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Neuntes Kapitel

Der Vater prüfte den Jungen, während ihn die Mutter anzog:

»Also, wohin gehen wir jetzt?«

»Zu Ihrer Hoheit, der Herzogin von Berry.«

»Richtig. Wessen Tochter ist die Herzogin?«

»Des Thronfolgers von Neapel.«

»Und wer war ihr Gemahl, der vor vier Jahren in der Oper umgebracht wurde?«

»Der Herzog von Berry, der Sohn des Grafen Artois. Und dieser Graf Artois wird heute beim Konzert anwesend sein.«

»Sehr gut. Wer ist dieser Graf Artois?«

»Ein Enkel von Ludwig XV. Der andere Enkel war Ludwig XVI., der am Grève-Platz durch die Guillotine enthauptet wurde, dort, wo Sie es mir gestern gezeigt haben. Dessen Sohn war der kleine Junge, der schon in seinem zehnten Jahre gestorben ist, Ludwig XVII. Und der dritte Enkel ist der jetzige König, Ludwig XVIII. Der wird auch bei dem Herzog anwesend sein.«

»Ausgezeichnet. Jetzt paß auf. Wenn der derzeitige König, Seine Majestät Ludwig XVIII. stirbt, wer wird dann König?«

»Dann … dann wird Graf Artois König. Und wir gehen zu der Witwe seines Sohnes. Dann wird der Sohn der Herzogin der Thronfolger.«

»Vortrefflich. Wer wird also alles zu deinem Konzert versammelt sein? Der König von Frankreich, der künftige König und der nachfolgende König. Und jetzt gehen wir zu der Tochter des künftigen Königs von Neapel. Danach richte dich also!«

Der Junge war gar nicht aufgeregt, aber die Hand der Mutter zitterte, während sie ihn kämmte. Auch der Vater hüstelte fortwährend kurz und streng und sah mit ernster Miene um sich, wie immer, wenn er Lampenfieber hatte. Als sie schon im Wagen saßen, sah er aufgeregt die Noten durch, ob denn auch alle vorhanden wären. Auf dem ganzen Wege schärfte er seinem Sohn immer wieder nachdrücklich ein, daß man nur den alten König mit »Sire« anzureden habe, zu allen anderen müsse man » Altesse Royale« sagen.

Im Palais ging alles wie am Schnürchen. Beim Eingang übergab sie ein Gardist einem Lakaien, der führte sie über Treppen und Gänge und überließ sie dann einem Adjutanten. So wurden sie von Hand zu Hand gegeben, bis sie schließlich in einem mit Rokokomöbeln ausgestatteten kleinen Salon landeten, wo sie warten mußten. Endlich trat ein hoher Offizier ein, der vor allem ihre Kleidung prüfte und dann erst das Wort an sie richtete:

»Sind Sie der Vater?«

»Zu dienen, ich bin es.«

»Sie werden durch diese Tür eintreten. Sofort nach Ihrem Eintritt haben Sie sich vor Seiner Majestät und den hohen Herrschaften, die zur Linken sitzen, tief zu verneigen. Sodann nähern Sie sich dem Instrument, das rechter Hand steht. Sie müssen besonders darauf achten, daß Ihr Gesicht stets Seiner Majestät und den durchlauchtigsten Herrschaften zugewandt ist. Nach zehn Schritten haben Sie sich wieder tief zu verbeugen. Dann können Sie Ihre Plätze neben dem Instrument einnehmen. Während das Kind spielt, dürfen Sie sitzen und die Noten wenden. Sobald das Kind das Spiel beendet hat, haben Sie sich zu erheben und bleiben am Klavier stehen. Möglicherweise werden die Herrschaften das Kind zu sich heranrufen und mit einer Anrede auszeichnen. Sie stehen aber auch in diesem Falle unbeweglich am Klavier. Haben Sie mich genau verstanden?«

»Zu dienen.«

Der Offizier betrachtete sie noch einmal mit prüfenden Augen. Dann bedeutete er ihnen, noch zu warten, und verschwand durch eine andere Tür. Sie warteten. Außer ihnen stand noch ein Lakai wie ein stummes, aufgeblasenes Standbild im Zimmer. Plötzlich rief der Offizier von vorhin:

»Jetzt! Schnell!«

Im selben Augenblick öffnete sich die Tür vor ihnen. Sie betraten beide gleichzeitig das spiegelglatte Parkett, verbeugten sich zweimal vorschriftsmäßig und schritten zum Klavier. Der Vater stellte die Noten auf, während der Junge neugierig die Zuhörer betrachtete. Sie trugen weder Kronen, noch Purpurmäntel: zwei alte Soldaten saßen da in goldenen Lehnstühlen und neben ihnen eine ganz junge Dame mit zwei kleinen Kindern. Das eine hielt eine riesengroße Puppe im Arm. So eine große Puppe, wie sie der junge Klavierkünstler noch nie gesehen hatte! Die beiden Kinder sahen sehr niedlich aus und bestaunten ihn mit offenem Munde. Ihre schöne und junge Mutter lächelte ihm liebenswürdig und aufmunternd zu. Er lächelte unbefangen zurück. Dann rieb er sich die Hände, wie er das vor jedem Spiele gewohnt war, hielt sie eine kleine Weile ruhig über die Tasten und schlug an.

Er spielte. In die Noten blickte er nicht ein einziges Mal. Das hatte er auch gar nicht nötig. Sein aufgeregter Vater blätterte so ungeschickt um, daß die Noten herabglitten und der erschrockene Mann sie zitternd auffangen mußte. Der Junge achtete gar nicht darauf. Er beobachtete unverwandt die Zuhörer und begegnete abermals dem ermunternden, liebenswürdigen Lächeln der Herzogin von Berry. Und wieder lächelte er gewinnend zurück. Der ältere Soldat – es war Ludwig XVIII. selbst – hielt dauernd die Augen geschlossen. Er machte den Eindruck eines geplagten alten Mannes, der, mühsam gegen den Schlaf ankämpfend, nur mit halbem Ohre der Musik lauscht. Der andere alte Soldat nickte öfters zustimmend. Die beiden kleinen Kinder hörten artig zu, und wenn sie hin und wieder zu flüstern begannen, rief sie ihre Mutter sofort mit »psst« zur Ruhe.

Das erste Stück war beendet. Graf Artois nickte gnädig:

»Bravo, das ist ja großartig!«

Der schläfrige König öffnete die Augen und nickte gelassen und gleichgültig. Die Herzogin von Berry lachte den Künstler an und klatschte in die Hände. Den beiden Kindern gefiel das. Sie fingen auch mit ihren kleinen Händen ungeschickt zu klatschen an. Es folgte das zweite Stück, dann das dritte nach der festgesetzten Vortragsfolge. Adam Liszt erhob sich, noch bevor der letzte Akkord verklungen war. Er blieb reglos am Klavier stehen wie eine Säule. Der junge Künstler stand gleichfalls auf. Die Herzogin von Berry und Graf Artois wechselten ein paar leise Worte.

