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Viertes Kapitel

Von den Vergnügungen der Großstadt wurde der schwer kämpfenden Familie wenig zuteil. Der Vater war den ganzen geschlagenen Tag auf den Beinen, um entweder in seinen eigenen Angelegenheiten die Wiener Angestellten der Gutsverwaltung zu behelligen oder die Belange seines Sohnes zu festigen. Die Mutter ging überhaupt nicht aus. Der Junge arbeitete den ganzen Tag, er hatte nicht eine einzige Stunde für sich allein. Gleich nach der Ankunft in Wien besuchten sie den dort ansässigen Bruder von Adam Liszt, Antonius, der ein ganz gut gehendes Uhrengeschäft besaß. Aber er empfing sie mit saurer Vorsicht. Er hatte Angst, daß Adams, die so tollkühn nach Wien gezogen waren, ihm früher oder später auf der Tasche liegen würden. Der freundschaftliche Verkehr mit den Verwandten kam also nicht zustande; sie besuchten den Uhrmacher nicht noch einmal.

An einem schönen Sommertag sahen sie sich den Prater an. Sie beschlossen, den ganzen Tag draußen im Grünen zu bleiben und erst abends nach Hause zurückzukehren. Ein Futterpaket wurde mitgenommen, damit man nichts zu kaufen brauchte. Vom vielen Umherrennen bekamen sie Blasen an den Füßen. Die vielen Leute, die Drehorgeln, das Getöse der Wagen betäubte sie. Sie schlenderten fremd durch die unbekannten Parkwege, und zu Tode ermattet mußten sie schließlich doch Geld für Bier und Kaffee ausgeben. Im Gedränge hatte ein geschickter Dieb Frau Annas schönes Kaschmirtuch, das sie nur zu feierlichen Anlässen umlegte, gestohlen, und so kamen sie müde und verärgert, mit wunden Füßen nach Hause und schwuren sich, nie wieder in den Prater zu gehen. Dann aber kam noch ein Sonntag, an dem sie die Burg besichtigten. Hier hatten sie anfänglich mehr Glück. Sie sahen nämlich den alten Kaiser ausfahren, und neben ihm seinen Enkel, den kleinen Herzog von Reichstadt. Der Napoleonsohn war ebenso alt wie der kleine Liszt, er war ein sehr schönes Kind, das in seiner Kadettenuniform aussah wie eine Theaterpuppe. Dieses Erlebnis genossen sie sehr, und das Familienoberhaupt erörterte ihnen lang und breit die Geschichte von Napoleon und Marie-Luise. Später aber geriet Adam Liszt in Wortwechsel mit einem hochmütigen Posten. Beide schrien aus Leibeskräften, und es fehlte wirklich nicht mehr viel, da hätte der Soldat den tobenden Sonntagsausflügler an der Brust gepackt, doch Frau Liszt trat erschreckt zwischen die Streitenden und trennte sie. Während dieses Vorfalles hatte das Kind blaß und zitternd, aber lauernd wie ein junger Tiger, auf den passenden Augenblick gewartet, den groben Soldaten zum Schutze seines Vaters mit Nägeln und Zähnen zu überfallen. Und so verging ihnen abermals für lange Zeit die Lust an Ausflügen. Als einziges sonntägliches Ereignis blieb ihnen der Besuch der Mariahilfer-Kirche. Besonders das Kind liebte diese Messen. Nach der Kirche begaben sie sich wieder heimwärts, saßen schön zu Hause und gingen auch nirgends mehr hin. Später durften sie sich noch weniger erlauben. Jeden Pfennig mußten sie umdrehen, ehe sie ihn ausgeben konnten. Abende lang lebten sie nur von Kaffee: so unerfahrene Dörfler brauchten nur einen Schritt zu tun, und schon waren sie ihr Geld los. Ab und zu gelang es aber dem Vater, von jemandem ein wenig Geld zu leihen, und auf die Freude hin, daß sie eine Freiwohnung beziehen sollten, wagte das Familienoberhaupt einen Konzertbesuch. Mehr seinem Sohne zuliebe als zu seinem eigenen Vergnügen. Dieses Konzert hatte sich nämlich das Kind erbettelt.

Die Sache kam so: bei Salieri verkehrte einer seiner älteren Schüler, ein gewisser Randhardinger, der neben seinem juristischen Beruf auch seinen musikalischen Studien weiter nachging. Mit diesem Manne freundete sich der Junge an. Sie verließen oft gemeinsam die Wohnung Salieris und sprachen über Musik. Gelegentlich fragte dann auch Benz, – so hieß nämlich Randhardinger mit dem Vornamen:

»Nicht wahr, du bist in Ungarn geboren?«

»Ja.«

»In der nächsten Woche wird ein berühmter Landsmann von dir hier ein Konzert geben: Bihari, der Zigeuner. Wollt ihr es euch nicht anhören?«

»Bihari? Wer ist das? Ich habe ihn noch nie gehört.«

»Du hast Bihari nicht gehört? Das ist doch heute Ungarns berühmtester Zigeuner! Hier in Wien ist er außerordentlich beliebt. Man nennt ihn im Volksmunde den ›ungarischen Beethoven‹. Ein ausgezeichneter Violinspieler. Er spielt meistens nur seine eigenen Kompositionen und macht damit die ganze Stadt verrückt. Sag' es deinem Vater, daß es wirklich der Mühe wert ist, ihn anzuhören. Die hier lebenden Ungarn gehen alle hin.«

Das machte den Jungen stutzig. Als er nach Hause kam, fing er sofort an, mit seinem Vater darüber zu sprechen.

»Bihari? Na selbstverständlich«, sagte der, »das ist ein sehr berühmter Mann. Ich habe ihn schon in Ödenburg gehört. Er spielt ganz prächtig. Solche wilde Sachen, solche zigeunerische … na, wie nennt man's schon …? aber er macht das allerdings fabelhaft. Besonders hat er eine heitere Komposition: ›Das Lied Biharis, wenn er kein Geld mehr hat.‹ Ich hab's von ihm gehört. In seiner Art ist es ganz hervorragend.«

»Vater, ich möchte so gerne zu diesem Konzert …«

»Davon kann keine Rede sein, mein Sohn. Wir haben doch für so etwas kein Geld. Darauf mußt du schon verzichten.«

Aber er verzichtete nicht so leicht darauf. Bei jeder Gelegenheit kam er wieder damit. Und als ihm dann verboten war, davon zu sprechen, deutete er mit schmollendem, vorwurfsvollem Schweigen an, daß er sich immer noch unverändert nach dem Konzert sehne.

»Wir gehen nicht hin, mein Sohn. Sieh mal, du übst doch schon für dein eigenes Konzert und dieses Konzertstück von Hummel ist doch schwer genug. Da brauchst du dich nicht noch mit fremder Musik zu belasten.«

Aber der Junge war zäher als der väterliche Widerstand. Schließlich gingen sie doch zum Konzert. Alle drei. Zwar auf einen Stehplatz, aber sie gingen. In dem fürchterlichen Gedränge wurde das Kind von den Eltern getrennt. Weil es niemandem die Aussicht versperrte, ließ man es bis zur Rampe der Stehplätze vor. Rundherum wurde viel ungarisch gesprochen. Das Konzert eröffnete ein Sänger, der allen zuwider war. Endlich, unter stürmischem Applaus, erschien der berühmte Zigeuner in seiner bunten Tracht, in hohen Stiefeln und reich mit Schnüren besetztem Rock. Der Junge starrte den Alten, der sich mit gewinnendem Lächeln nach rechts und links verbeugte, mit durstigen Augen unverwandt an. Der Applaus verstummte. Bihari klemmte seine Geige unter das Kinn. Irgend jemand in der Nähe, der ein Programm besaß, flüsterte hastig:

