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Über Nynäshamn hingen dunkle Wolken. Ununterbrochen ging schwerer Regen nieder. Birger Lost ließ das Auto unweit der Bahnstation halten. »Wir können das Stück bis zu meinem Hause zu Fuß zurücklegen«, bemerkte er, »der Mann hätte uns sowieso nur bis zu dem Hauptwege fahren können – den ich meiner lieben Nachbarn wegen heute nicht gern benutzen möchte.
»Und warum nicht?« fragte Elke Järta beklommen.
»Weil ich nicht möchte, daß die Leute sagen, der alte Lost kommt mit einem Mädel nach Hause«, erwiderte er und nahm ihren Arm.
»Hatten die Leute oft Ursache, dies zu behaupten?« fragte Elke Järta mit einem Versuch zu scherzen.
»Noch nie, das ist es ja eben!« –
Der Weg führte an einigen Bauplätzen vorüber. Hinter ihnen breitete sich ein kleiner Erlenwald aus, der bis an den Rand der See reichte. Elke Järta nahm ihre Handtasche fester unter den Arm. Sie fühlte Raul Harpers Revolver durch das Leder, da schwand ihre Furcht wieder. Eine Buchsbaumhecke schloß Birger Losts Anwesen ab. Das Haus lag versteckt hinter Büschen und Bäumen, und nur jetzt im Herbst sah man das Dach durch das kahle Geäst schimmern. Von Fern drang das Rauschen der Meeresbrandung an Elke Järtas Ohr.
»So dicht am Wasser wohnen Sie?« fragte sie, nur um etwas zu sagen und die unheimliche Stille zwischen ihnen zu brechen.
»Ganz dicht, Fräulein Järta, so dicht, daß ich von meinem Balkon aus in die Fluten springen könnte«, sagte Birger Lost.
Irgendwo schlug ein Hund an. Elke Järta blickte unauffällig in die Runde. Raul Harper würde in der Nähe sein, denn wenn er Birger Lost ein Auto hätte nehmen sehen, so war er totsicher auch nach Nynäshamn gefahren und hatte an der Station auf ihr Kommen gewartet. Hinter der Hecke meldete sich der Hund. Birger Lost schloß das Tor auf.
»Treten Sie ein, Fräulein Järta«, sagte er freundlich, und wies auf die hell erleuchteten Fenster des stattlichen Blockhauses, »meine Gäste amüsieren sich auch ohne mich, wie Sie sehen. Es ist etwas Neues für mich. Birger Lost hat Gäste!«
Eine Dogge kam in wilden Sätzen auf die Ankommenden zu und beschnüffelte sie.
»Haben Sie keine Furcht, Fräulein Järta«, sagte Birger Lost, »er tut Ihnen nichts – solange Sie in meiner Nähe sind.«
Die Tür zum Blockhaus wurde aufgestoßen und Elke Järta sah zu ihrer Verwunderung in ein hell erleuchtetes, mit einem sattroten Teppich ausgelegtes Vorzimmer. Musik aus einem Radiolautsprecher wurde vernehmbar. Doch Elke wartete vergeblich auf das Erscheinen eines dienstbaren Geistes, der die Tür geöffnet hatte. Birger Lost ließ ihr keine Zeit zur Überlegung. Er führte sie in einen kleinen Raum, der augenscheinlich als Garderobenzimmer diente, und bat sie, hier einstweilen abzulegen.