»Komm mal her, Kleiner«, sagte die hohe Frau, »der Graf von Artois möchte mit dir sprechen.«

Der Graf von Artois war ein schmächtiger, weißhaariger Mann mit glattrasiertem Gesicht. Er zog das Kind zu sich heran.

»Das ist ja einfach unglaublich, was du kannst! Ich verstehe viel von Musik, habe aber noch nie jemanden so Klavier spielen gehört. Ich möchte dir irgendeine Freude machen. Verlange von mir etwas, was du gerne haben möchtest.«

Der junge Meister blickte sofort auf die Puppe, die der kleine, vierjährige Knabe in seinen Armen hielt.

»Ich möchte diese … diese …«

»Diese Puppe?«

Der Graf von Artois und die Herzogin von Berry lachten herzlich. Seine Majestät Ludwig XVIII. lächelten gleichfalls. Aber der Herzog von Bordeaux, Graf von Chambord, drückte entsetzt seine Puppe an sich und flüchtete auf den Schoß seiner Mutter. Die kleine, fünfjährige Herzogin blitzte den fremden Jungen feindselig an, der ihnen ihre Puppe wegnehmen wollte.

»Das wird schwer möglich sein«, lachte der Graf von Artois, »du siehst ja selbst, wie furchtbar der Herzog von Bordeaux erschrocken ist, daß wir ihm die Puppe nehmen wollen. Geh' für heute schön nach Hause, ich werde dir eine schicken.«

Er hielt den Jungen nochmals zurück, der sich bereits entfernen wollte, und wandte sich zu seinem allerhöchsten Bruder:

»Was meinen Sie zu diesem Phänomen, Sire?«

Der alte König sagte mit unbeweglicher Miene:

»Wirklich unerhört. Ich bin sehr müde.«

Die Herzogin von Berry, die die beiden alten Soldaten bisher nicht aus den Augen gelassen hatte, sah sich um. Da wurde der Hintergrund lebendig, und zwei bisher unsichtbar gewesene Lakaien traten hervor. Der Graf von Artois sprang ehrerbietig auf, mit noch größerer Hochachtung erhob sich die Herzogin. Die beiden Lakaien ergriffen den Lehnstuhl, in dem der König Platz genommen hatte. Erst jetzt stellte es sich heraus, daß er in einem Rollstuhl saß. Seine beiden Beine, die bis über die Knie durch eine rote Samtdecke verdeckt gewesen waren, ruhten auf einer Stütze des Rollstuhles. Die Augen in seinem pergamentähnlichen, großnasigen Gesicht fielen bereits zu, als er hinausgeschoben wurde. Die Familie begleitete ihn. In der Tür winkte die Herzogin von Berry dem Wunderkinde nochmals liebenswürdig zu. Für einen Augenblick blieben nur das fünfjährige Mädchen und der vierjährige Knabe im großen Saale zurück. Furchtsam zurückweichend preßte der kleine Kerl seine Puppe an sich und hielt sich am Kleid seiner Schwester fest.

Jetzt erst trat Adam Liszt hervor, ergriff die Hand seines Sohnes und verbeugte sich tief vor den durchlauchtigsten Kindern. Dann gingen sie hinaus. Hinter der Türe herrschte der Vater mit gepreßter Stimme seinen Sohn sofort an:

»Bist du verrückt! Warum hast du dich denn nicht verbeugt vor den durchlauchtigsten Kindern? Es ist fürchterlich, daß du niemals aufpaßt!«

Dieser Zwischenfall konnte zum Glück nicht lange erörtert werden, denn der Offizier trat wieder zu ihnen und übergab Adam Liszt eine rote Seidenbörse:

»Im Auftrage Ihrer Hoheit, der Herzogin.«

Dann winkte er einem Lakai, der sie hinausführte und einem anderen weitergab. So gelangten sie, wieder von Hand zu Hand gegeben, zum Ausgang des Schlosses. Dort fanden sie ihren Mietwagen nicht. An dessen Stelle erwartete sie eine Galakutsche. Die Tür öffnete sich, der Lakai schnarrte die Adresse, und alsbald schoß das prunkvolle Gefährt mit ihnen ratternd über die winterlichen Straßen. Am selben Abend noch klopfte ein Lakai bei ihnen an und brachte im Auftrage des Grafen Artois zwei riesengroße Puppen für den Jungen.

Erard, den sie jeden Tag, oft sogar zweimal, besuchten, meinte:

»Mit dem Herzog von Orleans wird die Sache ebenfalls glatt gehen. Das muß aber eingehend beraten werden. Es schadet nichts, wenn mein kleiner Freund auch hört, was ich sage. Sie müssen die Politik in Paris kennenlernen, damit Sie sich in den Einladungen zurechtfinden können.«

Dann hielt er einen langen Vortrag über die Liberalen und über die Ultras. Die Ultras seien die ganz rechtsstehenden Royalisten, während die Liberalen in dem Herzog von Orleans ihren Führer erblickten und anstelle der alten und steifen adeligen Überlieferung etwas mehr frische Luft im öffentlichen Leben verlangten. Napoleon gehöre längst der Vergangenheit an, und auch das Königtum habe im öffentlichen Leben schon lange zu keiner Aufregung mehr Veranlassung gegeben. Die Gemüter fingen an sich zu erhitzen, denn ohne Politik gäbe es in Paris keine Karriere …

»Welcher Partei gehören Sie an?« fragte Adam Liszt, angestrengt nachdenkend.

»Du lieber Gott! Meine Gönnerin war noch die unglückliche Marie Antoinette. Sie sang gerne, die Unglückselige, hatte aber nur eine kleine Stimme. Sie vermochte nicht einmal die Mezzohöhen zu bewältigen. Ich habe ihr dann ein Klavier gebaut, dessen ganze Klaviatur um einen halben Ton, einen ganzen Ton oder gar um anderthalb Töne herabtransportiert werden konnte. So konnte die Königin in ihrer ursprünglichen Tonart singen und sang doch wesentlich tiefer. Sie hat mich dafür auch belohnt. Meine Feinde wollten mich damals zugrunde richten. Seinerzeit mußte ein Gewerbetreibender nämlich irgendeiner Zunft angehören, und da die Klavier- und Harfenbauer ihre Instrumente auch mit Perlmuttereinlagen schmückten, fanden sie keine andere Zunft für sich, als die der Fächermacher, denn die verarbeiteten ebenfalls Perlmutter. Alle traten nun dieser Zunft bei. Nur ich nicht. Und als mein erstes Pianoforte-Klavier sie alle zugrunde gerichtet hatte, verklagten sie mich. Nach dem Buchstaben des Gesetzes waren sie auch im Recht, denn ich hätte der Zunft beitreten müssen. Der Prozeß ging hinauf bis zum König. Und Marie Antoinette half mir. Ludwig XVI., der Unglückliche, entschied zu meinen Gunsten. Dadurch rettete er meine Laufbahn, meine Arbeit und mein Vermögen … Ich halte mich also nur zu dieser Familie.«

»Freut mich, daß ich das höre. Mich zieht es selbst dahin. Aus Paris und London wollen wir ja sowieso wieder nach Wien zurück. Und dort, ja auch in Pest, beherrscht die Aristokratie das Feld. Es liegt ja auch im Interesse meines Sohnes, daß ich mir das Wohlwollen der Aristokratie nicht verscherze.«

