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Er überschritt den Aco.
Er überschritt den Aco und eilte über die sammetweichen Wiesen, unter den schattenspendenden Bäumen dem Schlosse zu.
Die Sonne ging unter. Der unregelmäßige Gebäudekomplex hob sich in allen möglichen Schattierungen in Blau von allen möglichen Schattierungen in Rot ab.
Peter mochte etwa die Hälfte seines Weges zurückgelegt haben, als er stehenblieb und zurückblickte.
Die Strahlen der sinkenden Sonne übergossen die schwarzen Wälder auf dem Gnisi mit bronzefarbenem Glanz und verwandelten den Wasserfall, der sich an seiner Flanke hinabstürzte, in flüssiges Gold. Der größte Teil des Sees lag im Schatten und schimmerte blaugrau durch perlmutterfarbenen Dunst; am Ufer gegenüber lag er noch im Licht und gleißte wie rötlich angehauchtes Quecksilber. Die drei schneebedeckten Spitzen des Monte Sfiorito, der das Tal abschloß, hoben sich von dem tiefblauen, klaren Himmel, in rosigem Duft verschwimmend, ab wie unirdische, zerfließende Gebilde.
In Peters Erinnerung tauchte der erste in der Villa Floriano verlebte Spätnachmittag lebhaft wieder auf. Und in diese Erinnerung hinein erklang genau wie damals plötzlich die Frage: »Keine üble Aussicht, nicht wahr?«
Hastig drehte Peter sich um.
Auf einer Marmorbank, unter einer gefiederten Akazie, saß wenige Schritte hinter ihm eine Dame, die ihm lächelnd in die Augen blickte.
Peters Augen begegneten den ihren – plötzlich stockte sein Herzschlag – dann setzte er in rasendem Tempo wieder ein – aus den triftigsten Gründen von der Welt. In ihren Augen lag ein Ausdruck, ein Schimmer, eine Innigkeit, daß es schien – doch darum gerade dreht sich diese Geschichte.
Die Dame war in Weiß gekleidet und hatte einige große goldgelbe Chrysanthemen in den Gürtel gesteckt. Einen Hut hatte sie nicht auf. Ihr braunes, warm getöntes Haar erglänzte im Licht wie gesponnene Seide.
»Ich hoffe, Sie finden die Aussicht auch recht hübsch,« fragte sie nochmals und zog dabei die Brauen mit einem drolligen Ausdruck von Besorgnis in die Höhe.
»Ich besann mich eben, ob man sie nicht ruhig als sehr schön bezeichnen könnte,« erwiderte Peter.
»Oh –?« rief sie aus.
Sie warf den Kopf in den Nacken und betrachtete die Gegend mit kritischem Blick.
»So kommt sie Ihnen nicht allzu grotesk, zu theatralisch vor?«
»Wir müssen sie mit freundlicher Nachsicht beurteilen – schließlich ist sie doch nur unverfälschte Natur. Übrigens liegt über der ganzen Landschaft ein Zauber, ein Duft, den wir bei einer Bühnendekoration wohl vergeblich suchen würden.«
»Ja – das mag sein,« stimmte sie zu.
Dabei sahen sie sich an und lachten. Nach kurzem Schweigen fragte die Dame: »Sind Sie sich auch bewußt, daß wir heute einen besonders lieblichen Abend haben?«
»Ich habe Gründe genug, dies zu finden,« antwortete Peter mit einer ausdrucksvollen Verbeugung.
Über der Duchessa Antlitz – die fines mouches unter den Lesern werden wohl schon vermuten, daß die geheimnisvolle Dame niemand anders ist, als sie – huschte es wie ein Blitz des Verstehens, aber sie sprach gelassen weiter: »Wie still und ruhig es ist – wie eine Abendandacht des zur Rüste gehenden Tages. Es ist, als ob die Erde den Atem anhielt – die Vögel sind zu Neste geflogen, obgleich die Sonne eben erst untergeht. Sonst sind sie um diese Zeit am lautesten, aber sie fühlen schon das Nahen des Herbstes. Können Sie dies erklären? Es gibt noch keinen Frost, es ist sogar heiß, und doch weiß man, daß der Herbst da ist. Auch die Vögel wissen es und sind zu Bett gegangen. Noch einen Monat, und sie fliegen davon, weit fort nach Afrika, nach den Hesperiden. Alle gehen und wandern, nur die Spatzen bleiben. Ich möchte übrigens wissen, wie sie durch den Winter kommen, wo sie doch dann den Distelfinken das Futter nicht mehr wegschnappen können?« Fragend blickte sie zu Peter auf.
