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Achtzehntes Kapitel

»Ich glaube, mit meiner Uhr ist etwas nicht in Ordnung,« meinte Peter am andern Tag.

In der Tat bewegten sich deren Zeiger heute mit ganz verzweifelter Langsamkeit vorwärts.

»Zu dumm, daß es gar nichts nützt, wenn man sie vorrichtet,« dachte er.

Dann zwang er sich, eine geraume Zeit verstreichen zu lassen, ehe er wieder auf die Uhr sah, indem er im Garten auf und ab rannte und eine Unmenge Zigaretten dazu rauchte. Endlich – eine Ewigkeit schien ihm verflossen zu sein – zog er das Zifferblatt wieder zu Rate – aber ach, es war knapp eine Viertelstunde verstrichen.

»Und ich bildete mir ein, Kantianer zu sein, ich unterschätzte die objektive Realität der Zeit! – Ach, du Zeit, du! Du Faulenzerin du!« Und er schüttelte die Faust.

»Ich glaube, es will niemals mehr vier Uhr werden,« fuhr er ganz verzweifelt fort und sah wieder nach der Uhr. Es war halb vier Uhr. Zornig betrachtete er das harmlose weiße Zifferblatt. »Du hast kein Herz im Leib, du hast kein Gefühl, du hast nur Räderchen und Stiftchen und Wälzchen!« rief er, zu seiner inneren Erleichterung den unschuldigen Zeitmesser scheltend; »oder bildest du dir vielleicht ein, du seiest ein teilnahmvoller Freund für einen ungeduldigen Mann?« Damit legte er die Uhr auf den Gartentisch und wartete noch einmal eine Ewigkeit. Endlich, ein Viertel vor vier Uhr, machte er sich an den Flußübergang. »Wenn ich zu früh komme – tant pis,« sagte er, von zwei Übeln das für ihn angenehmere wählend und das Schicksal herausfordernd.

Er überschritt den Fluß und stand nun zum ersten Male auf dem Grund und Boden von Ventirose – natürlich genau an der Stelle, wo sie, während ihrer Zwiegespräche über den Fluß hinüber, zu stehen pflegte. Er blickte auf sein Haus und seinen Garten zurück und betrachtete beide zum ersten Male vom Standpunkt der Duchessa aus. Unzweifelhaft gehörten beide einer verflossenen Ära an, einer weit dahinten liegenden Vergangenheit. Sie sahen klein und ärmlich aus, das zweistockige Haus und der dieses umgebende Garten. Er kehrte ihnen den Rücken zu und ließ sie hinter sich. Später würde er ja zu ihnen zurückkehren, und dann würden sie und alles vermutlich anders aussehen, denn dann hatte ja ein neues Kapitel der Weltgeschichte begonnen, etwas Großes mußte sich ereignet haben, ein Schritt vorwärts mußte getan sein. War er dann doch im Schloß Ventirose als Freund empfangen worden, war dann nicht mehr ein oberflächlicher Bekannter, der mit einem flüchtigen Kopfnicken abgefertigt wird. Dann war das Eis gebrochen – allerdings aber noch im Überfluß vorhanden –, und begann aufzutauen. Die eine Ära sank in die Vergangenheit zurück – eine neue begann.

So wandte er also der Villa Floriano den Rücken und schritt wohlgemut über die weiten Rasenflächen unter den großen Bäumen, hinter denen er sie bei vier unvergeßlichen Gelegenheiten hatte verschwinden sehen, dem unregelmäßigen pittoresken Schlosse zu. Die ältesten Teile des Gebäudes glichen einer alten Festung mit runden Türmen, Schießscharten und dergleichen und waren ganz von Efeu überwuchert; daran schlossen sich spätere Anbauten mit Erkern und breiten, mit verwaschenen, abgeblaßten Fresken bemalten Flächen zwischen den einzelnen Fenstern, aber dann kamen ganz moderne Teile aus blendend weißem Marmor – hell, freundlich, wohnlich und schön und – wie Peter meinte – ganz die richtige Behausung für sie.

Und während er so auf das Schloß zuschritt, klang ihre Stimme in Peters Ohr und abgerissene Teile ihrer Unterhaltungen und Äußerungen, die sie getan, kehrten in seine Erinnerung zurück.

*

Ein Teil der langen, breiten Marmorterrasse war zu einer Art Wohnraum unter freiem Himmel eingerichtet worden. Eine weiße Markise breitete sich darüber, buntfarbige Teppiche deckten die Fliesen, bequeme Schaukel- und Lehnstühle mit seidenen Kissen standen ringsum, und auch ein kleiner Tisch mit Büchern und allerlei Gebrauchsgegenständen war vorhanden.