»Das Lied des Obersten Hadik.«

Der Zigeuner setzte an. Schon beim ersten Ton verfiel der Junge in Staunen. Bis jetzt hatte er einen wirklichen Violinspieler noch nicht gehört. Er kannte bisher nur das bäurische Winseln dieses Instrumentes. Nun war er verblüfft, daß Bogen und Saiten so helle, gewaltige Töne hervorbringen konnten. Aber zum Staunen blieb ihm nicht viel Zeit. Die Melodien, die der Geiger spielte, nahmen ihn völlig gefangen. Am Kirchweihtage in Neckenmarkt hatte er zwar ähnliches gehört, aber das hier, das war hundertmal, tausendmal schöner. Die launenhafte Eigenwilligkeit der Melodie war mit nichts von all dem zu vergleichen, was er bei seinen Meistern gelernt hatte. Diese Melodie kannte kein Metronom. Sie war einer Traubenranke gleich reich verästelt und legte sich auf die langgezogenen Töne mit einer in Noten nicht zu fassenden willkürlichen Unregelmäßigkeit. Dann verweilte die Melodie bei einem vierstimmigen Satz und steigerte sich zu immer schnellerem Tempo solange, bis alles in einem einzigen, zitternden Tremolo unterging. Und dann verlangsamte sie sich wieder ohne jeden Übergang, als finge die Geige zu schluchzen an.

Das Kind lauschte ergriffen. Geheime Ahnungen stiegen in ihm auf: dieser Künstler verwirft ebenso die Taktstriche, wie auch er es manchmal möchte, wenn er zügellos dem Ausdruck verleihen will, was er in die einzelnen Melodien hineinfühlt. Die Seele dieser Geige ist seiner Seele verwandt. Diese Musik zauberte ihm die Rahmenstiefel und Schnürenröcke der Neckenmarkter vor die Augen und die verlassene Heimat. Er empfand jetzt zum ersten Male in seinem Leben, daß die Geige die Musik eines ganz anderen Volkes wiedergab, und er fühlte blitzartig, daß er mit all dem vieles gemein hatte. Wenn ihn jetzt jemand gefragt hätte, was in ihm vorging, er hätte nicht ein einziges Wort gefunden, das diese Gefühle hätte ausdrücken können, – obwohl sie so mächtig und so klar waren, daß bei den Klängen der Geige sein Rückgrat zitterte und sein ganzer Körper mitschwang. Dieses sonderbare Gefühl hielt ihn fest in seinem Bann, von Minute zu Minute wurde es stärker. Auch einen ›Husaren-Werbetanz‹ spielte der Zigeuner. Der viervierteltaktige Rhythmus dieses Tanzes versetzte ihn in unbeschreibliche Aufregung. Diese vier Viertel hatten eine teuflische Macht: wie das Opfer einer Zauberei gehorchte sein ganzer Körper diesen vier Vierteln, und auf einmal erschien vor ihm das vertraute Bild der tanzenden Bauern. Er befand sich in einem unbegreiflichen Zustande. Obwohl er nicht weinte, waren seine Augen feucht, und obwohl er innerlich vor Fieber glühte, wußte er, daß er sehr bleich war. Der Geiger hatte etwas Verhextes an sich, etwas unwiderstehlich rätselhaft Mitreißendes. Die Leute schrien »Bravo« und klatschten rasend Beifall. Der Junge hielt nur die Rampe krampfhaft umklammert und mußte mit ausgetrockneter Kehle dauernd schlucken.

Als das Konzert zu Ende war, fühlte er sich grenzenlos müde, sein Gehirn wollte nicht mehr arbeiten. Unbekümmert ließ er sich von den nach außen Drängenden mittreiben. Und in dem großen Durcheinander konnten ihn die Eltern kaum wiederfinden. Sie schalten ihn, daß er ihnen mit seinem Verschwinden soviel Angst gemacht, aber er konnte auf die Ermahnungen nicht einmal antworten. Auf dem Heimwege blieb er stumm, zu Hause aber löste sich seine Zunge, und er richtete eine Frage nach der anderen an den Vater. Der war kaum imstande, ihm zu antworten.

»Vater, wie kann man so eine Musik in Noten fassen? Andauernd mit Rubato-Vermerken?«

»Möglich. Aber auch daran kannst du erkennen, daß das keine wirkliche Musik ist, sondern nur etwas Bäurisches. Zerbrich dir bloß darüber nicht den Kopf, das gefällt mir gar nicht, jetzt, vor deinem Konzert. Ich fange schon an zu bereuen, daß ich dich überhaupt mitgenommen habe.«

Das Kind schwieg eine Weile. Dann fragte es abermals:

»Vater, sind wir Ungarn?«

»Ja«, antwortete Adam Liszt gleichgültig.

»Und warum können wir dann nicht ungarisch sprechen?«

»Ich kann es ja einigermaßen, nur die Mutter und du, ihr könnt es nicht. Wenn du aber im Ausland vorwärtskommen willst, brauchst du auch gar nicht ungarisch zu sprechen. In Ungarn hat man diese Sprache überhaupt nicht nötig, nur für die Bauern ist sie wichtig. Du hast es ja in Preßburg hören können: die vornehmen Herren sprachen entweder latein oder deutsch, ungarisch nur ganz vereinzelt. So ist das auch mit dieser Zigeunermusik. Das ist was für die Bauern. Für uns ist Beethoven da.«

»Ja, aber im Bihari-Konzert waren doch keine Bauern, sondern vornehme Herren, und die haben sehr viel applaudiert.«

»Applaudiert haben sie natürlich. Man guckt sich ja auch einen Bärentanz an und vergnügt sich dabei: als vornehme Unterhaltung kommt aber doch nur die Kammermusik in Betracht, – verstehst du das nun?«

Das Kind nickte zögernd, obwohl es nichts verstanden hatte. Es überlegte wieder und fragte dann:

»Vater, warum sind wir keine Bauern?«

»Gott im Himmel, stellst du aber komische Fragen! Wir sind eben nicht als Bauern geboren. In der Familie erzählt man, daß wir sogar adlig seien. Mein Großvater, also dein Urgroßvater, Georg Liszt, war noch Oberleutnant, und in einem Husarenregiment können nur vornehme Leute Offiziere werden. Vermögen hat der aber nicht hinterlassen, und dein Großvater wurde schon als armer Junge erzogen. Ich weiß aber auch, daß man uns ›Liszthy-ensis‹ mit t – h und y schrieb, wie die ungarischen adeligen Herren ihre Namen zu schreiben pflegten. Aber wir sind arme Leute, und wer kein Geld hat, macht sich nur lächerlich, wenn er mit so etwas prahlt. Zerbrich dir nicht den Kopf mit solchem Zeug! Lerne fleißig, damit ein Mann aus dir wird.«

Die Mutter unterbrach sie:

»Erzähle ihm doch vom Baron, Adam.«

»Wozu denn, Anna, ich verstehe dich wirklich nicht. Sollen wir dem Jungen mit solchen Dingen, die wir doch dazu gar nicht genau wissen, den Kopf verdrehen?«

Frau Liszt schwieg, aber das Kind erkundigte sich neugierig:

»Was ist ein Baron, Vater, erzählen Sie es mir doch bitte, ich möchte es so gerne wissen.«

»Eh, das Ganze ist Unsinn. Dein Großvater erzählt, daß sein Vater, der Husarenoberleutnant, seine Baronwürde nachweisen wollte, denn es gab einen Baron Ladislaus Listius, einen berühmten und reichen Mann, der auch gedichtet hat. Der lebte vor ein paar hundert Jahren, und dein Urgroßvater forschte in allerlei Dokumenten nach, weil er die heilige Überzeugung hatte, daß unsere Familie mit diesem alten ungarischen Baron verwandt sei.«

Die Augen des Jungen leuchteten erwartungsvoll.

