Auteuil. Dort aber, am Boulevard Montmorency, hat er sein Wollen enthüllt. Zwischen den Watteautapeten, nach einem guten Mahl, plauderte sichs so behaglich. Und wer konnte ahnen, daß der artige Wirt jedes Zufallswörtchen aufzeichnen und auf den Büchermarkt tragen würde?... Wir müssen dem Ausplauderer dankbar sein. Erst das Journal des Goncourt hat uns den Menschen Emile Zola erkennen gelehrt.
Wir kannten den Dichter. Auch ihn mußte man erst aus dicken Hüllen schälen. Er gab sich für einen Mann der exakten Wissenschaft, der finden, nicht erfinden, Gesehenes nur treulich darstellen wollte. Natur, nichts als Natur verhieß er, Natur in der Spiegelung eines Temperamentes, das sich aber nicht anmaßen durfte, die vérité vraie zu färben. Nach dem romantischen Spuk sollten wir endlich den Menschen sehen, wie er leibt und lebt, wie die Wissenschaft ihn beschrieben hat. An die Wissenschaft glaubte Zola mit der ganzen Inbrunst einer angstvollen Seele, der man die Götter geraubt hat und die hastig nun auf der Erde nach Stützen sucht. Wer auf ihn hörte, mußte überzeugt sein, daß die Wissenschaft längst alle Welträtsel gelöst habe. Tugend und Laster sind Produkte wie Zucker und Vitriol. Die Gesetze der Erblichkeit sind so bekannt wie die der Schwere. Der Mensch handelt nicht, wie er will, sondern, wie er muß; und die Bedingungen dieses Müssens sind uns kein Geheimnis mehr. Wer bei Auguste Comte und Claude Bernard, bei den englischen Zuchtmännern und bei Taine den Kursus durchschmarutzt hat, weiß Alles, kennt Alles, ist gegen Skrupel und Zweifel für immer gefeit. Und hat er obendrein noch die Kraft des Gestalters, dann ist er der Dichter, den die von trunkenen Rhetoren gelangweilte Menschheit lechzend ersehnt. Wie ein Hagelwetter prasselten diese grobkörnigen Sätze auf unsere jungen Köpfe herab und verwüsteten ringsum die Kindergärten. Wir freuten uns der Verheerung und hörten schon das neue Gras wachsen. Es ist so schön, Sonnenaufgänge zu schauen, so herrlich, sagen zu dürfen: Ich war dabei, als die Wahrheit geboren wurde. Vérité, science, Positivismus, Determinismus, Naturalismus: Das ging damals wie geschmiert. Was sollten uns die Klassiker und gar die Romantiker noch sein? Da das Dogma von der Freiheit des Willens zerbröckelt, der Mensch als das Resultat der Abstammung, der Umgebung und der tausend kleinen und großen Ursachen erkannt ist, die von der Wiege bis zur Bahre auf ihn einwirken, hatte es keinen Zweck mehr, den Konflikten nachzuspüren, die aus dem Zusammenstoß eines Willens mit einer Leidenschaft entstanden; jetzt galt es, die Summe der Wirkungen herauszurechnen, die ein Menschenschicksal gestalten. Wir rechneten und waren höchst stolz, wenn wir fanden, daß Alles stimme. Leute, die schon länger lebten, schon manche neuste Mode mitgemacht hatten, kamen und sprachen: Eure Wahrheit ist ein Torenwahn, Eure Wissenschaft ein tönerner Götze; und was Euer Zola für feststehende Ergebnisse exakter Wissenschaft ausschreit, schwankt entweder noch im Urteil der Berufensten oder modert schon neben anderen Absurditäten. Die guten Pedanten, dachten wir, dürfen ihrem Makronenmagen die neue derbe Kost nicht zumuten und flennen, weil ihnen die Sahnentorte verekelt wird, an der sie in der Gartenlaube so lange ungestört schmatzten. Allmählich aber wurden wir älter, kannten selbst ein Stück Menschenleben und konnten vergleichen. Nein: so wie bei Zola sah es in der Wirklichkeit nicht aus; nie war uns eine Nana begegnet, nie hatten wir auf Menschenleibern solche Tierfratzen erblickt. Das sollte beobachtet sein? Die Äußerlichkeiten warens vielleicht: das Gewimmel in einem Dorf, einer Schnapsschänke, einem Waarenhaus, einer Strikeversammlung, hinter den Coulissen, im Börsensaal und auf dem Schlachtfeld war richtig wiedergegeben. Aber die Menschen schienen uns zu einfach, zu geradlinig, zu animalisch. Sie erinnerten eher an die Ungetüme aus Goghs Reich als an moderne Europäer; Delacroix fiel uns ein, der gesagt hat, durch Vereinfachung, durch Beseitigung feiner, Verstärkung grober Linien sei aus jedem Menschenantlitz leicht ein Tiergesicht zu machen. Und nun wurde Mancher, der vorgestern noch blind bewundert hatte, rasch zum blinden Verächter. Zola, hieß es, ist »überwunden«. Seine Psychologie ist plump, seine Philosophie armsälig, seine Sprache gemein. Er hat weder Geist noch Geschmack, er schreibt für den Pöbel und kann verwöhnten Nerven nichts bieten ... Auch diese Zeit ist vorbei; und über den Dichter Zola dürften Verständige kaum noch streiten. Er war kein Realist, sondern ein Romantiker, stammte nicht von Flaubert und Stendhal ab, sondern von Hugo, gab Visionen, nicht vérité vraie. So lange er sich um den psychologisch merkwürdigen Fall bemühte, blieb er unbemerkt; mit Recht: denn viele schmächtige Galliertalente waren bessere Psychologen als dieser Enkel einer Kandiotin. Sein Genie wurde erst sichtbar, als er große, allgemein interessirende Stoffe griff und Massen auf die Beine brachte. Da brauchte er sich um Kleines, Subtiles nicht mehr zu kümmern, konnte er mit Chören, Leitmotiven, Steckbriefen auskommen. Seine Methode ist oft geschildert worden. Im Mittelpunkt seiner Romane steht immer ein ungeheures Symbol, die Verkörperung einer Naturkraft oder einer sozialen Macht, die eine willenlose, von dumpfen Trieben gescheuchte Menschheit in ihren Riesenrachen schlingt. So hatte es schon Victor Hugo gemacht; die Kathedrale in Notre-Dame de Paris, das Schiff in den Travailleurs de la mer waren solche Ungeheuer, die lebendiger schienen als das Menschengetier, das sie umschlich. Zola hat den romantischen Aufputz abgerissen, den Mariendienst durch den Kybelekult ersetzt und dann, mit der Keckheit des Autodidakten, behauptet, seine Schöpfung gleiche dem Weltbild modernster Wissenschaft. Darf dieser Irrtum unsere Bewunderung schmälern? Nein. Zola bleibt, mag in seinem Werk Manches auch schnell verwittern, der große Epiker der alles Menschenerleben determinirenden Schicksalsmächte. Den Mann, der L'Assommoir, L'Oeuvre, Germinal geschaffen hat, kann keines Papstes Bannbrief und keine Artistenbulle, kein prüdes Gekreisch und kein frommes Nothgcstöhn aus dem Bereich der Weltliteratur jagen.