»O, da schnappen sie eben einander die Bissen vor dem Schnabel weg,« erklärte dieser. »Der Dieb bestiehlt den Dieb, wenn keine ehrlichen Leute um den Weg sind. Und – übrigens müssen sie ihre Schnäbel in Übung halten bis zur Rückkehr der Distelfinken im Frühjahr.«
»Ja,« erwiderte die Duchessa, »die Distelfinken kommen im Frühjahr zurück, aber ich finde das eigentlich dumm von ihnen. Wenn ich ein Distelfink wäre, würde ich meinen ständigen Wohnsitz im spatzenlosen Süden aufschlagen.«
»Es gibt keinen spatzenlosen Süden,« berichtigte Peter. »Spatzen gibt es unter jedem Breitegrad. In Afrika und auf den Hesperiden fallen sie, wie Reisende berichten, ganze Karawanen an, hacken den Kamelen die Augen aus und sollen sogar Männer in ihren Fängen davongetragen haben. Nein, einen spatzenlosen Süden gibt es nicht. Das was die Distelfinken zurückführt, ist der nämliche Instinkt, der auch uns Zweifüßler bewegt, immer wieder zu irgendwem oder irgendwohin zurückzukehren – selbst wenn man sich die heiligsten Eide abgelegt hat, wegzubleiben.«
Den letzten Satz betonte er auffallend und begleitete ihn mit einem ausdrucksvollen Blick. Aber die Duchessa schien nichts zu merken.
«Ja – ja – so ist's,« stimmte sie ihm lässig bei. »Und was Sie mir von den Sperlingen auf den Hesperiden erzählen, ist mir neu und wirklich interessant – falls es kein Jägerlatein ist.«
Beide lachten.
Die Duchessa rückte ein wenig zur Seite, und nun wurde auf der Marmorbank ein rot und goldenes Wappenschild sichtbar. Sie tippte mit dem Finger auf das Wappen.
»Haben Sie Interesse für sprechende Wappen?« fragte sie. »Kein andres Land ist daran so reich wie Italien. Dies ist das Wappen der Farfalla, der ursprünglichen Besitzer dieses Gutes. Zwanzig rote Rosen auf goldenem Grund, darüber ein Schmetterling mit ausgebreiteten Flügeln, und das Motto – ich begreife nicht, daß es das Heroldsamt jemals genehmigt hat – lautet:
›
Rosa amorosa,
Farfalla giojosa,
Mi cantano al cuore
La gioja e l'amore.‹
(Rose, du verliebtes Ding,
Und du lust'ger Schmetterling,
Lasset mir mit eurem Singen
Lieb' und Lust ins Herze dringen.)
Jahrhundertelang waren die Farfallas die großen Herren dieser Gegend, Fürsten von Ventirose und mailändische Patrizier. Und als der letzte ihres Geschlechtes sich in Monte Carlo zu Grunde gerichtet und mit zwanzig und etlichen Jahren erschossen hatte, fiel das Gut in die Hände von Juden, die einen Gasthof daraus machen wollten, doch zufällig hörte ich von der Sache und kaufte es. Denken Sie sich dieses Schloß als ein Hotel! Und dabei ist es eines der wenigen Schlösser in Italien, die einen Geist haben! Er heißt der ›Weiße Page‹ – › il Paggio Bianco die Ventirose‹. Der Geist ist ein etwa sechzehnjähriger Junge. Er hält Wache und blickt aus nach dem See, als ob er ein Boot erwarte, und manchmal gibt er mit Armen und Händen Signale. Und von Kopf zu Fuß ist er ganz weiß verhüllt wie eine Statue. Wohl habe ich ihn noch niemals selbst gesehen, aber so viele andre Leute haben ihn gesehen, daß ich nicht an ihm zu zweifeln vermag. Und nun haben die Juden dies gespenstische Schloß in einen modernen Gasthof umwandeln wollen! Als Huldigung für das Gedächtnis der Farfalla trage ich Sorge, daß ihr so wie hier an etlichen hundert Plätzen eingegrabenes Wappen gut erhalten bleibt.«
Während dieser Worte waren ihre Blicke nach dem Schloß gerichtet gewesen, doch nun stand sie auf – vermutlich, um sich in der nämlichen Richtung zu bewegen.
