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1.

Der Nebel der letzten Tage war in einen staubfeinen Dauerregen übergegangen. Naßglänzende Schirme überdachten das Gewimmel der Menschen in den Straßen von Stockholm. Doppelt und dreifach zurückgeworfen vom Spiegel der Asphaltdämme schillerten die Farben der Lichtreklamen. Der Portier des »Grand-Hotel Royal« trat mit einem großen Schirm bewaffnet aus der schützenden Halle an die vorfahrenden Autos heran, um die Gäste trocken ins Haus zu bringen. Unter den wenigen Neugierigen, die trotz des schlechten Wetters ausharrten, um die Anfahrt der Gäste zu beobachten, befand sich auch ein Herr in einem gelben Regenmantel. Man konnte schon sagen, daß dieser Herr die beste Position erwischt hatte. Er lehnte an der Hauswand unter einem Balkon, und nur ab und zu huschte das Licht eines Autoscheinwerfers über den gelben Mantel. Ein Streichholz glomm auf. Es war vergebliche Bemühung, einen speichel- und regenfeuchten Sumatrastummel zum Glühen zu bringen.

»Dann nicht«, knurrte der Mann und schob den Stummel für spätere Verwendung in die Manteltasche. Aus dem emporgeschlagenen Kragen lugte ein gerötetes Gesicht. Hinter Brillengläsern lagen dunkle Augen wie in einem Versteck. Die Nase schien mit einem ewigen Schnupfen zu kämpfen. An ihrem kupferfarbenen Rücken rannen Regentropfen hinunter. Wenn ein Windstoß den Mantelkragen lüftete, konnte man das glänzende Blau eines Gummikragens, eine stark abgenutzte, »gelötete« Krawatte und den Ansatz einer unmodernen hochgeschlossenen Weste erkennen. Unter dem Mantel sahen derbe Hosenrollen hervor, die sich faltig über ein Paar seltsam gekrümmte Schnürstiefel schmiegten.

»Wo mag Olaf Järnvägen bleiben?« knurrte der Mann und reckte den Hals. Da sah er, wie gerade eine junge Dame, vom Portier »beschirmt«, in das Portal trat.

»Oh, Molly Dane, unsere amerikanische Akrobatin! Und sie kommt allein? Wer hätte sie je ohne Olaf Järnvägen gesehen?«

Es kamen noch mehrere Autos, aber Järnvägen war nicht unter den Gästen.

»Das enttäuscht mich«, murmelte der Beobachter. »Wieder ein Beweis, Nat, daß man in Herzensangelegenheiten nicht vorschnell urteilen soll! Ich glaube, ich kann jetzt getrost nach Hause gehen – hier gibt's nichts mehr zu sehen für mich.«

Er zog den Mantelkragen bis zu den Ohren hinauf und ging davon.

An der Ecke der Stallgatan nahm er eine Taxe. Es war ein weiter Weg nach Vasastaden hinaus. Nathanel Wade liebte die öffentlichen Verkehrsmittel nicht. Man konnte zu oft auf Bekannte treffen, und außerdem hatte er noch andere zwingende Gründe, das Mietauto zu bevorzugen. Die Taxe hielt in der Upsalagatan. Es war eine der stillen Straßen, wie sie in der Gegend von Vasastaden überall zu finden sind. Wade zahlte und blickte der schnell davonfahrenden Taxe noch eine Weile nach. Sein Blick schweifte über die Fenster der gegenüberliegenden Häuser, hinter deren kleinen, musselinverhangenen Fenstern traulicher Lampenschein leuchtete; dann ging er schnell hinüber. Schon nach einigen Schritten verschluckte ihn ein dunkler Torbogen. Treppenstufen knarrten unter hartem Tritt. In der ersten Etage fingerte er einen Schlüssel aus der Tasche. Eine Tür öffnete sich quietschend. Das angeknipste Licht beleuchtete einen kleinen Vorraum, von dem drei Türen abgingen. Durch eine von ihnen trat Wade in einen einfach eingerichteten Wohnraum. Eine Schreibtischlampe beleuchtete die Umrisse eines unmodernen Sofas und anderen Mobiliars. Der Goldrahmen eines billigen Öldruckes an der Wand schimmerte auf.

Jemand klopfte.