»Bitte, entschuldigen Sie mich für eine Minute«, sagte er, »ich will nur schnell sehen, wer alles gekommen ist.«
War es schon seltsam, daß Birger Lost die Tür hinter ihr schloß, so erinnerte sie sich plötzlich daran, daß er eigentlich mit ihr in der Stadt ausgehen wollte und erst später auf den Gedanken kam, mit ihr nach Nynäshamn zu fahren. Wenn Birger Lost Gäste in seinem Haus wußte – wie konnte er sie da zu einem Ausgang in der Stadt einladen? – In dem Zimmer stand Schrank an Schrank. Es gab ein Fenster, aber es war fest geschlossen und von außen mit einem Gitter versehen. Birger Lost hatte gelogen. Mit der Erkenntnis dieser Lüge kehrte Elke Järta alle Geistesgegenwart zurück. Sie sah in einen der Schranke. Nichts als Gesteinsbrocken in allen Größen und Formen waren darin. Sicher interessierte sich Birger Lost für geologische Funde. Elke Järta fand eine kleine Tür, die durch einen Vorhang verdeckt war. Der Riegel ließ sich bewegen. Sie entnahm ihrer Handtasche eine kleine elektrische Lampe und schob den Revolver in ihre Manteltasche. Vorsichtig trat sie in einen Gang, an dessen Ende eine schmale Treppe nach oben führte. Eine Weile blieb sie lauschend stehen, hörte noch den Funkansager das nächste Musikstück melden, dann war es still.
Sie ging noch einmal zurück und schob den Riegel vor. Auf diesem Wege würde Birger Lost sie nicht mehr überraschen können. Der Schein ihrer Lampe tanzte über die Treppenstufen. Da hörte sie Birger Lost rufen, und sie eilte die Treppen hinauf. Das Dunkel eines Eßzimmers wurde vom Schein ihrer Lampe jäh erleuchtet. Sie schlug die Tür zu und schob den Riegel vor. Einstweilen war sie hier sicher. Wenigstens hatte sie Zeit genug, nach einem Fluchtweg zu suchen. Sie trat auf den Balkon hinaus, den derbe Balken trugen. Sie reichten, wie Elke Järta feststellte, bis auf den Boden hinab. Kurz entschlossen schwang sie sich über das Geländer und rutschte an einem der Balken hinunter. Wieder hörte sie Birger Lost rufen, Glas splitterte, sie sah seinen Schatten auf dem Balkon. Die Lampe war ihr beim Herabrutschen entfallen. In der Dunkelheit lief sie querfeldein, durch Gebüsch, über eine Wiese und fand nirgends einen Ausweg. Mit letzter Kraft riß sie sich an einem Pfosten der hohen Palisade herauf, sie hörte das Bellen der Dogge näher und näher kommen, dann sprang sie sinnlos vor Angst hinunter und fand keinen Boden mehr. Es war ein Sturz, dessen schmerzhaften Aufprall sie in einer weichen, wohltuenden Ohnmacht nicht mehr empfand.
*
»Schlechte Wege hier draußen«, murmelte ein Mann in einem gelben Regenmantel vor sich hin, als er die aufgeweichte Fahrstraße zum Grundstück Birger Losts betrat. »Soviel ist sicher«, fuhr er in seinem Selbstgespräch fort, »Birger Lost weiß, daß Raul Harper in Sicherheit ist. Heute wird er die Gelegenheit wahrnehmen, und es kann nicht schaden, wenn ich dabei bin!« –
Zwei Männer standen vor dem Tor zu Birger Losts Grundstück.
»Sind Sie's, Herr Wade?« rief der eine. »Wir sind von der Seeseite her gekommen, mußten also früher hier sein. Was ist, sollen wir hinein?«
»Hat die Ortspolizei es plötzlich so eilig, einen Mann zu besuchen, der sich durchaus nicht verdächtig gemacht hat?« fragte Nathanel Wade boshaft und lauschte auf das Bellen des Hundes hinter der Hecke.
»Uns ist es auch heute noch nicht ganz erwünscht«, erwiderte der Beamte, »Herr Lost ist Bürger und –«
»Still, was war das?« unterbrach ihn Wade, der einen Hilferuf hörte, »schnell, wir müssen hinein, da scheint etwas passiert zu sein!« Er stemmte sich gegen das Tor – es war offen.
»Nanu? So hohe Hecken, und dann ein offenes Tor?« wunderte sich Wade.
Das Licht aus den Fenstern fiel grell auf den Weg. Es war Nathanel Wade, als wenn hinter den Gardinen sekundenlang ein Gesicht auftauchte. Plötzlich erlosch das Licht. Wades Scheinwerfer zielte auf die Haustür, die langsam, wie von unsichtbarer Hand bewegt, aufging.
