Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Der Lebenslauf eines Hundertkronenscheins

I.
Was die Kameraden in dem Bank-Kassengewölbe erzählten.

Meine frühesten Erinnerungen sind ein unentwirrbares Chaos, aber unter ihnen drängt sich immer eine an eine frühere Daseinsform hervor, und ich hörte von einem alten, erfahrenen und weitgereisten Privatbank-Zehner, dem ich in einem Bank-Kassengewölbe in Vesterås begegnete, daß etwas Ähnliches bei den Menschen der Fall zu sein scheine, da ein Teil von ihnen glaubt, daß sie von Stern zu Stern fliegen.

Solch stolze Gedanken habe ich nun nicht, aber da Papier-Scheine aus Lumpen gemacht werden, möchte ich sehr wohl einmal ein feines Brauttuch einer glücklichen Braut gewesen sein.

Nun besinne ich mich aber auf nichts Anderes, als daß ich in der feinsten Abteilung einer »fein-feinen« Papierfabrik des Auslandes die Form bekam, die ich in meiner Jugend hatte, ein reines, schönes und glänzendes Papier wurde und eine lange Reise übers Meer und durch verschiedene Länder machte zu einer großen Druckerei in Stockholm hin, und mit diesen großen, bedeutungsvollen Typen bedruckt wurde, die mir bei den Menschen einen hohen Wert verliehen, der mir noch erhalten ist, obwohl die Buchstaben nun verwischt, meine Ränder lappig und meine Flächen schmutzig und voller Bakterien sind. Ist es nicht merkwürdig, daß ich noch niemals jemand getroffen habe, der im geringsten Scheu gehabt hätte, mich anzufassen, wie fein die Hand auch war, und wie schmutzig ich auch aussah?

Dann machten ich und meine Gefährten eine Fahrt zu der Bank, für die wir gedruckt waren. Da wurden wir von den Direktoren beschrieben und dann in feinen, eleganten Häufchen mit ganz glatten Rändern in das Kassengewölbe der Bank gelegt, in dem man uns einschloß mit tausenden älteren Genossen höheren und niederen Wertes, teils solchen, die noch einigermaßen sauber waren, teils alten, schmierigen mit großen »Eselsohren«.

»Willkommen, meine verehrten Freunde,« näselte vornehm und gnädig ein alter Tausendkronen-Schein und hob huldvoll sein Eselsohr empor, sobald die Thüre des Kassengewölbes ins Schloß gefallen war.

Und dann begann es zu flüstern und zu zischeln ringsum unter den älteren, weitgereisten Kameraden, die ihre Erlebnisse unter den Menschen draußen erzählten.

Wir jungen lagen ganz still und hörten zu.

Ach, welche Lebensbilder entrollten sich da vor uns! Und wieviel Unruhe stifteten wir nicht in der Welt! Fast alles menschliche Trachten und Streben drehte sich um uns! Wir schauderten bisweilen über die Schilderungen der Alten, aber andererseits schwoll auch unser Päckchen, wenn wir hörten, wie wir geliebt und erstrebt waren auf dem ganzen Erdenrund.

»Ich war einer unter hundert meinesgleichen, die einen jungen Mann dem von ihm geliebten Weibe entrissen, das ihn von ganzer Seele wiederliebte,« flüsterte ein ehrwürdiger Tausender und streckte stolz seine Runzeln. »Sie waren acht Jahre verlobt gewesen und begannen ihre kleine Einrichtung zu sammeln und berechneten schon den Tag, an dem sie ein Paar sein würden. Aber dann kam meine Besitzerin mit neunundneunzig Kameraden von mir ihm in den Weg. ›Hunderttausend! Hunderttausend!‹ sang es in seinen Ohren Tag und Nacht, und die arme Braut war vergessen, und meine Besitzerin wurde seine Braut, und ich wurde ihm vom Schwiegervater zur Hochzeitsreise geschenkt.«

»Na, dann wurdest du bei ihm nicht alt.«

»Nein, und meine Kameraden auch nicht. Sieben Jahre später, als ich in der Brieftasche eines reichen Mannes lag, bekam ich plötzlich die Stimme meines einstigen Herrn wieder zu hören. Die Stimme klang zitternd und schwach, und er bat meinen Herrn um eine kleine Unterstützung, denn mit ihm wäre es aus. Und als mein Herr das Portefeuille vornahm und ihm ein paar Zehner gab, sah ich über den Rand der Tasche, wie elend und ärmlich er aussah, obwohl er doch gut bezahlt wurde, als er sich verkaufte.«

»Weiber verkaufen sich noch billiger. Mir sind drei Stück zum Opfer gefallen,« murmelte ein Hunderter.

»Ach ja, dergleichen passiert uns sogar,« sagte selbstbewußt ein zerknitterter Fünfziger.

Da lachte es in der Ecke der Zehner, und einer streckte sich vor und rief:

»Auch ich, so gering ich bin, habe doch ein Weib kaufen können ...«

»Unmöglich, unmöglich,« murmelten die alten großen Scheine, und wir jungen stimmten ihnen bei.

»Es ist doch wahr, aber – sie war ohne Schutz und Heim und allein in der Hauptstadt und hatte vier Tage gehungert, ...« sagte der Zehner.

