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Vierzehntes Kapitel

Nach diesem Ereignis trafen Peter und die Duchessa lange Zeit nicht mehr zusammen und Peters Stimmung sank Grad um Grad – tiefer, immer tiefer.

Nichts, was uns widerfährt, ist – wie die Optimisten behaupten – ohne Wert, und dies soll ganz besonders bei Schriftstellern zutreffen: Alles ist Korn, das auf eines Schriftstellers Mühle getragen wird.

So erfuhr denn Peter Marchdale zu dieser Zeit – vielleicht kann er es in einem späteren Meisterwerk verwerten – am eigenen Leib, wie grenzenlos groß die Ungeduld Liebender ist, mit welch fieberhafter Glut das kranke Herz brennt und zu welch ganz unglaublicher Länge sich in gewissen Fällen Stunden und Minuten zu dehnen vermögen. Er versuchte es auf alle mögliche Weise, sich zu zerstreuen.

Das schöne Panorama des Tales war noch immer vorhanden: der dunkelblaue See, der bleiche Monte Sfiorito, der grimmige Gnisi und das lächelnde Hügelland im Westen. Auch der Horizont, die Wolken, der Sonnenschein und die kriechenden, schleichenden Schatten blieben sich gleich, und am späteren Nachmittag schien der köstlich in allen Farben schimmernde Duft des Augustnebels alle Entfernungen zu verwischen. Auch der Garten war noch da mit seinen schönen hohen Bäumen, durch deren Laub das Sonnenlicht sickerte wie durch ein grünes Sieb, und die Blumen, die Vögel, die Bienen, die Schmetterlinge mit all ihrer Farbenpracht, ihrem Duft und ihrem melodischen Gesang; da war auch der funkelnde, sprühende Springbrunnen und der behende Aco – das Symbol. Und nur eine halbe Stunde entfernt lag das hübsche Dorf mit seinen rosa bemalten Häusern, seiner auf einer Anhöhe thronenden Kirche, seinem schauerlich-grotesken Beinhaus auf dem Friedhof und seinem ganzen rührigen, lärmenden italienischen Straßenleben: der Schuster, der in seiner Bude Stiefel flickt, Weiber, die während des Anziehens miteinander klatschen, Kinder, die sich jauchzend haschen und jagen und im Schmutz wälzen, Männer, die trinken und Mora spielen, sich streiten, lachen und singen; dazwischen Mandolinengeklimper unter den Lauben der Osteria und dazu noch einige gesetzte Bürger, die ihre Beine von der Brücke hinunterbaumeln lassen und nach Fischen angeln, die niemals anbeißen,

Peters Augen ruhten auf alledem, und es ist anzunehmen, daß sie es auch sahen, aber es gewährte ihm, dem Mann mit dem ausgesprochenen Schönheitssinn, wenig Freude, und danach zu schließen hätte er zum schlimmsten Teil des von ihm so geschmähten angelsächsischen Publikums gehört. All dies bildete nur den Hintergrund für eine abwesende Gestalt; alles war nur Kulisse für ein Drama, dessen Handlung ins Stocken geraten war, alles war nichts als eine leere Bühne.

Er versuchte zu lesen; er hatte ganze Kisten voll Bücher mitgebracht nach der Villa Florians, aber das Buch, das gegenwärtig sein Interesse zu fesseln vermocht hätte, befand sich nicht darunter.

Er versuchte zu schreiben, aber wie traumbefangen fragte er sich, wie jemals ein vernünftiger Mensch den Ehrgeiz gehabt haben könnte, etwas so Undankbares und Nichtiges zu unternehmen.

»Ich werde niemals mehr schreibe». Wenn die Schriftstellerei nicht wie ein einträgliches Handelsgeschäft betrieben wird,« verallgemeinerte er, »so ist sie nichts als eine alberne Äußerung des Egoismus. Steine klopfen ist eine vornehmere Beschäftigung dagegen. Was der Mühe wert wäre, geschildert zu werden, ist nicht auszudrücken, ist unaussprechlich, und was beschrieben und ausgedrückt werden kann, ist wertlos und selbstverständlich. O, warum kommt sie denn gar nicht mehr zum Vorschein?«

Das Schlimmste, allerdings aber auch das Beste an der Sache war, daß sie, soviel er wußte, jeden Augenblick zum Vorschein kommen konnte. Dadurch wurde die Hoffnung zu ihrer eigenen Qual immer aufrecht gehalten. Dies Bewußtsein ermutigte ihn, zu warten, zu beobachten, zu harren; er schlenderte in seinem Garten herum, blickte nach dem Kastell Ventirose und suchte mit sehnsüchtigem Auge den Blätterwald zu durchdringen, der das Schloß umrauschte. Er trieb sich auch in der Umgegend herum, besuchte jeden Aussichtspunkt, durchforschte alle Winkel und lief allen Schatten nach – aber vergeblich. Es war ja wahr: jeden Augenblick konnte sie irgendwo auftauchen, aber ein Tag folgte dem andern – diese fürchterlichen, trügerischen Tage! – und sie war und blieb unsichtbar.