Er hat das Planetenepos, das er in seiner Araberzeit träumte, nicht geschrieben; nicht so geschrieben, wie ers geplant hatte. Aber sein junger Sinn hatte die richtige Fährte erwittert. Im August 1870, nach den großen Siegen des deutschen Heeres, kam er zu Goncourt gelaufen. Ganz verstört. Nicht etwa wegen des Krieges; was kümmerte ihn der Krieg? Nein. Ihm war ein Licht aufgegangen. Flauberts Analyse der Empfindungen, die überfeinen, nervösen Bücher der Brüder Goncourt, ces oeuvres-bijoux waren nicht zu überbieten. Kein Platz mehr für den Nachwuchs. Wo diese Schnitter geerntet hatten, konnte kein Junger auch nur ein Hälmchen pflücken. Was blieb einem Ehrgeizigen, der nicht als Epigone dahinwelken wollte? Die Epopöe. Sein alter Traum. Ein Riesenwerk, das durch Masse die Masse zwingen soll. Zehn Bände mindestens. »Ce n'est que par la quantité des volumes, par la puissance de la création, qu'on peut parler au public.« Solche Gedanken hatte er aus dem Verkehr mit jungen Künstlern mitgebracht, den Courbetschülern und Manetschwärmern, mit denen der hitzige Italersproß in den sechziger Jahren täglich Stunden lang in einem Kaffeehaus der Rue de Clichy saß. Da hieß es immer: Die Meister, die das Glück hatten, vor uns zu kommen, haben uns nichts übriggelassen; wir sind verloren, werden nie Beachtung finden, wenn wir nicht Neues, nie Versuchtes, nie Geahntes, entdecken. »Sehnsuchtvolle Hungerleider nach dem Unerreichlichen«: so nannte Goethe die anmaßenden Führer der deutschen Romantik; so konnte man auch diese Jugend nennen, die nach Ingres, Delacroix, Courbet, nach Stendhal, Balzac, Flaubert hastig Wirkensmöglichkeiten suchte und blinzelnd zu Hugos Ruhmessonne hinaufstarrte. In L'Oeuvre hören wir sie wimmeln und toben, fluchen und stöhnen; sehen wir auch den jungen Zola, wie er gesehen sein wollte. Sandoz heißt er; romancier naturaliste, als unsittlicher Schandschreiber beschimpft und doch der einzige saubere, tugendsame Bewohner des Pfuhles, den wir in Pot-Bouille rochen. Sandoz sagt uns, was Zola erstrebt. »Die alte Gesellschaft liegt im Sterben, eine neue entsteht und auf neuem Boden brauchen wir auch eine neue Kunst. Weg mit den metaphysischen Hampelmännern! Ists nicht Blödsinn, immer und ewig nur den Gehirnfunktionen nachzuforschen, weil das Gehirn das edle Organ sei? Der Gedanke! Donnerwetter: der Gedanke ist das Produkt des ganzen Körpers. Paßt doch mal auf, was aus dem edlen Organ wird, wenn der Bauch krank ist. Wir sind Positivisten, Evolutionisten, – und wir sollten bei der Gliederpuppe der Klassiker stehen bleiben und die Struwwelmähne der reinen Vernunft weiterstrählen? Psychologie heißt Verrat an der Wahrheit. Wir brauchen den physiologischen Menschen. Den wollen wir studiren, in seinem Milieu, das sein Handeln bestimmt, mit dem freien Spiel all seiner Organe.« So wollte Zola gesehen sein. Er fand die Himmel leer, den alten Glauben verbraucht, die Natur wie eine feindliche, des Bändigers spottende Bestie vom Menschenneid gehaßt, vom Menschenhochmut verachtet. Und er hatte sich an dem dünnen Modetrank der comtischen philosophie positive berauscht. Keine Metaphysik mehr, weder Theologie noch Teleologie; der Positivist hat nur den Zusammenhang der Erscheinungen zu suchen, jede Tatsache an die Bedingung ihres Entstehens zu knüpfen, durch Beobachtung und Experiment die Wissenschaft vom Leben vorwärts zu führen. Das war das Ziel. So, ungefähr, stehts in der Vorrede zur Fortune des Rougon. Diese großen, vom Dichter unendlich oft wiederholten Worte haben fast alle Kritiker zu falschen Urteilen über Zola verleitet. Man hat ihn platt, nüchtern, gemein gescholten, einen kalten Rechner ohne poetischen Schwung, weil er selbst sich für einen Realisten ausgab, einen Mann exakter Wissenschaft. Er wars nicht. Er war und blieb sein Leben lang ein Romantiker, der, um von den gekrönten Ahnen unterschieden zu werden, das alte Prunkgewand mit den Modelitzen des Positivismus putzte. Es ist töricht, ihm vorzuwerfen, seine Theorien seien erstens falsch und zweitens von ihm selbst nicht befolgt worden. Scheint Homer uns kleiner, weil wir nicht mehr an Pallas Athene glauben? Schätzen wir Wagner geringer, seit wir wissen, daß er seine feuerbachisch gestimmte Brünnhilde, als er Schopenhauer entdeckt hatte, die Weltverneinung singen ließ? Theorien welken schnell. Starke Schöpferkraft aber zeugt fort. Wenn das Sektenkleid der Modernen längst verschlissen ist, wenn ihr Hungerleidermühen, reiche Vorfahren zu übertrumpfen und aus der Not höchste Tugend zu machen, nur noch belächelt wird, werden von den zwanzig Bänden der Rougon-Macquart drei, sechs vielleicht sicher noch leben, wird man dieses terrestrische Epos als die Riesenleistung des letzten Romantikers anstaunen.
