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Achtzehntes Kapitel

Liszts Tod. Der junge Liszt ist in Paris gestorben. In einem Alter, in dem andere Kinder noch kaum an die Schule denken, hatte er mit seinen Erfolgen schon die Welt erobert. In seinem neunten Lebensjahr, wo andere Kinder kaum ihre Sprache stammeln können, improvisierte er schon zur Verwunderung der Meister am Klavier. Und doch hieß er nur › le petit Litz‹; so verband das Publikum seinen Namen mit jener entzückenden Kindlichkeit, die er nicht lange überleben sollte. Als er das erste Mal in der Oper improvisiert hatte, mußte er nacheinander die Logen besuchen und wurde von den Damen geliebkost. In ihrer stürmischen, dem Alter des kleinen Künstlers angepaßten Bewunderung meinten sie ihn nicht bester belohnen zu können, als wenn sie ihn mit Küssen und gebrannten Mandeln beschenkten. Und während sie ihm mit der einen Hand Süßigkeiten anboten, spielte die andere mit seinen seidigen Locken. Dieser außergewöhnliche Junge stellt sich in die Reihe jener Wunderkinder, die auf dieser Welt nur erscheinen, um gleich wieder zu verschwinden. Wie Treibhauspflanzen, die nach dem Hervorbringen einiger prachtvoller Früchte wieder zugrunde gehen. Auch Mozart, der ähnlich wie Liszt durch seine Frühreife überraschte, starb mit einunddreißig Jahren. Sein kurzes Leben hatte er aber mit soviel Qualen und Kummer bezahlen müssen, daß ihm der frühe Tod eine Wohltat war. Denken wir an die auf ein Talent lauernden Gefahren, an die einen Feuergeist begleitenden und ihn bis zu seinem letzten Schritt verfolgenden Schrecknisse, vergegenwärtigen wir uns, daß jeder Erfolg seine Neider hat, und daß jeder das Mittelmaß beschämende Erfolg Intrigen heraufbeschwört, dann mochten wir fast glauben, daß es besser für diese Blume war zu verwelken, als den Stürmen ausgesetzt zu sein, die sie später überfallen und vernichtet hätten. Sein Schutzschild war sein Alter, das jeden Angriff von ihm abwehrte. Bis jetzt hatte er nur Bewunderer. ›Er ist noch ein Kind‹, sagte man bei seinen Erfolgen, und der Neid ergab sich in Geduld. Wenn er aber älter geworden wäre, und der in ihm glühende göttliche Funke sich noch weiter hätte entwickeln können, dann hätte die Kritik nach seinen Fehlern gesucht, seine Verdienste herabgemindert und vielleicht sein ganzes Leben verbittert. Er hätte vielleicht die Launen des Schicksals und die Ungerechtigkeit der Gewalt kennenlernen müssen. Die groben Angriffe unwürdiger und haßerfüllter Leidenschaften hätten ihn vielleicht erdrückt, während er jetzt unter dem Bahrtuch seine kindlichen Träume weiterträumen mag, vielleicht entschlummert mit der Sehnsucht, den gestrigen Traum fortzusetzen. Der Trauerfall ist schmerzlich. Nicht für den Vater, der seinem Sohne schon um ein Jahr vorausgegangen ist, aber für seine Familie, deren Namen er berühmt zu machen begann. Es ist auch für uns schmerzlich, denen er zweifelsohne neue Quellen musikalischer Schönheit erschlossen hätte. Auch wir trauern ihm nach und vereinen uns mit seiner Familie, um seinen frühen Tod zu beweinen.«

Diese Mitteilung erschien in der »Etoile«. Ganz Paris las, die ganze Welt las, daß der junge Franz Liszt gestorben sei. Auch er las es auf seinem Krankenbett. Seit ihm im Hause der Saint-Cricqs diese Schmach widerfahren war, war sein seelisches Gleichgewicht erschüttert. Er gab alle seine Unterrichtsstunden auf und kümmerte sich nicht darum, daß seine Mutter gezwungen war, das ersparte Geld anzugreifen. Er kümmerte sich überhaupt um nichts. Tagelang lag er stumm im Bett, las nicht einmal in seinen Büchern, und tat nichts anderes als beten. Nur ab und zu stand er auf und schleppte sich in seine Lieblingskirche, um Urhan Orgel spielen zu hören.