»Ja, ja, unser Leben ist wechselvoll,« sagte ein alter, schmutziger Fünfziger. »Einmal war ich der Lohn eines Dienstmädchens für die Arbeit eines ganzen Jahres, ein andermal das Trinkgeld einer Kellnerin. Einmal verkauften Mann und Frau für mich ihre Betten, um Brot zur Stillung ihres Hungers und des ihres Kindes zu bekommen, wieder ein andermal bezahlte man mit mir ein Souper im Tête-à-têtê ...«

»Pfui Teufel, du bist ja blutig,« sagte ein noch ganz sauberer Zehner zu einem andern.

»Ja, ich war einmal der ganze Wochenlohn eines armen Arbeiters,« antwortete der Angeredete, »und als er mit mir auf dem Wege nach Hause war, wo Frau und Kind auf ihn warteten, wurde er von Kameraden in eine Kneipe gelockt, die Karten kamen hervor und ich, von dem eine ganze Familie eine Woche leben sollte, war in der Zeit einer halben Stunde den Händen meines Besitzers entschwunden. Es fielen hitzige Worte, die Messer kamen hervor, und was du da siehst, ist ein Tropfen Blut meines früheren Herrn.«

Wir jungen neuen fanden es betrüblich, daß wir soviel Leid, so großes Elend in der Welt verbreiten sollten, und einer sagte ein paar Worte darüber. Da antwortete ein kleiner, verschrumpelter Fünfer mit verbogenen Ecken:

»Ja, das ist wahr, viel Elend und große Schande bekommen wir zu sehen; aber wir haben keine Schuld daran, sondern nur die Menschen allein. Ich habe viel erlebt. Ein Dienstmädchen stahl mich der Eigentümerin, die ihm unbedingtes Vertrauen schenkte. Einmal erkaufte jemand für mich und vier meiner Wertgenossen falsches Zeugnis.

»Aber man hat mich auch als Prämie einem kleinen frohen und blondlockigen Knaben gegeben, der strahlenden Auges mit mir zu seinen Eltern heimkehrte. Und einmal, als ich das letzte Geld eines armen Arbeiters war, schenkte er mich einem kranken und noch ärmeren Kameraden, und da war es mir, als sähe ich die Engel lachen.«

»Im Regenwetter bist du auch draußen gewesen, wenn man nach deinem Aussehen schließen soll, du kleiner Schwätzer!« sagte von oben herab der alte, vornehme Tausender.

»Du irrst dich,« erwiderte der Fünfer. »Einmal kam ich zu einer armen Mutter, die unter Hunger und Entbehrungen ihren kleinen Sohn erzog, alles für ihn opferte und ihn liebte, wie nur eine Mutter lieben kann. Die Zeit verging, der Junge wuchs heran und war so weit, daß er mit seiner schwachen Kraft die Mutter stützen konnte, die nahe dem Erliegen war. Er fand Arbeit, griff mit Lust und Freude zu und kam eines Tages jubelnd in ihr armseliges Heim hereingestürmt, indem er mich in der Hand hielt, und gab seiner Mutter seinen ersten Verdienst. Und da fielen Freudenthränen des liebenden Mutterauges auf mich herab! Das sind meine Regentropfen!«

II.
Aus Liebe

Es wurde kälter und kälter in dem Kassengewölbe und war ganz dunkel, wenn die Thüre des Schranks geöffnet wurde. Dann eines Tages kam der Bankdirektor, steif und vornehm, und betrachtete uns neue Scheine und sagte:

»Andersson, nehmen Sie einige von diesen, damit die Leute zu Weihnachten hübsches Geld bekommen können.«

Im selben Augenblick packten die dicken, roten Hände des Bankdieners mich und fünfzig Kollegen, und er trug uns aus der Dämmerung ins Sonnenlicht hinauf auf den Tisch des Kassierers, wo wir Geld klingen hörten und lüsterne Blicke auf uns gerichtet sahen.

Plötzlich richteten sich ein paar hübsche, junge, warme Blicke auf mich, der als oberster in dem Päckchen lag, und eine weiche Frauenstimme sagte:

»Ach, Herr Kassierer, verzeihen Sie, wenn ich Sie bemühe, aber ich möchte so gern einen ganz, ganz neuen, feinen, schönen Hundertkronenschein von diesen hier haben ...«

Und dann zog sie aus der Tasche eine bunte Sammlung verschiedener Geldscheine und Silbergeld.

Der Kassierer lachte und legte mich in eine behandschuhte Damenhand, die vorsichtig und fast achtungsvoll mich in ein Notizbuch steckte, und dann ging es über Straßen und Märkte und Treppen hinauf und durch Thüren hinein, und dann bekam ich zum erstenmal eine behagliche menschliche Wohnung zu sehen. Sie war nur klein und eng, aber strahlend rein und gemütlich. Und niemals hat mich ein Geizhals so zärtlich, wie die junge Frau, angeblickt. Sie strich über mich hin und liebkoste mich, sie drückte ihre frischen, roten Lippen auf die großen Buchstaben in dem »Einhundert« und flüsterte: »Ach, wie ich um deinetwillen mich habe plagen müssen, du kleines Papierstückchen.«

Und dann am Abend wurde es hell in jeder Ecke, und ein Tannenbaum stand im Zimmer, und man sang und spielte von einem Wunderkinde, das in der Weihnachtsnacht geboren sei; und ein junger, glücklicher Mann und ein kleines Mädchen, das nur mühsam aus seinen Beinchen herumwatschelte, weil sie noch so kurz und dick waren, küßten und liebkosten meine Eigentümerin und schlossen sie einmal ums andere in die Arme.