»Und dann sind wir auch Barone?«

»Unmöglich wäre es nicht. Es hat aber gar keinen Sinn, sich damit zu brüsten, denn es stellte sich heraus, daß dieser berühmte Baron Listius ein Mörder, Räuber und Falschmünzer war, der für seine Schandtaten aufs Rad geflochten wurde. Es ist besser, wir forschen da nicht weiter nach. Wir sind arme Leute, mein Sohn, und du sollst dich nicht mit so unnützem Zeug belasten, sondern zusehen, daß du es im Leben zu was bringst.«

»Ja. Und wo können die Dokumente liegen, nach denen mein Urgroßvater geforscht hat?«

Die Stimme des Vaters wurde auf einmal streng:

»Nun ist's aber genug mit dem Blödsinn! Siehst du, Anna, warum mußt du dem Jungen solche Sachen weismachen? Ihr sollt euch daran gewöhnen, daß wir arme Leute sind, und wir sollen uns freuen, daß wir überhaupt leben können. Ich meinerseits halte nichts von dieser ganzen adeligen Abstammung, punktum. Und nun will ich von alledem nichts mehr hören.«

Der Junge schwieg, beobachtete aber verstohlen seinen Vater. Diese aufregende Adelsgeschichte hinterließ ihm einen nachhaltigen Eindruck. Seiner erregten und von der Zigeunermusik aufgewühlten Seele kam das abenteuerliche Märchen, das der Vater erzählt hatte, gerade gelegen. Er konnte lange nicht einschlafen. Bis nach Mitternacht hörte er draußen einzelne Fußgänger über das holperige Pflaster der Kruegerstraße laufen. Aus seinen verworrenen Gedanken, in denen er keinen roten Faden finden konnte, schälte sich aber eine feststehende Tatsache heraus: nämlich, daß ihn die sonderbare Musik Biharis mehr anging, als alle anderen.

Am nächsten Tage, als er noch ohne Aufsicht war und tun konnte, was er wollte, versuchte er, die sonderbaren und aufregenden Melodien des ungarischen Zigeuners am Klavier in sein Gedächtnis zurückzurufen. Die merkwürdigen Akkorde, die reichen Verzierungen der verschnörkelten Melodien entzückten ihn unsagbar … Dann schlug ihm aber das Gewissen: die Zeit seines Konzertes rückte gefährlich nahe, und er mußte mit voller Hingabe das Konzertstück von Hummel üben. Langsam verblich das eigenartige Zigeuner-Konzert zu einer traumhaften Erinnerung. Wenn es ihm aber noch ab und zu ins Gedächtnis kam, so konnte er sich des Gefühls nicht erwehren, daß er später noch einmal mit besonderer Aufmerksamkeit und in allen Einzelheiten darauf zurückkommen würde …

Sein Konzert wurde auf Anfang Dezember festgesetzt. Adam Liszt war in dieser Zeit doppelt soviel wie sonst auf den Beinen. Erst jetzt stellte sich heraus, daß er, während sein Sohn monatelang geübt und Harmonielehre gelernt und er selber sich scheinbar ziellos in der Stadt herumgetrieben hatte, im Grunde keinen einzigen Tag ungenützt hatte vorübergehen lassen: er hatte überall zur Musikwelt Verbindungen angebahnt. Er kannte die Notenverleger, die Musiker im Theater, die Konzertunternehmer, die Zeitungsschreiber oder Leute, die mit diesen Verbindungen hatten. Von seinen Verhandlungen sprach er zu Hause nur wenig. Seine Frau stellte ihm hin und wieder eine schüchterne Frage. Er ging aber gereizt der Antwort aus dem Wege:

»Schau, Anna, ich bin sehr müde, ich habe stundenlang verhandelt und gefeilscht. Ich müßte dir zuvor einen ellenlangen Vortrag halten, damit du überhaupt begreifst, was ich heute alles erledigt habe. Erspare mir das bitte. Begnüge dich damit, daß sich alles zum besten anläßt.«

Aber manchmal erzählte er doch einige Neuigkeiten. Zum Beispiel, daß der Ort des Konzertes nunmehr endgültig feststehe: es sollte nämlich im Landständesaal gegeben werden. Und eines Tages berichtete er, daß auch der andere mitwirkende Künstler gefunden sei: der Geiger Saint-Lubin. Das sei eine ganz vortreffliche Lösung, denn Saint-Lubin sei erst siebzehn Jahre alt, also einerseits geeignet, das Publikum anzuziehen, andererseits aber schon viel zu alt, um dem Reiz eines elfjährigen Klavierkünstlers Abbruch zu tun. Jetzt wäre nur noch eine ansprechende Künstlerin erforderlich, aber die würde auch noch zu finden sein. In ein paar Tagen war auch das geregelt, die Wahl fiel auf eine schöne, junge, ungarische Sängerin. Sie hieß Karoline Unger und war aus ihrer Geburtsstadt Stuhlweißenburg nach Wien gekommen, um singen zu lernen. Sie hatte eine wunderbare Stimme und war darauf angewiesen, Geld zu verdienen, da sie die Absicht hatte, zu Ronconi nach Mailand zu gehen, um dort ihre Stimme zu vervollkommnen.

Abgesehen von der kurzen Mittagspause übte das Kind den ganzen Tag. Auf die Stunden bei Salieri verzichteten sie in den letzten beiden Wochen vollständig. Czerny wurde der einzige Führer, Tyrann, Ermunterer, Antreiber, Quäler, Tröster und Richter des Jungen an den einsamen Winterabenden. Die Stunden mußten verlängert werden. Zu dem bisherigen Stoff gesellte sich ein weiteres Fach: das Studium der neuzeitlichen Musikliteratur. Denn zum Schluß eines jeden Konzertes mußte immer wieder dasselbe kommen: der Künstler phantasierte auf die ihm aus den Reihen der Zuhörerschaft gestellten Themen. Hierzu mußte also der Künstler all jene Melodien kennen, die einem durchschnittlichen Konzertbesucher einfallen konnten. Die klassische Literatur beherrschte er gut. Aus den Werken von Beethoven, Bach, Gluck und Mozart hätte man ihm kaum etwas nennen können, was er nicht kannte. Er mußte aber auch noch andere Stücke kennenlernen. Czerny ließ ihn jeden Tag mindestens eine Stunde lang vom Blatt spielen. Er legte ihm die verschiedensten Noten vor, angefangen von den Werken Schuberts und Opern Rossinis bis zu den Volksliedern des Salzkammergutes. Und obgleich er eine Anerkennung nur schwer über die Lippen brachte, entfuhr es ihm eines Abends doch:

»Du kannst wirklich dem lieben Gott nicht dankbar genug sein! So einem unglaublichen musikalischen Gedächtnis bin ich noch nicht begegnet, seit ich mich mit Musik befasse.«

Eine Woche vor dem Konzert hielt die Familie zu Hause eine Probe ab. Vater und Mutter setzten sich auf das Sofa. Seit sie in der Kruegerstraße wohnten, und ihre alten Möbel in dem geräumigeren Zimmer wieder Platz hatten, kam auch das alte Raidinger Sofa wieder zu Ehren. Der Junge ging in die Küche hinaus, kam wieder herein und verbeugte sich. Dreimal schickte ihn der Vater zurück, ehe er mit der Verbeugung zufrieden war. Dann erst durfte sich der Junge ans Klavier setzen. Er spielte zunächst das Vorspiel von Clement, das lediglich durch den Namen an Clementi erinnerte, sonst war es eine anschauliche und wohlgefällige Komposition. Czerny hatte sie ausgewählt, weil die Wiener erwarteten, daß die Vortragsfolge auch das Werk eines Wiener Komponisten enthalte, und dieser Clement, Dirigent am Theater an der Wien, erfreute sich großer Volkstümlichkeit. Nach dem Vorspiel erhob sich der Junge und verneigte sich auf den Applaus der Eltern. Das mußte wieder zweimal wiederholt werden. Dann stellte sich auch der Vater hin und nahm die Violine zur Hand. Beim Konzertstück von Hummel vertrat er das Orchester. Dadurch entstand aber eine kleine Störung. Adam Liszt hatte schon lange nicht mehr Geige gespielt und brachte zum Klavierspiel seines Sohnes nur ein mißtöniges Winseln zustande. Zweimal kamen sie sogar durcheinander.