»So? Sie wollen nach Wien zurückkehren?«

»Ja, nach Wien und nach Pest. Die Hauptstadt des Landes ist Wien, aber die ungarische Aristokratie sieht es gern, wenn auch Pest nicht vernachlässigt wird. Wir sind ja von dort her. Meine Frau ist außerstande, im Auslande zu leben, und auch ich fühle mich in der Fremde nicht recht wohl. Anfangs glaubte ich, wir müßten wegen des Konservatoriums zwei Jahre hierbleiben. Jetzt sehe ich aber, daß es auch dann nicht nötig gewesen wäre, wenn mein Sohn aufgenommen worden wäre. Meine Absicht ist, hier und in England soviel Lorbeeren zu ernten, als nur irgend möglich, und dann in die Heimat zurückzukehren. Wenn einem Beethoven Wien gut genug ist, nun, so ist es das für uns erst recht.«

Der Knabe lauschte gespannt, denn nur durch solche Zufälle erfuhr er etwas über die Absichten seines Vaters. Über die wichtigen Dinge verhandelte sein Vater niemals mit ihm.

»Ich will da nicht dreinreden«, sagte Erard, »jeder soll dort leben, wo er sich wohlfühlt. Nun sag' mir mal, mein Kind, wie lassen sich denn die Stunden bei Meister Paer an?«

Die Augen des Jungen flammten auf.

»Ich habe eine große Neuigkeit, Onkel Erard, Paer ist so zufrieden mit mir, daß er es gern sehen würde, wenn ich eine Oper komponierte.«

»Was?«

»Ja. Er hat es auch dem Vater gesagt. Er meinte, nach meinem freien Phantasieren könne er es mir ohne weiteres zutrauen. Und er hat versprochen, den Text dazu zu beschaffen. Wie heißt er nur, wie heißt er nur …? Vater, erinnern Sie sich nicht?«

»Théaulon.«

»Ja, ja. Der Schriftsteller Théaulon soll das Textbuch schreiben. Mir sind auch schon allerlei Motive eingefallen. Soll ich etwas vorspielen?«

Er eilte zum Klavier, dessen Geheimnisse er in den letzten Tagen restlos erforscht hatte. Mit Beruhigung hatte er festgestellt, daß man auf diesem Instrument eigentlich genau so spielen mußte, wie auf den alten Klavieren. Aber im Anschlag konnte man ein paar neue und sehr schöne Wirkungen herausholen. Diese neuen Möglichkeiten paßten sich indes sehr gut seiner bisherigen Fertigkeit an. Da also die neue Erfindung sein Können nicht über den Haufen warf, spielte er jetzt noch viel sicherer und mit unvergleichlich größerer Freude, so oft er sich nur ans Instrument setzen durfte. Es war bisher kein Tag vergangen, an dem er nicht immer noch ein Stück vorwärts gekommen wäre. Und auch heute noch, da niemand mehr besser spielen konnte als er, war er nicht selten verwundert, wenn er leise ahnte, welche Entwicklungsmöglichkeiten für sein Spiel noch vorhanden waren. Sein neuer Meister Paer war grenzenlos erstaunt. Bei ihm lernte er auch nicht Klavierspielen, denn er hätte eher seinen Professor unterrichten können, sondern er erhielt Unterricht im Komponieren. Paer konnte noch mehr als Salieri. Der Junge war Feuer und Flamme. Andauernd gingen ihm die Kontrapunktlehren im Kopf herum, er schluckte gierig das neue Studium und komponierte in einem fort. In seinem Herzen sang eine menschliche Stimme mit Orchesterbegleitung. Er konnte denken, an was er wollte, immer war es nur in einer einzigen Form auszudrücken: durch Gesang und Orchester. Er versuchte auch mit seiner kleinen, unzulänglichen Stimme eine große Arie zu singen und war enttäuscht, daß er nicht imstande war, mit seiner eigenen Stimme sein Klavierspiel zu übertönen. Man lobte ihn aber sehr, ließ ihn wiederholen und redete ihm gut zu.

»Was sagen Sie zu Ihrem Sohn, Herr Liszt?« fragte das eine Fräulein Erard entzückt.

»Mir macht es große Sorge, bitte schön! Ich bin unablässig bemüht, mich über die Verhältnisse des Musikverlags in Paris zu unterrichten. Aber ich glaube, in London hätte ich bessere Aussichten. Deshalb lasse ich einstweilen noch nichts verlegen. In London hoffe ich bessere Bedingungen herausholen zu können. Mein Sohn hat schon eine ganze Reihe solcher Arien ins Reine geschrieben. Ach, mit wie vielen Sorgen ist dieser Beruf verbunden! Die Empfehlungsbriefe der österreichischen und ungarischen Magnaten habe ich bereits alle bei der hiesigen Aristokratie abgegeben. Jetzt müssen die Einladungen kommen, und wir werden kaum noch Zeit zum Schlafen haben.«

Die Befürchtungen des Vaters bewahrheiteten sich sehr schnell. Es liefen die ersten Einladungen ein: Graf Charette und Gemahlin … De Lucinge Fancigny und Gemahlin … Ein Kurier vom Hofe brachte die große Einladung: am Neujahrstage, mittags, wünschten der Herzog von Orleans und Gemahlin das Spiel des Wunderkindes zu hören.

Der 1. Januar 1824. Ein feuchter, nebeliger Wintertag. Adam Liszt und sein Sohn fuhren in einer Galakutsche zum Palais Royal, in dem der Herzog von Orleans wohnte. Während der Fahrt begann wieder die Prüfung über die hohe Familie. Der Junge mußte genau wissen, wohin sie geladen waren. Daß das die jüngere Linie der Bourbonen sei, denn die Herzöge von Orleans stammten vom zweiten Sohne Ludwig XIII., die königliche Linie hingegen vom ersten Sohne Ludwig XIV. ab. Der Vater des jetzigen Herzogs sei der berühmte Philipp Egalité gewesen, der während der großen Revolution hingerichtet worden sei.

»Hast du nun alles verstanden?«

»Jawohl«, antwortete der Knabe, aber er hatte nichts verstanden.

Doch er durfte mit ruhigem Gewissen so antworten, denn Adam Liszt übertrieb gerne die Unterhaltungsmöglichkeiten, die sich unter Umständen hätten bieten können.

In diesem Schloß wurden sie ganz anders empfangen, als bei der Herzogin von Berry. Das höfische Zeremoniell war bei weitem nicht so schwierig, und dem Vater gab man vorher auch keine Verhaltungsmaßregeln über höfisches Benehmen. Sie fanden hier eine größere Gesellschaft beisammen. Da war zunächst die herzogliche Familie: der Herzog selbst, ein beleibter, feistwangiger Mann, dessen Auftreten etwas kleinbürgerlich wirkte, die gleichfalls recht rundliche Herzogin, ferner Herzogin Adelaide, die Schwester des erlauchten Herrn, und sechs Kinder, von denen das älteste, ein Knabe, vierzehn Jahre zählte. Außer der Familie waren noch einige Damen und Herren anwesend, die Herren sämtlich in Zivil. Und unter den Damen überraschenderweise eine alte Bekannte: die Herzogin von Berry.