Aus einem der Schaukelstühle erhob sich die Duchessa und trat ihm lächelnd entgegen, um ihn willkommen zu heißen. Sie reichte ihm die Hand – zum ersten Male.

Sie war warm, diese Hand – elektrisierend warm, und sie war so lind und so weich, so fest und so lebensvoll, und es verlangte Peter, sich über sie zu beugen und sie mit seinen Lippen zu berühren. Der italienischen Sitte nach hätte er dies auch tun dürfen, aber natürlich er, der Engländer, verneigte sich nur und gab sie frei.

» Mi trova abbandonnata,« sagte sie, ihn ans Ende der Terrasse zurückführend. Ihre Stimme klang ganz besonders voll, wenn sie Italienisch sprach; sie dehnte die Vokale und schleppte die Konsonanten so sammetweich wie eine Italienerin, aber sie war keine Italienerin! Gott sei Dank, sie war eine Engländerin, und so verlieh ihr diese Art zu sprechen nur einen Reiz weiter.

»Mein Onkel und meine Nichte sind ins Dorf gegangen, aber sie können jeden Augenblick zurückkommen. So lange müssen Sie warten auf – Ihre Prise.«

Mit einem heiteren Lächeln blickte sie ihm in die Augen; dann kehrte sie zu ihrem Schaukelstuhl zurück, und Peter ließ sich, ihrer Aufforderung folgend, ihr gegenüber nieder. Sie lehnte den Kopf auf ein rotseidenes Kissen zurück.

Peter sandte ein stilles Gebet zum Himmel empor, der Onkel und die Nichte möchten für den Rest des Nachmittags durch irgend einen gütigen Zufall im Dorf zurückgehalten werden. Mit der Bezeichnung »Nichte« schien sie Emilia zu meinen, und Peter liebte sie um dieses Euphemismus willen nur um so mehr. »Welch herrliches Haar sie hat!« dachte er und betrachtete die lose, üppige, braune Haarmasse, die sich von dem roten Kissen abhob.

»O, ich habe Übung im Warten,« erwiderte er in Erinnerung an die unendlichen Stunden vergeblichen Harrens, die ihm in den vergangenen, nicht endenwollenden Tagen beschieden gewesen waren.

Die Duchessa hatte einen Fächer vom Tisch genommen und spielte damit, indem sie ihn lässig öffnete und wieder zusammenklappte. Nun sah sie, daß Peters Augen auf ihm ruhten, und reichte ihn ihm hinüber. (Vermutlich hatte Peters Aufmerksamkeit mehr ihren Händen als dem Fächer gegolten, aber das ist ja weiter nicht von Belang.)

»Ich habe ihn neulich in Rom aufgegabelt,« sagte sie. »Es ist natürlich nur eine Nachahmung der französischen Fächer vom Ende des achtzehnten Jahrhunderts, aber ich finde ihn hübsch.«

Der Fächer war aus gelblich angehauchter weißer Seide gefertigt, auf der eine Menge weißer rundlicher Liebesgötterchen zwischen blassen Wolken ihr Wesen trieben. Das Gestell bestand aus Perlmutter und die Deckstäbe waren mit großen und kleinen Opalen eingelegt, die in rot und grünem Feuer funkelten.

»Wirklich sehr hübsch,« erklärte Peter, »und sehr eigenartig. Er sieht aus wie ein großer Schmetterlingsflügel. Aber fürchten sich Durchlaucht nicht vor Opalen?«

»Vor Opalen fürchten?« wiederholte die Duchessa erstaunt. »Warum denn?«

»Jedem, der nicht seinen Geburtstag im Oktober feiert, sollen sie Unglück bringen, sagt man,« erklärte er ihr.

»Mein Geburtstag fällt in den Juni – aber ich glaube niemals, daß etwas so Hübsches wie ein Opal Unglück bringen kann,« sagte sie lachend, indem sie den Fächer wieder zur Hand nahm und mit der Fingerspitze auf einen der größten Opale tippte.

»Sind Durchlaucht gar nicht abergläubisch?« fragte er.