»Warum paßt du nicht auf?« fuhr er den Jungen ärgerlich an, obwohl offensichtlich war, daß er selbst nicht richtig gespielt hatte.

Schließlich trug das Kind das ganze Konzert allein vor. Auch die Partien des Orchesters spielte es mit. Der Vater ließ verblüfft die Violine sinken. Fast erschrocken sah er seinen Sohn an, der auf dem Gesicht seines Vaters den Ausdruck stummer Bewunderung hätte entdecken können, wenn er aufgeblickt hätte. Aber er blickte nicht auf. Er wollte mit Feingefühl und Takt die Aufmerksamkeit von der Schwäche seines Vaters abwenden.

»Sehr gut«, sagte der Vater, als er fertig war, »das Improvisieren erlasse ich dir. Damit will ich dich nicht weiter bemühen. Du hast wirklich sehr schön gespielt, und es müßte mit dem Teufel zugehen, wenn du nicht einen Riesenerfolg haben solltest. Im übrigen, beinahe hätte ich es vergessen, merke dir gut, daß du als Zehnjähriger auftrittst, falls jemand behaupten sollte, du seiest schon über elf Jahre alt. Das geht niemanden etwas an, du bist zehn Jahre alt. Hast du mich verstanden?«

»Ja«, erwiderte der Junge mit einem Lächeln, mit dem sonst die Erwachsenen die kleinen Schwächen der Kinder zu verzeihen pflegen.

»Mein großer Sohn, mein großer Sohn«, sagte die Mutter ergriffen, während sie den Jungen an sich drückte.

Am anderen Tage machten sie sich auf, um den Saal zu besichtigen, nur zu zweit, Vater und Sohn. Sie betraten das Podium, wo das Klavier stehen sollte, mitten im Orchester. Der Junge sah sich im leeren Saale um. Er war sehr guter Laune an diesem Vormittag.

»Schauen Sie, Vater, was ich kann.«

Er stieg vom Podium herab und legte sich auf die Erde. Sein Vater sah ihm bestürzt zu. Der Junge kletterte mit beiden Füßen an der Wand des Podiums aufwärts, bis er eine Sekunde lang auf den Händen stand. Dann ließ er die Füße wieder zurückfallen und erhob sich. Atemlos und mit erhitztem Gesicht sagte er:

»Das ist der Handstand. Randhardinger hat ihn mir neulich gezeigt. An der Wand kann ich ihn ganz gut machen.«

Der Vater schüttelte erzürnt den Kopf.

»In diesem Saale entscheidet sich dein und deiner Eltern Schicksal. Fällt dir da nichts weiter ein als das, wenn du dich hier umsiehst? Nimmst du denn gar nichts ernst? Es wird nie etwas aus dir werden!«

Der Junge wurde kleinlaut. Seine fröhliche Stimmung war mit einem Male dahin. Der Vater fuhr aufgebracht fort:

»Und daran denkst du nicht, was mit dir wird, wenn du dir durch diesen Blödsinn die Hand verrenkst? Du verdientest wahrhaftig eine Ohrfeige!«

Mehr sprachen sie nicht darüber. Auf dem ganzen Heimwege gingen sie stumm nebeneinander her. An der Mariahilfer-Straße sahen sie einen großen zottigen Hund, der vor Freude tobend über den neugefallenen Schnee herfiel. Er bohrte seine Schnauze in den Schnee, wälzte sich auf dem Rücken, sprang wieder auf die Beine und bellte lustig und ausgelassen eine vorbeifahrende Karre an, stob ein kleines Stück hinterher, kam gleich wieder zurück und bohrte seine Schnauze von neuem in den Schnee. Das Kind wäre zu gerne langsamer gegangen, um ihm ein bißchen zuzusehen, aber der Vater mahnte:

»Komm, komm, du mußt üben.«

Vor dem Tore verabschiedeten sie sich. Der Junge küßte dem Vater die Hand und stieg die zwei Treppen hoch. In der Wohnung hatte die Mutter fürsorglich so eingeheizt, daß der Ofen glühte. Kaum hatte er seinen Mantel abgelegt, als er sich auch schon ans Klavier setzte …

Vor dem Konzert wurde eine einmalige Orchesterprobe abgehalten. Hier lernte der Junge die beiden anderen Künstler kennen. Saint-Lubin, der Geiger, war ein schlanker junger Mann, der aber ganz offensichtlich noch als kleiner Junge erscheinen wollte; er war kindlich angezogen. Seine Stimme aber, die wie die Stimme eines Erwachsenen donnerte, paßte schlecht zu diesem Aufzug. Deutsch sprach er nur gebrochen. Vater Liszt begrüßte in ihm einen alten Bekannten, da sie einander schon oft begegnet waren und oft miteinander gefeilscht hatten. Der geigende Wunderknabe, der Sohn eines in Italien lebenden französischen Sprachlehrers, entpuppte sich als gerissener Geschäftspartner. Adam Liszt mußte gründlich hinterher sein, damit der Junge ihn beim Kartenverkauf nicht überlistete. Auch sonst benahm sich der junge Mann höchst anspruchsvoll und anmaßend. Das Podium fand er viel zu breit, die Treppen zu schmal, schimpfte laut über den nur mäßig geheizten Saal, und beklagte sich später, daß es zu heiß sei.

Um so liebenswürdiger war Karoline Unger, die Ungarin. Sie hatte nicht gewartet, bis man den kleinen Klavierkünstler zu ihr führte, sondern eilte selbst auf ihn zu, streckte ihm beide Hände entgegen und sagte ihm etwas in langen ungarischen Sätzen.

»Ich kann nicht ungarisch«, erwiderte das Kind.

»Dann sprechen wir deutsch. Ich habe schon viel von dir gehört. Du bist doch der gewisse Putzi, nicht wahr? Ich freue mich schrecklich, daß wir zusammen auftreten werden.«

Sie war ein schönes Mädchen mit feurigen Augen und strahlendem Lächeln. Der Junge gewann sie sofort lieb und sah ihr vertraut in die Augen.

»Ich freue mich auch sehr, Tante Karoline.«

Karoline guckte sich verstohlen um, und neigte sich dann zu dem Kind herab. In ihrer flüsternden Stimme schwang ausgelassene Fröhlichkeit mit:

»Was sagst du nur zu diesem Affen, dem Geiger? Dem ist nichts gut genug. Weißt du was, lachen wir ihn aus!«

Fröhlich lachten sie beide auf.

»Seine Stimme klingt«, flüsterte das Kind zurück, »wie eine Baßgeige, wenn man sie nicht harzt.«

»Köstlich! Was denkst du, wie alt der ist? Ich bin neunzehn, aber ich wette, der ist nicht viel jünger als ich.«

Wieder lachten sie, und schon waren sie auf Gedeih und Verderben miteinander verbündet. Die Probe begann. Der Junge setzte sich ans Klavier und spielte die Clement-Ouvertüre. Czerny blätterte ihm die Noten um, obwohl das gar nicht nötig war, denn er sah sie nicht ein einziges Mal an.

