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Zwischen ungeöffneten Kisten, inmitten eines unbeschreiblichen Durcheinanders berieten sich Mutter und Sohn über die Zukunft. Dreieinhalb Jahre lang hatten sie sich nicht mehr gesehen, und nun konnten sie sich aneinander nicht satt sehen. Als Anna Liszt in Paris ankam, hatte ihr Sohn, der vorübergehend bei Erards im Palais Muette gewohnt hatte, schon eine neue Wohnung gefunden. In dem alten Heim, wo er mit dem Vater solange gehaust hatte, wäre es ihm unmöglich gewesen, zu bleiben. Die Erardschen Damen suchten ihm eine neue Wohnung. Er selbst vermochte sich kaum zu rühren in seiner verzweifelten Unbeholfenheit. Sie mieteten am Montmartre eine Dreizimmerwohnung in der Rue Cocquenard. Die ungeöffneten Kisten und die umherliegenden Sachen ließen kein Gefühl der Behaglichkeit aufkommen.
»Ich werde keine Konzertreise mehr unternehmen, Mutter, ich habe mich entschlossen, diese Rundreisen aufzugeben, weil ich sie hasse. Ich habe soviel darum gelitten, daß ich am liebsten immer geweint hätte. Ich will nicht mehr der Affe auf der großen Trommel sein.«
»Was willst du nicht mehr sein?«
»Affe auf der Trommel. Ein Schaustück im Zirkus. Glauben Sie denn, daß die Leute, die zu solchen Konzerten kommen, den Künstler sehen wollen? Ach wo! Auf das Wunderkind sind sie neugierig, und ich bin kein Wunderkind mehr. Der arme Vater hat mich noch zuletzt als Vierzehnjährigen bezeichnet, und ich bin schon sechzehn Jahre alt. Nun ist es genug.«
»Aber wovon werden wir leben, mein Sohn?«
»Ich werde Stunden geben. Sehen Sie doch einmal an, wie gut Czerny davon leben kann. Warum sollte ich das nicht auch können, der ich hundertmal berühmter bin. Sie werden schon sehen, was für ein schönes, behagliches Leben wir führen werden, so zu zweit. Bis es sich herumspricht, daß ich Unterricht gebe, langt mein Geld noch. Vor allem anderen habe ich keine Angst.«
»Hast du mit dem Begräbnis viel Ausgaben gehabt?«
»Fragen Sie lieber gar nicht, sehr, sehr viele. Der Arzt, die Apotheke, das Hotel … Man darf gar nicht daran denken.«
»Und hast du wenigstens genug Geld gehabt?«
»Nein, ich habe keins gehabt. Aber ich habe mir geholfen.«
»Du hast wohl welches von Erards verlangt, nicht wahr?«
»Verlangt? Nein. Ich könnte von niemandem Geld verlangen. In Boulogne habe ich über alle Kosten einen Schuldschein ausgestellt, und hier zu Hause habe ich dann mein Erard-Klavier verkauft. Ich habe ja noch ein anderes. Leider habe ich es unter dem Preis verkaufen müssen, aber ich hatte keine andere Wahl. Ich habe dann in Boulogne alles bezahlt, und es ist auch noch etwas übrig geblieben, womit wir das neue Leben anfangen können. Sind Sie mit meinen Plänen einverstanden, Mutter?«
»Mein lieber Sohn, ich rede in nichts drein. Du bist schon ein großer Junge und weißt besser, was zu tun ist. Ich bin glücklich, daß wir wieder zusammen sein können; alles andere kümmert mich nicht. Wohin wollen wir dein Klavier stellen? Denn danach möchte ich die anderen Möbel verteilen.«
»Das ist ganz gleichgültig. Wie Sie es für richtig finden.«
»Aber, mein Engel, das mußt du sagen. Du wirst ja darauf spielen, nicht ich.«
»Das ist wirklich ganz einerlei. Ich gehe jetzt zu Reicha.«
Er küßte seiner Mutter die Hand und ging. Er war froh, auf die Straße zu kommen, denn er stand allen praktischen Dingen und Anordnungen im Leben fremd gegenüber. Solange er lebte, hatte das ja immer sein Vater für ihn erledigt. Und es wurde ihm immer klarer, daß Adam Liszt ihm noch lange, lange Zeit sehr fehlen würde.