Da wurden Papiere aufgerissen und Siegel erbrochen und gerufen: »Aber, Liebster, wie konntest du wissen ...?« und die Kleine bekam eine Klapper und einen Gummihund, und das Dienstmädchen guckte zur Thüre herein, und der Tannenbaum und all die Lichter strahlten, und alles war voll Glück und Fröhlichkeit.

Da nahm das feine Händchen mich ganz, ganz behutsam aus dem Notizbuch heraus und schob mich still auf dem polierten Tisch mitten vor den Herrn des Hauses hin.

»Alma, was soll das heißen?« rief er und starrte mich ganz erstaunt an.

Da wurde sie glühend rot, und ihr traten die Thränen in die Augen, sie schlang die Arme um seinen Hals und konnte lange nichts reden.

»Liebste, was ist das für ein Schein?«

»Ja ... a ... den habe ich ... für dich zusammengespart ...«

»Aber Alma, was meinst du damit?«

Da schmiegte sie ihr lockiges Köpfchen dicht, dicht an seine Brust und schluchzte hervor, wie es ihr leid gethan habe, daß er nicht die Mittel hatte, das wichtige, große, neue technische Werk zu kaufen, von dem er im vorigen Winter so viel gesprochen hatte ... wie sie darunter gelitten hatte, daß er, um ihr so früh, als möglich, ein eigenes Heim gründen zu können, die Ingenieurstelle bei der kleinen Fabrik angenommen hatte, bei der keine Entwickelung seiner großen technischen Begabung möglich wäre ... wie sie der Gedanke niedergedrückt hätte, daß er der Liebe eine schöne, vielleicht glänzende Zukunft geopfert hatte ... und daher hätte sie ihm wenigstens ...

Er küßte sie schweigend und fragte sie, wie ihr das möglich gewesen wäre? Mit ihrem geringen Wirtschaftsgeld? Konnte sie zaubern?

Da hob sie mich mit der Hand empor, hielt mich gegen das Licht und sagte kosend:

»Aber, Männchen, du begreifst wohl, daß die Hundertkronen erst heute so fein und vornehm aussehen! Der Schein ist in einzelnen Münzen zusammengekommen. Das Meiste habe ich am Wirtschaftsgelde erspart, aber du hast deshalb nichts entbehrt, nicht wahr? Und dann der schrecklich teure Hut im Frühjahr; er existierte nur in der Phantasie meines Männchens! In Wirklichkeit hatte ich mir das alles selbst zurechtgestutzt aus alten Bändern und Blumen. Und dann kann ich ganz nett auf Glas malen, wie du weißt, und habe einiges unterbringen können ... ja, nun schreibst du wohl bereits morgen nach deinem großen technischen Werk? Ach, du weißt gar nicht, was mir das für Freude gemacht hat!«

»Morgen! Nein, ich schreibe noch heut abend! Liebstes, bestes Weibchen, wie soll ich dir nur für all deine Liebe danken!«

Und dann setzte er sich hin und schrieb:

»Liebe Mama! Deine Alma hat heute Abend zu den vielen Beweisen, daß sie das herrlichste, liebevollste und unverständigste Frauchen auf der Erde ist, einen neuen erbracht. Denke Dir! Sie ist ein ganzes Jahr umhergegangen und hat sich geplagt und gespart und auf alles verzichtet und ist wie eine Vogelscheuche angezogen gegangen, wovon ich in meiner Blindheit um ihrer göttlichen Augen willen natürlich nichts gesehen habe. Und warum? Ja, um den beigefügten Schein zusammenzusparen und ihn mir zu etwas zu schenken, was ich einmal dumm genug war, mir in ihrer Gegenwart zu wünschen, was ich aber durchaus nicht brauche und gar nicht mehr haben will.

Aber, Du, liebe Mama, mit Deiner kleinen, kargen Pension, hast so viele Bedürfnisse, die, wie bescheiden sie auch sind, oft unerfüllt bleiben müssen.

Nimm daher den Hundertkronenschein als Weihnachtsgeschenk von der besten der Töchter und der liebevollsten Gattin und empfange meinen wärmsten Herzensdank für den Engel in Frauengestalt, den Du geschenkt hast

Deinem stets ergebenen Schwiegersohn
Wilhelm.«

»Christine!«

»Ja, Herr Ingenieur!«

»Können Sie vielleicht die alte Anna von Portiers heraufrufen, um die Grütze Meist »rote Grütze«, das skandinavische Weihnachtsessen. zu rühren, während Sie mit diesem Brief zur alten gnädigen Frau hinlaufen?«

Gewiß, das könnte sie schon.

Und dann wurde ich davongetragen, hinaus in Dunkel und Kälte, Straß' auf, Straß' ab; aber mir schien, es strahlte und leuchtete aus dem Couvert in das Dunkel hinaus von all dem, was ich an Weihnachtsfreude und Liebe gesehen hatte.

III.
Wie ich meine große Wunde bekam

Ich habe einen großen Riß querüber, von einer Ecke zur andern, der auf der Rückseite mit einem dünnen Streifen Papier zusammengeklebt ist. Obgleich ich den Riß erst in meinem späteren Leben bekam, möchte ich doch jetzt schon erzählen, wie ich so entstellt wurde.