»Hoffentlich nicht – ich glaube es wenigstens nicht. Wir dürfen nicht abergläubisch sein, wir Katholiken.«

»O,« erwiderte er überrascht, »das habe ich gar nicht gewußt.«

»Ja, das ist für uns ein verbotener Luxus. Aber Sie –? Sind Sie abergläubisch? Würden Sie sich vor Opalen fürchten?«

»Ich bezweifle, daß ich den Mut hätte, einen zu tragen. Jedenfalls betrachte ich den Aberglauben nicht im Licht eines Luxusartikels. Ich wäre froh, wenn ich jeden los wäre, den ich habe, denn es ist etwas sehr Lästiges. Aber ich kann es mir nicht aus dem Sinn schlagen, daß die Luft von einem Schwarm boshafter kleiner Teufelchen erfüllt ist, die bloß auf die günstige Gelegenheit lauern, uns einen Possen zu spielen. Wir kennen ja die Voraussetzungen nicht, unter denen ihnen dies möglich ist, aber das steht fest, daß wir ihnen die Gelegenheit dazu bieten, wenn wir Opale tragen, zu dreizehn bei Tische sitzen oder gar am Freitag eine Reise oder sonst etwas Wichtiges unternehmen. Und natürlich hält man sich lieber auf der sicheren Seite und setzt sich nicht unnötig einer Gefahr aus.«

Nachdenklich blickte sie ihn an, dann fragte sie etwas zweifelnd: »Aber Sie glauben dies doch nicht im Ernst?«

»Nein, ich glaube es nicht im Ernst. Aber man hört diese Dinge schon in der Kinderstube, und dann bleiben sie an einem hängen. Ich glaube nicht daran, aber ich fürchte diese Dinge hinlänglich, um mich unbehaglich dabei zu fühlen. Nehmen wir nur zum Beispiel den bösen Blick. Wie kann man sich auch nur vorübergehend in Italien aufhalten, wo sich jedermann mit Zaubermitteln behängt, die ihn davor schützen sollen, und nicht wenigstens mit einem bißchen Halbglauben angesteckt werden.«

Lachend schüttelte sie den Kopf.

»Ich habe ein gut Teil meines Lebens in Italien verbracht, aber ich habe nicht einmal einen ›Viertelsglauben‹ daran.«

»Da beneide ich Durchlaucht um Ihre Seelenstärke! Aber wenn auch der Aberglaube ein den Katholiken verbotener Luxus ist, so gibt es trotzdem wohl eine ganze Menge guter Katholiken, die darin schwelgen, oder nicht?«

»Es gibt überhaupt nicht viele gute Katholiken,« entgegnete sie; »Sie bedienen sich eines vielfach mißbrauchten Ausdruckes. Sich zum katholischen Glauben bekennen, am Sonntag eine Messe hören und am Freitag kein Fleisch essen, das genügt keineswegs dazu, ein guter Katholik zu sein. Um ein guter Katholik zu sein, müßte man nichts mehr und nichts weniger sein als ein Heiliger, aber ein ganzer wirklicher Heiliger, ein Heiliger im Denken und Empfinden ebenso wie in Worten und Taten. Gerade so weit, als man abergläubisch ist, ist man ein schlechter Katholik. O, wenn die Welt nur von guten Katholiken bevölkert wäre, dann hätten wir das goldene Zeitalter.«

»Das wäre der Fall, wenn sie von guten Christen bevölkert wäre, wollen Durchlaucht wohl sagen, nicht wahr?«

»Diese Begriffe lassen sich nicht trennen,« erwiderte sie mit einem lieblichen, halb drolligen, halb herausfordernden Blick.

»Danke schön!« rief er. »Kann ein Protestant denn nicht auch ein guter Christ sein?«

»O ja,« sagte sie, »weil ein Protestant sehr wohl Katholik sein kann, ohne es zu wissen.«

»Oh – –?« machte er, erstaunt die Stirne runzelnd.

»Die Sache liegt ganz einfach,« erklärte sie. »Sie können kein Christ sein, ohne Katholik zu sein. Aber wenn Sie alles in sich aufgenommen haben, alles glauben, was Sie von dem christlichen Glauben erfahren und lernen konnten, wenn Sie sich bestreben, in Übereinstimmung mit den christlichen Sittengesetzen zu leben, so sind Sie Katholik, so sind Sie ein Glied der alleinseligmachenden katholischen Kirche, auch wenn Sie es gar nicht wissen. Niemand kann Sie, wie Sie sehen, um Ihr Geburtsrecht bringen!«

»Das klingt so tolerant und man hat doch immer gehört, daß der Katholizismus engherzig und unduldsam sei.«