»Seltsam«, murmelte er und trat mit den Beamten in den Vorraum. Er fand den Lichtschalter und knipste das Licht wieder an.
»Donnerwetter, ein Luxus hier!« staunte einer der Beamten, »das hätte man in dieser Holzhütte gar nicht erwartet!«
Während sie im Vorraum standen, durchgellte ein zweiter Hilferuf das Haus. Sie hörten eine Tür zuschlagen. Bei der Durchsuchung der Parterreräume gelangten sie in Birgers Losts Arbeitszimmer. Die Schubladen des Schreibtisches hingen heraus, einige Schränke waren offen. Es sah so aus, als hätten Einbrecher soeben erst die Stätte ihres Wirkens verlassen. Wade hielt die Beamten zurück. »Halt, nicht weitergehen, wir könnten mit unseren schmutzigen Schuhen den schönen Teppich verderben«, sagte er lächelnd und wies auf eine feuchte Schmutzspur, die vom Schreibtisch zur Tür führte. Da hörte Nathanel Wade eine ihm wohlbekannte Stimme hinter sich.
»Großartig, Wade, Sie kommen immer zur rechten Zeit, und sei es auch nur, die gegebenen Tatsachen zu protokollieren!«
»Hallo, Inspektor Torget?« rief Wade aus, »um alles in der Welt, wie kommen Sie hier her?«
»Mit der Eisenbahn, Wade. Das ist furchtbar einfach. Man setzt sich in einen Zug und fährt am besten seinem Mitarbeiter und hochverehrten Kollegen nach!«
»So hatten Sie diesmal die richtige Nase!« entgegnete Wade kühl. »Wenn Sie nichts einzuwenden haben, sehen wir uns hier etwas um.«
Torget nickte. Die Durchsuchung verlief negativ, im ganzen Hause war niemand zu finden.
»Trotzdem hörten wir einen Hilferuf«, sagte Wade, »vor einigen Minuten muß noch jemand im Hause gewesen sein.«
»Das wird Ihnen keiner bestreiten«, ließ sich Inspektor Torget vernehmen, »hier liegt zweifellos Einbruch vor. Das ist nicht unsere Sache, damit werden die Herren in Nynäshamn allein fertig. Ich bin auch nur hier, weil ich von Raul Harper hörte, daß er mit Elke Järta einen Besuch bei Birger Lost verabredet hatte.«
»So könnte die Frau Elke Järta gewesen sein«, versetzte Wade tonlos.
Inspektor Torget zuckte die Achseln. »Das wird sich morgen schon herausstellen, Wade. Vorerst können wir nichts tun. Wie wollen Sie hier im Dunkeln außerhalb des Hauses eine Spur finden? Kommen Sie, es ist ein schauderhaftes Wetter, und wir dürfen den Zug nicht verpassen.«
Die beiden Beamten der Ortspolizei wußten nicht recht, was sie beginnen sollten. Gemeinsam mit ihnen suchten Wade und Torget das ganze Grundstück ab; sie fanden jedoch keinerlei Spuren eines Kampfes oder Überfalls. Die Nynäshamner Polizisten wollten auf die Rückkehr des Hausherrn warten.
»Bin nur neugierig, wie sich diese rätselhafte Geschichte aufklärt«, meinte Wade.
»Einbruch«, erklärte Inspektor Torget kurz.
»Vielleicht«, gab Wade zu und stolperte mit dem Inspektor den Weg nach der Station hinunter.