In eiligem Fluge war ich von der alten Dame, die mich als Weihnachtsgeschenk bekam, von Hand zu Hand gewandert, hatte im Kassenschrank im Kontor gelegen, war von einem Grafen zu einem Schlächter und vom Schlächter aufs Land hinaus zu einem Bauern gelangt. Von dort kam ich hinein Ende Oktober nach Stockholm und landete in der Geldtasche eines lustigen jungen Herrn, der noch einen Hundertkronenschein, einen Fünfziger und viele Zehner hatte. Ich erwähne dies, weil es auch lustige junge Herren giebt, die nur einen Fünfer in der Tasche haben.

Mein junger Herr führte ein ziemlich wildes Leben. Er war vom Morgen bis zum Abend und spät in die Nacht hinein unterwegs. Wirtshausleben, in feinsten Restaurants natürlich, Spielpartieen, Soupers mit feinen Damen, die recht wenig anhatten. Der zweite Hunderter ging drauf und auch der Fünfziger, aber es kamen neue an ihre Stelle, so daß er entweder sehr reich war oder auch einen Prinzipal hatte, der sich nicht um sein Geschäft kümmerte. Aber ich war wohl sein rechtmäßiges Eigentum, denn er schlief nachts, wie ich es selten bei jemand gesehen habe.

An einem regnerischen Novemberabend ging er in einer Straße nicht weit von seiner Wohnung auf und ab. Plötzlich machte er einige schnelle Schritte und dann hörte ich:

»Guten Abend! Schauriges Wetter, mein Kindchen!«

»Jo, do häwe Se schon recht, Herrke! Et regnet, dat man keenen trock'nigen Faden uff'm Lif häwt!«

»Und Sie sind doch draußen und promenieren?«

»Jo, wat sull man dohn? Ik goh to de Fru mit det Commischjonscumtor jeden Tag dree Mol un höre, ob se nich e Stell för mi häwt.«

»Ja, ich höre, Sie sind vom Lande her, liebes Mädchen.«

»Jo, von Sunderbruck. Ik reeste am 24. vorigen Monats her, um her Kichenmä'chen bi eene fine Herrschaft to wer'e. Aber se müsse wull g'rod alle gemietet häwe, denn nu lof ik bald dree Woche herum, un keener will mi häwe.«

»Und vielleicht ist inzwischen Ihr Geld ausgegangen, und Sie haben großen Hunger?«

Ihre Stimme zitterte, und es war kaum zu verstehen, was sie antwortete:

»Ich häw sit twee Tog' nischt gegette.«

»O, o, das ist schlimm, Kleine! Da müssen Sie mit mir nach Hause kommen und sehen, wie ich wohne, und mir helfen, ein paar Butterstullen aufzuessen und ...«

»Ville Dank, Herrke, aber da wird nischt d'raus. So, so, er is ooch eener von denne, von die der Harr Paster sprach, als ik mir det Atteste utstellen ließ.«

»So, was sagte der Priestergreis in Sunderbrück?«

»Jo, erst bat er mi, doch bei Dorf-Schulzens to bliwe, wo ik nämlik im Dienst wor, aber dat wollte ik unter keine Bedingnis, und da säggt er, ik möcht mir vor de junge Harre hüte, de vor de Commischsonscumtorer un anderswo uff de Gassen 'rumlungern un mit de Mächen e Gespräch anknüpfe.«

»So – wissen Sie, reden Sie nun keine Dummheiten. Ich werde Sie doch nicht auffressen! Kommen Sie nur!«

»Loote Se mi in Ruh! Schäme Se sich nich?«

Dann flüsterte er einige Worte, die ich nicht verstehen konnte, und holte seine Geldtasche vor und nahm mich heraus.

Sie standen in einem Thorweg, aber eine Gaslaterne warf gerade ihr Licht auf das Mädchen hin. Es war frisch und rein und hatte gutherzigen Ausdruck. Ich habe selten etwas Schöneres gesehen. Nun begriff ich, warum mein junger Herr diesen häßlichen, groben, schlechtsitzenden Mantel verfolgt hatte und warum er nicht vor dem entsetzlichen Dialekt des Mädchens Reißaus nahm.

»Loote Se mi, Herrke!« schluchzte sie beinahe.

»Still ... zum Teufel, was machst du für Geschichten? Da, sieh den! Hast du in Sunderbrück schon so einen gesehen? Siehst du, nun« (er riß mich in zwei Stücke und reichte ihr die eine Hälfte)« nun hast weder du noch ich einen Nutzen von den Stücken. Aber auf dieser Karte steht, wo ich wohne, und Donnerstag um acht Uhr bin ich zu Hause, falls du bereit bist, zu mir zu kommen und die andere Hälfte zu holen und ein reiches Mädel zu werden. Gute Nacht denn!«

Sie lief ihm nach und wollte ihm meine Hälfte zurückgeben.

»Nee, Herrke, höre Se, sein Se doch nich so schlecht.«

Aber er war schon fort.

Sie blickte erschreckt den zerrissenen Schein an, aber schließlich knüpfte sie ihn in die Ecke ihres Taschentuchs ein und wanderte mit langsamen, zögernden Schritten in das »Kommissionsbureau« hinein.

»Lena Jöns? Geben Sie mir Ihre Nummer! 418. Nein, für Lena Jöns giebt es noch keinen Platz ... noch nicht!«

Hungrig und verzweifelt schlich sie davon, zu der elenden Herberge, deren Werber sie am selben Tage abgefangen hatte, da sie nach Stockholm kam. Wenn sie es unterließ zu essen, reichte ihr Geld, vielleicht noch für ein paar Nächte ... fünfundzwanzig ... fünfunddreißig ... fünfundvierzig ... eine halbe Krone.