Langsam kamen sie mit der Wohnung in Ordnung, und nach einiger Zeit hatte sich auch schon die neue, regelmäßige Lebensform des kleinen Heims herausgebildet. Seine Erwartungen hinsichtlich der Unterrichtsstunden hatten ihn nicht getäuscht. Innerhalb weniger Tage meldeten sich bereits so viele Schüler, daß er von ihnen die Haushaltungskosten reichlich bestreiten konnte. Die Gräfin Montesquiou war die erste, die ihre kleine Tochter unterrichten lassen wollte. Am selben Tage ließ ihm der Earl of Granville, der englische Botschafter, Bescheid zukommen, er möge ihn besuchen, da er mit ihm über die Ausbildung seiner Töchter sprechen wolle. Ein junger Mann aus Genf, namens Pierre Wolff, ein Belgier namens Louis Meßmecker meldeten sich gleichfalls. Das waren die ersten. Aber ihnen folgten zahllose weitere. Nach einer Woche konnte er schon niemanden mehr annehmen. Drei oder vier Schüler mußte er mit Bedauern zurückweisen. Eine hatte er aber doch nicht abweisen können. Das war die Gräfin Saint-Cricq, die Frau des Handelsministers, die gleichfalls ihre Tochter unterrichten lassen wollte.
Morgens um einhalb neun Uhr ging er von Hause weg. In der Kirche hörte er sich jeden Tag die stille Messe an und begann dann seine Arbeit. Er meldete sich im ersten Haus, gab die Stunde, verabschiedete sich artig und ging dann die endlosen Straßen entlang. Einen Mietwagen konnte er nicht nehmen, weil sonst der größte Teil der Stundengelder draufgegangen wäre. Auch im zweiten Hause erteilte er seinen Unterricht und lief weiter in das dritte. Dann war es aber auch schon Zeit für das Mittagessen. Kaum hatte er den letzten Bissen hinuntergeschluckt, mußte er wieder weiter. Von dem einen Ende der Stadt bis zum anderen zu Fuß, bei gutem Wetter ebenso wie bei schlechtem … Oft wurde es zehn Uhr abends, ehe er wieder nach Hause kam. Dann hatte er meistens vor Erschöpfung keinen Hunger mehr. Er schlang nur hastig ein paar Bissen hinunter, um so schnell als möglich zu seinen Büchern zu kommen. Zur Zeit las er »Les pères du désert«, außerdem blätterte er täglich in der Bibel und in dem unentbehrlichen Thomas a Kempis.
Die Schüler machten ihm Vergnügen. Er fand den Unterricht lustig und hatte seine Freude daran, wenn er die grundlegenden Fehler seiner Schüler sofort entdeckte, wenn er sofort sah, welche Übungen er vorschreiben mußte, und war glücklich, wenn der Schüler sich selbst am meisten wunderte, wie schnell sich sein Spiel verbesserte, wenn es überhaupt zu verbessern war. Unter den ersten Schülern waren aber auch solche, aus denen auch beim sorgfältigsten Unterricht nichts zu machen war. In solchen Fällen sagte er nach ein bis zwei Wochen, er fände es unanständig, Geld anzunehmen, für das er keine Gegenleistung bieten könne. Es müßte ja nicht ein jeder Klavier spielen …
Aber da war besonders eine, die ihm gleich in der ersten Stunde ans Herz gewachsen war: die Tochter der Gräfin Saint-Cricq. Als er das erstemal in dieses Haus eintrat, empfing ihn das Familienoberhaupt selbst. Er war ein außerordentlich höflicher, steifer und ernster Aristokrat, der Minister für Handel und Gewerbe der Martignac-Regierung. Er fragte, was der junge Künstler für eine Stunde bezahlt haben möchte. Auf die Antwort: »dreißig Franken« nickte er kurz, und schon übergab er den jungen Meister einem Lakaien, der ihn zu den Damen führen sollte. Nach den Sitten der vornehmen Pariser Welt war es selbstverständlich, daß den Klavierstunden eines jungen Mädchens auch die Mutter beiwohnte.