»Guten Abend, Herr Wade!« Ein grauhaariger Kopf, das vertrauenswürdige Gesicht eines Hausmütterchens, erschien im Türspalt. »Ein Herr war hier und wollte Sie dringend sprechen.«

»Wer?« fragte Wade kurz.

»Ein Herr Torget!«

»Oh, das ist nicht so wichtig!«

Die Frau legte mehrere Briefe und Zeitungen auf den Tisch.

»Schönen Dank, Frau Järta«, setzte Wade hinzu, »tja, wenn ich Sie nicht hätte!«

»Dann würden Sie hier in Ihrer Junggesellenbude wohl bald Mäuse fangen können«, entgegnete Frau Järta lachend.

»Mäuse, liebe Frau Järta? Das ist eine Idee. Wie Sie aber auch auf Mäuse kommen konnten!« Wade kicherte vor sich hin. »Pumpen Sie mir nächstens einen Schirm, Frau Järta, es regnet wieder Bindfäden, und dieser Mantel scheint nicht mehr recht dicht zu halten.« Frau Järta nickte nur und schob Wade zum Tisch, wo sie für ihn das Abendbrot bereitgestellt hätte.

»Essen!« versetzte sie. »Wenn man Ihnen nicht alles mit Gewalt aufdrängt, essen Sie überhaupt nichts mehr.«

»Sie sind mein guter Engel, Frau Järta«. gab Wade zu und drückte ihr die Hand.

Ein halbes Jahr war es her, daß Nathanel Wade schüchtern an ihre Tür klopfte. Er komme als Nachbar, sagte er, und ob sie ihm nicht einen Gefallen tun möchte. Frau Järta war sofort bereit. In dem Wirrwarr von Hausrat des neu eingezogenen Mieters hing über einem schäbigen Sessel ein Regenmantel, an dem ein Knopf fehlte. Das war alles. »Ich habe kein Geschick für weibliche Arbeiten«, sagte Nathanel Wade lächelnd. Bei dem angenähten Knopf blieb es nicht. Frau Järta bemutterte den hoffnungslosen Junggesellen bis auf den heutigen Tag, obwohl sie für sich selbst, ihren Mann und ihre erwachsene Tochter schon genügend zu sorgen hatte. Aber Nathanel Wades Regenmantel war ein Stück seiner selbst geworden. Er gehörte zu ihm wie die kupferfarbene Nase zu seinem geröteten Gesicht. Mütter erwachsener Töchter haben immer Interesse für Junggesellen. Frau Järta wußte bald, daß Wade neununddreißig Lenze zählte und im übrigen einen festen Posten hatte. »Nathanel Wade, Sergeant der Staatspolizei.« Das klang so gesetzt und sicher. Frau Järta war jedoch einsichtsvoll genug, um den Einwurf ihrer Tochter gelten zu lassen, daß der Herr Nachbar jeden aufmerksamen Beobachter zum Lachen herausfordere. In dieser Beziehung war Nathanel Wade ein hoffnungsloser Fall. Frau Järta erwartete durchaus nichts Besonderes von Herrn Wades Intelligenz. Sein Beruf sagte ihr nicht mehr, als wäre er Straßenfeger oder Fensterputzer gewesen. Eine Gefahr schien ihr für Herrn Wade ausgeschlossen. Was konnte ihm schon passieren, wenn er mal jemandem ein Strafmandat von zwei Kronen wegen schlechter Beleuchtung des Fahrrades zuzustellen hatte, oder wenn er aufpassen mußte, daß den Marktfrauen keine Äpfel gestohlen wurden? – Nein, Nathanel Wade hatte eine sehr gesicherte Existenz; er hatte alle Aussicht, noch in bester Verfassung seine Pension verzehren zu können. Es war aber auch zu dumm, daß Elke so viel an ihm lächerlich fand. Vater Järta bestärkte sie noch darin, und gegen die Autorität ihres Gatten und die jugendliche Überlegenheit ihres Kindes wagte Frau Järta nicht zu opponieren.