*

Marietta, die gute Seele, bemerkte, wie niedergeschlagen er war, und suchte ihn auf ihre kunstlose Art zu zerstreuen und aufzuheitern.

Eines schönen Abends platzte sie wie ein explodierendes Dynamitgeschoß in sein Wohnzimmer herein; jede Falte in ihrem runzligen braunen Gesicht, ihr ganzer dürrer Körper zuckte vor Aufregung.

»Die Glühwürmchen, Signorino, die Glühwürmchen!« rief sie heftig gestikulierend.

»Was für Glühwürmchen?« fragte er gelassen.

»Es ist das Fest des heiligen Dominikus. Die Glühwürmchen sind da! Sie kommen alle Jahre am Fest des heiligen Dominikus! Sie sind die Perlen an seinem Rosenkranz, sie sind Sankt Dominiks Aves. Tausende sind da, Tausende! Kommen Sie, Signorino, kommen Sie!«

Ihre schwarzen Augen funkelten und ihre Hände winkten und fuchtelten nach dem Fenster hin.

Langsam erhob sich Peter, langsam ging er durchs Zimmer zum Fenster, langsam sah er hinaus.

Ja, wahrhaftig, da waren die Glühwürmchen, zu Tausenden und aber Tausenden! Tausende von gelben Flämmchen, von feurigen Punkten erhoben, senkten sich, wirbelten und huschten in der purpurnen Dunkelheit der Nacht in tollem Reigen durcheinander wie Schneeflocken im Wind, wie zitternde, kleine, lebendige Goldherzchen – der Goldregen Jupiters, der sich über eine unsichtbare Danae ergoß.

» Son carin', eh?« rief Marietta begeistert.

»Hm – ja – ganz nett,« knurrte Peter zustimmend. »Aber was weiter?« fügte der Undankbare hinzu, als er sich wieder umdrehte, um in seinen Lehnsessel zurückzusinken. »Meine gute Frau, nichts in der Welt, es mag so hübsch sein, als es will, vermag über die Alltäglichkeit und Nichtigkeit aller Dinge hinwegzutäuschen. Eure Glühwürmchen – oder Sankt Dominiks Rosenkranzperlen, wenn Ihr so wollt, sind ganz nett, das gebe ich zu. Aber sie sind über die Wüste Sahara ausgeschütteter Flitter; sie sind eine würzige Brühe zu einem Gericht von Staub und Asche. Wißt Ihr übrigens, wie man Eure Glühwürmchen in Amerika nennt? ›Leuchtwanzen‹ – Ihr könnt mir's glauben! Danach könnt Ihr den Unterschied ermessen, der zwischen südlicher Überschwenglichkeit und westlicher Derbheit besteht. – Dies nur nebenbei. – Eure Glühwürmchen sind, wie gesagt, nur über eine Wüste zerstreuter Goldflitter. Glaubt mir, Ihr könnt das Leben aufputzen und vergolden, wie Ihr wollt – es ist nichts als ein Nachtmahr, ein Alpdrücken; es ist wie der Mann, den Sindbad der Seefahrer durchs Wasser trägt und der immer schwerer wird. Die Sprache hat keine Worte, mit denen ich Euch klarmachen könnte, wie schwer, wie unendlich schwer das Leben auf meinen Schultern drückt. Schon in meiner Jugend glaubte ich an Langeweile zu leiden, aber jetzt sehe ich ein, daß diese Krankheit mit der grünen Frucht nur spielt, ihre Verheerungen aber für die reife aufspart. Ich versichere Euch, die Sache ist nicht zum Lachen. Habt Ihr vielleicht schon einmal eine fixe Idee gehabt? Habt Ihr Euch Tag und Nacht den Kopf darüber zerbrochen, ob vielleicht ein ›andrer Mann‹ vorhanden ist? O, bringt mir was zu trinken! Bringt mir Selterswasser und Wermut. Ich will auf dem Grund des Bechers Vergessen suchen!«

War wirklich ein andrer Mann im Spiel? Warum auch nicht? Während ihrer andauernden Abwesenheit drängte sich ihm diese Frage immer wieder und wieder auf, was seinem Seelenfrieden nicht gerade zu statten kam.