Diese Mutter war eine reizende, liebenswürdige Dame. Franzi kannte sie schon. Er war ihr bereits in den Salons begegnet, wo er Klavier gespielt hatte, auch in ihrer Loge war er schon gewesen. Das Mädchen aber sah er heute zum erstenmal.
»Kommen Sie, lieber Litz, daß ich Sie meiner Tochter Caroline vorstelle.«
Ein schlankes Mädchen von hohem Wuchs, fast noch ein Kind, stand vor ihm. Sie mochte mit ihm im gleichen Alter sein. Das Auffallendste an ihr war ihre blendend weiße Haut, die der Farbe des Porzellans glich, nicht aber des polierten Porzellans; nur auf ihren Wangen lag ein leichter, rosiger Hauch. Sie hatte goldblondes Haar, und ihre Augen waren dunkelblau. In ihrem duftigen, blaßveilchenfarbigen Kleid bot sie einen so märchenhaften Anblick, daß der junge Künstler vor Verwunderung zu grüßen vergaß. Endlich konnte er sich wieder sammeln und zurechtfinden, er verbeugte sich:
»Ich freue mich, Komtesse, Sie kennenzulernen.«
Dann setzten sie sich ans Klavier. Die Unterhaltung führte die Mutter mit der angeregten Fröhlichkeit und Sicherheit in der Beherrschung der Umgangsformen, die in solchen ersten Viertelstunden der Jugend über ihre Befangenheit hinweghilft. Sie meinte, daß es dem Lehrmeister sicherlich angenehm sein werde, sich mit dieser Schülerin zu befassen, denn sie sei fleißig, pflichtbewußt und ernst, vielleicht zu ernst. Dann erzählte sie von dem bisherigen Unterricht ihrer Tochter und forderte sie endlich auf, ihr Können zu zeigen. Die Komtesse begann folgsam. Sie spielte » Il pleut, bergère« und spielte dieses Liedchen sehr zart und liebevoll. Dann schwieg sie und senkte artig ihren Blick auf die Tasten.
»Nun?« fragte die Mutter.
»Ich wage zu behaupten, daß die Komtesse eine ausgesprochene Begabung zeigt. Ich übernehme jede Verantwortung dafür, daß sie in einigen Monaten eine vorzügliche Pianistin sein wird, wenn sie gewissenhaft übt, denn Klavierspielen kommt nicht von selbst. Wenn sie es ernst nehmen will, so heißt das, mindestens vier Stunden am Tage üben.«
»Wieviel haben Monsieur geübt?« fragte das junge Mädchen.
»Monsieur!« Der junge Mann fühlte einen freudigen Schlag in der Gegend seines Herzens. Man sagte ihm das erstemal in seinem Leben, und zwar nicht nur zum Scherz, »Monsieur«. Während ihn eine frohe Erregung und innigster Dank dem schneeweißen Mädchen gegenüber erfüllte, richtete er sich in seinem Klavierstuhl auf:
»Seit meinem vierten Lebensjahre mindestens sechs Stunden am Tage. Es hat aber auch Tage gegeben, wo ich zehn Stunden geübt habe.«
»Unerhört«, rief die Gräfin verwundert, »und nebenbei auch noch die Schulaufgaben erledigen! Armer Junge!«
Franzi wurde rot. Seine Ehrlichkeit trieb ihn dazu, richtigzustellen, daß er sich mit Schulaufgaben nie beschäftigt habe. Aber er schämte sich vor den beiden vornehmen Damen … and dann hatte er auch gar keine Zeit zu dieser Erklärung. Die Gräfin führte die Unterhaltung weiter.