Nur als Epiker ist Zola zu begreifen. Er singt nicht den Zorn des Peliden, nicht das Leid des fernhin verschlagenen Dulders Ulysses; doch er beschreitet furchtlos die Riesenspur Homers. Seine Geschichten sind einfach; ihr Inhalt läßt sich, wie der alter Volksepen, in einen Satz pressen. Heiße Menschenkinder pflücken in einem paradiesisch prangenden Garten die Frucht, die Schlangenlist einst in Eden empfahl. Proletarier werden durch den Alkohol, Bauern durch den Trieb, ihre Scholle zu halten, ihrem Pflugschar neuen Boden zu erobern, Mittelbourgeois durch Geldgier und Genußsucht entmenscht und sinken in dumpfe, nackte Tierheit hinab. Der strotzende Leib einer schönen Hure lockt die Männchen in Armut und Schmach. Ein gesundes, vom Geschlechtshunger nicht heimgesuchtes Mädchen wird für fleißige Arbeit mit dem Märchenglück einer reichen Ehe belohnt. Ein Künstler, der zu neuen Zielen neue Pfade sucht, erhängt sich, weil er, allzu spät, seines Könnens Schwäche erkennt. In einem kränkelnden Hirn erwacht die uralte Mordlust der Höhlenbewohner und jagt den Besessenen aus dem Wunderreich modernster Technik durch roten Nebel zu bestialischer Tat. Das von allen Qualen der Pubertät bedrängte Kind einer Kupplerin führt das Lilienleben einer Legendenheiligen, weil ihm die Versuchung nicht lockend naht, weil es im Schatten einer ehrwürdigen Kathedrale mit reinem Jungfrauenfinger Meßgewänder stickt. Oder wir sehen, wie ein Strike entsteht und endet, wie es in der Welt politischer Streber, großer Gründer zugeht, wie eine Stadt ernährt, ein Provinznest vom Ehrgeiz unterminirt, ein Reich an den Rand des Abgrundes gerissen und, aus tausend Wunden blutend, mit letzter Kraft noch gerettet wird. Einfache Geschichten von einfachen Menschen, deren »besondere Kennzeichen« in einem Steckbrief Platz haben. Den Steckbrief bekommen sie mit auf die Wanderschaft und aus ihm wird, so oft sie vor unseren Blick treten, ihr Hauptwesenszug vorgelesen; alle anderen Züge sind wegradirt. Polizeipsychologie. Aber wars nicht ungefähr so auch in der homerischen Schöpfung? Nur sind uns Hellenen und Troer so fern, daß wir uns einbilden können, sie seien von einem einzigen Wollen erfüllt, von einer Zwangsvorstellung beherrscht gewesen. Kriegern, die Brust an Brust kämpfen und mit Wind und Wellen dann um ihr Bißchen Heimatbehagen ringen, wäre solche Einheit des Willens und der Vorstellung zuzutrauen; und wir sind ja sicher, sind stolz darauf, daß den Primitiven der Reichtum der modernen Psyche versagt war. Aber eine pariser Kokotte, die nichts ist als sexe, ein Theaterdirektor, der immer nur brüllt, er sei Bordellwirt, ein Kunstrebell, der wie im Krampf umherkeucht, nur sein Bild liebt, nur von seinem Bilde träumt, nur an dem Unvermögen stirbt, sein Bild zu vollenden: solche Menschheit haben wir nie geschaut. Doch wir müssen sie nehmen, wie sie ist, wie der Epiker sie brauchte. Ihm ist Alles gleich wichtig: das Pferd Trompette und die Katze Minouche nicht weniger als der Forscher, dem sich aus schweren Wehen ein neuer Kosmos entbindet, der Staatsmann, der alte Grenzen verrückt und betäubte, geknebelte Völker auf die Schlachtbank schleppt, der Organisator eines Riesenbazars, der ganzen Kleinhändlerschaaren die enge Lebensmöglichkeit raubt. Alles gehört auf sein Panorama. Er scheut, wie Homer, Wiederholungen nicht, füttert, wie Homer, seine Darstellung mit unveränderlichen Satzstücken, erspart uns, wie Homer, nicht das Inventar seiner Arche. Und immer dröhnt oder summt, wie in Ilion, im Lager des Königs der Könige, um Penelopes Witwensitz, hinten irgendein Chor: Bauern, Schnapssäufer, Dienstboten, Kaufleute, Grubensklaven, Künstler, Brünstlinge, Spekulanten, Bettler, Soldaten. Wir hören, sehen, riechen sie; auch wenn sie nicht sichtbar in die Handlung eingreifen, ists, als rotte sich hinter einer morschen Mauer ein Haufe, als rüttle das Gewimmel der unendlich Kleinen mit ungeduldiger Faust an wankendem, hohlem Gebälk. Man fühlt: da, hinter der Mauer, sind noch Unzählige, die den Protagonisten aufs Haar gleichen, den Coupeau, Nana, Maheu, Hennebeau, Saccard, Claude Lantier, die nur als Gattungtypen vorn stehen, nur als Typen der langen Rede wert sind. Wer diesem Klingen einmal gelauscht hat, wird es nie wieder vergessen; in sein aufhorchendes Ohr hat der geheimnisvolle Chor, von dem die alten Dichter raunten, verwehte, flackernde Töne gesandt. Stendhal war der Meister der pathologischen Seelenanatomie, der erste Mikroskopiker der gallischen Literatur; Flaubert, Balzac, Maupassant haben Durchschnittsmenschen auf tragfähige Beine gestellt. Durch Zolas Wortsymphonien braust der Chor der unsichtbaren Mächte, die einer Zeit die Stimmung geben, der Allgewalten, die am sausenden Webstuhl der Zeit das lebendige Kleid der Gottheit wirken.