Durch ihren ersten Mißerfolg nicht entmutigt, erschien Marietta einige Tage später mit der Frage: »Wollen der Signorino einmal etwas sehr Komisches sehen?«

»Ja,« erwiderte Peter.

»Dann tun mir der Signorino die Liebe und kommen mit.«

Darauf führte sie ihn aus seinem Garten hinaus an ein Gatter, das eine benachbarte Wiese abschloß. Dort stand eine wunderschöne weiße, schwarzgehörnte Kuh, die ihren Kopf über die Schranke streckte, beharrlich die Straße auf und ab blickte und ab und zu ein klägliches ›Mu – uh, Mu – uh‹ ausstieß.

»Nun sehen Sie sie nur, Signorino,« sagte Marietta.

»Ich sehe sie ja, aber was nun?« fragte Peter.

»Heute morgen haben sie ihr das Kalb weggenommen, um es zu entwöhnen.«

»Warum war man denn so grausam? Und nun ...?«

»Und seither steht sie da und sieht wartend und rufend die Landstraße hinauf und hinab.«

»Das arme Ding! Und nun – –?«

»Aber sieht's der Signorino denn nicht? Sehen Sie doch ihre Augen an! Sie weint ja – sie weint ja wie ein Christenmensch!«

Peter sah näher zu, und richtig – aus den Augen der armen Kuh tropften in gleichmäßigem, ruhigem Tempo große, dicke Tränen und rieselten über die guten, rundlichen, haarigen Backen hinab bis ins Gras: die Tränen hilflosen Schmerzes, unverstandenen Leidens und Duldens. »Warum hat man mir das getan?« schienen sie stumm zu klagen.

»Hat der Signorino schon jemals eine Kuh weinen sehen? Nun, das ist doch komisch, das ist doch zum Lachen, nicht?« fragte Marietta erwartungsvoll.

»Komisch – zum Lachen?« brachte Peter mühsam hervor. »Komisch – –?« stöhnte er.

Aber dann sprach er mit der Kuh.

»Armes Ding – armes Ding!« wiederholte er immer wieder und tätschelte sie auf den weichen, warmen Nacken und kraute sie zwischen den Hörnern und der Wamme. »Armes Ding – armes Ding!«

Die Kuh hob den Kopf in die Höhe, legte ihr Kinn auf Peters Schulter und atmete ihm gerade ins Gesicht.

»Ja, ja, du weißt, daß wir Leidensgefährten sind, gelt?« sagte er. »Auch mir haben sie mein Kalb genommen – nur daß mein Kalb nur ganz bildlich gesprochen ein Kalb ist, und daß es eigentlich, genau genommen, nie so recht mein Kalb war – eigentlich hat es immer einem andern Mann gehört. Aber du kannst froh sein, daß dir in deinem Leidensbecher wenigstens diese letzte Bitternis, dieser letzte Tropfen Wermut und Galle erspart geblieben ist. Nun mußt du dich aber zusammennehmen. Das Weinen hat keinen Wert. Und übrigens gibt es mehr Kälber, als du dir träumen läßt. Das nächste Mal kriegst du ein noch viel hübscheres, viel fetteres Kalb. Und dann mußt du auch bedenken, daß des einen Verlust stets des andern Gewinn bedeutet – der Pächter hätte es gewiß nicht getan, wenn es nicht von Vorteil für ihn wäre. Wenn du Altruist bist, muß dir dies Trost gewähren. Um Marietta und ihr Gelächter mußt du dich nicht kümmern. Marietta ist eine Lateinerin. Die lateinische Auffassung von dem was lächerlich ist, ist von der teutonischen himmelweit entfernt. Du und ich, wir sind Teutonen!«

»Teutonen –?« fragte Marietta mit gerunzelter Stirn.

»Ja – germanisch,« erwiderte er.