*
Oberst Humle hatte, wie immer von Fred Hanssen bedient, zu Abend gegessen und las, gewissermaßen als Nachspeise, in einem Werk des Dichters Loti. Heute wollte ihm jedoch seine Lektüre nicht behagen. Der Teufel mochte wissen, woran es lag, daß ihm im Augenblick die Umwelt immer wieder die Poesie der Erzählung entriß. Mißmutig legte er das Buch zur Seite und ging im Zimmer auf und ab. Finsternis lag vor den großen Fenstern. Er hörte die See gegen den kiesigen Strand wüten. Dann und wann zuckte der Blitz eines Leuchtfeuers über den Horizont. Die Dunkelheit vor den Fenstern und das abgeblendete Licht der Leselampe hatten etwas Erdrückendes an sich. Humle schaltete die Deckenbeleuchtung ein und horchte. Fred Hanssen war nicht zu hören. Er klingelte, und es dauerte kaum zwei Minuten, bis Fred in der Tür stand und sich nach den Wünschen des Herrn Obersten erkundigte. Humle sah ihn zerstreut an. »Ja, was wollte ich doch? – Jetzt habe ich es wirklich vergessen. Bleib nur hier, sicher fällt es mir wieder ein.«
Fred Hanssen wollte die Nachdenklichkeit des Obersten nicht stören und schwieg. »Setz dich, bitte«, erklärte Oberst Humle schließlich kurz.
»Vielleicht wollte der Herr Oberst den Klaren und eine Zigarre«, wagte Fred einzuwenden.
»Unsinn, ich muß dir offen sagen, daß mir heute unheimlich zumute ist. Es gibt Ahnungen, Fred, das habe ich dir schon oft gesagt. Höre nur, wie die See rauscht. Sie nagt an unserem Strand, sie will uns das Land entreißen.« Humle ließ sich in einem Sessel nieder. »Staatsanwalt Kronberg versprach mir Nachricht von Dirk«, fuhr er fort, »es muß etwas Entsetzliches geschehen sein, sonst hätte Dirk doch von sich hören lassen.«
»Bei einiger Überlegung komme ich zu dem Schluß, daß Herr Dirk gute Gründe für sein Schweigen haben wird«, sagte Fred und lehnte sich dreister auf seinem Stuhl zurück. Oberst Humle saß in Gedanken versunken. In das Ticken der Uhr mischte sich Knacken und Knistern von Holz. Ihm schien es wie ein Zeichen aus einer unbekannten Welt.
»Hörst du, Fred! – Noch nie war ich so nervös wie heute abend.«
»Bei einiger Überlegung komme ich zu dem Schluß, daß feuchtes Holz in der Zeit, wo man die Kamine heizt, sich dehnt und diese Geräusche verursacht, Herr Oberst«, bemerkte Fred.
»An dir ist alles realistisch, Fred«, erwiderte Humle, »deine Muskeln verursachen dir keine Kopfschmerzen. Das hat seine Vorteile. Hast du das Gartentor gut verschlossen?«
»Jawohl, Herr Oberst, aber wenn Sie es wünschen, sehe ich noch einmal nach.« Er wollte schon gehen, aber Humle hielt ihn zurück. »Ich komme mit, Fred!« Er schloß eine Schublade seines Schreibtisches auf und entnahm ihr einen Revolver. Fred Hanssen machte ein bedenkliches Gesicht zu dieser Vorbereitung. Der Oberst bestimmte ihn noch dazu, sich in der Küche eine Laterne zu holen.
Der Lichtstrahl fiel gegen kahles Gesträuch, das den Weg zum Hause säumte. Es regnete noch immer. Die Wolken schienen dicht über das Geäst der Bäume hinweg zu fliegen. Ein erleuchtetes Fenster in einem fernen Nachbarhaus stierte wie ein Zyklopenauge durch die Nacht. Fred Hanssen überzeugte Humle von dem festen Verschluß des Torgitters.
»Man kann auch darüber hinwegsteigen«, wandte Humle ein.
»Bei einiger Überlegung komme ich zum Schluß, daß der Herr Oberst Einbrecher fürchten«, entgegnete Fred.
»Das wäre nichts Besonderes, Fred – es kann Schlimmeres sein.«
Sie gingen zum Wasser hinunter. Das Boot, in dem Oberst Humle im Sommer so oft nach Torö hinüberfuhr, lag noch an seinem Platz vertäut. Fred Hanssen ließ den Lichtstrahl der Laterne über das dunkle Wasser tanzen. Humle erschienen die Schaumkronen der Wellen, die mit gleichmäßigem Rauschen dem Lande zustrebten, wie Tiere, die gegeneinander wüteten, in dem Kampf, wer von ihnen das Land und die Menschen in die dunkle Tiefe ziehen sollte.