»Es wäre vielleicht zweckmäßig, wenn Sie meiner Tochter zeigen würden, wie Sie dieses kleine Lied spielen. Ich kann mich gut erinnern, daß ich es einmal von Ihnen bei einem Hauskonzert gehört habe. Wo war es denn gleich?«
»Ich habe es bei verschiedenen Gelegenheiten gespielt«, antwortete er.
Die Komtesse machte Platz, und er schob seinen Stuhl vor die Mitte des Klavieres. Viel hingebungsvoller als jemals in einem seiner Konzerte spielte er. Diesen beiden Damen wollte er unbedingt sehr gefallen. Nach dem zarten, feinen Spiel der Komtesse wirkte sein Vortrag wie die Stimme des Löwen nach dem Vogelgezwitscher. Er sah nicht zur Seite, spürte aber mit den Schultern, daß ihn das junge Mädchen in stummer Betroffenheit und Verwunderung anblickte.
»Was sagst du dazu?« fragte die Mutter, den Erfolg förmlich für sich in Anspruch nehmend.
»Ich finde keine Worte«, erwiderte das Mädchen leise, »ich habe nicht gewußt, daß es überhaupt möglich ist, so Klavier zu spielen. Monsieur sind wirklich ein großer Künstler.«
»Du kleines Schaf«, lachte die Mutter, »selbstverständlich ist er ein großer Künstler! Heute spielt niemand auf der ganzen Welt besser Klavier als er. Ich habe es dir doch schon erzählt.«
»Auf der ganzen Welt …«, flüsterte das Mädchen, »es muß ein wunderbares Gefühl sein, das von sich zu wissen. Das ist so ähnlich, wie König zu sein. Einen Karl X. gibt es ja auch nur einmal auf der Welt, und es gibt auch nur einen Papst Leo.«
»Es gibt vielleicht auch nur ein einziges sechsfüßiges Kalb auf der ganzen Welt. Wenn man so ein zur Schau gestelltes seltenes Tier ist, so ist das eher ein schmerzliches Gefühl …«
Mutter und Tochter sahen ihn überrascht an, erwiderten aber nichts. Dann kamen sie abermals auf den Unterricht des Mädchens zurück. Der junge Meister klärte sie sofort über ihre offensichtlichsten Fehler auf. Vor allem stellte er fest, daß die Handhaltung der Komtesse unrichtig sei. Ihre Handgelenke wären zu steif, sie müßten lockerer werden. Das Mädchen versuchte es.