Peter bemerkte dies und sagte: »Es klingt unwahrscheinlich, und ich fürchte, Durchlaucht werden die Veranlassung meines Besuchs etwas einförmig finden; aber ich bin tatsächlich wieder auf dem Wege, Seiner Eminenz die bewußte Schnupftabaksdose zurückzubringen, die ich in meinem Garten gefunden habe.«
»Oh –?« machte die Duchessa. »Ja,« fuhr sie dann fort, »er vermutete gleich, sie dortgelassen zu haben, er verlegt oder verliert sie an einem fort. Glücklicherweise hat er zur Aushilfe noch eine andre. Es ist sehr freundlich, daß Sie sich die Mühe genommen haben, sie ihm zurückzubringen.«
Dabei lachte sie leise.
»Vielleicht darf ich diese Gelegenheit auch benützen, um mich zu verabschieden – ich werde nächster Tage nach England zurückkehren.«
Die Duchessa zog verwundert die Augenbrauen in die Höhe. »Wirklich?« sagte sie. »Aber das ist ja zu schade! Der Oktober ist doch hier an den Seen der schönste Monat von allen zwölfen!«
»Ja, das weiß ich wohl,« gab Peter bedauernd zu.
»Und in England ist er ganz greulich!« fuhr sie fort.
»In England ist der Oktober ganz abscheulich!« stimmte er zu.
»Hier ist er so blau wie Rittersporn und duftet nach neuem Wein, und die Luft hallt wider von dem Gesang der Winzer, dort aber ist er schmutzigbraun und riecht nach Rauch.«
»Ja,« bestätigte er.
»Aber vielleicht sind Sie Sportsman – die Hetzjagden werden Sie locken?«
»Wo sich das Pferd immer auf einem herumwälzt? Danke! Schießen und Jagen habe ich schon seit Jahren aufgegeben.«
»Dann ist es vielleicht Golf oder gar – es wird doch nicht Fußball sein?«
»Da muß ich denn doch bitten, Durchlaucht! Sehe ich nach Fußball aus?«
»Also ist es einfach Heimweh? Sehnen Sie sich nach dem Purpurteppich der heimatlichen Heide?«
»In meiner Heimat gibt es keine Heide,« sagte Peter. »Nein, es ist, um die Wahrheit zu sagen, eine histoire de femme.«
»Das hätte ich mir ja denken können!« rief sie. »Natürlich wieder diese ewige Frau!«
» Diese ewige Frau?« stammelte Peter.
»Gewiß. Die Frau, mit der Sie es immer zu tun haben! Diese Frau aus Ihrem Roman. Diese Frau, kurzum!«
Und dabei zog sie ein in Grau und Gold gebundenes Buch hervor, das sie bisher hinter dem Rücken verborgen gehalten hatte.
» Mein Roman –?« stotterte er.
» Ihr Roman!« wiederholte sie, hold lächelnd. »Natürlich habe ich von Anfang an gewußt, daß Sie Felix Wildmay sind!«
»Oh,« sagte Peter, »das haben Durchlaucht von Anfang an gewußt!« Und seine Gedanken wirbelten in tollem Reigen durcheinander.
»Ja,« sagte sie, »natürlich! Wo wäre denn sonst der Spaß geblieben? Und nun reisen Sie ab, um wieder vor ihrem Altar zu opfern! Ich hoffe, daß Sie endlich den Mut finden werden, ihr Ihre Hand anzutragen.«
»Durchlaucht geben mir den Mut,« erwiderte er, von plötzlichem Wagemut beseelt, »Sie sind in der Lage, mich bei ihr zu unterstützen. Und da Sie schon so viel wissen, möchte ich, daß Sie schon mehr wissen. Ich möchte Durchlaucht sagen, wer sie ist.«
»Man muß sich wohl überlegen, wem man sein Vertrauen schenkt,« warnte ihn die Duchessa, aber im Blick ihrer Augen lag ein Etwas, das ihn ermutigte, fortzufahren.