Und wieder kam ein regnerischer, düsterer Novembertag, und der Hunger plagte sie noch ärger, als früher, aber es gab noch immer keine Stelle für Nr. 418, Lena Jöns. Noch eine Nacht, und dann war es Donnerstag, und dieselbe Antwort im Kontor, und nun wurde es wieder Abend.

Mein junger Besitzer hatte die Zeit gut berechnet. Als es noch fünf Minuten bis acht war, stand Lena auf der Treppe. Und dann schluchzte sie und kehrte wieder um und ging ein Stück die Straße entlang. Aber nun war es fünf Minuten über acht ... vielleicht wartete er nicht länger?... dann mußte sie die Nacht auf der Straße zubringen!...

Noch eine Minute, und sie stand in seinem Zimmer.

»Ah, sieh da! Meine junge Freundin aus Sunderbrück! Na, ich wußte ja ziemlich bestimmt, daß du mich besuchen würdest und habe mich darauf eingerichtet...«

Er öffnete eine Tapetenthür und nahm ein Tablett mit allerhand kalten Sachen und einer Portweinflasche in der Mitte heraus.

»Siehst du, da mein Kind ...«

Mit zitternder Hand band sie ihr schmutziges Taschentuch auf und legte meine eine Hälfte auf den Schreibtisch.

»Ik wollt' ... ik wollt' man nur det hier torückgew'n ... ik will weder det Ganze noch det Halwe, aber wenn de Harr e godes Herz häwe ... ik häw niemals in mine Liwe gebettelt ... ober wenn Se mir e paar Kroner gew'n wolla ut reener Güte to e biske Eten un dann ... un dann mi gohn loote...«

Mein junger Besitzer hatte ein Gefühl des Unbehagens; aber dann sah er das rosige, hübsche Gesicht des Mädchens, sein Blick flammte auf, und er rief lustig:

»Zu Tisch, Fräulein! Auf dein Wohl, schöne ländliche Herbstrose.«

Er warf ihren nassen Mantel auf einen Stuhl, zwang sie auf den Sofa nieder und küßte sie.

Der Duft der Speisen erweckte die tierischen Instinkte in ihr, der Wein berauschte widerstandslos den jungen, frischen, hungernden Körper.

Wie ein hungriger Hund stürzte sie sich über das Essen her, ohne einen Gedanken an anderes, als daß es hier trocken war und Essen gab, und daß sie sich ausruhen durfte... Es war, als wenn warme, belebende Ströme frischen, neuen Blutes ihre Adern durchströmten. Die Not, den Hunger, die Verzweiflung sah sie nur wie durch einen Nebel. Sie hatte ein Gefühl unbeschreiblichen Wohlbehagens und starrte träumend all' die verschiedenen, ihr so fremden Gegenstände in dem eleganten Junggesellen-Zimmer, und den jungen Besitzer derselben, sowie meiner und – ihrer an.

Er begann guter Laune zu werden.

»Na, fühlst du dich nun behaglicher, mein Mädel? Glaub' es wohl! Das zehrt, wenn man so auf den Gassen herumläuft! Aber nun wollen wir erst als alte, verständige Leute die konstanten Einnahmen der Kleinen konsolidieren und den Hunderter zusammenkleistern. O, wie du den zerknittert hast! So, sieh hier ein nettes Heftpflaster auf dem Rücken, und dann hat er wieder seinen Wert unter Menschenkindern.«

Wie er das Gummifläschchen fortstellte, mit dem er mich zusammengeklebt hatte, fiel sein Blick auf eine Kabinetphotographie, die auf einem Schreibtisch stand.

Sie stellte ein junges Mädchen dar, sicherlich wunderbar schön und offenbar noch im ersten jugendfrischen Reiz, aber noch einnehmender durch den Ausdruck von Edelmut und Reinheit, der in jedem ihrer Züge zu Tage trat. Es war, als wenn das Bild Leben hätte, als wollte es aus dem schöngeschnitzten Rahmen heraustreten, als wollten die milden, schönen Augen meinem jungen Besitzer mit einem Blick entgegenstrahlen, der ihm etwas sagen sollte.

Wie die beiden einander ähnlich sahen!

Seinen hübschen Mund umzog ein Lächeln, und seine Stimme bekam einen weichen Klang, als er leise flüsterte: »Schwester Gerda!«

Dann blickte er nach dem Sofa hin.

Das Mädchen schlief.

Die Wärme, der gestillte Hunger, der Wein, die Müdigkeit hatten ihre Augen geschlossen, sie war gegen die Sofalehne zurückgesunken und atmete tief und schwer und schlief wie ein Kind.

Er nahm die Lampe und beleuchtete sie.

Niemals hätte er geglaubt, daß sie so schön war, die Not und Sorgen der letzten Wochen hatten sie magerer gemacht und einen Zug von Wehmut in die früher vielleicht runden und drallen Gesichtszüge gebracht, das hellbraune, glänzende, etwas unordentliche Haar kräuselte sich über einer hohen, wenn auch sonnenverbrannten Stirn, und der Mund war klein, schwellend und rot, gerade wie...