Der Gottheit? Der dritte der trois états Comtes ist ja erreicht: die Götter sind tot und über der Menschen Häuptern thront nur noch die heilige Wissenschaft. Doch das Epos kann ohne Götter nicht leben. Zola schuf sie sich; und siehe: es wurden böse, grausame, finster dräuende Weltenbeherrscher, Götter nach dem Ebenbilde der bête humaine. Der Schöpfer taufte sie: milieux; und brüstete sich, nun sei alle Metaphysik in die Leichenkammer gesperrt. Name aber ist Schall und Rauch. Die Schnapsschänke des Gevatters Colombe, Mourets Waarenhaus, die Markthallen, in denen der Bauch von Paris gemästet wird, Albines Paradiesgarten, das Bergwerk Hennebeaus, das schmutzige Miethaus der Rue Choiseul, Nanas Leib, die Ackerscholle, an der, wie an einem nie alternden Liebchen, der Bauer hängt, das Meer, das die joie de vivre aufpeitscht und einlullt: sie Alle sind Götter, sind Menschenbeweger, Menschenfresser, von anderer Wesensart freilich, doch nicht von geringerem Vermögen als Poseidon und Phoebus. Sie leben, man hört sie atmen, pfauchen, fressen; und ihr Wille zwingt das Menschengetier. Sie sind die Hauptpersonen der Epopöe und müssen deshalb immer wieder geschildert, bis ins Kleinste beschrieben werden, unter wechselndem Licht, in jeder Tages- und Jahreszeit. Da uns aber nicht Götter, Götzen, Symbole verheißen waren, da wir ins Innerste der Natur dringen sollten, muß unten wenigstens Alles hübsch natürlich zugehen. Hübsch oder häßlich, – wie mans nehmen will. Wir werden zu zwei- und vierbeinigen Tieren in die Wochenstube geladen und dürfen nicht weichen, bis das Junge zappelt oder leblos im Blut liegt; jeder Grad der Brunst, jede Sexualverirrung wird enthüllt und in behaglichem Verweilen demonstrirt; das dunkle Reich der Spermatozoologie tut sich auf; und wer die Augen schließt und sich die Ohren verstopft, muß mindestens riechen. Spekulation oder Exhibitionismus? Die Sucht, durch den Geschlechtsreiz den Pöbel in die Bude zu locken, oder, nach Nietzsches schrillem Wort: »die Freude, zu stinken?« Vielleicht Beides nicht. Der Romantiker, der den Positivisten spielte, mußte zeigen, daß er nicht über ein Wolkengebirge schritt, der Götterbildner, daß er am Brennpunkt der Gattung nicht scheu vorüberschlich. Die Christenaskese hat den Trieb zur Paarung wie den Erzfeind befehdet, wie eine Schande ins Dunkel gepfercht; der Naturalist muß ihn ans Licht ziehen, muß ein frohes Volk um Sankt Priaps Altäre sammeln. »Le rut en plein air!« Auf das Ewig-Animalische darf nur eine Menschheit verzichten, die sich selbst verneint und in frommer Ekstase des Weltunterganges harrt. Das erklärt freilich noch nicht Alles; in Zolas Werk könnte manche Seite von einem Mönch geschrieben sein, dessen ungestilltes Verlangen in wüsten Phantasien ausbricht. Wir sind weit von der heiteren Sinnlichkeit der rabelaisischen Welt; etwa im Tempel eines düsteren Asiatengottes? »Und ich sah das Weib sitzen auf einem rosinfarbigen Tier ...« Aber welche Wirkungen quellen dem Dichter aus seiner Besessenheit, seiner Lust an dem größten, einfachsten Symbol des Schaffens! Nana als Venus, Nana auf dem Rennplatz von tausend gierigen Wünschen umheult, Nana, das Arbeiterkind, vor dem ein Graf, ein Kammerherr des Kaisers, wie ein Hündchen auf allen Vieren kriecht; die Brautnacht im überschwemmten Bergwerk; Claude, der in geiler Wut dem gemalten Liebchen, das sich ihm nicht ganz geben will, das Messer in die Leinwandbrust bohrt; Saccard, dessen ruchloser Unzucht dennoch, im Börsensaal und im Schlafzimmer, Kraftkeime entsprießen; die rasende Weiberschaar, die den Erpresser des Jungferntributes entmannt: unvergeßliche Bilder ... Man muß sie nicht allzu nah sehen. Zolas Apokalypse gewinnt überhaupt, wenn man sie aus der Ferne betrachtet. Dann fragt man nicht mehr nach »feinen Zügen«, nach Menschenähnlichkeit und Modernität, staunt nicht, daß diese Horde Siecher und Irrer die Schätze französischer Kultur häufen konnte. Dann treten, aus der wibbelnden, kribbelnden Tiermenschheit, da und dort nur prachtvolle Typen und große Zeitstimmungsymbole in grauser Schönheit hervor; und ins Erinnern tönt aus dem Dunkel der Menschheitchor, dröhnt der Widerhall gewaltiger Symphonien.