Trotzdem warf sie noch einen liebevollen Blick auf den essenden Herrn Wade und verließ dann mit dem berühmten Regenmantel über dem Arm leise das Zimmer. Den knisternden Gummi in der Hand, wurde sie aber doch wieder daran erinnert, daß von diesem lächerlichen Garderobenstück ihre ganze Verzweiflung über den Mißerfolg ihrer geheimen Wünsche herrührte. Sie hängte also den Mantel etwas unsanft an den Haken. Da gab es plötzlich einen Krach, und Mantel und Haken lagen am Boden. Wenige Sekunden später wurde die Tür hinter ihr aufgerissen. Als sie sich erschreckt umwandte, stand Nathanel Wade vor ihr. Aber es war nicht Herrn Wades alltäglich freundliche Miene, die ihr entgegen lächelte – sie war gegen ein hartes, energisches, ja, wie ihr vorkam, in seinem Ausdruck brutales Gesicht vertauscht. In der Rechten ihres »harmlosen« Mieters funkelte etwas, in dem Frau Järta trotz ihrer augenblicklichen Lähmung sofort einen Revolver erkannte.

»Um Gottes willen, es war nur der Mantel«, ächzte sie, »der Garderobenhaken war nicht fest!«

Wade schob aufatmend die Waffe in die Tasche, und sein Gesicht nahm wieder die heitere, harmlose Miene an.

»Oh, ich wollte sie nicht erschrecken, liebe Frau Järta«, erwiderte er, »ich dachte nur – aber das ist ja nun alles in schönster Ordnung.«

»Mein Mann soll Ihnen das reparieren«, stammelte Frau Järta und ließ sich von Wade sanft zur Tür drängen.

Als das Schloß hinter ihr zuschnappte, ging sie wie traumwandelnd in ihre Wohnung hinüber. Norbert Järta schlief schon. Sie weckte ihn, um ihr Erlebnis mit ihm teilen zu können.

»Denke dir, Wade hat einen Revolver!«

»Was? Wer?«

Sie mußte dem so unsanft aus dem Schlaf Geschreckten die Geschichte noch einmal erzählen.

»Was hab' ich dir gesagt? Das grenzt ja an Verfolgungswahnsinn! Der Kerl hat einen Tick, hahaha!«

Norbert Järta lachte schallend. »Wenn ich das morgen Elke erzähle, lacht sie sich schief!«

»Untersteh dich!«

Während des Auskleidens hatte Frau Järta noch genügend Zeit, über ihr Erlebnis mit Wade nachzudenken. »Entsetzlich«, hauchte sie und gab im stillen zu, daß Nathanel Wades Beruf nur geringe Aussicht auf das ruhige Verzehren einer Pension bot. Damit begrub sie ihre schöne Hoffnung endgültig.

*

Wenn man den schmalen Weg, der von der eleganten Avenue in Nynäshamn aus zwischen zwei Villen hindurchführt, wegen seines kaum wahrnehmbaren Daseins nicht versäumt, gelangt man zu der Besitzung von Oberst Robert Humle. Ein Haus aus dicken Tannenbohlen mit einem Stockwerk darauf und einen prächtigen Park, der sich bis zum Seeufer hinzieht. Von den Fenstern der Wohnzimmer aus hat man einen herrlichen Ausblick auf das Meer und die Insel Torö. Oberst Humle mußte diese schöne Aussicht mit einer völligen Isolierung seines Besitzes von der befahrenen Straße bezahlen. Er war der älteste Ansiedler von Nynäshamn, und rings um seinen Park bauten sich neue und immer neue Freunde dieses idyllischen Fleckchens Erde an – bis Oberst Humle fast über des Nachbarn weiß gestrichenen Zaun steigen mußte, um einen Ausgang nach der Straße zu finden.

Dieser Umstand hatte ihn naturgemäß verärgert, denn er war ein Mann, der für sich selbst leben wollte, ohne die Gefälligkeit oder Verlegenheit eines Nachbarn auf sich nehmen zu müssen. Oberst Humle war klein, ja zierlich von Gestalt. Er trug einen wohlgepflegten silbergrauen Spitzbart und hatte große verträumte Augen. Stets sprach er so leise, als möchte er niemanden stören. Auf sein Äußeres legte er großen Wert und kleidete sich immer nach der neuesten Mode. Robert Humle hatte eine bewegte Vergangenheit. Er sprach nicht gern darüber; desto mehr sprach man über ihn. Er mußte seinen Dienst quittieren, weil man – – seiner Frau Beziehungen zu einer Betrugsaffäre nachsagen konnte. Seine Ehe wurde geschieden. Seine Frau zog fort und nahm das Kind mit, dem sie nach einer zweijährigen Ehe das Leben gegeben. Der schmale Pfad zu Humles Villa war nun die einzige Verbindung des Obersten zur Welt, und die große Gesellschaft fand auf diesem engen Wege, auf dem man nicht sicher war, irgendwo anzustoßen, keinen Platz. Oberst Humle stand jetzt im sechzigsten Lebensjahr. Genau fünfundzwanzig Jahre war es her, daß sein Eheskandal in allen schwedischen Zeitungen Gegenstand längerer Erörterung war.