Großer Gott, sie waren sicher beide ganz gleich alt ... sie, die Glückliche, Strahlende, von allen guten Engeln des Familienheims Beschützte, die ihn vom Schreibtisch her anblickte und diese, die er...

Und er entsann sich der Angst, mit der sie ihm den großen, zerrissenen Schein zurückgegeben und ihn um ein paar Kronen zu Brot gebeten hatte, und er fühlte instinktiv, daß auch sie, wenn sie daheim geblieben wäre, in ihrem Geburtsort, bei ihrer Dienstherrschaft, unter Freunden und Bekannten, ebenso rein und unschuldsvoll, wie seine Schwester, geblieben wäre.

Ist es also nicht der Zufall, der unsern Platz im Leben bestimmt? Oder wenn es das nicht ist ... wie dankbar müssen wir sein, wenn ... Barmherziger Gott, ei wenn seine Schwester Gerda...

Ach, was für Dummheiten! Er, der schon soviel auf seinem Gewissen hatte!

Ja, aber das war doch anders! Das hier war gemein! Ein hungriges Wild! Pfui Teufel!

Und dann ging er zum Sofa hin und strich ihr sanft über den Kopf.

Sie blickte mit dem Ausdruck des Schreckens auf:

»Herr Jesses, wo bin ik? Loote Se mi goh'n! Loote Se mi goh'n!«

»Höre, mein Kind, es war vielleicht doch nicht so recht, daß du deinen Dienst bei Dorfschulzens verließest und hierher reistest?«

Große, schwere Thränen liefen an ihren Wangen herab, und sie schluchzte:

»Nee, weeß God, hier wird man ja reene onglücklich, det seh ik nu woll...«

Er zog seinen Überzieher an und fuhr fort:

»Hör' 'nmal ... wie heißt du eigentlich?«

»Lena«.

»Hör' 'nmal, Lena, es ist wohl am besten, du reisest wieder nach Hause nach Sunderbrück und siehst zu, ob der Dorfschulze sich schon ein andres Mädchen genommen hat. Sonst giebt es da wohl auch noch andere Plätze?«

»Ach, Herrjeh, ville, ville ... ober de Iserbohn nimmt eenen nich mit ohne Geld!«

»Das sollst du von mir bekommen. Komm nun mit, dann will ich dir einen guten Ort zeigen, wo du über Nacht bleiben kannst, und morgen früh fährst du nach Hause. Und da« (er raffte eilig und ungeschickt eine ganze Menge von dem Tablett zusammen und wickelte es in eine Zeitung), »da hast du ein wenig Reisefourage, Lenchen!« – –

Eine ganze Weile später kam er allein nach Hause. Da ich auf dem Tisch unter dem Papiermesser lag, konnte ich sehen, daß der Regen ihm ins Gesicht gepeitscht hatte und von seinem Überzieher herablief, aber er schien bei guter Laune zu sein; er nahm das schöne Porträt und küßte es und murmelte:

»Vielen Dank, Schwesterchen!«

IV.
Im Dienst der Barmherzigkeit

Wieder ging es hinaus in das brausende, abwechslungsreiche Leben; oft wechselte ich die Besitzer mehrmals am Tage, oft blieb ich bei demselben mehrere Wochen, aber zu Weihnachtsgeschenken oder bei anderen feierlichen Gelegenheiten wurde ich nicht mehr gebraucht. Da warf man mich beiseite, da war mein Riß und der Papierstreifen im Wege, aber der Riß war mir doch nicht unangenehm, denn er war mir eine ständige Erinnerung an das Gute, was sich unter allen Schlacken in der Menschennatur verbirgt.

Dann kam ich zu einem älteren, sehr ordentlichen Herrn. Ich war mir sogleich darüber klar, daß er sehr wohlhabend sein mußte, denn er hatte immer so drei Stück von meiner Sorte in der Geldtasche und dann noch eine Menge Zehner. Ich entdeckte auch bald aus diesem und jenem im Hause, daß mein Herr eine ganze Menge von den guten Dingen dieser Welt besaß.

Und es war ein gemütlicher und feiner Herr; er sah nicht übel aus und lag auch nicht nachts und stöhnte und wand sich in Gewissensqualen, wie es so mancher meiner früheren Besitzer gethan hatte; niemals kam ein Arzt zu ihm, der seine Brust beklopfte und die Lungen behorchte, und niemals roch es nach der Apotheke im Hause, und eine Menge von meinen Kameraden war vorhanden, das mußte doch ein glücklicher Mann sein?

Aber er war es nicht. Er ging so still umher und nahm seine Geschäfte wahr; er sprach wenig und lachte selten. Er war gewiß allzu viel allein in seinem schönen Hause. Einer seiner wenigen Freunde, die ihn bisweilen besuchten, sagte einmal:

»Du wirst ein alter Hagestolz, Linder. Das geht nicht. Ermuntere dich, verliebe dich, heirate, Kerlchen!«

Es dauerte fast eine Minute, bis mein Herr antwortete, und seine Antwort kam in ernstestem Ton:

»Ja, ich fürchte, daß ich bereits ein alter Hagestolz geworden bin, siehst du. Es war ein hartes Stück Arbeit, bis der arme, kenntnislose Bauernjunge sich ein Vermögen und eine solide Stellung erringen konnte. Während der Zeit hatte ich weder Gelegenheit noch die Mittel, an Anderes zu denken. Und nun bin ich unbeholfen und verlegen in den Kreisen, in die meine jetzigen Verhältnisse mich einmal führen, und die Mädchen da ... ja ... an sie wag' ich mich erst garnicht heran.«

»Ach du Thor! Du brauchst nur deine Hand auszustrecken, und eine ganze Menge...«

»Ja, gewiß, das weiß ich wohl, aber wieviele von ihnen, meinst du, nähmen mich um meinetwillen?«

»Ja ... ja ... hm ... dich, wie einen andern. Das ist das reine Hazardspiel, siehst du!«

War es infolge dieses Gesprächs, oder war mein Herr wirklich nicht so frisch und gesund, wie er aussah, einige Tage später stand er in der Kurliste von Lysekil, einem unserer vornehmsten Kurorte.