Zufolge einer früheren Vereinbarung mußte er in einem Konzert auftreten: er spielte das Es-dur-Konzert von Beethoven. Er sah die Zuhörer nicht einmal an, er wußte ja, daß die Einzige, die er ansehen würde, nicht dort sein konnte. Er spielte sein Stück von Anfang bis zu Ende herunter, als ob er von Feinden umgeben wäre, nickte kurz mit dem Kopf zu dem Beifall und verließ das Podium. Er ging geradewegs nach Hause.

Noch in einem anderen Konzerte hätte er spielen müssen, das auch die Mitglieder der königlichen Familie besuchen wollten. Die grellen, gelben Plakate hingen an jeder Ecke. Zwei Tage vor dem Konzert aber verspürte er ein heftiges Fieber. Er mußte einen Arzt kommen lassen. Der Arzt untersuchte ihn und war sofort mit der Diagnose fertig:

»Sie haben Scharlachfieber.«

»Ich muß übermorgen spielen.«

»Schon möglich, dann spielen Sie aber mit Ihrem Leben. Sie sind derartig heruntergekommen, daß ich für nichts einstehe, wenn Sie nicht selbst auf sich aufpassen.«

»Darf ich unter keinen Umständen aufstehen?«

»Ich kann Ihnen nur soviel sagen, daß Sie sich davon den Tod holen könnten.«

»Gott sei Dank. Ich hasse dieses Konzert. Jetzt bin ich es wenigstens los.«

Lächelnd begrüßte er seine Krankheit. Er fand Gefallen am Leiden. Er liebte den Rausch des Fiebers, und mit schadenfroher Selbstquälerei probierte er immer wieder, wie sehr sein Hals beim Schlucken schmerze. Und er betete. Uber der Decke hielt er den Rosenkranz. Wenn seine Mutter zu ihm ins Zimmer hereinsah, fand sie ihn meistens mit geschlossenen Augen liegend, sein schmales Gesicht umrahmt von dem langen, zerzausten Haar, die Lippen wortlos Gebete murmelnd. Eines Tages entstand aus einer unbekannten Quelle das Gerücht, er sei gestorben. Die »Etoile« brachte die Mitteilung auch, bis zu den anderen Zeitungen kam diese Ente nicht mehr. So konnte er in diesem einen Blatt über sein eigenes Ableben lesen.

»Du wirst noch lange leben«, freute sich die Mutter, »Totgesagte haben immer ein langes Leben vor sich.«

Der Kranke hob die Schultern.

»Glauben Sie denn, Mutter, daß das für mich ein Trost ist? In diesem Artikel können Sie selbst lesen, was mich erwartet. Man wird mich beschimpfen, mich hassen, erdrücken und angreifen. Dafür ist mir das Leben geschenkt worden, das seinen Zweck jetzt sowieso verfehlt hat …?«

»Mein Sohn, versündige dich nicht gegen Gott …«

»Sie haben recht, das war ein sündhafter Gedanke. Wenn ich doch wenigstens schon in die Kirche gehen könnte.«

Die Mutter erwiderte nichts. Aber als sie aus der Türe trat, spiegelte ihr Gesicht die schwere Sorge um ihren Sohn wider. Sie selbst war zwar eine außerordentlich religiöse Frau. Es verging kein Tag, an dem sie nicht in ihrem Lieblingsbuche blätterte, dessen Titelseite die Überschrift »Stunden der Andacht« aufgewiesen hätte, wenn sie nicht schon längst abgerissen wäre, denn das Buch von Zschokke begleitete sie schon seit Raiding. Wenn sie auch gern betete, erschrak sie doch vor der maßlosen Frömmigkeit und dem andauernden In-die-Kirche-rennen ihres Sohnes. Auch vor seinem ganzen sonstigen Benehmen. Der Junge machte ab und zu den Eindruck, als sei er nicht völlig bei Sinnen.