Das ist der Dichter der Rougon-Macquart. Was er unserem Verstande zu sagen hatte, war nicht allzu viel. Der Mensch ist noch immer das zweizinkige Gabeltier, der aufrechte Vierfüßler, und nur ein dünner Kulturfirnis deckt die alte Bestialität. So sah ers Jahre lang. Mit dem Wohlstand, dem Weltruhm erst kam der Zweifel. Sind die Menschen wirklich so schlimm, heute noch? Sie morden und rauben, aber das Leben geht weiter; und man muß doch auch bedenken, daß sie handeln, wie sie handeln müssen. Mag die Familie Rougon-Macquart in Jammer und Schande verkommen und mit ihr das Vaterland niedergebrochen sein: das Kind des Doktors Pascal und seiner Klotilde saugt aus den Brüsten der starken Mutter neue Kräfte zu neuem Streben. Der Einzelne sündigt, strauchelt und sinkt; doch über seine Leiche, über stinkende Kulturdüngerhaufen hinweg schreitet ein anderes Geschlecht dem Siege der Gattung entgegen. Man hatte Zola als Pessimisten verschrien; seit dem Börsenroman »L'Argent« war ers nicht mehr. Er war reich, weltberühmt, konnte alle Kostbarkeiten, die ihm gefielen, in seiner Wohnung aufstapeln, überbot auf Auktionen sogar den Baron Rothschild. Und das Alles dankte er seinem vom Fleiß bedienten Genie. Er hatte Kompromisse verschmäht und dennoch gesiegt. Das war also möglich. Er hatte bisher fast nur mit Künstlern und Literaten verkehrt; da erwachen sozialkritische Regungen. Jetzt trat er aus seiner Schreibstube und fand die Menschen nicht so übel, wie sie von fern ausgesehen hatten. Ganz brave Leute, die ihn anstaunten; und robuste Persönlichkeiten darunter. Wenn man sie nur in Ruhe ließe! Aber da sind diese langweiligen Moralprediger, die immer von den Pflichten der Tugend schwatzen und nun gar die Ausbaggerung des Panamasumpfes fordern. Lächerlich; stets hat der Starke den Schwachen aufgefressen, der sich seiner Haut nicht wehrte. So wills die Natur; und der Naturalismus ist eine Weltanschauung, nicht eine Kunsttheorie. Die Panamisten spitzten das Ohr: mit solcher Weltanschauung ließ sich leben. Und da ihr Beifall den Dichter spornte, sprach er zu der Republik: Hüte Dich vor den Tugendsamen und laß Deine schmutzige Wasche nicht auf den Markt tragen; allzu grelles Licht ist den Augen gefährlich; und so weiter. Diese Mahnungen eines Satten, der die Besitzrechtsordnung, überhaupt den Gesellschaftzustand, höchst vortrefflich fand, wirkten viel stärker als alle Romane. Und nach Wirkung hatte der Dichter sich ja gesehnt, in der Hinterstube des Arabers, neben dem Rauchfang, in Auteuil und Médan. Am Ende war der Politiker, den er so oft verhöhnt hatte, nicht gar so zu verachten ... Da kam die Affaire. Die Freunde des Herrn Dreyfus brauchten einen Namen. Coppée wollte nicht ins Feuer und empfahl Zola. Der hatte zwar früher gesagt, die Beschäftigung mit Staatsangelegenheiten tauge nicht für die Dichter, die im Lande der Politik immer dem Auge kleiner erscheinen: »ils veulent l'élargir de toute la largeur de leurs beaux sentiments et n'arrivent qu'à faire sourire.« Das war aber lange her und hatte sich gegen Hugos unklare Weltbeglückerpläne gerichtet. Der Mann der exakten Wissenschaft durfte wagen, was dem blöden Schwärmer verboten war. Schreiben, nichts als schreiben, Tag vor Tag; immer im Käfig hocken, allein, ohne Reibung, die Wärme zeugt und den Schaffensdrang steigert; sitzen und auf ein Echo warten und hinaushorchen, ob sich die Mode nicht wendet, ob mit flatternden Fahnen nicht die Jugend heranzieht und den alten Meister ins Altenteil treibt! Längst hatten die Freunde gemerkt, daß Zolas Sehnen neue Ziele suche. Sie hörten ihn seufzen: Sind wir nicht Narren, arme Monomanen, die sich schinden und im Grunde vom Leben nichts haben? Sollten wir nicht genießen, so lange wir noch genußfähig sind? »Ich kann«, sagte er schon 1889 zu Goncourt, »kein hübsches Mädchen vorbeigehen sehen, ohne mich zu fragen: Ist Das nicht mehr wert als ein Buch?