Ach, wie freundlich die jungen Damen zu ihm waren, und wie sie sich darum »rissen«, ihn auf Segelpartieen und Ausflüge in die Berge mitzubekommen! Er selbst wurde auch lebenslustiger, und ich hatte schon Furcht, daß er mich einwechseln würde, bevor ich gesehen hatte, wie die Geschichte endigen würde. Aber er hatte sich für den Kuraufenthalt mit acht Stück von meiner Sorte versehen, und ich armer Geflickter lag ganz innen, so daß ich bei allem dabei sein konnte.

Eines Abends wurde es sehr heiß in der Geldtasche auf seiner Brust, und wir hörten sein Herz ungewöhnlich stark klopfen; das kam nur daher, weil ein »Fräulein Greifenschein« nicht fern war. Ich erkannte sie an der Stimme.

»Was soll das bedeuten? Ist er krank?« flüsterte ich einem Kameraden zu.

»O ja, das ist auch eine Art Krankheit – Liebe nennen sie sie!«

Er wurde, als wenn er zehn Jahre jünger geworden wäre, er lief die Berge hinauf, wie ein Junge, und lernte bei einem Fischer ein Segelboot führen. Ich konnte in meiner Tasche Fräulein Greifenschein niemals sehen; aber ich fühlte an seinen Herzschlägen, wenn sie nur in der Nähe war.

Erst waren immer andere Stimmen mit zugegen, wenn die beiden sich trafen; aber später folgten lange, einsame Promenaden den Strandweg entlang, wobei ich nur ihn und sie hörte. Und dann war es, als hätte die Geldtasche auf einem Backofen gelegen. Und die Worte klangen zärtlich, und sie gingen immer dichter neben einander.

Ich wollte sie um jeden Preis sehen! Bei einem Bazar, den das Vergnügungskomitee arrangierte, bot sich dazu Gelegenheit. Sie servierte ihm ein Glas Limonade, und da zog er einen Zehner vor, um damit zu bezahlen. »Jetzt oder nie,« dachte ich und reckte mich heraus, so daß ich sie ein wenig anschauen konnte.

O ja! Das war etwas! Rotes, goldfunkelndes, glänzendes Haar und die herrlichste Haut. Große, blaue, warme Augen und eine stattliche Figur. Gott, wie sie ihn ansah!

»Den ganzen Betrag?«

»Aber natürlich!«

»Danke, Sie sind sich doch immer gleich, Herr Linder!«

Jeder Buchstabe eine Zärtlichkeit!

Diese Nacht schlief er nicht viel. Aber er war fröhlich und summte alle möglichen lustigen Melodieen mit ganz unmöglicher Stimme. Und er stand die halbe Nacht am offenen Fenster und sprach mit sich selbst und warf Handküsse in die Luft hinaus.

»Jetzt giebt's bald Verlobung,« flüsterte der erfahrene Hundertkronenschein.

Am folgenden Morgen stand er früh auf und eilte den Berg hinauf, leicht und froh, wie ein junger Bursch. Und dort warf er sich hinter einem großen Felsblock in einem Gebüsch nieder. Er hatte aber noch nicht lange gesessen, so hörte man von der anderen Seite des Felsblockes ein Flüstern. Ich erkannte sogleich die Stimmen des Fräulein Greifenschein und ihrer Mutter. Erst richtete er sich ein wenig auf, um sie zu begrüßen, aber dann besann er sich und legte sich wieder hin. Und sein Herz spielte Hammerwerk aus Leibeskräften. Die Damen aber flüsterten:

»Na, hast du Linder nun bald so weit, Nina?«

»Wenn ich will. Er ist ganz furchtbar verliebt, der arme Kerl!«

»Mein armes Mädchen! Solch eine Zukunft hattest du dir auch nicht geträumt! Und der arme Hjalmar...«

»Ja, glaube mir, Mama, ich habe viele Nächte gelegen und geweint, wenn ich an ihn dachte. Aber was soll ich thun? Herumgehen und hinwelken in den langen Jahren des Wartens, um schließlich vielleicht von ihm verlassen zu werden?«

»Mein gutes, verständiges Kind! Na, ich begreife ja, daß Du Linder nicht zugethan sein kannst – aber ist er dir wenigstens nicht zuwider?«

»Hu ... doch...«

»... sodaß dir recht ekelt?«

»Beinahe, Mama ... und wenn dann seine Mutter und seine ganze Bauernfamilie ankommt... Hu! Aber ich habe mich erkundigt, er soll sehr solide sein. Und ich werde ihn kurz halten, und Karls Schulgang und Emmis Pension soll er auch bezahlen...«

***

In seinem Herzen ging kein Hammerwerk mehr, es war, als wenn es völlig still stand, und als er nach einer ganzen Weile aufstand und nach Hause ging, taumelte er, wie ein Betrunkener.