Nachdem er vom Scharlach wieder genesen war, war sein erster Gang in die Kirche. Dort betete er dreieinhalb Stunden lang. Er hatte sich so in die Gedankenwelt seiner Religion und deren Ausdrucksweise eingelebt, daß er auch seine verlorene Liebe zu einem religiösen Opfer in seinem Herzen gestaltete. Er sah sich selber, wie er das schneeweiße Mädchen mit beiden Armen hochhebt und Gott darbringt. Blaß vermischte sich in ihm die für immer verlorene Liebe mit dem Opfer Abrahams. Und während seiner langen Gebete wurde sein Schmerz langsam zu einem wunderbaren Schauspiel der Trauer: er erlebte Tag für Tag im geliebten Duft des Weihrauches, in der Stimmung der bunten Kirchenfenster, inmitten der verzaubernden Töne der Orgel das Mysterium des blutig wonnevollen Leidens.

Das Klavier gehörte nur zu jener äußeren Welt, die seine schwärmende Seele als notwendiges Gewand trug. Für neue musikalische Eindrücke war er kaum aufnahmefähig. In einer neuen Komposition Aubers kam eine melodiöse Tyrolienne vor, die ihm gefiel und die er deshalb zu variieren begann, mehr zur Zerstreuung, als aus schöpferischem Ernst. Nur auf das fortwährende Drängen seiner Mutter schrieb er die geschaffenen Phantasien nieder.

Einmal besuchte ihn ein Russe namens Lenz. Er war kein Musiker von Beruf, sondern kam als Jurist an die Universität in Paris, liebte aber das Klavierspiel leidenschaftlich. Er wollte um jeden Preis den besten Klavierspieler der Welt kennenlernen. Er hatte Glück, der beste Klavierspieler der Welt war zufällig nicht in der Kirche, sondern lag auf dem Sofa und rauchte Pfeife, umgeben von seinen drei Klavieren. Denn anstelle des beim Tode seines Vaters verkauften Erard-Klavieres hatte er sich selbst ein neues, kurzes gekauft; der alte Erard überraschte ihn bald danach auch mit einem neuen, und endlich bedachte ihn eine andere Klavierfabrik, die Pleyelsche, mit einem sorgfältig hergestellten Instrument. Zwischen den drei Klavieren konnte man sich in dem auch noch von anderen Möbeln vollgestellten Zimmer kaum bewegen, und durch den dicken Pfeifenqualm konnte man überhaupt nichts sehen. Der Russe stellte sich vor, überhäufte den Künstler mit Komplimenten und bat dann, als Beweis seines Könnens etwas vorspielen zu dürfen, zum Beispiel die Linke-Hand-Sonate von Kalkbrenner?

»Nein«, widersprach mit unerwarteter Heftigkeit der bis jetzt schweigsam gebliebene junge Mann, »das ist keine Kunst. Diese Sonate habe ich nie gehört und will sie auch gar nicht kennenlernen. Zu mir darf nichts kommen, was nicht rein und heilig ist.«

Der russische Jurist war erschrocken. Dann fragte er mit schüchterner Stimme den Hausherrn, ob er etwas von Weber spielen dürfe. Der nickte stumm. Weber kannte er noch kaum. Einzelne Sachen von ihm hatte einst die gute Frau Kozeluch, an die er sich noch erinnerte, in Wien vorgetragen.

»Dann spiele ich die ›Aufforderung zum Tanz‹.«

Er begann zu spielen. Bei den ersten Tönen stutzte er: die Tasten bewegten sich sehr schwer, sogar das »piano« mußte man mit harter Kraft anschlagen. Der junge Meister bevorzugte zu Hause solch ein Klavier, um dadurch seine Finger zu stählen. Lenz war verblüfft, sagte aber nichts und spielte weiter. Franzi lag friedlich auf dem Sofa, von dem er sich bis jetzt noch gar nicht erhoben hatte. Aber nach den ersten Takten schnellte er empor.