»Wie könnte er ›katholisch‹ sein, wenn er engherzig und unduldsam wäre? Jedenfalls wird ein einsichtsvoller Protestant, der logisch denkt, nicht lange ein unbewußter Katholik bleiben. Wenn er die Materie studiert und logisch ist, so wird er bald den Wunsch hegen, sich mit der Kirche in ihrer verkörperten Gestalt zu vereinen. Sehen Sie nur England an! Sehen Sie nur, wie dort die Logik von Jahr zu Jahr die Zahl der Konvertiten vermehrt.«

»Aber es ist ja der Stolz der Engländer, unlogisch zu sein,« sagte Peter lachend. »Unsre Eigentümlichkeit, gegebenen Prämissen nicht bis zu ihren Konsequenzen zu folgen, ist die Quelle unsrer nationalen Größe. Die große Masse des englischen Volkes wird noch auf Jahrhunderte hinaus der Konversion widerstreben. Oder glauben Sie nicht? Und dann ist man heutzutage meistens sehr indifferent in religiösen Dingen – und der Katholizismus ist so anspruchsvoll. Schon aus Bequemlichkeit bleibt man Protestant.«

»Und – wenigstens ein gut Teil der Engländer – aus Freude daran, in seinem eigenen Boot zu segeln, um nicht mit einem Haufen von Fremden, von ausländischen Sündern vermischt zu werden – oder nicht?« gab sie zurück.

»O, natürlich! Wir sind Insulaner und Pharisäer.«

»Und die Gleichgültigkeit ist wahrscheinlich der Jugend und Unerfahrenheit zuzuschreiben. Man kann sich nicht mit den Wirklichkeiten des Lebens – mit Kummer, Freude, Versuchung, Sünde und Tugend, mit Tod und Wiedergeburt der Seele, mit all den schmerzlichen, wunderbaren Wirklichkeiten des Lebens abfinden – und doch in religiöser Beziehung gleichgültig, innerlich unberührt bleiben. Oder meinen Sie?«

»Wenn man dazu gelangt, sich mit all den schmerzlichen, wunderbaren Wirklichkeiten des Lebens abzufinden, so bekommt man allerdings religiöse Anwandlungen,« gab Peter zu, »aber sie sind doch meistens ziemlich flüchtiger Natur, nicht wahr?«

»Aber man kann sie hegen und pflegen und großziehen! Wenn Sie eine gute Katholikin kennen lernen wollen, so sehen Sie meine Mündel Emilia an – die ist eine. Sie will barmherzige Schwester werden und ihr Leben der Krankenpflege widmen.«

»Oh! Wäre dies nicht schade? Sie ist so außergewöhnlich hübsch: ich wüßte nicht, daß ich je schönere braune Augen gesehen hätte als die ihren.«

»Nun, ich denke, in wenigen Jahren werden diese schönen braunen Augen unter der weißen Haube einer barmherzigen Schwester hervorschauen. Nein, ich glaube nicht, daß es schade ist. Nonnen und Schwestern sind meiner Ansicht nach die glücklichsten Menschen der Welt – außer den Priestern. Haben Sie je einen Menschen getroffen, der Ihnen einen so glücklichen Eindruck gemacht hätte wie zum Beispiel mein Onkel?«

»Ganz sicherlich habe ich nie jemand getroffen, der einen gütigeren, liebenswürdigeren Eindruck auf mich gemacht hätte. Er hat ein wunderbar schönes altes Gesicht.«

»Er ist überhaupt ein wundervoller alter Mann. Ich versuche, ihn für den Rest des Sommers hier gefangen zu halten, obgleich er nur für eine Woche hat herkommen wollen. Er überarbeitet sich in Rom. Er ist meines Wissens der erste und einzige Kardinal, der sich an der Seelsorge seiner Titularkirche persönlich betätigt. Aber hier auf dem Land bewegt er sich in Gesellschaft Emilias den ganzen Tag im Freien. Ich glaube, er ist noch so jung wie sie. Sie spielen zusammen wie Kinder, so daß ich mir dabei vorkomme wie eine Großmutter.«

Peter lachte. Zufällig ließ er seine Blicke das Tal entlang schweifen. »Holla!« rief er, »da hat irgend jemand unsern Schneeberg grün angemalt!«

Die Duchessa wandte sich um und stieß ebenfalls einen Ruf der Verwunderung aus.

Durch irgend einen zufälligen Reflex leuchteten die Schneeflächen des Monte Sfiorito in hellem Smaragdgrün. Schweigend und bewundernd schauten beide hin – es war ein ebenso erstaunlicher als schöner Anblick.