»Die Ellenbogen bitte näher zu den Hüften heran, Komtesse. Noch mehr. Und jetzt bitte gerade sitzen! So. Sie müssen mehr von oben auf das Klavier herabsehen. Nein, nicht auf die Tasten, auf die Noten! Die Tasten dürfen Sie nie ansehen. Jetzt bitte die Gelenke etwas höher. Das ist zu hoch. Jetzt halten Sie sie wieder zu tief …«
Seine Hand näherte sich unwillkürlich der des jungen Mädchens. Gleichzeitig antwortete aber auch schon eine unwillkürliche Bewegung des Mädchens: ihre Handgelenke erzitterten, als ob sie vor dieser fremden Berührung flüchten wollten. Der junge Mann wartete das gar nicht ab, er zog seine Hand sogleich zurück. Er durfte dieses Mädchen nicht berühren, auch dann nicht, wenn es nötig war. Diese aus schneeweißen, kornblumenblauen, goldblonden und kirschroten Farben zusammengesetzte, hauchzarte Erscheinung schien überirdisch schwebend, als sie neben ihm saß, in ihrer visionären Unerreichbarkeit. Das verzauberte Sinnbild der Reinheit saß neben ihm als Sinnbild all dessen, was er in der Versunkenheit seiner monatelangen Gebete in seinen frommen Büchern gesucht hatte …
Abends hätte er seiner Mutter am liebsten erzählt, was für einen gewaltigen Eindruck dieses durchgeistigte Mädchen mit der Marmorblässe auf ihn gemacht hatte. Aber er hatte Angst, daß er sich nicht richtig würde ausdrücken können und seine Mutter dann seine makellose Begeisterung mißverstehen könnte. Deshalb sagte er nur:
»Die Stunden verlaufen sehr gut, Mutti. Ich habe sehr liebe Schüler. Es ist eine Freude, sich mit ihnen zu beschäftigen.«
»Gott sei Dank! Und ich kann dir auch nur Gutes berichten. Ich habe heute einen anderen Kolonialwarenhändler gefunden, zwar etwas weiter entfernt, aber viel billiger. Dem Fleischer habe ich erzählt, wer ich bin, da hat er sofort gesagt, daß er für uns stets das schönste Fleisch bereithalten werde. Er hat dich einmal Klavierspielen gehört. Das ist ein günstiger Umstand. Von nun an werde ich immer sagen, für wen es bestimmt ist, wo ich auch einkaufe.«
Der Junge wollte schnell widersprechen. Das war ihm nicht recht. Aber dann erwiderte er doch nichts. Er fühlte sich so leicht und froh und wollte auch seiner Mutter die gute Laune nicht verderben. Er nahm seine religiösen Bücher vor, konnte aber nicht lesen. Die feine Gestalt des Mädchens schwebte fortwährend zwischen den Buchstaben und seinen Gedanken. Da setzte er sich ans Klavier. Am liebsten spielte er jetzt seine neueste Komposition, das g-moll-Scherzo, das er noch zu Lebzeiten des Vaters verfaßt hatte. Auf Geheiß seines Vaters widmete er es dem Grafen Tadé Amadé, jenem ungarischen Magnaten, der seinerzeit in Preßburg das größte und wärmste Interesse für die künftige Ausbildung des Wunderkindes bezeugt hatte. Und daß er das nicht nur in einer augenblicklichen begeisterten Laune getan hatte, ersah man am besten aus seinen Briefen, in denen er sich ständig nach dem Vorwärtskommen des Jungen erkundigte. In der letzten Zeit war allerdings lange kein Brief mehr von ihm gekommen.
Er wäre aber auch ganz umsonst gekommen. Der junge Meister hatte seine Gedanken nur bei seiner neuen Schülerin. Er hätte am liebsten die Nacht übersprungen, daß es gleich wieder Morgen würde. Und auch die nächsten Tage hätte er gerne übersprungen, um wieder in das Palais Saint-Cricq gehen zu können, wo ihn die zweite Stunde erwartete.
Die zweite Stunde war noch schöner als die erste. In der Liebenswürdigkeit der Gräfin lag etwas Fesselndes, Verbindliches, etwas Vertrauliches und Natürliches. Es war ganz unmöglich, sie nicht gerne zu haben. Und fast schien es, als ob die Zurückhaltung des jungen Mädchens schon etwas nachgelassen hätte, obwohl man es an ihrem Benehmen nicht feststellen konnte. Sie war wieder sehr schweigsam, und es war beinahe unmöglich, ihr in die Augen zu sehen, denn sie hielt ihren Blick stets anstandsvoll gesenkt. Ihre wärmer werdende Annäherung war aber schon in der Luft zu verspüren. Und wenn sie während ihrer Übungen als einzige Unterhaltung » Oui, monsieur« oder » Non, monsieur« hauchte, dann erfüllte den jungen Burschen, den noch vor einigen Monaten sein seliger Vater als Wunderkind behandelt hatte, eine stolze Freude über sein Erwachsensein.