»Warten Sie mal, bitte. Wie ist das, was war das?«

»Das ist ein Zwiegespräch«, erklärte beflissen der Russe, »der Tänzer fordert seine Dame auf, die Dame antwortet, sie unterhalten sich. Dann tanzen sie zusammen. Zum Schluß kommt wieder ein Zwiegespräch. Belieben Sie es einmal bis zum Ende anzuhören.«

Der Russe spielte. Er war ein tüchtiger Pianist, stark, schwungvoll, wenn auch in der Dynamik und in der Willkürlichkeit der Tempi etwas barbarisch. Die Fülle der Einfälle und der Liebreiz der Komposition ergriff den Zuhörer.

»Sehr sinnig«, sagte er leichthin, als er aufstand, »das gefällt mir. Die Form des Zwiegespräches ist ganz entzückend. Von nun an werde ich Weber mehr Beachtung schenken. Was kennen Sie noch von ihm?«

Der Besucher kannte noch mehr von ihm, und sie musizierten lange Zeit zusammen. Als der Gast wieder gegangen war, schrieb Franzi auf einen Zettel »Karl Maria Weber« und bat seine Mutter, daß sie am anderen Tage, wenn sie einkaufen ginge, jede nur erhältliche Komposition von ihm in der Notenhandlung erstehen solle. Dann legte er sich wieder auf das Sofa. Er sann über diesen Weber nach, den er erst jetzt kennengelernt hatte und in den er morgen noch tiefer eindringen wollte. Ein sehr feiner, geistreicher und einfallsreicher Komponist. Dieser Walzer ist wirklich ganz ausgezeichnet. Man sieht richtig das sich in den Armen des Tänzers wiegende Mädchen von schlanker Gestalt, mit lieblich blauen Augen und einer schneeweißen Stirn. Aus dem Reigen des musikalischen Sinnens trat schimmernd die schmerzvolle Erinnerung hervor. Weber war nirgends mehr. Nur die für ewig verlorene Liebe erfüllte von neuem sein ganzes Dasein.

In die Untätigkeit der mystischen Grübeleien mischten sich aber nun langsam die Sorgen des Alltages. Das ersparte Geld schrumpfte zusehends zusammen. Er mußte wieder mit den unterbrochenen Unterrichtsstunden beginnen. Die meisten der alten Schüler begrüßten freudig die Nachricht, daß sie wieder von ihm lernen könnten. Auch neue fanden sich an Stelle der alten, und zwar für ein höheres Honorar als das bisherige. Für zwanzig Franken Stundenhonorar bekam er so viele Schüler, wie er nur haben wollte. Den Schülern trat aber ein ganz anderer Meister gegenüber, als der, mit dem sie es früher zu tun hatten. Dieser neue Liszt war ein schweigsamer, nie lächelnder junger Mann, der nie von etwas anderem sprach als von Musik. Sein Blick war unstet, seine Rede verhalten, und wenn ihm hin und wieder eine Bemerkung über eine außerhalb der Musik liegende Sache unterlief, hob jeder, der ihm zugehört hatte, erschrocken den Kopf: an Stelle der seraphischen Heiterkeit war eine beißende Bitterkeit in den hingeworfenen Worten des jungen Mannes, eine stolze, zornige Verachtung aller weltlichen Dinge.

Gesellschaften besuchte er nicht. Ab und zu ging er zu Erards, das war alles. Urhan war sein einziger Freund, mit dem er oft beisammen war. Das war der einzige Mensch, der mit seiner geheimnisvollen und nach Wundern suchenden Glaubensschwärmerei seinen in Weihrauch und Orgeltöne umgewandelten erhabenen Schmerz nicht störte. Urhan hatte jede Nacht Visionen. Himmlische Gestalten gingen in der Einsamkeit seines Zimmers ein und aus und machten wunderliche Musik. Er schrieb die Melodien am anderen Morgen auf, überarbeitete sie und sammelte sie in einer Reihenfolge, betitelt »Auditions«. Seinem jungen Freund spielte er alle vor, da dieser nicht nur den Schwärmer liebte, sondern auch den begabten Musiker in ihm schätzte. Aber sie unterhielten sich auch viel, hauptsächlich in übersinnlichen Höhen, über Sünde und Reinheit. Urhan vermochte mit bewunderungswürdiger Kraft an seinen wahnwitzigen Grundsätzen festzuhalten: im Orchester der Oper sitzend, warf er nicht einen einzigen Blick auf die Bühne, damit kein Makel seine Gedanken träfe, und wenn man ein Ballett aufführte, drehte er sich stets so, daß er nur den Dirigenten sehen konnte.