»Nichts in der Welt versteht es so gut, unter falscher Flagge zu segeln, als diese Schneeberge,« sagte Peter, »ich habe sie noch in jeder Farbe des Regenbogens gesehen, ausgenommen ihrer eigenen – Weiß.«

»Sie müssen die armen Dinger nicht darum schelten,« bat die Duchessa, »sie können ja nichts dafür. Das ist nur Schuld der Entfernung, der Atmosphäre und der Sonne.«

Sie klappte ihren Fächer, mit dem sie während des Gesprächs lässig gespielt hatte, zusammen und legte ihn auf den Tisch. Unter einer Anzahl Bücher – es waren meistens die bekannten gelbbroschierten französischen Bände – bemerkte er nicht ohne ein Gefühl geschmeichelter Eitelkeit den grau und goldenen Einband von »Ein Mann des Wortes«.

Die Duchessa fing seinen Blick auf.

»Ja,« sagte sie, diesen beantwortend, »der Roman Ihres Freundes. Ich sagte Ihnen ja, daß ich ihn noch einmal gelesen habe.«

»Ja,« bestätigte er.

»Und – wissen Sie, ich bin geneigt, mich mit Ihrer eigenen begeisterten Anerkennung einverstanden zu erklären. Ich halte das Buch für außerordentlich, aber ganz außerordentlich geistreich ... und mehr als dies, für ganz reizend, ganz entzückend schön! Es hat in Wahrheit die verhängnisvolle Gabe der Schönheit.« Und ihr Lächeln erinnerte ihn daran, daß sie seine eigenen Worte anführte.

»Ja,« sagte er wieder.

»Aber,« fuhr sie fort, »seine Schönheit liegt nicht offen da, sie springt einem nicht in die Augen, sie liegt nicht an der Oberfläche, sie liegt in der Tiefe, auf dem Grund. Man muß sie suchen, sie entdecken.«

»Man muß immer suchen, um Schönheit zu finden, die des Sehens wert ist,« warf Peter, vorsichtig verallgemeinernd, ein, aber dann, als er erst den Fuß im Bügel hatte, ging sein Steckenpferd mit ihm durch, und er fuhr fort: »Um etwas schön zu machen, bedarf es zweier Dinge – es gehören zweie dazu: das Auge des Beschauers sowohl, als die Hand des Künstlers. Der Künstler tut das Seine – der Beschauer muß dies ebenfalls tun: sie sind Mitarbeiter und müssen einander ebenbürtig sein und einander ergänzen. Die Kunst ist, kurz gesagt, eine Sache der Gegenseitigkeit. Der Art von Schönheit, die einem in die Augen springt, wird man bald überdrüssig und ihre Wirkung geht nicht tiefer als die Haut, und darum ist sie nicht wirkliche Schönheit, sondern nur ein Schein, ein Annäherungsversuch.«

Die Augen der Duchessa lächelten, aus ihrem Gesicht sprach freundliche Anteilnahme, und darein mischte sich vielleicht ein ganz, ganz klein wenig Spott – aber Interesse und Anteilnahme hatten weitaus das Übergewicht.

»Ja,« gab sie zu. Aber dann verfolgte sie ihren eigenen Ideengang weiter: »Und in einem stimme ich ganz mit Ihnen überein, vor allem ist mir die Heldin Pauline lieb geworden! Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie lieb sie mir ist! Es mag übertrieben lauten, aber ich versichere Ihnen, in der ganzen Romanliteratur kenne ich keine zweite Frauengestalt, die mir so lieb ist, die mich in so eigentümlicher Weise persönlich anspricht. Ihr Witz, ihre Wunderlichkeiten, ihr Eigensinn – ihr Edelmut, ihre Liebe – alles mutet mich so merkwürdig persönlich an. Wie ist Ihr Freund zu dieser Auffassung von ihr gekommen? Sie ist mir wahrscheinlicher, vertrauter als irgend ein Weib, das ich je gekannt habe oder kenne. Ich weiß: sie lebt, sie muß leben, denn sie ist das lebendigste Wesen, das lebt. Das Leben wäre bedeutend angenehmer, als es in Wirklichkeit ist, wenn man Frauen wie sie kennte. Sie scheint mir all das zu sein, was eine ideale Frau sein soll. Kennt Ihr Freund eine Frau wie diese – ist er so glücklich? Oder ist Pauline trotz all ihrer überzeugenden Lebenstreue nur ein Geschöpf seiner Einbildungskraft?«

»Ach,« erwiderte Peter lachend, »damit berühren Durchlaucht den geheimen Ausgangspunkt von meines Freundes Eingebung oder Begeisterung – wie Durchlaucht wollen. Dies ist eine Geschichte für sich. Felix Wildmay ist der richtige, alltägliche Engländer. Wie könnte also ein Wesen wie Pauline das Geschöpf seiner Einbildungskraft sein? Nein – er hat sie gesehen – sie war das lebende Modell. Gott hat sie erschaffen, Wildmay war nur der Kopist. Er hat sie tant bien que mal ganz nach dem Leben gemalt, nach einem Weib, das tatsächlich auf dieser traurigen Erde wandelt – aber das ist eine Geschichte für sich.«

Die Augen der Duchessa fragten begierig.