Auch das ganze Konzert verlief anders als bei der königlichen Familie. Man applaudierte begeistert. Ein Herr rief ihnen nach dem dritten Vortrag zu:

»Wir bitten um etwas von Gluck.«

Er sprach es wie »Glück« aus. Das Kind blickte fragend den Herzog von Orleans an, der nickte zustimmend:

»Wenn Monsieur Guizot Gluck wünscht, spiele Gluck.«

Der Junge spielte Gluck. Abermals erntete er rauschenden Beifall. Der Herzog von Orleans trat sogar zum Klavier. Andere kamen ebenfalls zwanglos heran, auch die Herren in Zivil. Unter den Damen befand sich die Herzogin von Berry. Unbemerkt stieß der Vater den Jungen an, der sofort wußte, was das zu bedeuten hatte. Artig verneigte er sich vor ihr:

»Eure Hoheit, meinen herzlichsten Dank für das schöne Spielzeug.«

»Hast du dich gefreut?«

Sie wandte sich an den Herzog von Orleans:

»Stelle dir vor, Onkel Louis, als er bei uns gespielt hatte, wollte er die Puppe meines Sohnes haben. Mein Schwiegervater schenkte ihm zwei andere dafür.«

»Ich werde dir auch eine schicken«, lächelte der Herzog.

Um sie herum bildete sich ein kleiner Kreis. Man neigte sich zu ihm nieder: die Herzogin von Orleans und die Herzogin Adelaide küßten ihn.

»Wie ich höre, sind Sie Österreicher?« fragte der Herzog in deutscher Sprache.

»Jawohl, Hoheit«, stammelte der Vater, »wir sind Ungarn.«

»Sie wundern sich gewiß, daß ich die deutsche Sprache so gut beherrsche? Was wollen Sie: im Exil bin ich eine Zeitlang Professor an der Akademie in Reichenau gewesen. Dann wohnte ich eine ganze Zeit auch in Hamburg. Wann haben Sie Wien verlassen? Hat der Junge dort gelernt?«

Der Herzog von Orleans und Adam Liszt vertieften sich in eine längere Unterhaltung. Die Herzogin von Orleans und die Herzogin von Berry geleiteten den Pianisten zu den Kindern des Hauses:

»Verneige dich artig vor dem Herzog von Chartres und den kleinen Herzoginnen.«

Er machte eine tiefe Verbeugung. Befangen und neugierig zugleich musterte er den vierzehnjährigen Jungen ebenso wie dieser ihn. Er hätte den kleinen Herzog zu gerne angesprochen und ihn über sein Herzogtum ausgefragt. Auch der kleine Herzog hätte gerne mit dem Wunderkind gesprochen. Aber verlegen schwiegen sie alle beide. Die kleinen Herzoginnen lächelten sich verstohlen an.

Adam Liszt bekam hier hundert Franken. Von der Herzogin von Berry hatten sie hundertfünfzig erhalten. Das war eine große Freude. Obwohl sie von hier kein Galagespann nach Hause brachte, war der Vater auf dem Heimwege außerordentlich lustig, ja sogar mitteilsam.

»Das sind doch ganz andere Leute«, sagte er in der Kutsche, »der Herzog ist vornehm und liebenswürdig zugleich. Und es ist doch keine Kleinigkeit, daß ich mich mit dem Ur-Ur-Enkel Ludwigs XIII. unterhalten habe. Es ist doch dasselbe Blut.«

Von dem Klang seiner Stimme unangenehm berührt, erhob der Knabe den Kopf. Diese kleinliche, eitle Freude des Vaters über die Gunst des Herzogs befremdete ihn. Das sind doch Kindereien, dachte er bei sich. Aber er erwiderte nichts.

»Wir werden jetzt Einladungen in Hülle und Fülle erhalten«, sagte der Vater, »wenn die Kunde von diesen beiden vornehmen Einladungen sich erst verbreitet hat. In jedem Lande ist es ja doch so, daß der hohe Adel bestrebt ist, dem nachzueifern, was die Dynastie vormacht. Wir haben zwar jetzt schon sehr viel zu tun, aber nun müssen wir auch noch Englisch lernen.«

»Auch noch Englisch?«

»Selbstverständlich! Wenn wir nach England gehen wollen, müssen wir doch Englisch sprechen können. Nein, aber daß dieser Herzog ein so liebenswürdiger Mensch ist! Ich kann kaum erwarten, es deiner Mutter zu erzählen …«

Wenn es Adam Liszt nur um die Aristokraten zu tun war, so konnte er jetzt wirklich genug von ihnen haben. In der ersten Woche des neuen Jahres erhielten sie drei Einladungen, in der zweiten fünf, und von der dritten Woche an verblieb ihnen selber nicht ein einziger Tag. Von Tag zu Tag stieg der Ruhm des Knaben, der allerdings überall nur »Litz« genannt wurde. Warum man in Paris den an sich doch gar nicht schwierigen Namen änderte, warum die Franzosen, die Wörter wie piston, battiste, bistre, mühelos aussprechen konnten, ihn Litz nannten, bleibt ein Rätsel. Eine Zeitlang kämpften sie dagegen an und verbesserten den Name« »Litz« stets auf »Liszt«. Aber die Gewöhnung war stärker als sie. An dem Kinde blieb der Name » le petit Litz« hängen. Den konnte ihm niemand mehr nehmen …

»Der kleine Litz« sah Rossini wieder. Der berühmte Italiener war erst unlängst aus London zurückgekehrt und übernahm die Leitung des Théatre Italien. Die italienische Oper war in Paris große Mode, und die vornehmen Familien pflegten sich an dieses Institut zu wenden, wenn sie zu ihren großen Empfängen musikalische Vorträge benötigten. Bei solchen Gelegenheiten teilten sie Rossini lediglich mit, wieviel Geld sie auszugeben gedachten und welcher Art die Vorträge sein sollten. Alles andere war dann seine Sache. Er regelte alle Einzelheiten mit den Mitwirkenden, er erschien rechtzeitig mit ihnen zu der Veranstaltung, er setzte sich selbst ans Klavier und begleitete. Dann erhielt er das Geld, und die Mitwirkenden entfernten sich wieder, oder durften, wenn die Frau des Hauses sehr entgegenkommend sein wollte, auch zum Essen dort bleiben. Für sie wurde jedoch getrennt aufgetragen; denn an die herrschaftliche Tafel konnte man die Musiker unmöglich setzen …