« Er findet ein Mädchen, findet das Vaterglück, das ihm die Ehe versagt hat, und richtet sich zwischen zwei Frauen behaglich ein; denn Frau Zola duldet das Ärgernis, pflegt die Kinder seiner späten Liebe und ist zufrieden, wenn sie für seine Ruhe, seinen Arbeitfrieden sorgen darf, wenn er sie nicht, wie leider so oft, rauh anfährt und sie vor der Welt die ihm Nächste bleibt. Seine Lebenslust wächst; er, der für die politiciens stets nur Gift und Galle hatte, verkehrt nun mit Constans und Bourgeois und kann die quälende Regung politischen Ehrgeizes nur mühsam verbergen. Noch schwankt er. Der große, einschlagende, weithin wirkende Erfolg ist nur von der Bretterbühne zu holen. Soll er, dem nie ein Drama gelang, noch einmal den Kampf wagen? »Des romans, des romans, c'est toujours la même chose!« Ja, wenn er reden könnte, mit seines Wortes Macht die Menge begeistern! Er übt sich zu Hause; aber die Inspiration will nicht kommen und er scheut die Gemeinplätze. Im Juli 1892 schreibt Goncourt in sein Tagebuch: »Zola langt nach der Beredsamkeit eines Lamartine und möchte, um seine Laufbahn zu krönen, den populären Erfolg des Politikers an sich reißen«. Die Sehnsucht, »mal was Anderes zu machen«. Was hat er denn? Morgens sitzt er Stunden lang am Schreibtisch. Die einzigen Freuden sind noch die Mahlzeiten; nachmittags namentlich der Tee, mit dem er einen ganzen Pastetenberg hinunterspült. Und die Kinder, die paar Freunde, die Möglichkeit, teure Möbel, alte Kirchenfenster, kostbaren Trödel zu kaufen. Viel ists nicht. Vom ewigen Schreiben wird man nervös; wenn ein Gewitter aufzieht, verkriecht er sich ins Billardzimmer, schließt die Fensterladen, bindet ein Tuch vor die Augen: sonst haltens die Nerven nicht aus. Von Tee und Pasteten wird man wieder dick. Die Kinder entwachsen Einem, die Freunde sterben weg und am seltensten Gerät sieht man sich eines Tages satt. Um wie viel besser haben es die Männer der Tat! Nur die Wonne unmittelbaren Wirkens ist neidenswert ... Da kam die Affaire. Da winkte ein Heroenruhm. Aufs Sprungbrett! Der Dichter der Rougon-Macquart wurde zum Anwalt der Unschuld.
Seit er die Epistel wider den Generalstab schrieb, lebt er als ein Heiliger in der Legende. Er war reich, heißt es, auf des Ruhmes steilster Höhe, von Allen bewundert, ein still und glücklich schaffender Dichter; und er stürzte sich ins dichteste Gewühl, wagte Alles, Leben, Freiheit, Vermögen, Ruf, um der Gerechtigkeit zu dienen, um einen Menschen zu retten, den sein Auge niemals gesehen hatte. Für diese Heldentat ward ihm zum Lohn: Verfolgung, rohster Schimpf, Bedrohung an Leib und Leben; viele Freunde verließen, betörte Massen schmähten ihn und Blatt um Blatt rissen schmutzige Fäuste aus seiner Lorberkrone. Im grauen Alltagslicht sieht die Tat, sehen ihre Folgen nicht ganz so aus. Zola saß nicht still und glücklich in seinem Dichterzimmer, sondern spähte nach einem Kahn, der ihn zu neuen Ufern tragen könnte. Sein Leben war nie ernstlich bedroht, nicht eine Sekunde lang, und seine Freiheit hat er vorsichtig gerettet: als er ins Gefängnis sollte, floh er nach England. Er stand nicht allein: die stärksten Großkapitalisten der Erde jauchzten ihm zu, hätten auf seinen Wink Millionen geopfert; er ward über Nacht die hellste Leuchte in Israel; die intellectuels, die über sein Werk die Nase gerümpft hatten, witterten den Befreier von überliefertem Wahn und drängten sich in sein Lager; und dem Manne, der ganz in die bourgeoise Weltanschauung hineingewachsen, dem Karl Marx nur ein kindischer Träumer war, wurden von den Jaurès und Millerand die Arbeiterbataillone als Leibwache gestellt. Um an der Spitze solcher Schaar den Kampf zu wagen, braucht man nicht gerade den Mut eines Löwen. Zolas Gemeinde hat sich verhundertfacht, seit er gegen Militarismus und Antisemitismus ins Feld zog. Er war vorher durchaus nicht allgemein bewundert worden. Er hatte ein großes Publikum und eine kleine, sacht schon zusammenschrumpfende Sekte leidenschaftlich Gläubiger; Vielen aber – und gerade den Wählerischen – blieb er der Rhyparograph, der mit unzüchtigen Bildern Geschäfte machte. In seiner Heimat waren fast alle wichtigen Kritiker gegen ihn; der angelsächsische cant lehnte den Naturalisten ab; und Herr Fritz Mauthner, einer der klügsten deutschen Literaturbeschauer, nannte ihn einen schlauen Spekulanten, dem die eigentlich dichterische Phantasie fast völlig fehle, der für die Hintertreppe arbeite und mit wahrer Wonne