»Die Geschichte – erzählen Sie mir die Geschichte!« sagte sie fast atemlos, mit herrischem Verlangen.

»Ach,« entgegnete Peter, »das ist eine von den Geschichten, die sich kaum erzählen lassen – es ist gar nichts Greifbares dabei. Die Sache hat nicht Hand, nicht Fuß – es ist ganz subjektiv – ein Drama aus Gemütszuständen bestehend. Pauline war wohl etwas ›Gesehenes‹, aber sie war nichts ›Gekanntes‹ – sie war etwas ›Erratenes‹. Wildmay hat sie nie gekannt, hat nie ihren Namen erfahren, nie gewußt, wer sie ist, nicht einmal welcher Nationalität sie angehört, und trotzdem hat er, wie wir aus dem Buch ersehen, erraten, daß sie von Geburt Engländerin, aber an einen Franzosen verheiratet ist. Er hat sie nur etwa sechsmal aus der Entfernung gesehen. Er sah sie zweimal in Paris, im Theater und in der Oper, dann später zweimal in London und schließlich wieder in Paris im Bois. Das war alles – aber es war mehr als genug. Ihre ganze Erscheinung – ihr Gesicht, ihre Augen, ihr Lächeln, ihre Haltung, die Art, ihren Kopf zu tragen, ihre Gebärden, ihre Bewegungen, ihre Kleidung – ihre Stimme hörte er nie –, kurzum ihr ganzes Selbst machte auf ihn einen Eindruck, wie es bisher dem gesamten weiblichen Geschlecht, soweit er es kannte, nicht gelungen war. Sie war so außerordentlich lieblich, sah so vornehm, so edel aus! Ihr Gesicht, ihre Gestalt hatten einen Ausdruck! Ein Geist, ein feuriger, berauschender Geist sprach aus allem! Andre Frauen erschienen wie lebloser, seelen- und wesenloser Staub neben ihr! Sie glich einem verheißungsvollen, vielversprechenden Garten. Witz, Launenhaftigkeit, Edelmut, Gemüt – wie Sie selbst gesagt haben – dies alles war da. Ja, wirklich alles war da, war in ihr vereinigt: Rasse, Lebenskraft und hauptsächlich Weiblichkeit, denn in erster Linie war sie Weib, ganz Weib! In ihr lebte eine wunderbare, eine starke Seele, und Wildmay sah und fühlte dies. Er kannte sie nicht, konnte nicht die mindeste Hoffnung hegen, sie kennen zu lernen, und trotzdem kannte und verstand er sie besser, als irgend jemand anders in der ganzen weiten Welt. Sie wurde der Mittelpunkt all seiner Gedanken, die Heldin all seiner Träume. In einem Wort gesagt: sie ward der bestimmende Inhalt seines ganzen Lebens.«

Während er sprach, hingen die Augen der Duchessa mit unverminderter Aufmerksamkeit an seinen Lippen. Nun er zu Ende war, blickte sie eine kleine Weile sinnend vor sich hin. Endlich sah sie wieder auf.

»Das ist das Merkwürdigste, was ich je gehört habe,« erklärte sie, »das Merkwürdigste – und Romantischste – und Interessanteste. Aber – aber –« sie zögerte und wußte nicht, welche der vielen Fragen, die sich ihr auf die Lippen drängten, sie zuerst aussprechen sollte.

»O, diese Geschichte ist eine ganze Kette von Abers,« warf Peter lachend ein.

Sie ließ diese Bemerkung unbeachtet – sie hatte die Wahl unter ihren Fragen getroffen.

