Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Alles schläft; es war doch gut, daß mein 60. Geburtstag auf einen Sonnabend fiel, so kann sich doch auch mein Geschäftspersonal ordentlich ausschlafen. Doch mir läßt es keine Ruhe, daß ich dir, lieber Leser, noch nicht Lebewohl gesagt habe, und deshalb bin ich eine Stunde eher als Hanna aufgestanden.
Es verstand sich ja von selbst, daß wir gestern für unsere Kinder und Freunde ein großes Mittagessen geben mußten und in dieser Angelegenheit habe ich auch ein Wörtchen mitgeredet. Doch um alles Andere bekümmerte ich mich nicht, stellte mich blind und taub und that, als erwartete ich gar nichts Besonderes von meinem Geburtstage. Ich machte ein wirklich äußerst gleichgültiges Gesicht, wenn ich an den schon fertigen, großen Blumenkörben vorbeiging und that, als sähe ich weder die auf dem Vorplatze liegenden Guirlanden, noch die beiden Waschkörbe voll bunter Papierlaternen. Wir sind jetzt im September, und als ich gestern Morgen aus dem Schlafzimmerfenster guckte, sah ich die Sonne klar auf uns herabscheinen. Jöns hatte meine beiden Flaggen, die schwedische und die peruanische, hissen lassen, und meine Schwiegertochter, die Malerin, stand mit einer kleinen Scheere an der Rosenhecke.
»Gott behüte Dich!« sagte Hanna einfach, doch in ihren Augen konnte ich eine lange Festrede lesen.
» Tarram, tarram, trarram, tam, ta!« klang es von der Strandstraße herauf und über den Markt zog der Arbeiterverein, mit der Fahne und der Blechmusik an der Spitze. Ich bin 16 Jahre im Vorstande dieses Vereins gewesen und habe ihnen einmal 1000 Kronen geschenkt, und meine Kinder haben der Vereinsbibliothek jährlich ein Dutzend Bücher gegeben.
Ich bekam ein Ständchen. Zwei Musiknummern und eine so großartige Rede, daß, wenn ein mit den hiesigen Verhältnissen Unbekannter sie gehört hätte, er mich mindestens für den König von Nålköping gehalten haben würde. Doch das bin ich nicht, Fabrikbesitzer Gråberg ist es. Der Redner war ein hiesiger Barbier, und die Rede selbst war sehr schmeichelhaft für mich, aber auch sehr freisinnig. Sie behandelte zugleich auch das allgemeine Stimmrecht, denn Arbeitervereine politisiren immer gern und Barbiere ebenfalls. Ich trat auf den Balkon und hielt ebenfalls eine Rede. Alle Vorübergehenden blieben stehen, und das Milchmädchen, das jeden Morgen die Milch von Groß-Eneby in die Stadt fährt, hielt mit dem Milchwagen dicht neben der Musik, stemmte die Hände in die Seiten und sah mich an, als wäre ich ein Wunderthier.
»Freunde!
Ich weiß, daß Ihr Euch nicht über mich lustig machen wollt, doch ich weiß auch, daß das schmeichelhafte Bild, das Ihr eben von mir entworfen habt, mir nicht gleicht. Es ist deshalb nicht ähnlich geworden, weil Eure freundlichen Gesinnungen seine minder schönen Züge mit dem Mantel der Liebe zugedeckt haben. Ich will nichts daran aussetzen, und bitte Euch nur, mich immer unter diesem Bilde in Erinnerung zu behalten.
Eines ist und bleibt wahr: ich halte viel von Euch, achte Euch aufrichtig und schätze nichts höher als ehrliche Arbeit, sie sei nun geistige oder körperliche Arbeit. Von einem Manne wie ich, der in seiner Jugend ärmer gewesen ist als der Geringste unter Euch, ist es ja nicht anders zu erwarten. Für das allgemeine Stimmrecht kann ich ebenso wenig etwas thun, wie ich etwas dagegen vermag. Die Sache liegt in Gottes Hand, er lenkt die Herzen des Königs und des Reichstages, dessen Mitglied Nålköpings Vertreter, unser allgemein verehrter Bürgermeister Trybom ist. Doch in dem Rahmen des schon bestehenden Grundgesetzes habe ich bereits für das allgemeine Stimmrecht gethan, was ich konnte; alle meine Buchhalter haben Stimmrecht und meine alten Hausknechte wurden bei der letzten Wahl auch in die Liste der, in Folge eines Einkommens von 800 Kronen jährlich, Stimmberechtigten eingetragen, wollten aber von ihrem Rechte keinen Gebrauch machen.