»Aber ich habe geglaubt, der Signorino sei ein Engländer?«

»Ist er auch.«

»Aber die Kuh ist nicht germanisch! Weiß mit schwarzen Hörnern ist reinste römische Zucht, Signorino.«

» Fa niente,« belehrte er sie. »Kühe und Engländer und all solch gefühlsduseliges Viehzeug – die Deutschen nicht ausgenommen – sind germanisch. Die Italiener sind lateinisch – mit einer leichten Beimischung von gotisch und vandalisch. Löwen und Tiger brüllen und kämpfen, weil sie Mohammedaner sind. Hunde führen noch immer den hochtrabenden Namen Sykophanten Sykophant war im Alten Testament der, der die verbotene Ausfuhr von Feigen zu verhindern und anzuzeigen hatte, daher ist Sykophant gleichbedeutend mit Angeber – Denunziant. Anm. d. Übers.. Katzen sind von persischer fürstlicher Abstammung und beten Feuer, Fische und Schmeichelei an. Gänse sind Gänse ohne Unterschied der Rasse, sozusagen Kosmopoliten, und ich kenne Menschen, die, ebenfalls ohne Unterschied der Rasse, Enten sind, wozu Ihr selbst gehört. – So, und nun behauptet niemals, ich könne nicht mit schmerzendem Herzen das tollste Blech schwätzen!«

»Trotzdem,« sagte Marietta, »ist und bleibt es doch furchtbar komisch, wenn eine Kuh weint.«

»Jedenfalls ist es nicht im mindesten komisch, eine Hyäne lachen zu hören,« gab Peter zurück.

»Das habe ich noch nie gehört,« versicherte die Alte.

»Betet zu Gott, daß Ihr es nie zu hören bekommt,« riet er, »denn es macht einem das Blut gerinnen.«

» Davvero?« fragte Marietta.

» Davvero!« versicherte er.

Und mittlerweile stand immer die Kuh mit dem Kopf an seine Schulter gelehnt und weinte, weinte, weinte.

Zum Abschied streichelte er ihr noch einmal die Nase. »Lebe wohl,« sagte er, »dein Atem ist süß wie frisches Heu. Trockne deine Tränen und hoffe auf die Zukunft. Morgen komme ich wieder und sehe, wie dir's geht, und dann bringe ich dir auch gutes, schönes Viehsalz mit. Adieu!«

Aber als er am andern Morgen kam, um sich nach ihr umzusehen, fand er sie friedlich weidend, und sie fraß das Salz, das er ihr mitgebracht hatte, mit ungetrübtem, viehischem Entzücken. So schnell getröstet! Sie waren keine Leidensgefährten mehr! »Am Ende bist du doch auch eine Lateinerin,« sagte er und verließ sie mit einem Gefühl der Enttäuschung.

Noch am nämlichen Nachmittag fragte Marietta: »Möchten Sie nicht das Schloß besichtigen, Signorino?«

Er saß unter seiner Weide am Fluß und rauchte Zigaretten, eine unendliche Menge Zigaretten, um die überflüssige Zeit zu verbrennen.

Marietta deutete nach Ventirose.

»Warum?« fragte er.

»Die Familie ist fort, und in Abwesenheit der Familie ist dem Publikum gegen Vorzeigung seiner Karten die Besichtigung des Schlosses gestattet.

»Oho!« rief er. »Die Familie ist fort?«

»Ja, Signorino.«

»Aha!« rief er nochmals. »Die Familie ist fort! Das erklärt alles! – Sind sie – sind sie schon lange fort?«

»Seit einer Woche oder genauer seit zehn Tagen, Signorino.«

»Eine Woche! Zehn Tage!« Entrüstet fuhr er auf: »Ihr nichtswürdige Geheimniskrämerin, die Ihr seid. Warum habt Ihr mir kein Wort davon gesagt?«

Marietta sah ihn erschrocken an.

»Aber ich habe es ja selbst nicht gewußt,« suchte sie sich eingeschüchtert zu entschuldigen. »Ich habe es erst heute morgen im Dorf erfahren, als ich für den Signorino das Viehsalz holen mußte!«

»O, ich verstehe!« Und er sank auf seine Bank zurück. »Euch soll vergeben sein!« Dabei streckte er zum Zeichen der Verzeihung die Hand aus. »Kommen sie auch einmal wieder zurück?«

»Natürlich, Signorino!«

»Warum glaubt Ihr das?«

»Aber natürlich kommen sie zurück!«

»Ich beneide Euch um Euren schlichten Glauben! Wann?«

» Oh, fra, poco. Sie sind nur nach Rom gereist.«

»Nach Rom? Ihr macht Euch über mich lustig! Im August geht doch kein Mensch nach Rom!«

»Um Vergebung, Signorino. Viele Leute gehen zu Mariä Himmelfahrt nach Rom. Dieses Fest ist am fünfzehnten August. Nachher kommen sie wieder zurück,« behauptete Marietta fest.