»Beobachte die Akustik«, sagte Czerny zwischendurch, »und probiere die Kraft des Piano und des Forte aus!«

Der Junge spielte. Die Musiker, die sich bis dahin laut unterhalten und ihre Gespräche auch beim Beginn des Klavierspiels nicht abgebrochen hatten, verstummten bald. Nach zehn Takten war Totenstille. Und bis zum Schluß muckste niemand. Als der Vortrag beendet war, drängten sich die Musiker Schulter an Schulter um das Klavier. Zehn sprachen auf einmal auf ihn ein. Die weiter entfernt standen, gaben ihrer Verwunderung durch laute Worte Ausdruck.

»Unerhört.«

»So etwas habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gehört.«

»Woher kommt dieses Kind? Wer ist es?«

Die ihm am nächsten Stehenden fragten ihn aus und stierten ihn an. Einige betasteten ihn sogar, ob er auch tatsächlich ein lebendes Wesen wäre. Aber er beachtete sie gar nicht. Er schmiegte sich mit kindlicher Zärtlichkeit an die schöne Karoline, die ihn mit glänzenden Augen wortlos bewunderte und an sich zog.

»Vorwärts, meine Herrschaften, vorwärts! Wir werden ja sonst nie fertig!«

Der Dirigent des Orchesters klopfte ungeduldig mit dem Bogen auf den Rücken seiner Geige. Weil er das Konzert leitete, war es auch seine Aufgabe, der allgemeinen Begeisterung ein Ende zu machen. Alle nahmen ihre Plätze wieder ein. Nun war das Hummel-Konzert an der Reihe. Czerny wendete auch diesmal die Noten um. Als sie bei der Fermate des Quartsextakkordes angelangt waren, dem das Solo des Klaviers folgt, erhoben sich alle Musiker abermals, um das Wunderkind besser beobachten zu können. Am Schluß dieses Vortrages setzte ein noch größerer Lärm ein. Ein Weißbärtiger, der die Bratsche spielte, ging auf Adam Liszt zu:

»Mein Herr«, sprach er, an einem Knopf seines Rockes drehend, »ich habe vor vierzig Jahren Mozart spielen gehört. Ihr Sohn ist genau so ein Meister, wie der es war.«

Alle drängten sich um den Jungen, ein fester Ring hatte sich um ihn gebildet. Außer sich vor Entzücken sprachen wiederum zehn auf einmal auf ihn ein. Plötzlich übertönte eine starke, kräftige Stimme ungeduldig das durcheinanderschwirrende Geschwätz:

»Bitte, was ist hier eigentlich los? Proben wir oder proben wir nicht?«

Es war Saint-Lubin, der geigende Wunderknabe. Er stand mit der Violine in der Hand auf dem Podium, neben ihm sein Begleiter, ein älterer dicker Mann mit schlechter Laune. Langsam ebbte die laute Begeisterung ab. Karoline nahm ihren neuen Freund bei der Hand und zog ihn mit in den Zuschauerraum. Dort setzten sie sich in der zweiten Reihe an der Seite nieder.

»Paß auf, Putzi, jetzt dürfen wir nicht lachen, sonst ist er beleidigt. Benehmen wir uns anständig!«

Als der Geiger begann, war aber sie diejenige, die ihn spitzbübisch in die Seite kniff. Er hätte am liebsten gleich wieder losgelacht, zwang sich aber zu ernster Miene. Neuer Kniff. Neuer Lachreiz. Indes spielte die Geige singend ihre Variationen weiter. Aber der Skandal sollte bald ausbrechen. Das Kind konnte sich nicht mehr halten und lachte schallend los, und Karoline lachte mit. Entrüstet unterbrach der Geiger das Spiel, und während sein Begleiter am Klavier planlos weiter spielte, schrie er unwillig:

»Ja, so kann ich nicht spielen.«

»Schon recht«, rief die schöne Karoline beschwichtigend zurück, »fahren Sie nur ruhig fort, wir lachen jetzt nicht mehr.«

Adam Liszt drohte streng mit dem Finger. Czerny schüttelte mißbilligend seinen Kopf. Saint-Lubin begann mit verächtlicher Miene von neuem.

»Sehen Sie, warum haben Sie gelacht?« flüsterte der Junge.

»Weißt du«, flüsterte Karoline zurück, »was jetzt fabelhaft wäre? Sich hinter seinen Rücken zu schleichen und ihm einen mächtigen Hieb auf den Kopf zu versetzen.«

Der Junge biß sich derb auf die Lippen, es lächerte ihn schon wieder. Er empfand eine zärtliche Zuneigung zu dieser schönen jungen Tante. Er legte seine Hand so auf die Lehne des Stuhles, daß er das Kleid der Sängerin streifen konnte … er fühlte sich so geborgen … Und während oben die Geige erklang, dachte er darüber nach, warum die Frauen soviel lieber und anziehender sind als die Männer …

Der schlechtgelaunte Bursche hatte inzwischen sein Violinspiel beendet. Er legte sein Instrument in den Geigenkasten zurück, und während Karoline Unger das Podium betrat, entfernte er sich mit mißmutigem Gesicht, ohne jemand zu grüßen. Sein Begleiter folgte ihm gelangweilt. Aus dem Orchester erhob sich ein sommersprossiger junger Mann und setzte sich ans Klavier, er begleitete die Sängerin.

Im leeren Raum erklang der erfrischende Sopran des ungarischen Mädchens. Der Junge erkannte das Stück sofort: es war die Koloratur-Arie aus der Oper »Demetrio e Polibo« von Rossini. Die Frauenstimme sang betörend. Der Junge fühlte sein Herz schmelzen und, leicht zu Tränen gerührt, hätte er am liebsten geweint, wenn er sich nicht geschämt hätte. Einen solchen Kameraden hatte er bis jetzt noch nicht gehabt. Er hatte irgendwie das Gefühl, als ob diese reizende Stimme aus festem Stoff und greifbar wäre. Nur zu gerne hätte er den duftenden Samt der Fiorituren, jener zarten, schmückenden Blüten der Koloratur, mit weicher Hand gestreichelt. Und seine Zuneigung zu dem schönen schlanken Mädchen da oben, zwischen dessen leuchtenden Zähnen sich das unbeschreibliche Wunder des Belcanto, des »schönen Gesanges« vollzog, steigerte sich zu lodernder Anbetung, während er ihr gebannt zuhörte.

Als sie die Arie beendet hatte, lief er aufs Podium und küßte ihre Hände.

»Sieh mal einer diesen niedlichen, kleinen Kavalier an«, scherzte die Sängerin, »galant wie ein Husarenleutnant.«

Sie neigte sich zu dem Jungen herab und gab ihm einen Kuß. Das war fast zuviel der Seligkeit für ihn …

Die Probe war zu Ende. Eigentlich hätte noch das Phantasieren am Klavier folgen müssen, aber Adam Liszt wünschte das nicht, und Czerny war auch der Meinung, daß man das Kind nicht übermüden solle. Deshalb gingen sie zu viert von der Probe weg: der Vater, der Sohn, der Meister und die Sängerin. Der Junge faßte nach der Hand des Mädchens und ging so mit ihr die Treppe hinunter. Er wünschte, diese Hand nie wieder loslassen zu müssen … Vor dem Tore wartete eine prunkvolle Equipage, und das Mädchen verabschiedete sich von ihnen.