Nehmt meinen herzlichen Dank! Gott segne Euch!«
Schon machte der Verein kehrt, schon war auf dem Markte alles wieder in Bewegung und der Milchwagen von Groß-Eneby fuhr weiter, da trat mein Albert, der Doctor, auf den Balkon, fest entschlossen, wie ich ihm gleich ansah, ebenfalls eine Rede zu halten.
Ich wurde wirklich bange. Denkt nur, wenn er in Stockholm von den modernen Ideen und dem dort herrschenden, schrecklichen Radicalismus angesteckt worden wäre und nun hier in Nålköping eine freisinnige Rede nach dortigem Muster hielte! Was würden die Leute denken! Was würden unsere guten Freunde Tryboms sagen, die so schrecklich konservativ sind!
Gott sei Dank! Meine Angst war unnöthig, Alberts kurze Rede war sowohl vaterländisch wie konservativ!
»Ich bitte Herrn Barbier Lind und das geehrte Musikchor zu uns heraufzukommen und ein Glas mit uns zu trinken!« sagte er mit fester, wohllautender Stimme in dem Tone innerster Ueberzeugung.
Als ich mich umwandte, stand Jenny da, einen Präsentirteller mit Weingläsern in der Hand. Die andern Kinder waren auch versammelt und Eva sah mich vom Rollstuhle aus mit ihren großen, milden, warmen Augen an. Ich trat zu ihr, und um mich und unsern Liebling schlang sich eine Kette ausgebreiteter Arme und manch liebevoller Mund flüsterte mir Segens- und Dankesworte ins Ohr.
Da trat Johanna, unser Stubenmädchen, in den Saal und meldete, daß draußen eine Deputation der Loge »Siebengestirn«, bei der ich als Schatzmeister fungire, angekommen sei.
Es waren sechs Ordensbrüder, gute Freunde, die sich sonst garnicht zu geniren pflegten, mich in den Rücken zu » knuffen« und zu sagen: »Du bist doch zu dumm, alter Nicke!« Nun aber benahmen sie sich ganz entsetzlich fein, hatten ihre Commandeursschärpen unter den Sommerüberziehern angelegt und sahen mich so starr an, als wäre ich ein indischer Thongötze, oder als wollten sie sagen: »Rühre uns um Gotteswillen nicht an und mache keine Witze, sonst bringst Du uns um den ganzen Effect!«
Darauf zogen sie die Ueberzieher aus, rückten die weißen Halsbinden zurecht und stellten sich in Positur. Der Oberceremonienmeister gab die Losung des neunten Grades und der Unterceremonienmeister stampfte mit dem Fuße, worauf der Meister vom Stuhl, Bruder Lündström eine Rede hielt und mir im Namen aller Ordensbrüder einen silbernen Pokal, einen richtigen Wettrennen-Pokal überreichte. Und ich kann auch nicht leugnen, daß ich für das »Siebengestirn« oft gelaufen bin, bis mir der Athem ausging, und daß ich mir an den Feiertagen in Rittertracht mit dem Schwerte zur Seite wie ein Narr vorkomme, doch wenn ich meinen Wettrennen-Pokal ansehe, so habe ich wenigstens den Trost, daß an demselben weder das Blut, noch der Schweiß eines abgehetzten Gaules klebt. Will der Mensch sich lächerlich machen, so mag er es mit seinem eigenen Leibe thun. Das ist seine eigene Sache und Niemand kann es ihm verwehren.
Meine Antwort auf die Rede des Meisters berührte keine politischen Tagesfragen, und braucht nicht weiter angeführt zu werden.
Champagner.