Das war der einzige Umgang des aus dem Paradiese gejagten Liebenden. In der Zeit, da er noch seine Abende im Palais Saint Cricq verbrachte, waren seine Besuche bei allen anderen Familien unterblieben, und jetzt erneuerte er die alten Freundschaften auch nicht wieder. Früher hatte er nur in Aristokratenfamilien verkehrt, vor denen ihn jetzt aber eine merkwürdige Scheu zurückhielt. Darüber, was er bei dem Wort »Aristokraten« empfand, konnte er sich keine Rechenschaft ablegen. Gegensätzliche Gefühle bekämpften sich in seinem Herzen. Er glaubte, daß er durch seine angeborene Vornehmheit nur zu den Vornehmsten gehöre, nur deren Benehmen, Pracht, Stolz und geistiges Niveau hätten für ihn Gültigkeit … Es quälte ihn aber gleichzeitig auch das Verlangen, alles, was an Herzögen, Grafen, Marquis' und Baronen in Paris lebte, zu einem einzigen Bündel zusammenzuschnüren und mit beispielloser, roher Unbarmherzigkeit zu erniedrigen. Seine Seele verlor sich in dem Durcheinander der Gefühle, in dem er keine Ordnung zu schaffen vermochte. Er ging diesen aufreibenden, inneren Kämpfen aus dem Wege und rettete sich lieber in die Kirche.

Als die Saison herankam, überhäufte man ihn auch nicht mit Einladungen. Nur ganz vereinzelt meldeten sich wappengeschmückte Bogen der alten Paläste, die er noch aus seiner Kindheit gut kannte. Aus den Schildern, den Adlern, den Helmen und den verschiedenen Figuren der Wappen konnte er ganz genau ersehen, welch blaues Blut sie verkündeten. Er ging nirgends hin und nahm lediglich an zwei Abenden der Österreichischen Botschaft teil. Der Botschafter der Monarchie, Graf Antonius Apponyi, der erst seit kurzem in Vertretung des Kaisers Franz nach Paris gekommen war, war gütig und zuvorkommend zu ihm. Die Gräfin galt als außerordentlich musikliebend und zeichnete den weltberühmten jungen Künstler mit liebenswürdiger Aufmerksamkeit aus. Graf Apponyi vertrat im Namen seines Kaisers den Standpunkt des strengsten Legitimismus in Frankreich. Ganz Paris war in Aufregung geraten, als beim ersten Empfang der Botschaft der Graf die von Napoleon ernannten Herzöge nicht mit ihrem neuen Rang, sondern mit ihrem alten Namen ansprach. Jenen alten Soldaten zum Beispiel, der durch das Wohlwollen des einstigen Napoleon den protzigen Titel eines Herzogs von Dalmatien trug, fragte er:

»Wie geht es Ihnen, General Soult?«

Und so verfuhr er auch mit den anderen. Dem jungen Ungarn gefiel das ungemein. Niemandem hätte das ja auch besser gefallen können als gerade ihm, wenn sein Heimatland sich so stolz und vornehm zeigte und wenn man gleichzeitig einen Herzog demütigte … Als er die erste Einladung der Botschaft erhielt, meldete er sich beim Grafen zu einer Audienz. Der Graf führte ihn zu seiner Frau, die ihn mit charmanter Liebenswürdigkeit empfing und ihn bat, Klavier zu spielen. Sie fanden viele gemeinsame Bekannte und Franzi verließ das Palais mit dem Gefühl, als ob eine unsichtbare Hand wohltuend über seine ständig brennende Wunde geglitten wäre …