Der Knabe erlebte dies erstmalig im Hause der Herzogin von Montmorency-Matignon. Dort war es auch, wo er Rossini wiedersah. Den jungen Klavierkünstler hatte die Herzogin zwar unabhängig von Rossini eingeladen, er mußte sich aber auf alle Fälle auch bei ihm melden. Der italienische Maestro begrüßte ihn mit lauter Freude, drückte ihn immer wieder an sich und befragte ihn, was er alles seit dem Wiener Konzert erlebt habe. Vater Liszt hingegen fragte den Italiener über die Londoner Verhältnisse aus. Dann begann das Konzert, und sie fanden keine Zeit mehr zur Unterhaltung. Als die Konzertfolge beendet war, führte man die Künstler zu einem abseits gedeckten Tisch, den kleinen Liszt aber nahm die Herzogin mit an den Tisch der Gäste. Der Junge sah sich um, wo sein Vater geblieben war, aber Adam Liszt schritt bereits mit Rossini zum Künstlertisch. Ihm kam nicht einmal der Gedanke, daß er mit seinem Sohn gehen könne …

Dem Knaben ließ das keine Ruhe, er sprach auch zu Hause davon. Er empfand es als Erniedrigung, daß man seinen Vater nicht in die Gesellschaft der Gäste aufgenommen hatte. Adam Liszt lachte ihn aus:

»Du bist noch ein Kind, du verstehst das nicht. Das muß so sein, das ist die Ordnung der Welt.«

»Sind wir denn nicht genau solche Menschen wie die?«

»Selbstverständlich nicht. Der Künstler steht außerhalb der Gesellschaft. Er steht weder unterhalb, noch oberhalb, er steht eben außerhalb.«

»Aber warum hat man mich dorthin gesetzt? Die Herzogin von Montmorency hat mich sogar gelobt, daß ich so schön esse.«

»Ach, du kleiner Dummkopf, man hat dich mitgenommen, um dich zu verwöhnen und sich mit dir zu belustigen, obwohl ich das nicht besonders schätze. Wenn du aber einige Jähre älter bist und kein kleiner Junge mehr sein wirst, kommst du auch an den ›Katzentisch‹.«

Das Kind schüttelte heftig den Kopf:

»Nein, dorthin setze ich mich nie! Wenn sie mir unter sich keinen Platz geben, gehe ich lieber nach Hause. Am ›Katzentisch‹ sitze ich nicht. Aber Sie werden schon sehen, Vater, daß die mich an ihren Tisch setzen. Mich hat ein jeder gerne.«

»Schon wieder plapperst du so eingebildetes Zeug. Wie oft hab' ich dir schon gesagt, daß du bescheiden sein sollst. Dieses ewige Verwöhnen ist dir anscheinend zu Kopf gestiegen.«

Der Junge schwieg. Aber bei sich dachte er: es ist umsonst, mich hat wirklich jeder lieb … Der alte Erard behandelte ihn wie seinen eigenen Sohn … Die Herzogin von Berry wollte ihn schon zum zweiten Mal einladen … Und dann war da vor allem der alte Marquis Noailles, von dem jeder behauptete, daß er ein finsterer Menschenhasser sei und mit niemandem spreche. Und wie lieb hatte gerade der ihn gewonnen: er unterhielt sich lange mit ihm, erklärte ihm allerhand spannende, künstlerische und wissenschaftliche Dinge, ja er wollte ihn sogar nächste Woche in den Louvre mitnehmen, um ihm dort die berühmtesten Gemälde zu zeigen und zu erläutern … Oder der Maler Roehn: der kam eigens in das Hotel d'Angleterre, um ihn zu zeichnen, und konnte sich nicht genug tun, ihn fortwährend wegen seines feinen Gesichtes zu loben. Er sagte sogar, daß man die Bilder vervielfältigen und in die Auslagen stellen würde … Den Theaterschriftsteller Théaulon nicht zu vergessen. Der hatte seinem Spiel zugehört und sich sofort bereit erklärt, ihm einen Operntext zu schreiben. Am Tage darauf kam er tatsächlich mit seinem Kollegen de Rancé wieder, damit auch der den Knaben spielen höre … Oder der englische Sprachlehrer Carruthers. Hatte der etwa nicht gesagt, daß er in seinem ganzen Leben noch nie einem derartigen Sprachtalent begegnet sei? Warum durfte er denn dann nicht behaupten, daß ihn jedermann gerne habe, wenn das alles so war? Trotzdem widersprach er seinem Vater nicht. Er fühlte eine leise Entfremdung ihm gegenüber.

Oft betrachtete er auch unbemerkt seinen Vater. Er musterte seine Stirn, seine starke Nase und überhaupt sein Gesicht mit den breiten Backenknochen. Er forschte nach diesen Zügen bei sich selbst, aber er fand sie nicht. Das war ihm auch lieber so. Er wollte diesem Manne nicht gleichen, dem eine so unterwürfige Natur eigen war, der sich den Hochmut der Vornehmen so schnell und widerspruchslos gefallen ließ und der vor Freude zitterte, wenn ihn ein Aristokrat einer Anrede würdigte … »Mein Vater ist nicht stolz«, stellte er bei sich fest, »aber ich bin stolz!« Und obwohl er dem Vater die ihm gebührende Achtung nicht versagte, wandte er sich mit der ganzen Glut seines Herzens seiner Mutter zu, dieser schweigsamen, gütigen Frau, die sich weder um Herzöge, noch um Empfänge, sondern ausschließlich um ihren Sohn kümmerte, die ihn verwöhnte und verhätschelte, alle Sonnabende eigenhändig in warmem Wasser badete und täglich eigenhändig kämmte … Zwischen Mutter und Sohn entwickelte sich die zärtliche Zuneigung zu einem geheimen Bund. Der Vater mußte sie immer häufiger ermahnen, nicht so gefühlsduselig zu sein.

» Du könntest doch wenigstens Vernunft annehmen«, warf er seiner Frau verärgert vor, »und ihn nicht so maßlos verwöhnen. Es ist schon kaum noch anzusehen, was die Frauen in den vornehmen Familien mit ihm anstellen. Sie ziehen ihn auf ihren Schoß, sie streicheln ihn und lecken ihn ab wie die alten Fräuleins einen kleinen Hund. Sie richten ihn noch ganz und gar zu Grunde. Und damit nicht genug, verdirbst du ihn auch noch hier zu Hause. Eines schönen Tages werde ich das alles satt haben und dann …«

Es sah beinahe so aus, als ob der Vater etwas gegen die Erfolge seines Sohnes hätte. Jeden neuen Sieg nahm er immer grimmiger zur Kenntnis. Das Roehn-Bild hatte man tatsächlich in Kupfer gestochen, und eines schönen Tages waren die Auslagen aller großen Geschäfte mit dem Bilde des kleinen Klavierkünstlers überflutet. Die Mutter ging unter allerlei Vorwänden von Hause weg, um bei jedem Schaufenster stehenbleiben zu können und still für sich ihren Sohn zu bewundern. Als sie nach Hause zurückkehrte, fand sie schon wieder zwei, drei neue Pakete vor: die vornehmen Damen überhäuften das Kind mit Spielzeug und Leckereien. Sie konnten das viele Zeug schon nirgends mehr aufbewahren. Der Junge erforschte die Geschenke gründlich, belustigte sich eine Zeitlang mit dem Spielzeug, – und achtete dann nicht mehr darauf. Er setzte sich lieber ans Klavier, um zu improvisieren.