Die Gräfin, die sich an einem Tisch des Salons mit einer Stickerei beschäftigte, bedauerte beim Abschied:
»Müssen Sie schon gehen? Ich hätte Sie gern noch spielen gehört.«
Er wandte sich sofort zum Klavier, um zu bleiben. Die Gräfin lächelte.
»Nein, nein, das dürfen wir von Ihnen nicht verlangen. Es schickt sich nicht, daß wir Ihre Anwesenheit ausnützen. Wenn Sie wieder ein Konzert geben, gehen wir natürlich auch hin.«
Der junge Mann wurde über und über rot. Seine Gedanken arbeiteten schnell.
»Denen, die ich lieb habe, spiele ich sehr gern vor. Aber meine Stunde ist zu Ende, und ich habe kein Recht, hier zu bleiben.«
Die Gräfin blickte den Jungen an. Unausgesprochene Worte schwebten zwischen ihnen. Aber sie war eine feinfühlige Frau. Sie griff nach dem seidenen Glockenzug:
»Ich bitte nicht den Klavierlehrer zu bleiben, das wäre eine Unbescheidenheit. Aber den lieben Bekannten sehe ich gern in meinem Heim.«
Dann wandte sie sich zu dem eintretenden Lakaien:
»Georges, bringen Sie Portwein und Konfitüren. Und Sie, nehmen Sie bitte Platz, wenn Sie Zeit haben. Sie sollen nur dann Klavier spielen, wenn Sie in Stimmung dazu sind, sonst können wir uns solange unterhalten, bis Sie gehen müssen.«
In einem einzigen Augenblick hatte sich die ganze Stimmung im Salon verändert. Bis dahin war er, der Angestellte, seiner Pflicht nachgegangen, in einem kaum höheren Range als ein vor einem Galaabend bestellter Friseur. Jetzt aber unterhielten sich zwei vornehme Damen mit einem Mann. Mit einem jungen Mann, der jetzt mit unbändiger Freude daran dachte, daß man in den vornehmen Familien nicht einmal Rossini zu Tisch gebeten hatte …
»Ich danke Ihnen vielmals für die liebenswürdige Einladung, Frau Gräfin. Ich wäre glücklich, wenn wir uns ein wenig unterhalten könnten.«
Und er trat nicht zum Klavier, sondern zum Fenster, wo die taubengrauen Seidenmöbel mit vergoldeten Füßen und gestickten Mustern eine trauliche Ecke bildeten. Er faßte die Lehne eines Stuhles und wartete auf die einladende Handbewegung der Gräfin. Die beiden Damen nahmen Platz, und die erwartete Handbewegung kam. Auch er setzte sich, ungezwungen, ohne die verkrampfte Körperhaltung sich qualvoll beobachtender Menschen. Seit zehn Jahren hatte er schon unzählige Male in Gesellschaften gesessen, in denen sich außer ihm und seinem abseits stehenden Vater nur Aristokraten befanden. Seine Bewegungen, seine Haltung, alles entsprach dem Benehmen eines Gesellschaftsmenschen, und während andere Jungen mit sechzehn Jahren ihre zu nichts nützen Hände als furchtbare Last empfanden, trug er das natürliche und glatte Benehmen eines Weltmannes zur Schau.
»Gestern habe ich mit der Herzogin Moutmorency-Matignon über die Frau Gräfin und die Komtesse gesprochen.«
»Wirklich? Wo haben Sie sie getroffen?«
»Beim englischen Botschafter. Sie wollte sich eben verabschieden, als ich gekommen war, und da haben wir uns ein wenig unterhalten. Ich habe erwähnt, welches Glück mir zuteil geworden sei, daß ich der Komtesse Caroline Stunden geben darf. Da erwiderte sie, daß ich mich mit Recht darüber freuen könne, denn sie kenne wenig so entzückende junge Damen wie die Komtesse.«
Komtesse Caroline neigte vorschriftsmäßig ihre weiße Stirn und dankte artig:
»Die Herzogin ist sehr gütig.«
»Und wovon sprach die Herzogin noch?« fragte die Mutter.