Am ersten Empfangsabend schlenderte er allein in den prunkhaften Räumen umher. Die Uniformen der Generäle, die Gewänder der hohen Geistlichkeit, die Fracks der Zivilisten, hier und da eine Kniehose, der gleißende Schmuck der Damen, alles zusammen vereinigte sich zu einem prächtigen, glanzvollen Auf und Ab, in dem er eine Zeitlang zerstreut umherlief, als ginge er zwischen den Seiten eines lebendig gewordenen Bilderbuches spazieren. Immer wieder fand sich eine Dame der Aristokratie, die ihn erkannte und anredete. Scheu gab er Antwort, und sobald er nur irgend konnte, beendete er das Gespräch, denn ihm graute vor dem Gedanken, daß vielleicht gerade die Person, mit der er sprach, die Geschichte seiner Verstoßung aus dem gräflichen Palais kenne. Er litt so sehr, daß er sich fest vornahm, nie wieder hierher zu kommen.

Aber er mußte wiederkommen. Die Gräfin ließ ihn vor ihrer zweiten, kleineren Abendgesellschaft zu sich bitten. Sie hatte sich ausgedacht, die Pariser mit einer kleinen Kostprobe aus dem ungarischen Liederschatz zu überraschen. Ihr Sohn, der kleine Graf Rudi, hatte einen gut aussehenden ungarischen Juristen zum Erzieher, namens Fekete, der ein großer Kenner und Verehrer der ungarischen Lieder war. Franzi nahm an den Vorbereitungen keinen Anteil. In dieser Zeit war er wieder kränklich und lag meist zu Bett. Er übernahm aber trotzdem den Vortrag jener Komposition, die er aus den Bruchstücken einzelner ungarischer Lieder geschaffen hatte.

Die Soiree gelang vorzüglich. Fekete sang einzelne Lieder mit ungarischem Text. Nach der Erklärung des Programmes waren es Bauernlieder aus der Gegend von Veszprem. Sie fanden stürmischen Beifall, begleitet von überraschtem Flüstern. Dann spielte der junge Liszt und hatte ebenfalls großen Erfolg. Zum Schluß führten sechs vornehme Paare, zum größten Teil ungarische Magnaten, die sich gerade in Paris aufhielten, ungarische Tänze zu Klängen der Originalmusik vor. Das Entzücken kannte keine Grenzen.

Franzi hatte das Gefühl, daß an diesem Abend neues Leben in ihn kam. Die ungarische Musik erfüllte ihn abermals mit prickelnder Erregung, wie immer, so oft er sie nur hörte. Die eigenartige Tonleiter, die ungehemmte Willkürlichkeit der Form, die unerhörte Kraft der Tanzrhythmen beschwor ihm Raiding und die Zigeuner herauf. Eine heiße Freude wallte in ihm auf: er hatte eine Heimat, der er in alter Verbundenheit angehörte …

Die Gräfin fand nach dem Konzert in dem duftigen Trubel Zeit, ihn anzusprechen und für seine Mitwirkung zu danken. Sie fragte ihn zugleich, was sie ihm noch schulde.

»Ich stehe in Ihrer Schuld für den Kunstgenuß«, wehrte er galant ab. »Was Sie für mein bescheidenes Auftreten bestimmt haben, Gräfin, widme ich ehrfurchtsvoll einem von Ihnen selbst zu bestimmenden wohltätigen Zweck. Es wäre nicht schicklich, aus meinem Heimatlande Vorteile zu ziehen.«

Die Gräfin sah ihn überrascht an und reichte ihm wortlos die Hand als Anerkennung und zugleich auch zum Abschied. Dann wandte sie sich aber nochmals um und richtete in dem allgemeinen französischen Redetrubel noch einige deutsche Worte an ihn.