in der Jauche herumtrample. Wo sind die Freunde, die der Dichter verlor, als er zum Ankläger wurde? Er hat wertvolle Freunde gewonnen; Todfeinde sind seine Apostel geworden. Drei Beispiele. Herr Bernard Lazare, der erste Manager der Familie Dreyfus, hatte 1895 in seinem Buch »Figures Contemporaines« gesagt, Zola, dessen Lebensleistung er sehr gering schätzte, werde stets zu jeder Erniedrigung, jeder Verleugnung oft bekannter Grundsätze bereit sein, um den Glanz seines Namens zu mehren und seiner unstillbaren Eitelkeit Nahrung zu bieten. Zola schrieb den Anklagebrief: und Herr Lazare beugte vor dem Genie des Dichters, vor der Heilandsherrlichkeit des Menschensohnes das Knie. Herr Max Nordau, der von Paris aus die Vossische Zeitung bedient, vor der Affaire: »Ich glaube, daß es sich bei Zola um bewußte, planmäßige Bauernfängerei handelt. Zola ist ein Entarteter; er ist in sehr hohem Grade mit Koprolalie behaftet. Es ist ihm ein Bedürfnis, schmutzige Ausdrücke zu gebrauchen, und sein Bewußtsein ist fortwährend von Vorstellungen verfolgt, die sich auf Kot, Unterleibsverrichtungen und Alles, was mit ihnen zusammenhängt, beziehen. Er leidet außerdem an mania blasphematoria. Daß er ein Sexual-Psychopath ist, verrät sich auf jeder Seite seiner Romane. Dafür, daß Zolas vita sexualis anormal ist, liegen auch andere Zeugnisse als seine Romane vor. Besondere Erregung verschafft ihm der Anblick von Frauenwäsche, von der er nie sprechen kann, ohne durch die emotionelle Färbung seiner Schilderungen zu verraten, daß diese Vorstellungen bei ihm wollüstig betont sind. Diese Wirkung weiblicher Wäsche auf Entartete ist in der Irrenheilkunde wohlbekannt und von Krafft-Ebing, Lombroso und Anderen oft beschrieben worden. Zolas Erfolg erklärt sich aus seiner Gemeinheit und Schlüpfrigkeit.« (»Entartung.«) Der selbe Herr Nordau nach der Affaire: »Der bedauernswerte Mann hatte geglaubt, der Stoß seiner zweiundzwanzig Romane, der sich hoch und stolz wie eine Ehrensäule erhob, werde ein Denkmal bilden, in dessen Schatten er dauernd alle Wonnen des Ruhmes empfinden werde ... Er war ein edler, todesmutiger Held, ein stahlharter und goldreiner Charakter.« An Zolas Grabhügel sprach Herr Anatole France. Er hatte an die Witwe telegraphirt: »Mit Ihnen trauert die Welt. Die Menschheit hat einen ihrer stärksten Geister, eins ihrer größten Herzen verloren. Zolas mächtiges Werk lebt fort.« Auf dem Kirchhof: »Zola hatte die Reinheit und Einfalt der großen Seelen. Er war gütig, im tiefsten Wesenskern sittlich; er war das Gewissen der Menschheit.« Der selbe Anatole France vor der Affaire: »Ich beneide Zola nicht um seinen abscheulichen Ruhm. Sein Werk ist schlecht und man darf sagen, daß er zu den Elenden gehört, von denen zu wünschen wäre, sie hätten niemals das Licht der Welt erblickt.« Ist es genug? Nein: dem Ruhm des Dichters der Rougon-Macquart hat der Feldzug für Alfred Dreyfus nicht geschadet. Sogar seine letzten, unlesbaren Bücher, in denen Comtes politique positive zu gottlos pfäffischen Traktätchen verarbeitet war, wurden gekauft, ahnunglosen Zeitunglesern als neuste Offenbarung modernsten Geistes aufgetischt und mit verzückter Miene bewundert. Der Mensch aber hat unter den Folgen des Feldzuges gelitten. Der Keltoromane, dessen Vater österreichischer Beamter gewesen war, ist in Frankreichs Geistesklima nie ganz heimisch geworden. Er sprach und schrieb über das Land seiner Kinder wie ein Fremdling, den der Zufall an diese Küste verschlagen hat. Unermüdlich geißelte er, Jahre lang, Gambetta als kleinen, unwissenden Kneipenschwätzer und lernte nicht begreifen, welchen nie genug zu rühmenden Dienst der Diktator Frankreich erwies, da er, nach Sedan, lange gebundene Kräfte entfesselte und die fast schon verzweifelnde Volkheit empfinden ließ, daß ihrem wunden Schoß neue, köstliche Triebe entkeimen konnten. Spät erst, als der Dichter auf dem Markt tobte und den Schleier von Galliens Scham riß, merkten die Franzosen, daß er als ein Fremder unter ihnen gehaust hatte.... Wohl ihm, daß er starb, den grauen Alltag nicht mehr zu sehen brauchte; die besten Landsleute hätten ihm nie verziehen. Und er war ausgezogen, Paris zu erobern.