»Gott mir dir, Putzi, leb' wohl bis morgen. Du wirst schon sehen, du hast einen Riesenerfolg!«

Sie stieg ein, die Tür schloß sich, und die Kutsche rollte davon. Lange schaute ihr der Junge nach …

»Vater«, sagte er endlich mit befangener Stimme, »ich hab' die Tante Karoline so lieb, daß ich das gar nicht beschreiben kann …«

Der Vater nickte:

»Ein sehr liebes Mädchen und für uns sehr nützlich. Sie kann die ganze Aristokratie in Bewegung bringen. Der Fürst Metternich löste schon gestern seine Karten. Wenn Gott es auch so will, haben wir morgen eine fabelhafte Zuhörerschaft. Ach, ich möchte um zwei Tage älter sein …«

Auf Anraten Czernys übte der Junge an diesem Tage nicht mehr, und auch am anderen Tage lediglich zwei Stunden lang unmittelbar vor dem Konzert. Er übte aber recht unaufmerksam. Dauernd ging ihm nur Karoline, sein neuer Abgott, im Kopf herum. Er zitterte vor Ungeduld und Erwartung, als ihn seine Mutter ankleidete. Auch der Weg von der Kruegerstraße nach dem Landständesaal war ihm viel zu lang. Er wäre am liebsten eins-zwei-drei dagewesen, wie im Märchen, um so schnell als möglich bei ihr zu sein …

Ausnahmsweise ließ der Vater eine Kutsche kommen, damit das Kind nicht im Schnee zu stapfen brauchte. Eine gute Stunde vor der festgesetzten Zeit kamen sie an. In dem kleinen Zimmer, das den Künstlern als Aufenthaltsraum diente, war Karoline noch nicht anwesend. Ungeduldig trat er von einem Fuß auf den anderen. An das Konzert dachte er überhaupt nicht. Er wartete nur auf Karoline. Der Vater ging hinaus, um an der Kasse nach dem Rechten zu sehen. Die Mutter, vor Aufregung dem Weinen nahe, nahm schon ihren Platz im Zuschauerraum ein. Endlich kam Karoline. Die Kälte hatte eine frische Röte auf ihre Wangen gezaubert. Sie streifte die Handschuhe von den Fingern und legte ihren bis zum Boden reichenden Pelz ab. Sie trug ein wunderschönes rosa Kleid mit hoher, schlanker Taille und unten duftig gekräuselt. In den meisterhaft gelegten Schnecken ihrer Haare wippten drei Rosen. Das Kind lief voll schwärmerischer Bewunderung auf sie zu:

»Tante Karoline, die schönste auf der ganzen Welt!«

»Bist du aber lieb! Gefalle ich dir?«

»Sehr, sehr, sehr!«

Der Geiger Saint-Lubin kam und grüßte kaum. Mit einer jedes Entgegenkommen von vornherein abweisenden Hochnäsigkeit legte er seinen Mantel ab. Das Kind und Karoline blickten einander an und wandten sich mit verstohlenem Lächeln ab: der große Bursche war wie ein zehnjähriger Junge angezogen, trug kurze Hosen, und hatte das Haar kindlich glatt und anliegend gekämmt.

»Eine richtige Affenkomödie«, flüsterte Karoline.

»Zerplatzen könnte man«, flüsterte er wichtigtuend zurück.

Adam Liszt kam keuchend herein gerannt. Aus seiner Tasche lugte ein Bündel Programme hervor. Seine Haare waren zerzaust, seine Stirn über und über mit Schweißperlen besät.

»Ich habe eine Anzahl Karten hier vergessen! Hat niemand hier einen Haufen Karten liegen sehen?«

Aber er wartete die Antwort gar nicht ab und hetzte schon wieder hinaus. Das kleine Zimmer schien förmlich zu schwanken von der in der Luft liegenden Aufregung. Karoline trat zum Spiegel, ihre Hände zitterten, als sie die Blumen in ihrem Haar richtete.

»Ich habe entsetzliches Lampenfieber! Du bist gar nicht aufgeregt, Putzi?«

»Nicht ein bißchen!«

Er sagte auch die Wahrheit. Zu Hause war er zwar den ganzen Tag etwas aufgeregt gewesen, aber nur deshalb, weil mit dem großen Ereignis der Gedanke an Karoline so eng verknüpft war. Jetzt war er ganz ruhig, und außer Neugierde plagten ihn keine anderen Gefühle. Der Anfang des Konzertes rückte immer näher. Czerny trat ein, um nachzusehen, ob alles in Ordnung sei. Der alte Salieri kam herein und zeichnete als frommer Italiener, der er war, ein Kreuz auf die Stirn des Jungen. Und auch der ohne Sinn und Verstand herumhastende Vater stürzte herein:

»Wir beginnen sofort! Komm her, durch diese Tür kann man in den Zuschauerraum sehen. Ich öffne sie ein wenig, damit man das Klavier stehen sieht.«

Die väterliche Hand öffnete die Tür fingerbreit. Da schlug ihnen das warme Rauschen und Scharren der sich versammelnden Zuhörer entgegen. Der Junge äugte gebannt durch den schmalen Spalt. Er sah unzählige juwelenfunkelnde Damen und elegante Herren mit gekräuselter Hemdbrust. Auf dem Podium war schon das ganze Orchester versammelt, und zu dem Geraune der Gäste gesellte sich das »Tülülülü« und »bang-banggg« der stimmenden Musiker.

»Jetzt paß mal auf! Siehst du in der ersten Reihe den großen, sehr eleganten Herrn?«

»Den weißhaarigen? Ja, den seh' ich.«

»Das ist Fürst Metternich. Wenn du hinausgehst auf das Podium, mußt du dich namentlich zu ihm hin verbeugen. Und dann mußt du noch einen beachten, drei Stühle weiter sitzt ein junger Mann, – jetzt lacht er eben, – siehst du ihn?«

»Ja.«

»Weißt du auch, wer das ist? Rossini! Er ist hier in Wien und hat dein Konzert nicht versäumt. Heute früh löste er sich die Eintrittskarte. Das ist eine unerhörte Sache, daß der gekommen ist. Auch nach ihm mußt du dich verneigen! Und die vielen Aristokraten … Hast du keine Angst?«

»Nein, warum sollte ich denn Angst haben?« lachte das Kind.

Sie schlossen die Tür wieder. Karoline stand in einer Ecke des Zimmers, preßte ihre Hand aufs Herz und bat mit gequälter Stimme, man möge sie jetzt nicht martern. Es wurde ihr gerade ein Brief mit einem riesengroßen Blumenstrauß gebracht. Der Vater rannte abermals hinaus und kam in einer halben Minute schon wieder zurück, atemlos, so daß kein Laut über seine Lippen gekommen wäre, wenn er hätte sprechen müssen. Endlich stöhnte er mit heiserer und ächzender Stimme:

»Es kann losgehen! Paß auf, ich öffne dir die Tür.«

Der Junge trat vor und verneigte sich so, wie er sich das vorher ausgedacht hatte, ohne jemanden darüber zu befragen: er legte seine linke Hand leicht auf das Klavier. Zuerst verbeugte er sich artig vor der gesamten Zuhörerschaft, dann verbeugte er sich besonders vor dem Fürsten Metternich und nach Rossini zu. Prasselnder Beifall dröhnte ihm entgegen. Er richtete sich hoch und sah verwundert auf die Besucher herab. Am liebsten wäre er zunächst ein wenig in allerlei Betrachtungen versunken … Der Saal war zwar nicht ganz besetzt, dennoch waren sehr, sehr viele gekommen, und die ganze Zuhörerschaft schien ihm außerordentlich interessant und farbenprächtig. Das war wahrhaftig ein wirkliches Konzert mit richtigen Zuhörern! Nicht so wie das jämmerliche im vorigen Jahr im großen Gasthaussaal mit der ärmlichen Beleuchtung und der spärlichen Zuhörerschaft. Diesmal war alles Glanz und Vornehmheit.