»Ich denke, wir können jetzt ins Haus zurückkehren, Herr Oberst«, unterbrach Fred seine Betrachtung, »Sie könnten sich hier erkälten.«
»Ja, komm, ich mag diese Nacht mit ihren häßlichen Bildern nicht mehr sehen«, gab Humle zu. Der Lichtstrahl glitt über dichtes Weidengesträuch, daß wirr bis zum Wasser hinunterhing. Fred Hanssen hielt den Obersten zurück. »Sehen Sie dort – was ist das? –«
Humle starrte auf eine hell schimmernde Masse, die am Fuß des Weidenbusches, noch vom Wasser mit langen rollenden Schlägen umspült, haftete.
»Ein angeschwemmtes Stück Segel«, rief Humle aus, »was sollte es sonst sein?« Trotzdem vermochte er seinen Schrecken schlecht zu verbergen und glaubte seinen eigenen Worten nicht. Fred Hanssen zwängte sich schon durch das Gesträuch. Wohl oder übel mußte der Oberst ihm folgen. Freds derbe Fäuste rissen die Weidenzweige auseinander, dann fiel der Lichtstrahl auf das vermeintliche Segelstück, und Oberst Humle, der sich an Freds Seite drängte, stieß einen Schrei des Entsetzens aus. Vor ihnen lag eine anscheinend leblose Frau.
»Halten Sie die Laterne«, rief Hanssen fast barsch und drückte dem zitternden Obersten die Lampe in die Hand. Seine starken Arme nahmen die Frau auf. »Nun gehen Sie voran!« herrschte er Humle an, der diesen ungewohnten Ton im Augenblick vollkommen überhörte.
Auf dem Wege nach dem Hause war es dem Obersten, als trüge nicht Fred Hanssen, sondern er die Last, die das Meer an den Strand gespült. »Sie kann es nicht sein«, flüsterte er vor sich hin und sah sich scheu um. Am Haustor ließ er Fred vorüber, der mit festem, weit ausholendem Schritte das Arbeitszimmer des Obersten betrat und seine Last auf das Ruhebett niederlegte. Humle beobachtete gespannt die ersten Maßnahmen, die Fred zur Wiederbelebung des Körpers sachkundig vornahm. Schließlich erhob er sich aus seiner knienden Stellung.
»Sie müssen sofort nach einem Arzt telephonieren, sie lebt noch«, rief er und Humle beeilte sich, die Verbindung mit seinem langjährigen Hausarzt zu erhalten.
Eine Stunde und mehr verging. Die Männer saßen schweigend und lauschten auf die schwachen Lebenszeichen der Frau. Da endlich schrillte die Klingel durch die Stille.
»Das muß Doktor Mortensen sein«, flüsterte Humle, »er hat nicht mehr als eine halbe Stunde Weg bis hierher.« Fred Hanssen ging hinaus. Endlos lange schien es Humle, bis der feste Schritt Hanssens wieder im Flur vernehmbar war.
Doktor Mortensen stellte keine langen Fragen. Seine Methode war ebenso roh wie praktisch. Humle wußte selbst nicht, wie er dazu kam, Doktor Mortensen in diesem Augenblick zu hassen.
»So, meine Herren«, rief der Arzt aus, »ich denke, daß wir sie durchbekommen. Sie hat etwas Wasser geschluckt. Wer ist es, Humle?«
»Ich weiß es nicht«, erwiderte der Oberst leise. Fred Hanssen mußte den Sachverhalt erzählen. Nachdem er geendet hatte, meinte Doktor Mortensen, »da wird Ihnen wohl nichts weiter übrigbleiben, als sofort die Polizei zu benachrichtigen. Die Frau hat einige, wenn auch geringe Verletzungen an den Armen und Beinen erlitten. Vielleicht liegt ein Verbrechen vor!«
Während Doktor Mortensen ein Rezeptformular ausfüllte, ließ sich Humle mit Staatsanwalt Kronberg verbinden. Kronberg versicherte ihm, daß er persönlich sofort hinauskommen würde.