Auch jetzt noch schmiedete der Vater allein die Pläne für das Auftreten seines Sohnes und teilte ihm erst in letzter Minute das Nötige im Befehlston mit. So gab er ihm auch davon Kenntnis, daß sein erstes öffentliche Konzert in Paris am 7. März stattfinden werde, und zwar in der Oper. Das war noch nie vorgekommen. Noch niemals hatte man das vornehme Hoftheater für solche Zwecke überlassen, besonders nicht für ausländische Künstler. Jetzt aber hatten sie es dem ungarischen Jungen zur Verfügung gestellt. Das entscheidende Wort hatte dabei der König selbst gesprochen.

»Gib dein Bestes her, mein Sohn, denn schon haben allerlei Intrigen lebhaft eingesetzt. Viele arbeiten uns entgegen und versuchen Stimmung gegen uns zu machen. Wenn du dich nur im geringsten gehen läßt, bist du erledigt. Die liberalen Blätter möchten schon lange etwas Schlechtes über uns schreiben, sie warten nur noch die geeignete Gelegenheit ab …«

Der Junge ließ seinen Vater ruhig gewähren. Er erwiderte höflich, daß er tun wolle, was er könne, aber ihm waren solche dunklen Weissagungen zuwider. Wie er Klavier spielen konnte, wußte er selbst am besten. Und ruhig, fast gelangweilt, sah er jeder nur denkbaren Verantwortung entgegen.

Als der Tag des Konzertes herannahte, sprach ganz Paris von nichts anderem. Man hatte gar nicht nötig gehabt, die großen Zeitungen zu ersuchen, sich des Konzertes ein wenig anzunehmen; sie schrieben ganz von selbst reichlich, denn »der kleine Litz« war ein aufregendes und fesselndes Thema. Das Opernhaus füllte sich bis auf den letzten Platz. Auf dem Programm stand nur eine kurze Oper, »Nina« von Paisiello und danach das Wunderkind. Die Opernvorführung hörte sich »der kleine Litz« hinter den Kulissen an. Die Hauptrolle sang der berühmte Pasta Ginditta, der den Jungen sehr gerne hatte und ihm zu Gefallen auftrat.

»Hör' mal diese Stimme an«, erklärte Paer, der auch mit ihnen hinter den Kulissen stand und ihm dort auch Unterricht erteilte, »das ist jetzt auf der ganzen Welt die schönste Stimme. Der Umfang ist unglaublich. Er kann vom tiefen A bis zum hohen D singen. Jetzt paß' auf … hörst du, wie er beides miteinander verbindet? Das ist das, was ich dir gestern erklärt habe …«

Das Kind achtete auf alles und jedes und studierte die Harmoniegesetze. Da waren tausenderlei Sachen, die er mit reger Teilnahme in sich aufnahm. Von den einzelnen Instrumenten des Orchesters sprach jedes in einer anderen Klangfarbe und Ausdrucksweise zu ihm. Die Verschiedenheit ihrer Zusammensetzung zeigte neue und abermals neue Tönungen. Die stolze Violine, die verträumte Bratsche, das hingebungsvolle Cello, die verliebte Harfe, die traurige Flöte, die leidenschaftliche Baßgeige, die aufgeregte Trommel, – allesamt stellten sie sich ihm wie einzelne Personen vor, die er kennenlernen solle. Eines ganz besonderen Studiums bedurfte die interessante Arbeit Granets, des Kapellmeisters. Wie er das ganze Orchester zusammenfaßte, und, es in seine beiden Hände nehmend, nach seinem eigenen Willen anfeuerte oder zurückhielt, wie er den einzelnen Instrumenten im richtigen Augenblick den Einsatz winkte, wie er mit seinen Bewegungen die Töne färbte, anspornte, beruhigte, alles das erweckte die begeisterte Bewunderung des Jungen. Besonders machte ihn auch das Verhältnis der Gesangsstimme zum Orchester neugierig. Nichts entging ihm, er nahm alles gebannt in sich auf. Daß er selber alsbald auf die Bühne mußte, ließ ihn völlig gleichgültig. Der Vater aber ging in seiner Nähe aufgeregt hin und her.

Endlich war der Augenblick seines Auftretens da. Der Vorhang ging auf. Das Klavier stand mit dem Rücken zu den Gästen, damit er ihnen gegenübersitzen solle. Ein ohrenbetäubender Beifall empfing ihn; das galt der in Mode stehenden Berühmtheit.

Er trug ein Klavierkonzert von Hummel vor. Er selbst genoß es am meisten, mit welcher Sicherheit und mit welch grenzenlosem Können das Spiel vor sich ging. Kaum hatte er jedoch zwanzig Takte gespielt, als unter den Zuhörern eine Störung entstand. Er blickte den Dirigenten an und überzeugte sich, daß auch der etwas vernommen hatte. Unter dem Publikum wurden Rufe laut. Grauet winkte dem Orchester ab und wandte sich um. Verworrene Stimmen. Viele sprachen auf einmal. Endlich stand in der Mitte des Parketts ein junger Mann auf und sagte laut und vernehmlich:

»Drehen Sie das Klavier um, denn so können wir nur die Beine und den Kopf des Jungen sehen. Wir wollen aber seine Hände beobachten!«

Zustimmung seitens der Zuhörerschaft. Der Dirigent sah sich ratlos auf der Bühne um. Plötzlich sank der Vorhang. Adam Liszt kam mit zwei Bühnenarbeitern gerannt.

»Steh' schnell auf, wir drehen das Klavier um.«

Das Kind setzte sich mit dem Rücken zu den Zuhörern und sogar mit dem Rücken zum Dirigenten. Wie wird das werden, wenn er den Dirigenten nicht sieht? Aber es war schon zu spät, darüber nachzudenken. Der Vorhang ging abermals auf. Dröhnender Applaus. Der Junge drehte sich im Sitzen um und neigte dankend den Kopf. Dann begann das Klavierkonzert von neuem. Obwohl er den Dirigenten nicht sah, verlief alles, wie es sein mußte. Endlich kam der Teil der Komposition an die Reihe, wo das Klavier das große Solo ohne Orchesterbegleitung hat. In diesem Teil gab sich der Junge ganz aus. Er hatte diese Partie noch nie in derselben Weise wiedergegeben, so oft er sie auch gespielt hatte. Auch jetzt ergötzte er sich nach Belieben an der unerhörten Freude des Spieles. So mutwillig wie junge Delphine im Wasser tobte er auf den Tasten herum. In seinem Rücken fühlte er die verblüffte Stille des Zuhörerraumes. Endlich war die große Solopartie beendet. Beim Ritornell hätte das Orchester einsetzen müssen.

Er blieb aber allein mit den Klängen seines Klavieres, das Orchester setzte nicht ein. Er spielte weiter und drehte sich neugierig um, wo denn das Orchester bliebe und erfaßte sofort, was vorgefallen war: die Musiker, die auf der Probe dieses Solo nicht gehört hatten, denn das hatte er nicht geprobt, bewunderten einmütig stehend das unbegreifliche Geschehen und waren so erstarrt, daß sie den Einsatz ganz vergessen hatten. Erschrockene Gesichter stierten ihm aus dem Orchester entgegen, und man sah es an ihrer verlegenen Hast, daß auch sie langsam ihr Versäumnis zu begreifen begannen. Und nun schaltete sich erst ein Instrument, dann ein zweites, ein drittes eilends und verschämt in die Melodie ein. Das Wunderkind blickte sich abermals um und lächelte. Auch durch die Zuhörer lief eine raunende Heiterkeit. Jeder hatte es bemerkt und verstanden, was geschehen war.