Die Gratulanten drängten einander, der Regierungspräsident mit seiner Frau, der Bischof und der Dompropst kamen persönlich. Dann kam das Mittagessen mit vielen Reden. Die allerschönste hielt mein Albert. Sie hätte verdient gedruckt zu werden, doch davon will Albert nichts hören. Ich sah, wie der Bischof, der die erste Rede gehalten und sich wirklich Mühe dabei gegeben hatte, ordentlich verlegen wurde, als er von Albert so »distancirt« wurde, wie die Radfahrer sagen. Meine zukünftige Schwiegertochter, die Malerin, hatte allerliebste kleine Verse gemacht. Es ist ein großes Glück, wenn Gatten gleich Begabung und Geschmacksrichtung haben. Ich habe in meinem ganzen Leben keine Verse gemacht und Hanna ebensowenig. Unser Jöns las alle Telegramme vor; eine ganz anstrengende Arbeit, denn es waren ihrer nicht wenige.
Consul Jönsson
Nålköping.
Glück auf zu den 60 Jahren! Weitere Erfolge, Glück und Freude!
Roslund.
Großhändler Jönsson
Nålköping.
Sechzig bist Du!
Fried und Freud
Und Herzensruh
Und viel Glück dazu!
Mimmi u. Jonas in Bolsåkra.
Bruder Schatzmeister.
»Siebengestirn«, Nålköping.
Klar wie der Glanz des Siebengestirns, hoch wie sein Stand an des Himmels Feste dringt der Gruß der Schwesterloge in Skunkeby an Deinem Ehrentage zu Dir. Heil!
Jönsson.
Nålköping.
Die letzten Rapskuchen unbrauchbar. Schicken Sie kei– – –
»Was, zum Kuckuck, ist das?« rief Jöns. »Tragen Sie es ins Comptoir, Wicklund.«
Und damit griff er nach dem nächsten Telegramme.
Doch als wir beim Dessert waren, kamen Rittergutsbesitzer Oestberg und Gutsbesitzer Brandström zu mir und sagten:
»Entschuldige, lieber Nicke, was ist das für eine Geschichte mit den untauglichen Rapskuchen? Wohl dieselbe Sorte, die wir bekommen haben, was?«
Da aber wurde ich böse und sagte:
»Habt Ihr denn gar keinen Funken Schamgefühl in Euch, Freunde! Wollt Ihr mich in meinem eigenen Hause und noch obendrein an meinem Geburtstage in Verlegenheit setzen! Prosit, laßt uns lieber eins trinken!«
Am Abende war der Garten illuminirt und eine Bowle im Lusthause aufgestellt. Bei der Bowle wurde wieder geredet. Die Reden waren schmeichelhaft, doch die Schmeichelei war gut gemeint. Zuletzt brannte Buchhalter Wicklund ein Feuerwerk ab; das hätte er aber Mamas und meinetwegen gern bleiben lassen können, denn als die erste Rakete zischend in die Höhe fuhr, sahen wir unsere Jenny mit Dr. Persson, dem Gymnasiallehrer, innig umschlungen vor der Fliederlaube stehen, und ich muß leider annehmen, daß wir nicht die Einzigen waren, denen dieses lebende Bild auffiel.
Warum haben die Mädchen es nur so eilig? Ich sehe es kommen, daß auch Karin dem Beispiele ihrer Schwestern folgen will, und dann bleiben Hanna und ich allein. Dann stehen wir einsam da, zwei alte, verwitterte, entlaubte Bäume.
Im Lusthause wurde gesungen, überall herrschte Leben und Frohsinn; meine Gäste amüsirten sich prächtig auf eigene Hand. Ich zog mich einen Augenblick aus dem Trubel zurück und ging zu Eva hinauf.
Sie saß in dem großen Stuhle, der in ihrem Zimmer am Fenster steht und blickte zu dem klaren Sternenhimmel empor.
»Wie hell die Sterne glänzen, Kind! Sie sind mir nie so nahe vorgekommen wie heute Abend.«
Sie lehnte ihr Haupt an meine Wange und flüsterte:
»So ist es auch wohl, Papa! Wir kommen ihnen mit jedem Tage ein wenig näher, und wenn man 60 Jahre alt, oder – so gebrochen ist, wie ich, da ist es wohlgethan, mit den Blicken öfter die Entfernung zwischen uns und ihnen zu messen und öfter die Gedanken auf den Flügeln des Gebetes dorthin zu schicken.«
Ende.