Er setzte sich vor dem Klavier nieder, nein, er setzte sich vielmehr hoch, denn der Klavierstuhl war im Verhältnis zum Instrument sehr hoch. Dann sah er die Zuhörer nicht mehr an. Auch nicht den jungen Musiker, der es übernommen hatte, die Noten umzublättern und schon neben ihm auf dem anderen Stuhl saß. Die Noten sah er erst recht nicht an. Er senkte den Kopf, und dachte einen Augenblick lang an den lieben Gott, wie er sich das vorgenommen hatte. Er hob dabei seine beiden Hände und verblieb so eine Weile … »Amen« flüsterte er vor sich hin und schlug den ersten Ton an. Nun war für ihn nur noch das Klavier vorhanden, und sonst nichts auf der ganzen Welt … Als er seinen Vortrag beendet hatte, sprang er vom Stuhl herab.

Alle spendeten Beifall. Es war ein gleichmäßig starker, wuchtiger Beifall, der gar nicht wieder verebben wollte. Er verbeugte sich, freute sich und lächelte. Der Applaus hielt unvermindert an. Er verbeugte sich abermals, – immer noch und immer wieder Beifallsklatschen. Endlich kam es ihm vor, als ob das Dröhnen nachließe. Da trat er zurück, wie man es ihn gelehrt hatte. Hinter der Tür blickte er in das blasse, zuckende Gesicht seines Vaters:

»Warte jetzt«, sagte der heiser, ergriff krampfhaft seinen Arm, hielt ihn eine Weile fest und stieß ihn an, »weiter!«

Der Applaus tobte noch immer. Abermalige Verbeugung. Dann setzte er sich zum Klavier, und mit einem Male war es still. Der Konzertmeister klopfte an seine Geige, das Klavierkonzert von Hummel war an der Reihe. Er verspürte keinerlei Unruhe, nur die schmachtende, heiße Erregung des Aufgehens im Spiel. Als er für ein paar Minuten auszusetzen hatte, zog er überlegen die Mundwinkel etwas herab und strich mit einer Hand sein Haar glatt. Er wagte sogar die Zuhörer zu betrachten, als ob ihn das Warten langweilte. Aber im richtigen Augenblick begann er mit seinem Einsatz. Den ganzen Vortrag begleitete bis zum Schluß eine lautlose Stille, die der Ausdruck erschrockener Verwunderung war. Hinter den einzelnen Minuten lauerte förmlich der Beifall, der sich kaum zurückhalten ließ. Er brach dann auch los, – wolkenbruchartig und donnernd. Viele standen auf und schrien bravo. Der Junge war selig, er lachte über das ganze Gesicht, verbeugte sich immer und immer wieder und suchte den Blick seiner Mutter. Die Musiker klopften mit den Bogen auf ihre Instrumente und zeigten so ihre Anerkennung. Die Mutter winkte vom Rande der sechsten Reihe her, und er lächelte sie strahlend und vertraut an. Im ganzen Saale bemerkte man diesen Blick, und alle schauten neugierig in diese Richtung. Als er in das Künstlerzimmer trat, schmerzten ihm seine Hüften von dem vielen Verbeugen.

»Los, los«, zischte giftig der Geiger, »sonst wird es noch Nacht.«

Er betrat hastig das Podium. Im Nu verwandelte sich die grenzenlose Begeisterung in ein höfliches Begrüßungsklatschen … Denn der Beifall hat seine hundertfache Ausdrucksweise ebenso, wie die menschliche Sprache. Karoline eilte dem Jungen entgegen und umarmte ihn. Er preßte selig mit einem erlösenden Lachen sein Gesicht an die Hüften der Sängerin. Der Vater hatte feuchte Augen und trat vor verlegener Rührung von einem Fuß auf den anderen.

»Vater, ich freue mich so sehr! Nicht wahr, es war gut?«

Das Wunderkind lockte viele Besucher an, die schon das Künstlerzimmer zu stürmen begannen und auf das Violinspiel nicht neugierig waren. Hauptsächlich kamen Frauen und die bekannten Größen der Musikwelt. Adam Liszt war eifrig um sie bemüht, stellte sich einem jeden vor, verbeugte sich unaufhörlich, sprach nach allen Seiten hin und arbeitete wie eine Dreschmaschine. Aber die Herandrängenden wollten gerade von ihm am wenigsten wissen. Der Wunderknabe zog sie an, der dort inmitten des engen Ringes der ihn weit überragenden Damen und Herren stand. Jeder wollte sich zu ihm neigen, jeder wollte ihn streicheln.

»Seit wieviel Jahren spielst du?«

»Wo bist du geboren? Ist es wahr, daß du Ungar bist?«

»Wieviele Geschwister hast du?«

»Spielst du Mozart nie? Warum hast du nichts von Mozart gespielt?«

»Was fühlst du, wenn du auf das Podium hinaufgehst?«

Es waren aber auch viele, die nichts zu fragen wußten; sie drehten ihn zu sich, sahen ihm ins Gesicht und überlegten, worüber sie sich mit ihm unterhalten sollten. Andere wieder betrachteten ihn mißtrauisch, ob er tatsächlich noch ein Kind wäre und ob man aus unmittelbarer Nähe nicht einen Betrug entdecken könnte … Das Kind kam gar nicht dazu, die sich überstürzenden Fragen zu beantworten, denn sein Vater schaltete sich immer wieder dazwischen. Er antwortete nach rechts und nach links, nach vorne und nach hinten. Er prahlte auf jede Art und Weise damit, daß diese ganze Sache im Grunde genommen sein Erfolg sei, denn sowohl das Kind, als auch die Begabung des Kindes stamme von ihm …

Nach dem ersten Ansturm ließ der Andrang etwas nach. Der Ring lockerte sich. Da erblickte der Junge endlich seine Mutter, die bescheiden wartend an der Wand lehnte, bis die Reihe an ihr war.

»Mutti!« schrie er selig und lief in die ausgebreiteten Arme.

Inzwischen beendete Saint-Lubin seinen Vortrag, und die Reihe kam an Karoline. Das junge Mädchen betrat das Podium blaß und taumelnd. Bald erklang ihre Sopranstimme. Der Junge wurde weiter mit Fragen bestürmt und verhätschelt und verwöhnt. Aber er überließ nunmehr die Beantwortung vollständig seinem Vater. Mit halbem Ohr lauschte er entzückt dieser engelhaften Stimme, die seine Seele mit unbeschreiblicher Wonne einwiegte. Karoline hatte ebenfalls einen großen Erfolg. Man spendete ihr lange und herzlich Beifall. Als sie in das Künstlerzimmer zurückkehrte, zog sie sogleich das Kind an sich:

»Putzi, es ging alles fabelhaft. Ich bin so unendlich glücklich! Du und ich haben einen Riesenerfolg gehabt. Wo ist denn der Geiger? Der zerspringt sicherlich …«

Der Geiger war nirgends mehr zu finden. Weil sich niemand um ihn gekümmert hatte, war er lautlos verschwunden.

»Jetzt paß gut auf!« sagte Adam Liszt aufgeregt zu seinem Sohne.