»Aber wie konnte er diese Lage ertragen,« wollte sie wissen, »wie konnte er stillhalten und dies über sich ergehen lassen? Versuchte er denn auf keine Weise – bemühte er sich gar nicht darum – ihr – ihr nachzuspüren, zu erfahren, wer sie war – ihr vorgestellt zu werden? Man sollte denken, es habe ihm keine Ruhe gelassen – er hätte Himmel und Erde in Bewegung gesetzt!«

»Was konnte er denn tun? Sagen Durchlaucht mir nur irgend etwas, das er hätte tun können,« erwiderte Peter. »Für einen derartigen Fall sind keine gesellschaftlichen Regeln vorgesehen. Es ist abgeschmackt – aber es ist so. Sie sehen irgendwo eine Frau; Sie wünschen sehnlichst, sie kennen zu lernen, und es besteht keine natürliche Schranke zwischen Ihnen, die das unmöglich machen würde: Sie sind ein gesellschaftsfähiger Mann, sie ist, was man eine Dame nennt, beide gehören bis zu einem gewissen Grad der nämlichen Gesellschaftsklasse an, und doch ist es Ihnen unmöglich, sie kennen zu lernen, falls nicht ein günstiger Zufall einen gemeinschaftlichen Bekannten herbeiführt, und zwar zur rechten Zeit und am rechten Ort. In Wildmays Fall hielt es nun die Vorsehung für angezeigt, alle etwaigen gemeinschaftlichen Bekannten hübsch in Entfernung zu halten. Bei jeder Begegnung mit ihr war er allein, niemand war vorhanden, den er hätte bitten können, ihn vorzustellen, niemand, bei dem er Auskunft über sie hätte erlangen können. Er konnte auch nicht wohl ihren Wagen durch die Straßen verfolgen und ihre Wohnung ausschnüffeln wie ein Detektiv. Also – was dann?«

Wieder spielte die Duchessa mit ihrem Fächer.

»Nein,« gab sie zu, »es scheint ja aussichtslos gewesen zu sein, aber für den armen Mann recht widerwärtig und peinlich.«

»Jedenfalls war der arme Mann auch dieser Meinung,« erwiderte Peter, »er grämte und ärgerte sich und leckte gegen den Stachel. Hier und dort, wo es gerade war, erfreute er sich an ihrem flüchtigen Erscheinen, bis sie ihm wieder entschwand. Schließlich mußte er sich auf irgend eine Weise Luft machen, und so entschloß er sich, ein Buch über sie zu schreiben. Er entwarf sich ein geistiges Bild von ihr und übertrug es auf Pauline. Auf diese Weise verbrachte er täglich, an seinem Schreibtisch sitzend, viele wonnige Stunden allein mit ihr, in einer Art metaphysischer Vertraulichkeit. Niemals hatte er ihre Stimme gehört, aber nun vernahm er sie so oft, als Pauline ihre Lippen öffnete. Sie war sein eigen – er besaß sie – sie lebte mit ihm unter seinem Dach – sie harrte seiner in seinem Arbeitszimmer. Sie kommt Ihnen so wirklich, so wahrscheinlich vor? Für ihn war sie ganz unsagbar, ganz wunderbar wirklich. Er sah sie, er kannte und fühlte sie, er verwirklichte sie sich, er verfolgte ihr Denken und Fühlen bis in die kleinsten Einzelheiten ihres Gemütes, ihrer Persönlichkeit, ihrer Seele, bis zum Tonfall ihrer Rede, – bis zu den Adern an ihrer Hand und den Ringen an ihren Fingern – bis zu ihrem Pelzwerk und ihren Spitzen, bis zum Rascheln ihrer Röcke, bis zum Duft ihrer Taschentücher. Ich glaube, er hat beinahe die Haare gezählt auf ihrem Haupt.«

Wieder sann die Duchessa eine Weile schweigend vor sich hin, öffnete und schloß den Fächer in ihrem Schoß und blickte auf die Opale.

»Ich betrachte die Sache vom Standpunkt des Weibes aus,« sagte sie dann nach einiger Zeit. »Eine solche Rolle in eines Mannes Leben gespielt zu haben, und keine Ahnung davon zu haben! Wahrscheinlich auch nicht einmal geträumt zu haben, daß ein derartiger Mann vorhanden sei – denn es ist ganz leicht möglich, daß sie ihn bei den wenigen Gelegenheiten, wo er sie sah, gar nicht einmal bemerkt hat. Und die Heldin eines solchen Romans zu sein, und davon nichts, rein gar nichts zu wissen! Zu einem solchen Buch, zu einem solch schönen Buch begeistert zu haben, und selbst gar nicht zu ahnen, daß ein solches Buch überhaupt vorhanden ist! O, ich glaube, vom Standpunkt der Frau aus ist die Sache noch viel merkwürdiger als von dem des Mannes. Es liegt etwas beinahe Furchtbares darin! Einen derartigen gewaltigen Einfluß haben auf das Leben eines Mannes, von dessen Dasein man gar nie etwas gehört hat! Das ist eine Art ungreifbarer, unfaßbarer Verantwortung!«