»Sie erwähnte noch den Herzog Durras, da ich mich nach ihm erkundigte. Der Herzog ist mir nämlich sehr zugetan. ›Ach, fragen Sie gar nicht‹, sagte die Herzogin, ›den armen Durras hat vorige Woche der König heftig gescholten, denn er hatte beim Whistspiel zwei große Fehler begangen, und dadurch verlor der König‹.«
»Oh lala«, lachte die Gräfin, »das ist sehr schlimm. Der König kann alles verzeihen, nur das nicht.«
»Sonst ist er aber ein sehr liebenswürdiger Mensch«, fuhr Franzi fort, »Sie werden das selber sehen, Komtesse Caroline, wenn man Sie bei Hofe vorstellt.«
Der Wein und die Süßigkeiten wurden hereingebracht. Die Unterhaltung verlief stockend, denn alle drei warteten auf das Klavierspiel. Aber die Gräfin fand es nicht taktvoll, abermals darum zu bitten, und der junge Künstler hatte sich in seinem eigenen Netz gefangen: er fand keinen Vorwand, sich zum Klavier zu setzen. Da lächelte das junge Mädchen.
»Wollen Sie nicht doch lieber etwas spielen?« fragte sie leise.
»Aber Liline«, ermahnte die Mutter sofort, in einem Ton, in dem mehr Liebe als Zurechtweisung schwang.
Franzi war schon aufgesprungen und trat zum Klavier. Schon spielte er. Mutter und Tochter stellten sich rechts und links neben ihn.
»Oh«, flüsterte die Komtesse, »die Mondscheinsonate …«
Als er sie beendet hatte, sagte die Schülerin ernst:
»Ich beneide Sie um die Freude, so spielen zu können.«
»Beneide ihn lieber nicht«, sagte die Mutter, »sondern lerne fleißig, damit du sie auch wenigstens einigermaßen spielen kannst.«
Der Künstler schüttelte den Kopf.
»Es wäre schade, wenn die Komtesse damit beginnen würde. Das könnte doch nie vollkommen werden. Es gibt Kompositionen, die sich nicht für Frauen eignen. Dies ist auch so eine. Das können nur wir Männer wirklich gut spielen.«
Die Mutter lachte:
»Sie Männer … Sie sind ein liebes Kind, Litz, ein sehr, sehr liebes!«
Der junge Mann errötete tief. Die Gräfin hatte ihn an seiner empfindlichsten Stelle getroffen. Aber so liebenswürdig und so warm, daß er nicht imstande war, es ihr nachzutragen. Nur ein bißchen scheu war er geworden und lächelte verstört. Dann erhob er sich und nahm Abschied.
»Ich hoffe«, sprach die Gräfin, ihm die Hand reichend, »ich habe Sie nicht gekränkt. Sie brauchen keine Angst zu haben, wir sehen Sie nicht als Kind an. Ich habe darüber schon mit Liline gesprochen, daß Sie eigentlich gar nicht in unsere heutige Zeit passen, sondern wirklich ein Ritter aus der Renaissancezeit sind. Nur zu dieser Zeit wurden solche Menschen geboren, die schon in ihrer Kindheit zehn Sprachen beherrschten, sehr gut musizierten und daneben auch noch gut aussahen. Liline liest außerordentlich viel und ist auch jetzt noch innerlich mit dieser Epoche beschäftigt. Sie müßten auch so einhergehen in einem Wams aus Samt, den Degen an der Seite und mit blonden Haaren, die bis zu den Schultern reichen. Was meinst du dazu, Liline?«
In der Stimme lag aufrichtige Wärme, aber auch Schelmerei. Das junge Mädchen nickte ernst:
»Ich kann es mir vorstellen.«
Der junge Mann entfernte sich mit einer geschmeidigen Verbeugung. Er entfernte sich nicht aus einer Klavierstunde, sondern von einem Besuch. Als er aus dem Palais heraustrat, fiel ihm sein Vater ein. Er hätte es ihm am liebsten gleich gesagt: Siehst du, wir brauchen auch vor diesen Leuten nicht auf den Bauch zu fallen. Denn einer, der etwas wert ist, wird überall geschätzt.