Seinem Vortrag folgte ein derartiger Beifallssturm, wie er ihn noch nirgends erlebt hatte. Minutenlang verbeugte er sich an der Rampe vor dem Souffleurkasten. Er wollte längst mit dem nächsten Vortrag beginnen, aber es war unmöglich. Der Applaus dröhnte mit unverminderter Kraft weiter. Und er stand da und verbeugte sich aber- und abermals und lächelte den Zuhörern zu. Hier und da entdeckte er das bekannte Gesicht eines Aristokraten. Die begrüßte er mit einem besonderen Lächeln und besonderem Kopfnicken. Und so waren zehn Minuten vergangen, ehe er sich wieder zum Klavier setzen konnte.

Als Phantasie wählte er die » Non piu andrai«-Arie aus Mozarts »Don Juan«. Jetzt machte er es nicht mehr wie einst, sondern komponierte förmlich am Klavier. Er lebte sich so gründlich in die Melodie hinein, daß er sie mit seiner dünnen Kinderstimme leise vor sich hinsummte, während er spielte. Er teilte die Melodie, fügte sie wieder zusammen, vermischte die Teile untereinander, ließ sie einmal von da, einmal von dort durchschlüpfen, hielt kontrapunktale Übungen ab, steuerte endlich dem Schluß zu, immer breiter, immer steigender. Mit sicherer, aufbauender Hand lief er dem Ziele entgegen. Die Kraft des Anschlages steigerte er gleichmäßig und als sein Vortrag beendet war, vermischte sich das Dröhnen des Klavieres mit dem atemberaubenden Beifallsklatschen des ganzen Hauses.

Damit war aber der Erfolg noch nicht beendet. Jetzt stieg die sogenannte » Tour des loges«. In Paris war es Brauch, daß die in den Logen sitzenden Gäste die Künstler, die ihnen besonders gefallen hatten, zu sich bitten lassen durften. Der Wunderknabe ging gemeinsam mit seinem Vater, der ihn in der Öffentlichkeit stets an der Hand hielt. Nacheinander klopften sie an den Logen an, in denen man den Jungen zu empfangen wünschte. Er trat ein, während der Vater draußen blieb, denn man hatte ihnen erklärt, daß die Etikette es so verlangte. Drinnen in der Loge umarmte man ihn, küßte ihn und riß ihn fast in Stücke.

» Mon petit chou, viens ici.«

» Tu étais divin, tu sais!«

Man stopfte seine Taschen voll mit Süßigkeiten und mit Geld. Nach drei, vier Logenbesuchen hatte er keinen Platz mehr, um irgend etwas unterzubringen. Die Taschen seines Vaters bauschten sich, beider Hände wurden klebrig von der schmelzenden Schokolade, und sogar die sich häufenden Louisdors wurden von der Schokolade und den Süßigkeiten klebrig. Der Junge ließ sich anbeten und überließ seine Wangen teilnahmslos den Küssen. » Merci bien, contesse« … » merci bien, marquise« … » merci bien, duchesse« … Wenn er nicht wußte, wer ihn gerade umarmte, sagte er: » merci bien, madame« … und ging weiter.

Zwischen zwei Logen hielt ihn ein würdig aussehender, schöner Mann an:

»Bleib' stehen, Junge! Ich bin Talma. Hast du meinen Namen schon gehört?«

»Natürlich!«.

Das war der große Talma, der einstige Freund Napoleons, der gefeiertste Künstler der ganzen Welt. Er stand selbstbewußt da im Glanze seines Ruhmes, mit dem kaum verblaßten Zauber sechzigjähriger Mannesschönheit. Seine Stimme war schwungvoll. Sogar die Bindewörter hatten bei ihm einen machtvollen Klang. Jeden einzelnen Buchstaben konnte man für sich ertönen hören. Und so waren auch seine Bewegungen, erlesen einstudiert, gemessen und rund, heroisch und an Bewunderung gewöhnt.

»Schau in meine Augen, Junge! Ich möchte deinen Blick sehen! Ja, ja … das ist der Feuergeist!«

Er hob einen Arm hoch, und seine Stimme erklang in neuen Registern:

»Ich sage es dir voraus, du wirst ein großer Mann werden. Jetzt geh' weiter!«

Vorher küßte er ihn noch auf die Stirn. Erst dann zog er weiter, mächtig wie ein klassischer Cäsar. Das Kind folgte ihm mit den Augen und wandte sich dann an seinen Vater:

»Warum sagt er, daß ich erst werde? Bin ich es noch nicht? Habe ich schlecht gespielt?«

»Du hast gut gespielt, bist aber maßlos unverschämt! Los, los, wir haben keine Zeit zu verlieren.«

Sie setzten ihre Logenbesuche fort. Zwei Diener mußten ihnen folgen, soviel Süßigkeiten, Schokolade und Geschenke waren es schon geworden. Zu Tode erschöpft, langten sie wieder auf der Bühne an. Dort erwartete sie eine ganze Menschenansammlung: Kritiker, Schwärmer und um den Vortrag ihrer Kompositionen flehende unbekannte Tondichter. Auch einige Bekannte. Marquis Noailles faßte das Kind an der Hand, um es dem Ansturm zu entziehen. Mit der anderen Hand zog er einen kleinen, alten, kahlköpfigen Mann heran, dessen Gesicht über und über mit Warzen bedeckt war. Auch Adam Liszt trat zu ihnen.

»Sieh mal, mein Sohn«, sagte der Marquis, »ich habe dir neulich etwas von Phrenologie erklärt. Dieser Herr ist Gall, der große Gelehrte. Er möchte um jeden Preis deinen Schädel sehen, um deine Kopfform zu untersuchen.«

Das Kind lachte dem greisen Gelehrten ins Gesicht. Der blieb ernst und begann den Kopf des Jungen abzutasten. Er betrachtete ihn lange und drehte ihn hin und her. Dann wandte er sich zu Adam Liszt und sagte in deutscher Sprache:

»Mein Herr, ich kann so nichts sehen. Diesen Schädel muß ich aber unter allen Umständen einer ganz genauen Prüfung unterziehen, denn ich befasse mich mit der Schädelbildung der Genies. Gestatten Sie mir bitte, daß ich vom Kopfe des Kindes einen Gipsabguß herstellen darf.«

»Tut das nicht weh?« fragte erschrocken der erste Klavierkünstler der Welt.

»Nein, nicht ein bißchen.«

Gall erschien am anderen Tage im »Angleterre« mit seinen Instrumenten und einem Gehilfen. Drei geschlagene Stunden des Klavierübens mußten geopfert werden. Beim Abschied sprach der Gelehrte den Eltern des Feuergeistes im Namen der Wissenschaft seinen Dank aus und behauptete, die Schädelform des Jungen in einem Buche besprechen zu wollen.