»Vielleicht handelt es sich aber auch,« sagte Peter, »um eine Art ungreifbarer, unfaßbarer Freiheit, die man sich erlaubt hat. Ich kann ehrlicherweise nicht bestreiten, daß Wildmay sich sehr ungeniert hat gehen lassen. Diese selbstverständliche Art, das Sein und Wesen einer andern Person, einer ihm völlig Fremden zu zergliedern, sucht doch ihresgleichen. Aber Künstler sind ja bekanntlich die rücksichts- und grundsatzlosesten Leute von allen, die ungehängt herumlaufen. Ils prennent leur bien là où ils le trouvent

»O nein,« erwiderte die Duchessa, »es war ehrlich Spiel! Man darf das Zartgefühl auch nicht zu weit treiben. Er hatte wohl das Recht, seine Entdeckung auszubeuten – denn im Grund genommen war es eine Entdeckung – oder etwa nicht? Sie haben selbst gesagt, wie wesentlich in solchen Dingen das Auge des Beschauers das › sehende Auge‹ ist. Meiner Ansicht nach spricht die ganze Sache ungemein für Mr. Wildmay. Es wird, glaube ich, nicht viele Männer geben, die einer solchen rein geistigen Leidenschaft fähig sind – man kann doch sein Empfinden für sie nicht wohl anders als mit dem Wort ›Leidenschaft‹ bezeichnen? Diese Empfindung beweist, daß er weit über dem Alltäglichen steht – er kann unmöglich ein Materialist sein. Aber – aber es könnte einem das Herz brechen bei dem Gedanken, daß er nie mit ihr zusammentraf.«

»O,« rief Peter, »die Geschichte hat eine Fortsetzung! Schließlich haben sie sich ja doch noch getroffen.«

»Er hat sie getroffen!« rief die Duchessa mit dem lebhaftesten Interesse, das auch aus ihren leuchtenden Augen sprach. »Er hat sie getroffen! Das müssen Sie mir des langen und breiten erzählen!«

Gerade in diesem kritischen Augenblick erschien der Kardinal mit Emilia.

»Vertrackt!« rief die Duchessa leise. Dann sagte sie, zu Peter gewandt, laut: »Das muß nun für ein andermal bleiben – vorausgesetzt, daß ich nicht vorher aus Neugierde sterbe!«

Nachdem die herkömmlichen Begrüßungen ausgetauscht waren, gesellte sich ein andrer älterer Geistlicher zu ihnen: ein großer, kräftiger, blühender Mann, der Peter als Monsignore Langshawe vorgestellt wurde.

»Dies ist also ihr wirklicher Schloßkaplan,« sagte sich Peter. Dann brachte ein Diener den Tee.

»O du Schlauberger, du Schlauberger! Was hättest du angestellt, wenn wir nicht rechtzeitig unterbrochen worden wären,« schalt sich Peter aus, als er bei Sonnenuntergang heimwärts wanderte. »Um ein Haar hättest du die Katze aus dem Sack gelassen und damit alles verdorben!«

Und er schüttelte sich wie jemand, der einer großen Gefahr entgangen ist, schwelgte aber trotzdem in einem gewissen Siegesgefühl. Alles, was er gehofft hatte, ja viel mehr, als er je zu hoffen gewagt, war in Erfüllung gegangen. Nicht nur war er in Ventirose auf freundschaftlichem Fuß empfangen worden – sie hatte ihn auch ermutigt, ihr einen Teil der Geschichte zu erzählen, durch die ihrer beider Leben in so merkwürdiger Weise miteinander verknüpft wurde – und er war der Gefahr entgangen, ihr zu viel zu sagen. Noch war der Tag nicht angebrochen, an dem er in voller Sicherheit wagen konnte, zu erklären: » Mutato nomine ...« Ob dieser Tag wohl jemals kommen würde? Mochte dies gehen, wie es wollte – mittlerweile hatte er das Gefühl, ein gut Teil vorwärts gekommen zu sein, weil er ihr wenigstens den Beginn der Geschichte hatte erzählen dürfen.

»Die Stunde, nach der sich unser Zeitalter sehnt, liegt vielleicht nicht mehr so ferne, als Ihr denkt,« sagte er abends zu Marietta. »Der Vorhang ist aufgezogen zum dritten Akt, und ich bilde mir ein, den Anfang vom Ende in weiter Ferne heraufdämmern zu sehen.«


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