Eine Hand legte er auf die Klinke, mit der anderen faßte er die Hand seines Jungen. Dann öffnete er mit plötzlichem Entschluß die Tür. Vater und Sohn betraten das Podium. Als der tobende Beifall verstummte, setzte sich das Kind ans Klavier, während sich der Vater am Rande des Podiums aufstellte:

»Ich ersuche den hohen Adel und die verehrten Zuhörer, ihre Wünsche zu äußern und Themen zu bestimmen, über die mein Sohn am Klavier phantasieren wird.«

Da kam auch schon ein Saaldiener und brachte die inzwischen gesammelten Zettelchen. Zu gleicher Zeit ertönten hier und da Zwischenrufe:

»Die Arie der Königin der Nacht aus der ›Zauberflöte‹!«

»Irgendein italienisches Lied, bitte!«

»Haydn! ›Ariadne auf Naxos‹!«

»Beethoven!«

Adam Liszt nahm jeden Wunsch beflissen entgegen und übergab die Zettelchen dann seinem Sohn, der sie neugierig durchsah. Der Vater wollte ihm noch etwas zuflüstern, aber er achtete nicht auf ihn. Schon war er im Spiel und schlug die ersten Takte der Oper »Xerxes« von Händel an. Aber nur die ersten Takte, dann begann er sie auch schon zu variieren. Das war so leicht! Das umfangreiche Werk » Thema con variazioni« war ihm bis in die kleinsten Einzelheiten bekannt. Es war einfach ein Kinderspiel für ihn, ein und dasselbe Thema verschiedenartig vorzutragen. Während er mit einer Hand noch spielte, suchte er mit der anderen aus den Zettelchen bereits das nächste Thema heraus. So ging das über acht bis zehn Themen hinweg. Er kam auch allen jenen Wünschen nach, die man ihm zurief. Nunmehr war nur noch eine übrig: das Andante der siebenten Symphonie von Beethoven. Weil er dies am meisten liebte, hob er es sich bis zum Schluß auf. Als er es dann begann, tuschelte ihm der neben ihm sitzende Vater eindringlich ins Ohr:

»Unbedingt etwas von Rossini! – Rossini! – Rossini!

Der Knabe nickte und spielte in derselben Tonart ein Lied aus »Zelmira«, der neuesten Oper von Rossini. Zwei Motive wechselten sich ab … er verflocht sie ineinander … bald übernahm die rechte, bald die linke Hand die Melodieführung … als ob er alles zu fest miteinander verknüpft hätte, löste er dann in breiten, dröhnenden A-dur-Fugen das Ganze wieder auf … ließ sie nach und nach leiser werden, um eines der beiden Themen ben marcato perlend wieder erklingen lassen zu können …

»Genug«, flüsterte der Vater, »hör' auf!«

Aber er hörte nicht auf. Er spielte ja nicht für die Zuhörer, sondern für sich selbst. Das, was er jetzt spielte, hatte doch einen Aufbau, das konnte man nicht beenden, wenn man es einmal angefangen hatte … es war noch unvollständig … schön und sauber entwickelte er alles weiter, damit Salieri nichts aussetzen konnte … Endlich schlug er mit elementarer Kraft feierlich den A-dur-Schlußakkord an, – und noch einmal, – und noch einmal … Unbeschreiblicher Beifall ertönte schon, als er, unersättlich, noch immer das tiefe A anschlug.

Unten löste sich die Ordnung des Zuschauerraumes. Viele standen auf und gingen dem Ausgange zu. Unzählige aber drängten sich zum Podium. Aus unmittelbarer Nähe spendeten sie dem Jungen stehend Beifall. Der Vater nickte ihnen wohlwollend zu, dann verließ er das Konzert. Nun ließen sich die Drängenden nicht mehr zurückhalten und brachen durch bis aufs Podium. Alle schlossen sich zu einem Kreis um den Jungen.

» Non parla italiano?« fragte Rossini den Vater.

Adam Liszt schüttelte mit bedauerndem Lächeln den Kopf.

» Et le français, vous ne parlez non plus?«

Wiederum mußte der Vater mit dem Kopf schütteln. Da zeigte Rossini auf den Jungen und deutete mit einer breiten Geste seiner Hand nach dem Himmel. Das sollte heißen, daß das Kind eine göttliche Begabung habe. Er umarmte den Jungen und küßte ihn von rechts und links. Plötzlich entdeckte er Salieri, der ebenfalls zu dieser Gruppe kam. Laut und begeistert begannen sie eine schnellzüngige italienische Unterhaltung. Auch Czerny trat zu ihnen. Eine ganze Anzahl Menschen strömte, das kaum sichtbare Wunderkind in ihrer Mitte, nach dem Künstlerzimmer.

»Wo ist Tante Karoline?« fragte der Junge.

»Küsse deinen beiden Meistern die Hand«, entgegnete der Vater, »und kümmere dich jetzt nicht um andere Dinge, – küsse ihnen die Hand, das schickt sich so!«

Der Junge küßte beiden folgsam die Hand. Dann brachte die Mutter einen Mantel, und man zog ihn an. Nur mit Mühe und Not kamen sie ins Treppenhaus, man konnte sich kaum bewegen. Der Held des Abends sah sich ungeduldig suchend nach allen Seiten um, die Eltern hielten ihn zwischen sich fest an den Händen.

»Wo ist Tante Karoline?«

»Ach, die ist längst weggegangen«, sagte der Vater, »wahrscheinlich gleich nach Beendigung ihres Vortrages. Also, mein lieber Sohn, das war ein riesenhafter Erfolg! Für die Zukunft dürfen wir das Schönste hoffen. Ich werde jetzt dein Preßburger Konzert vorbereiten, und dann gehen wir auch nach Budapest. Von den Magnaten werde ich nunmehr das Stipendium sicher erhalten! Und wenn mir das gelingt, nehme ich dich mit nach Paris zu Cherubini. Ich glaube, am heutigen Abend hat sich unser aller Schicksal entschieden …«

Der Junge schwieg. Als sie in die Kutsche stiegen, Platz nahmen und die Mutter fürsorglich eine Decke über seine Knie legte, sagte er drängend:

»Vater, Sie haben mit der Tante Karoline nicht gesprochen, als sie wegging?«

»Nein, ich habe nicht mit ihr gesprochen, – oder habe ich mit ihr gesprochen? Ich weiß es wirklich nicht. Ich hatte den Kopf so voll von dieser großen Hetzerei, daß ich mir fast schon wie ein Verrückter vorkam. In Preßburg werden wir den durchlauchtigen Herzog angehen und von ihm ein Empfehlungsschreiben für Cherubini erbitten. Er kennt ihn gut. Außerdem werde ich mich beim Fürsten Metternich zur Audienz melden und ihn bitten, daß er uns für die französischen Aristokraten Empfehlungsschreiben gibt. Paß auf, alles wird wie am Schnürchen gehen! Gut, daß es endlich losgegangen ist …«

Dann wurde nichts mehr gesprochen, bis sie nach Hause kamen. Als sie die wackelige Holztreppe bis zum zweiten Stockwerk erstiegen hatten und das Kind müde seinen Mantel ablegte, faßte ihm die Mutter sorgenvoll unter das Kinn und sah ihm in die Augen:

»Bist du nicht sehr müde? Ist dir die große Aufregung schlecht bekommen?«

»Nein, warum? … Sagen Sie, bitte, Vater, hat mir Tante Karoline nichts ausrichten lassen?«

»Nein, was soll sie dir denn auch mitteilen?«

Verschämt kam die Antwort:

»Ich weiß nicht … nichts … ich hab' nur so gedacht … wann sehen wir Tante Karoline wieder?«

»So bald jedenfalls nicht. Meines Wissens reist sie nach Mailand. Übrigens richtet euch danach, wir sind morgen zur Jause eingeladen. Bei Frau Kozeluch, der Witwe des Komponisten. Sie ist selbst auch sehr musikverständig und eine außerordentlich liebe Frau. Czerny wird auch da sein. Du wirst dort etwas vorspielen müssen. Das ist deine erste Einladung, benimm dich anständig und mach mir keine Schande! Warum ziehst du denn ein so saures Gesicht? Fehlt dir etwas?«

»Nein, wirklich nichts.«

Da fühlte aber der Vater, daß das Kind jetzt ein paar gute und freundliche Worte und väterliche Anerkennung verdienen würde:

»Jetzt könntest du wirklich gute Laune haben und so oft Handstand machen, wie du willst, wenn du Lust dazu hast …«

Der Junge antwortete nicht, er lächelte nur höflich. Er konnte an gar nichts anderes denken, als an Tante Karoline. Unsagbar gerne wäre er jetzt mit ihr zusammen gewesen. Er dachte an ihre feenhaft trillernde Stimme und schloß die Augen …


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