Die Zeitungen berichteten im Tone vollster Bewunderung von dem Konzert; die Liberalen und die Ultras gleichermaßen. »Das ist ein Künstler, ein wahrhafter Künstler!« schrieb die eine Zeitung. »Stolzes und männliches Spiel, seine bezaubernde Eleganz verblüfft, bis in die kleinsten Einzelheiten vollkommen …«, schrieb die »Etoile«. »Es ist unverständlich«, schrieb eine dritte Zeitung, »daß zehn Finger, die eine Oktave kaum zu fassen vermögen, so eine Leistung vollbringen können. Viele von den Zuhörern glaubten an ein Wunder, und es waren auch welche darunter, die fest davon überzeugt waren, daß irgendeine Zauberei mit im Spiele sei.« In den höchsten Tönen schrieb jedoch das königstreue »Drapeau Blanc«. Der Kritiker dieser Zeitung, Martainville, berief sich auf okkulte Vorgänge und wollte beweisen, daß in diesen Jungen die Seele des verstorbenen Mozart eingezogen wäre …

Adam Liszt gab am anderen Tage tausend Gulden bei der Post auf für die Direktion der Herzoglich Esterhazyschen Ländereiverwaltung. So hoch waren die Vorschüsse und Unterstützungen gestiegen, die er bis jetzt von Seiner Hoheit in Anspruch genommen hatte. Nun war alles zurückgezahlt, und obendrein blieb ihm noch reichlich Geld. Er konnte ohne Sorgen in die Zukunft schauen.

Materielle Nöte hatte er also nicht mehr zu fürchten. Aber die moralische Entwicklung seines Sohnes machte ihm um so größere Sorgen. Während die Damen der Gesellschaft den Jungen mit ansteckender Schwärmerei verhätschelten und verwöhnten, wurde der Vater immer strenger und ermahnte und schalt ihn fortwährend zu Hause. Und eines Tages faßte er einen schweren Entschluß. Nachdem er eine einstündige Unterredung mit seiner Frau gehabt hatte, nahm er sich das Kind vor.

»Hör' mal zu! Ich möchte etwas Wichtiges mit dir besprechen. Da deine moralische Entwicklung schwer bedroht ist, müssen wir uns ganz anders einrichten. Die Nähe deiner Mutter wirkt verweichlichend auf dich. Das sieht auch sie ein. Außerdem ist sie nicht imstande, im Auslande zu leben. Deshalb habe ich mich entschlossen, daß wir schon im Mai nach England fahren, und dies um so mehr, als der junge Erard auch zu dieser Zeit hinüberfährt, und wir dann mit ihm zusammen reisen können. Für diese Zeit übersiedelt deine Mutter zu ihrer Schwester nach Steiermark. Nein, nein, ich will kein Wort hören! Ich habe das so beschlossen, und so wird es gemacht. Du mußt dich eben daran gewöhnen, daß ich dich zu einem Manne erziehen will und nicht zu einer empfindlichen, flennenden, süßlichen alten Jungfer. Auch deine Mutter findet das so richtig. Und dann möchte ich gleich noch hinzufügen, daß es nunmehr mit dem ›Putzi‹ genug ist. Einen ernsthaften Jungen nennt man nicht ›Putzi‹. Von nun an heißt du ›Franzi‹, und das Wort ›Putzi‹ will ich nie mehr hören!«

»Mutti«, rief das Kind mit weinerlicher Stimme, »Sie reisen nach Hause? Ist das wahr?«

»Es ist wahr, mein kleiner Sohn«, erwiderte die Mutter mit tränenerstickter Stimme. »Dein Vater hat vollständig recht. Es wird am besten so sein.«

Es hob ein zweitöniges Wehklagen an. Aber Tränen ermüden. Und dann brachte Théaulon, der Schriftsteller, zur selben Zeit das vollständig fertige Textbuch. Es hatte einen sehr schönen Titel: »Don Sanche oder die Liebesburg«. Das lenkte ihn von seinem großen Kummer ab. Er begann fiebernd im Buch zu lesen. Und schon beim Lesen fingen die einzelnen Zeilen der Verse von selbst in seinem Kopf zu singen an.

Das Stück handelte von einer verzauberten Burg, der Liebesburg, die nur von denen betreten werden darf, deren Liebe Erwiderung gefunden. Don Sanche kann deswegen in diese Burg nicht eingelassen werden, weil er die Herzogin Elzire hoffnungslos liebt. Der Burgherr, der Zauberer Alidor, will dem armen Don Sanche aber helfen. Als die Herzogin Elzire im Begriff ist, nach Navarra zu gehen, um die Frau des Herzogs von Navarra zu werden, läßt der Zauberer in der Nacht einen Sturm über sie hereinbrechen. Die Herzogin ist gezwungen, in der Nähe ihrer Burg Schutz zu suchen. In einer Laube erwartet sie das Austoben des Sturmes, und da erscheint Don Sanche. In glühenden Geständnissen beschwört er sie, aber umsonst, die Herzogin bleibt gleichgültig. Da verwandelt sich Alidor in ein Ungetüm und tut so, als ob er Elzire entführen wolle. Der tapfere Sanche fordert ihn jedoch zu einem Zweikampf heraus. Er wird verwundet. Da entdeckt die Herzogin, daß sie im Grunde genommen doch Don Sanche liebt und seinen Verlust nicht überleben könnte. Sie entsagt der Krone von Navarra und verspricht sich Sanche. Jetzt dürfen sie beide die Liebesburg betreten.

Kaum hatte der Junge die letzte Seite zu Ende gelesen, als er auch schon zum Klavier eilte. Er begann mit Leib und Seele zu komponieren, obwohl seine Seele von schneidendem Schmerz über die bevorstehende Trennung von der Mutter ganz angefüllt war.

Über den Abschied half ihm eine kleine Täuschung hinweg. Eines Abends brachte ihn seine Mutter unter heftigen Umarmungen und Küssen zu Bett. Es hieß da noch, daß sie erst in zwei Tagen abreisen würde. Am anderen Tage aber, als er aufstand, fand er sie nirgends mehr. Der Junge legte sich wieder in sein Bett und schluchzte so verzweifelt, daß er ohnmächtig wurde. Er lag zwei Tage lang. Erards kamen herüber, um ihn zu trösten. Nach zwei Tagen stand er wieder auf, aber noch tagelang lief er wortlos im Zimmer umher. Da er jeden Tag ein Konzert zu geben hatte, kam er den Einladungen gezwungenermaßen mißmutig nach. Aber er verzog sich dann sofort wieder in seine Stube, um zu trauern. Nicht einmal zum Klavierspielen hatte er Lust. Erst nach und nach beruhigte er sich.

Als sie Ende Mai mit Pierre Erard nach London fuhren, das Schiff den Hafen verließ und die Entfernung vom Festlande immer größer und größer wurde, da dachte das Wunderkind an seine Mutter, verkroch sich in eine Ecke und weinte herzzerbrechend.


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