»Entschuldigen Sie mich, Herr Oberst«, sagte Doktor Mortensen, »ich habe es sehr eilig, muß meine Frau vom Theater abholen. Begreife auch nicht, wie man Schauspiele besuchen kann, wenn das Leben Trauriges genug bringt!«
Fred Hanssen geleitete den Arzt hinaus. Er blieb lange aus, und als er zurückkam, befand sich die Frau des nächsten Nachbarn in seiner Begleitung.
»Kommen Sie, Herr Oberst«, forderte er Humle auf, »Frau Torsten hat hier einiges zu tun!«
Als Frau Torsten die Herren wieder hereinrief, lag die Patientin in warme Decken gehüllt auf dem Ruhebett. »So, Herr Hanssen, nun kochen Sie Tee mit etwas Rum«, rief die Frau, »das kann nicht schaden. Machen Sie auch ein paar Wärmflaschen, wie Ihnen Doktor Mortensen empfahl!«
»Haben Sie herzlichen Dank, Frau Torsten«, sagte Oberst Humle freundlich, denn er hatte seine Nachbarn bisher kaum gegrüßt. Während sich Fred Hanssen an die Herrichtung des Bestellten machte, lauschte Humle auf die tiefen Atemzüge der Patientin. Er sah das blasse Gesicht auf den Kissen. »Sie kann es nicht sein«, flüsterte er wieder und wieder vor sich hin. Und doch war es das weite Meer, das einmal in seinem Leben Vergangenes von der Gegenwart trennte und nun diese Fremde an das Land spülte und in sein Haus brachte. Da sah er plötzlich in dem weißen Gesicht die Augen groß auf sich gerichtet. Die Lippen schienen Worte zu formen, wie gebannt saß Oberst Humle in seinem Sessel. Ein Erschauern ging durch den Körper der Frau, ihre Hände strichen in kraftloser Bewegung über die Decken.
Oberst Humle riß an der Klingel. Fred stand schon mit dem Tee in der Tür.
»Sie ist erwacht, Fred«, sagte Humle leise und winkte ihn heran.
»Geh zum Tor, Staatsanwalt Kronberg muß jeden Augenblick erscheinen«, flüsterte er. »Ist Frau Torsten noch hier?«
»Nein, sie ging vor einigen Minuten«, erwiderte Hanssen und stellte den Tee ab. Minuten wurden Oberst Humle in dieser Nacht zu Ewigkeiten. Endlich kam Staatsanwalt Kronberg. Als er das blasse Gesicht in den Kissen sah, rief er aus: »Bei Gott, ich hätte verhindern können, daß derartiges geschah – es ist Elke Järta!«
Dieser Name sagte Oberst Humle nichts. Er gab dem Staatsanwalt noch einige Erklärungen darüber ab, wie sie das Mädchen gefunden hatten, und schloß: »Soviel ist sicher, von allen Erschütterungen, die ich auf mich nehmen mußte, ist diese nach Dirks geheimnisvoller Schwedenreise die stärkste! Was soll nun geschehen?«
»Ich werde sofort die Überführung des Mädchens in ein Krankenhaus veranlassen«, entgegnete Kronberg, »alles andere besorgt die Polizei morgen.«
Im Osten graute schon ein neuer Tag, als sich Oberst Humle zur Ruhe begab. Er tat dies auch nur auf dringendes Anraten seines Dieners. Fred Hanssen konnte sich jedoch nicht enthalten, in Verfolg dieser ereignisreichen Nacht zu erklären:
»Bei einiger Überlegung komme ich zu dem Schluß, daß wir das junge Mädchen ebensogut hätten hier behalten können. Wie Sie es fertig brachten, das arme Ding in ein Krankenhaus bringen zu lassen, ist mir unverständlich!«
»Mir auch, Fred – und wenn sie es auch nicht ist – so bedaure ich es jetzt doch«, sagte Herr Humle leise und zog sich die Bettdecke über den Kopf.