»Ach, was ich noch sagen wollte: ich hatte Ihnen doch gesagt, daß ich am nächsten Dienstag einen kleinen musikalischen Nachmittag veranstalten wollte. Der muß leider ausfallen. Die eingeladenen Gäste sind zum größten Teil durch die Hochzeit in Anspruch genommen.«

»Was für eine Hochzeit?«

»Wissen Sie das noch nicht? Die junge Komtesse Saint Cricq heiratet den Grafen D'Artigaux. Den neuen Zeitpunkt für den ausgefallenen Nachmittag gebe ich Ihnen noch bekannt.«

Dann entfernte sie sich und ließ in dem glanzvollen Wirbel der Gäste den wie vor den Kopf geschlagenen Jungen zurück. Er stand eine Weile unbeweglich an seinem Platz und lächelte einfältig in seiner Verlegenheit. Seine Lippen bebten und seine Finger zuckten. Wenn er jetzt nicht wegginge, würden seine Knie unter ihm zusammenbrechen, dachte er. In der Garderobe suchte er seinen Mantel. Draußen regnete es trostlos. Er merkte nichts davon. In dem dicht strömenden Regen ging er zu Fuß nach Hause, und fühlte nur, daß er nicht fähig war, an irgend etwas zu denken, denn sein Verstand schien stehen geblieben zu sein. Der Schlag, der ihn getroffen hatte, war so derb und unerwartet gekommen, daß er nicht sogleich die Besinnung wiedererlangte. Zu Hause in seinem Bett begann er langsam zu weinen und dann wütend zu schluchzen. Seine Mutter stand erschrocken aus dem Bett auf und drang in ihn ein, er aber schluchzte nur und konnte nicht antworten. So ging das anderthalb Stunden. Da kleidete sich Mutter Liszt an, um einen Arzt zu holen. Aber der Sohn bat sie in gebrochenen Worten, am ganzen Körper bebend, sie solle es nicht tun, er würde sich schon beruhigen. Beim Morgengrauen war er endlich in der Lage zu sprechen.

»Komtesse Liline heiratet am Dienstag. Den Grafen D'Artigaux. Ich kenne ihn, ein Grubenbesitzer, ein reicher Mann. Alt.«

Abermals begann er zu schluchzen. Die Mutter saß am Rande des Bettes und hielt seine Hand.

»Mutter, ich kann nicht anders, ich werde Geistlicher.«

»Nein!« schrie erschrocken die Mutter.

»Ich muß. Sehen Sie doch ein, daß ich muß. Ich kann in dieser Welt nicht leben. Ich sterbe darüber. Wollen Sie, daß ich lieber sterbe? Ich werde Sie schon durch Unterrichtsstunden unterstützen. Ich werde kirchliche Musik schreiben. Ich halte es nicht aus, ich kann nicht mehr …«

»Mein teurer, kleiner Sohn, du wirst es ertragen können! So etwas kann man ertragen. Du wirst eine andere finden und …«

»Nie, nie! So etwas dürfen Sie mir gar nicht sagen. Niemals und keine andere, nur sie! Sagen Sie, daß Sie einverstanden sind, Mutter! Sie werden schon sehen, wie schön das wird, und Sie bleiben ja auch dann in meiner Nähe … Ich kann es wirklich nicht mehr ertragen … Ich will schon seit sehr, sehr langer Zeit Mönch werden …«

»Nein, mein Liebling, ich bitte dich um alles in der Welt, laß ab von diesem Gedanken. Du kannst ja den lieben Gott auch so lieb haben. Nicht wahr, du tust es nicht? Sag', daß du es nicht tust.«

So stritten sie lange. Die Mutter zog seinen langhaarigen, von Tränen feuchten blonden Kopf in ihren Schoß. Sie streichelte ihn und liebkoste ihn wie einst. Der winterliche Morgen graute schon, und sie unterhielten sich noch immer, alle beide todmüde, nur in langen Zwischenräumen sagten sie ab und zu einen Satz.

»Also, du versprichst mir, daß du es nicht tust? Franzi, sage ja! Mir zuliebe! Willst du es mir nicht versprechen?«

Der Junge konnte nicht antworten. Im Schoße seiner Mutter überraschte ihn der Schlaf.


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