Hat er wirklich nur um Bewunderung gebuhlt? So einfach, so ganz auf einen Willenston gestimmt wie in seiner animalischen Epenwelt sind die Menschen in der gemeinen Wirklichkeit nicht. Doch er selbst hat gesagt: Die Ehrfurcht vor dem Genie darf die Ehrfurcht vor der Wahrheit nicht hemmen. Und er hat gegen Victor Hugo, den er haßte, dem er mit ungeduldigem Finger den Kranz vom Haupt reißen wollte, das harte Wort Sainte-Beuves citirt: »Son plus grand tort est dans l'orgueil immense et l'égoïsme infini d'une existence qui ne connaît qu'elle: tout le mal vient de là.« Des Wortes Spitze wird sich, trotz dem Anklagebrief, noch oft gegen Zola wenden. Sein Ehrgeiz, sein Beifallsbedürfnis war unersättlich; und wenn man die Etapen seines Lebensweges abschreitet, muß man am Ende fragen, woran dieser starke Schöpfer wohl ehrlich, inbrünstig geglaubt habe. Er verdient sich als Knappe der Freilichtmaler die Sporen, schleppt, als er Geld hat, den ältesten Trödelkram in seine Wohnung, die dem Raritätenmuseum eines Börsenprotzen gleicht, und jammert über die Häßlichkeit der modernen Bilder. Um die Ahnen zu überbieten, bannt er sich selbst in den grauen Zwinger gespenstischer Theorie, predigt den Menschen von 1900 Comte: und ist stets bereit, der Wirkung die Wahrheit zu opfern, deren Streiter er doch sein will. Heute ist der Protestantismus ihm das größte Hindernis, das sich der vorschreitenden Menschheit entgegentürmt; morgen ficht er in polirter Hugenottenrüstung gegen die Marienanbeter. Er höhnt die Politiker: und reckt dann gierig nach ihrem Lorber die Hand. Er malt Jahrzehnte lang entkrönte, kaum der Tierheit entwachsene Menschen, malt sie pechrabenschwarz: und brüllt dann, wie unter der Wucht einer niederschmetternden, unerhörten Kunde, auf, als er sieht, daß auf dieser schönen Erde neben den Guten auch Schlechte wohnen. Er wird sechzig Jahre alt, ohne je gegen das thronende Unrecht einen Finger zu rühren; dann, als die Kraft ihm schwindet, schlüpft er ins Heilandskleid, schreibt Evangelien, weiß das Kreuz aber zu meiden. Sah er nie vorher den Übermut der Ämter, des Mächtigen Druck, der Stolzen Mißhandlungen, – in einem halben Jahrhundert nie bis zu der Stunde, wo ein reicher Jude ihm unschuldig verurteilt schien? Victor Hugo, ruft er, ist ein Narr, der uns nichts zu geben hat als den albernen Greisenrat, in die Sonne zu klettern und uns dort in Brüderlichkeit zu umarmen; und er selbst, der Naturalist, Determinist, Positivist, dem Tugend und Laster Produkte sind wie Zucker und Vitriol, er selbst schließt seinen frömmelnden Atheistentraktat mit der Weisung, Haß und Neid, Stolz und Herrschsucht abzutun und als Brüderlein und Schwesterlein friedsam neben einander zu grasen. Wie viele Jahrmillionen sollen vergehen, bis die bête humaine diesem Ideal reif ist? Auf der ersten Seite der Rougon-Macquart steht ja der Satz: »L'hérédité a ses lois comme la pesanteur.« Als Voltaire für Calas kämpfte, für einen Toten, irdischem Rechtsspruch Entrückten, stritt er für ein politisches Prinzip, gegen die Gräuel eines faulenden Rechtszustandes, von dem er an Damilaville schrieb: »Les formes, chez nous, ont été inventées pour perdre les innocents«; als Zola für Dreyfus focht, sprach er gegen die Lebensprinzipien der bürgerlichen Gesellschaft nicht das leiseste Wort, sondern erzählte einen Kolportageroman von einem Bubenstück, das sechs oder acht hohe Offiziere gegen einen – am Ende doch auch mit geringerer Mühe zu beseitigenden – Hauptmann tückisch angezettelt haben sollten. Laut erzählte ers, auf offenem Markt, und war ungemein beglückt, als alle Feinde Frankreichs ihm Beifall heulten. Sehen so die Erlöser aus? Lärmte der Galiläer so dem Erfolg nach? Sprach auch nur Tolstoi je so von seinem Gossudar, von dem tyrannischen Tshin? Aber Tolstoi ... »Der gute Mann hat offenbar eine schadhafte Stelle im Gehirn«, sagte Zola. Gegen Große war er nie mild. Goethe? »Hat uns nichts mehr zu sagen.« Ibsen? »Ein Spätling aus den erschöpften Lenden unserer braven George Sand.« Nun hat auch er den Nachruf dahin. Sein Anklagebrief, lästert der Fanatismus der Freunde, sein Schrei nach Gerechtigkeit wird länger leben als seine Poetenschöpfung.
In alten Gedichten rächen die Götter das frevle Walten der Hybris. Wenn Zola das Lebensepos Zolas zu schaffen hätte, wäre die richtende, rächende Gottheit der Poetenwahn, die Großmannssucht des vom Sektenjubel betäubten homme de lettres, – ein papiernes Ungetüm vielleicht, das sich von Druckschwärze nährt, Eisenstaub atmet und Bücher speit. Und er würde, mit der Gewalt seines ungallisch rauhen Wortes, das Ende des Poeten malen, dem reicher und armer Pöbel in die geputzte Gruft hinabruft: Was Du in vierzig harten Jahren schufest, wird vergehen, bleiben nur, was Du für unsere Parteisache tatest....
An einem trüben, stürmischen Februartag wurde 1881 Dostojewskij begraben. Der hatte nie Lärm gemacht, nie nach der Wage des Weltenrichters gegriffen. Den schmückte nicht eine Partei für die letzte Reise: ein Volk drängte sich in die enge Kirche, neben den Großfürsten schob sich die nihilistische Studentin, Bäuerlein bohrten sich mit spitzen Ellbogen durch dichte Beamtenhecken und für eine Stunde gabs in der Hauptstadt des Reussenreiches keinen Standesunterschied. Das Vaterland trauerte um einen Sohn, der ein großer Dichter gewesen war, der unterm Galgen noch seine Heimath geliebt, der gelitten und vor Menschenelend, auch vor dem ekelsten, mitleidig immer das Haupt gebeugt hatte.