»Nein, statt Durchlaucht zu sagen, wer sie ist, will ich lieber erzählen, wo ich sie zuerst gesehen habe. Es war an einem Dezemberabend vor vier Jahren im Théâtre français. Sie saß in einer Mittelloge des ersten Ranges. Sie trug ein weißes Kleid und befand sich in Gesellschaft einer älteren, englischen Dame in Schwarz und eines alten Herrn mit weißem Schnurr- und Knebelbart, der aussah wie ein französischer Offizier. Und das Stück war Paillerons › Le monde où l'on s'ennuie‹.«
»Oh!« sagte sie mit beharrlich niedergeschlagenen Augen und leiser Stimme – aber in ihrem Ton lag etwas, das sein Herz höher schlagen ließ.
»Das nächste Mal sah ich sie,« fuhr er tief aufatmend fort, »eine Woche später bei einer Aufführung des › Lohengrin‹ in der Großen Oper. Außer dem Herrn und der Dame, in deren Begleitung sie das erste Mal war, befand sich noch ein junger Mann bei ihr. Sie trug Perlen um den Hals und im Haar und einen mit weißem Pelz besetzten Mantel. Die Gesellschaft verließ das Theater vor Schluß der Oper. Dann begegnete ich ihr erst wieder Anfang Mai, wo ich sie zweimal im Hydepark spazierenfahren sah. Wieder war sie in Begleitung der ältlichen Engländerin, aber der militärisch aussehende Herr war verschwunden. Und dann sah ich sie ein Jahr später in Paris im Bois de Boulogne vorüberfahren.«
Die Duchessa hielt ihre Augen noch immer gesenkt und schwieg.
Peter sah sie an und wartete so lange, als Fleisch und Blut es zu ertragen vermochten.
»Das ist alles,« bat er schließlich. »Haben Sie mir nichts zu sagen?«
Sie schlug die Augen auf und ließ sie für den Bruchteil einer Sekunde in den seinen ruhen – dann senkten sie sich wieder.
»Wissen Sie auch gewiß, ganz gewiß,« fragte sie mit leiser Stimme, »daß Sie sich nicht enttäuscht fühlten, als Sie sie später kennen lernten und sahen, wie sie in Wirklichkeit ist?«
»Enttäuscht!« rief Peter. »Sie steht himmelhoch über allem, was ich zu träumen vermochte! Ach, wenn Sie sie sehen, sie sprechen hören, in ihre Augen blicken könnten – wenn Sie vermöchten, sie zu sehen, so wie andre sie sehen – Sie würden nicht von Enttäuschung reden! Sie ist ... ach nein, die Sprache ist noch nicht erfunden, in der ich sie zu schildern unternehmen dürfte!«
Die Duchessa lächelte sanft vor sich hin.
»Und Sie lieben sie also – mehr oder weniger?«
»Ich liebe sie so heiß, daß schon die Möglichkeit, ihr von meiner Liebe reden zu dürfen, mich vor Freude um den Verstand zu bringen droht. Aber es ist wie in der Geschichte von dem armen Edelmann, der seine Königin liebt. Sie ist die größte aller großen Damen, und ich bin niemand – ein Nichts. Sie ist so schön, so herrlich und steht so weit über mir, daß es eine ungeheure Vermessenheit wäre, um ihre Liebe zu werben. Meine Königin um ihre Liebe bitten! Und doch – und doch –! O, ich kann nichts weiter sagen. Gott sieht mein Herz. Gott weiß, wie ich sie liebe!«
»Und um ihretwillen – weil Sie glauben, daß Sie hoffnungslos lieben – wollen Sie fortgehen, wollen Sie nach England zurückkehren?«
»Ja,« sagte er.
Wieder schlug sie die Augen auf und senkte ihre Blicke tief in die seinen. Und es leuchtete ein Feuer, eine Milde aus ihnen ...
»Reisen Sie nicht ab,« bat sie leise.
*
Droben im Schloß – Peter war eiligst nach der Villa zurückgegangen und hatte sich zu Tisch umgekleidet – übergab er dem Kardinal seine Schnupftabaksdose.
»Nun verdanke ich sie Ihnen zum dritten Male,« sagte der Kardinal Udeschini.
Ende.