Im Hause hatte Humle seit fünfundzwanzig Jahren keine Veränderungen vornehmen lassen. Das Zimmer von Frau Eri Humle durfte nicht betreten werden, und den Schlüssel hierzu trug der Oberst in der Brieftasche. Er entließ alle Dienstboten bis auf einen, seinen früheren Militärburschen Frederic Hanssen oder Fred, wie er ihn kurz nannte. Fred war das Ideal eines Dieners. In aller Hauswirtschaft bewandert, diskret und – was für Oberst Humle schwer ins Gewicht fiel – Nichtraucher und Nichttrinker. Er war von großem Wuchs, kräftig und hatte das feiste, glatte Gesicht eines gutgenährten Mannes. Er war der einzige, der Herrn Humle noch nicht geraten hatte, noch einmal zu heiraten; und dies wohl aus dem Grunde, weil er selbst nichts von den Frauen hielt und geschworener Junggeselle war. – –

 

Schwere Regenwolken hingen über der Küste. Die Scharen der Tümmler flogen dicht über die Schaumkämme der See, und Torö lag heute so fern in einem Nebel, daß man fast glauben konnte, die Insel sei von Nynäshamn um viele Meilen weiter ins Meer gerückt. Oberst Humle saß beim Tee, den ihm Fred in seinem Arbeitszimmer serviert hatte. Der verdämmernde Tag schaute durch die großen Fenster, vor denen sich die Äste der uralten Platanen im Sturm bogen. Buchenscheite knisterten im Kaminfeuer, das ab und zu einen hellen Schein ins Zimmer warf. Der Schreibtisch des Obersten lag voller Papiere, unter denen einige Telegramme waren, von denen Humle jetzt wieder eines zur Hand nahm.

»Ich begreife es nicht«, flüsterte er, »Dirk schrieb mir doch ausdrücklich, daß er spätestens im September in Stockholm eintreffen würde. Ich bekomme aus New York keine Antwort auf meine Telegramme. Dirk kommt nicht und – –«

Er unterbrach sich, denn Fred, der Diener, trat ein und brachte die Abendpost.

»Es ist wieder kein Brief von Herrn Dirk dabei«, sagte er.

Oberst Humle sprang auf. »Wieder nichts? – Fred, wir müssen etwas unternehmen – es muß etwas geschehen – ich werde an die Schwedische Gesandtschaft schreiben!«

»Es kann Herrn Dirk doch nichts passiert sein?« fragte Fred Hanssen.

»Unmöglich«, flüsterte der Oberst. »Geh jetzt! Ich habe noch zu arbeiten!«

Oberst Humle hielt es durchaus für nicht so »unmöglich«, daß seinem Bruder Dirk in New York etwas geschehen sei. Er kannte Dirk zu gut. Sein Leichtsinn hatte ihn nach Amerika geführt, und war es nicht möglich, daß er auch hier seine tollen Streiche fortsetzte, in schlechte Gesellschaft geriet? – Dirk Humle war das Sorgenkind der Familie Humle. Da er der Jüngste von den acht Kindern des alten Holzhändlers Christ Humle war, wurde ihm viel nachgesehen. Solange die Eltern lebten, hatte Dirk gute Zeiten, aber dann kam das bittere Ende: Dirk fälschte die Unterschrift seines Bruders, des Obersten Robert Humle, und mußte nach Amerika. Nach Jahr und Tag schrieb er. Es ging ihm gut. Er schickte Geld, und man hätte in Schweden gut davon leben können. Endlich kam die Nachricht, daß Dirk heimkehren wollte. An Robert Humle war das Schicksal inzwischen auch nicht ohne Schläge vorübergegangen.

Im August wollte Dirk schon kommen, heute schrieb man den letzten Novembertag.

»Ich muß an die Gesandtschaft schreiben«, flüsterte Robert Humle, und setzte nach einer Weile seufzend hinzu: »Dirk hat das Zeug dazu, Schecks zu fälschen und ein Vermögen damit zu verdienen!«


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