Er hatte sich reichlich verspätet und wollte doch in das Nonnenkloster von Saint Denis. Sein Beichtvater hatte ihm versprochen, ihm in diesem Kloster die Stelle eines Klavierlehrers zu verschaffen. Da hätte er eine ständige Beschäftigung, und dieser feste monatliche Betrag käme sicherlich dort zustatten, wo man für einen Haushalt zu sorgen hätte … Zu den Nonnen in Saint Denis brachte man nur Töchter aus besseren Familien zur Erziehung. Diese Stellung wäre also in jeder Hinsicht wünschenswert gewesen.
Die Oberin des Ordens empfing ihn hinter einem Holzgitter sitzend, vor dem der junge Mann stehen bleiben mußte. Die alte Dame brachte zuerst das Gespräch auf die Verspätung:
»Sie sind nicht pünktlich. Das ist bei uns eine sehr schlechte Empfehlung. Aber nachdem ich Sie gesehen habe, brauchen wir sowieso von der Angelegenheit nicht mehr zu sprechen.«
»Warum denn nicht?«
»Man hat mir gesagt, daß Sie ein Wunderkind seien. Ein Kind hätte ich gerne angenommen. Aber Sie … Wie alt sind Sie?«
»Sechzehn.«
»Und Sie sehen noch viel älter aus. Ich bedaure außerordentlich, mein Herr, daß Sie sich, wenn auch verspätet, herbemüht haben. Sie sind kein Wunderkind, sondern ein erwachsener Mann. Ich kann Sie nicht zu den jungen Mädchen lassen, das schickt sich nicht. Sie müßten entweder um vier Jahre jünger sein, oder aber um vierzig älter. So geht das nicht. Guten Tag, mein Herr.«
Der Empfang war zu Ende. Der abgewiesene Bewerber bemühte sich, verärgert zu sein und die Angelegenheit zu bedauern. Da bemerkte er aber überrascht, daß er maßlos glücklich war. »Sie sind kein Wunderkind, sondern ein erwachsener Mann.« Hätte er vom Schicksal ein schöneres Geschenk erhalten können, kaum eine halbe Stunde nachdem die liebenswürdige Gräfin Saint-Cricq seine Manneswürde belächelt hatte? Er ging mit stolz geschwellter Brust nach Hause.
Nach dem Mittagessen, während seine Mutter das Geschirr in die Küche trug, stellte er sich vor den großen Spiegel. Er musterte aufmerksam sein Gesicht. Er sah sich streng in die Augen … er lächelte … dann wurde sein Blick trauriger … er wandte sich zur Seite und prüfte sein Profil, neigte den Kopf etwas nach vorn und betrachtete sich verträumt in dieser Haltung … Aber gleich fuhr er wieder zusammen: die Mutter trat ein.
»Betrachtest du dich im Spiegel, mein Sohn? Es wäre schon nötig, daß du dir dein Haar schneiden ließest.«
»Ich werde mein Haar nicht schneiden lassen, Mutter, ich lasse mir langes Haar wachsen, das bis an die Schultern reicht, wie bei den Rittern der Renaissancezeit.«
»Lange Haare? Du wirst dir doch nicht selbst eine Komödie vorspielen wollen?«
Der Junge erwiderte nichts. Er setzte sich zum Klavier, schloß die Augen und begann die Mondschein-Sonate zu spielen …