»Ich ziehe meinen Einwand zurück,« erklärte Peter. »Also sie sind über das Fest Mariä Himmelfahrt nach Rom gegangen und kommen dann zurück?«

»Genau so, Signorino. Aber Sie haben das Recht, gegen Vorzeigen Ihrer Karte das Schloß zu besichtigen. Sie brauchen sich nur an den Pförtner zu wenden. Das Schloß ist großartig und prächtig. Der Ehrenhof allein ist dreißig Meter lang.«

Marietta breitete nach rechts und links die Arme aus, so weit sie reichten.

»Marietta,« fragte Peter feierlich, »ist Euch das Trauerspiel ›Hamlet‹ bekannt?«

Marietta blinzelte.

»Nein, Signorino.«

»Habt Ihr nie,« fuhr er gelassen fort, »jene berühmte Ausgabe des ›Hamlet‹ gelesen, worin der unglückliche Prinz von Dänemark aus Versehen weggelassen worden ist?«

Matt und müde, aber geduldig schüttelte Marietta verneinend ihr altes Haupt.

»Nein, Signorino,« erwiderte sie nochmals.

»Ich auch nicht,« versicherte er, »und ich möchte es auch nicht.«

Marietta zuckte die Achseln und kam dann unentwegt auf ihr Anliegen zurück.

»Wenn Sie das Schloß besuchen wollen, Signorino, so können Sie auch die Krypta sehen mit den Gräbern der Familie Farfalla, der früheren Besitzer. Sie sind alle aus schwarzem Marmor und Alabaster mit Vergoldung – sehr kostbar. Und auch die Weinkeller können Sie besichtigen. Vor vielen Jahren ist einmal ein Faß geplatzt und ein Diener im Wein ertrunken. Auch das Bett wird gezeigt, in dem Nabulione, der Kaiser von Europa, geschlafen hat, als er hier in der Gegend war. Und erst die alte Küche! Vor vielen, vielen Jahren ist einmal bei einem Sturm ein Gerippe durch den Kamin herab auf den Herd gefallen. Dann ist da aber auch noch der Fuchshof.

»In alten Zeiten gab es nämlich einmal eine große Fuchsplage hier, und die Füchse kamen wie eine große Heerschar zu Tausenden aus dem Wald herab. Und die Grafen aus dem Schloß und die Bauern und die Dorfleute – alle, alle mußten laufen wie die Hasen, denn sonst wären sie von den Füchsen aufgefressen worden. In dem Hof, den man heute den Fuchshof nennt, hat der König der Füchse seinen Hof gehalten. Dann ist auch noch der Park da und in dem Park sind Statuen, Ruinen und weiße Pfauen.«

»Was habe ich denn mit Ruinen und weißen Pfauen zu tun?« fragte Peter in tragischem Ton, als Marietta mit ihrer von zahlreichen Gestikulationen begleiteten Aufzählung zu Ende war. »Merkt Euch ein für allemal, daß ich kein Vergnügungsreisender, kein Tourist bin. Was Euer Schloß betrifft, so ladet Ihr mich in einen verödeten Festsaal ein. Was Euren Park betrifft, so sehe ich von meinem eigenen Garten aus so viel von ihm, als ich zu sehen wünsche. Schon längst habe ich erkannt, wie töricht es ist, die Dinge allzusehr aus der Nähe zu betrachten, und wie weise, sie in unbestimmter Ferne liegen zu lassen. Für den Augenblick liefert mir der Park von Ventirose den Rohstoff für meine wachen Träume. Er ist mir wie eine Art Spiegel der Gegend – ich sehe hinein, soweit ich sehe, und nicht weiter: was darüber hinausliegt, ist in Geheimnis gehüllt, ist eine terra incognita, die ich je nach meiner Laune mit Ungeheuern oder lichten Elfen bevölkern kann. Warum sollte ich mich selbst einer so unschuldigen Zerstreuung berauben?«

»Nach der Rückkehr der Familie wird aber das Publikum nicht mehr zugelassen,« versicherte Marietta, »deshalb –«

»Wenn ich meine Karte vorzeige, führt mich der Pförtner sicher nur von Enttäuschung zu Enttäuschung. Nein, ich danke Euch! Umgekehrt ließe sich die Sache eher hören: wenn das Schloß und der Park nach Rom gegangen wären und ich die Familie nach Vorweisung meiner Karte besuchen dürfte – das könnte mich eher locken.«

»Aber das wäre ja ganz unmöglich, Signorino,« sagte Marietta.


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