Um sechs Uhr am folgenden Morgen eilte er durch den Park, um, ohne ein Wort des Abschieds für jemand anders, als den Arzt, sich zur nahen Dampfschiffsstation zu begeben.

Da wurde sein Ohr plötzlich von halbersticktem, verzweifeltem Schluchzen getroffen. Er blickte zur Seite und sah zwei in Trauer gekleidete Damen, die sich fest umschlungen hielten, auf einer Bank sitzen.

Gestern früh wäre er an ihnen vorbeigegangen, heute blieb er stehen. Der eigene Schmerz hatte sein Mitgefühl für Leiden geschärft. Halb unbewußt richtete er seine Schritte zu den Damen hin.

»Verzeihen Sie, aber könnte ich Ihnen irgendwie zu Diensten sein?«

»Ach nein. Entschuldigen Sie, daß wir uns hier im Park hingesetzt hatten. Wir gehören nicht zur Kurgesellschaft!«

Und dann wollten sie gehen.

Aber Linder war beharrlich; er ließ sich mit ihnen in ein Gespräch ein – ich hörte die Stimmen einer älteren und einer jüngeren Dame – und nach einem Weilchen wußte er alles, wußte, warum sie so bitterlich geweint hatten: Gatte und Vater wären kürzlich durch dieselbe Krankheit fortgerafft, und nun begänne sie sich deutlich auch bei der Tochter zu zeigen. Ihre letzten Geldmittel hätten sie aufgewendet, um hierher zu reisen und den berühmten Arzt des Kurortes zu befragen, und seine Entscheidung wäre gestern gefallen: ein sechswöchentlicher Aufenthalt hier am Ort und dann mindestens dreimonatliche Ruhe wäre die einzige Hilfe. Wie sollten sie es möglich machen, das durchzuführen? Sie wären die Witwe und die Tochter armer Handwerker, die nichts besäßen und arbeiten müßten, um zu leben! Nun wollten sie nach Hause, um sich zu verbergen, zu arbeiten, zu leiden und zu sterben.

Mein Herr sprach lange und viel mit ihnen. Und als er ausgeredet hatte, nahm er mich und zwei Kameraden von gleichem Wert und drückte sie der Mutter in die Hand.

»Was denken Sie! Das ist unmöglich! Wir können es Ihnen ja niemals abbezahlen.«

»Verweigern Sie nicht einem Unbekannten, Ihnen diesen Dienst zu leisten! Es wird ihm eine Linderung in seinem eignen Schmerz bereiten, dem ... niemand abhelfen kann!«

Das Mädchen weinte, und die Mutter wollte seine Hände küssen.

»So ... so ... na, Gott segne Sie! Leben Sie wohl!«

»Und der Name unsers Wohlthäters?«

Er antwortete ihnen nicht. Mit langen Schritten eilte er davon zur Dampfschiffsstation.

Aber die Frau und die Tochter blieben da. Und die junge, abgezehrte Gestalt richtete sich auf, ihre Augen bekamen Leben, und ihre Wangen wurden rund, noch bevor die Mutter den zweiten von uns dreien gewechselt hatte. Ich brauchte im Kurort garnicht angerührt zu werden, sondern wurde mitgenommen in das kleine Heim in der Dachetage des alten Häuschens in der Hintergasse des Küstenstädtchens; und als ich schließlich eingewechselt wurde und hinauswanderte, um Brot ins Haus zu bringen, war ein junges Leben sicher gerettet, und zwei fleißige Hände in voller Arbeit, und die alte Nähmaschine sang lustig ihr eintöniges: »Stickete ... stickete ... stickete ... stick!«

Es vergingen mehrere Jahre, vielleicht sieben oder acht, und ich erlebte mehr als ein Abenteuer, das ich später erzählen werde. Inzwischen war ich wieder nach Stockholm gekommen und lag, alt und runzelig in dem großen Kassenschrank eines hochfeinen Ladengeschäftes mit Hoflieferantenschild über der Thüre. Es war am Sylvesterabend und klares, frisches Winterwetter und viele Leute im Laden. Der Prinzipal sagte zu einem Kunden: »Ein ganzer Tausendkronen-Schein! Ja, verzeihen Sie, ich weiß nicht, ob wir können ... ja, warten Sie! Eins, zwei,... fünf ... acht... und sechs Zehner... So, bitte sehr! Entschuldigen Sie, der eine Hunderter ist zusammengeklebt, wie ich sehe, aber...«

Ich blickte auf. Der Kunde war Linder, der früher einmal mein Herr gewesen war. Er hatte einen feinen Biberpelz an und einen Brillantring und einen glänzenden Cylinder auf, aber ... o, wie alt und grau und runzelig er in diesen Jahren geworden war!

Während er da so stand und mit seinen mageren, weißen Fingern mich und die Kameraden vom Tische aufnahm und in seine Geldtasche steckte, vernahm ich plötzlich von der Seite her einen Ruf:

»Ach, Herr Gott, Sie sind es ja!«

Linder drehte sich nach einer wohlgekleideten, von Gesundheit und guter Laune strahlenden Frau um, an deren Mantel sich zwei rotwangige Jungen standhaft festhielten.

»Muß wohl ein Irrtum sein, gnädige Frau, ich...«

Sie legte ihre behandschuhte Hand über die seinige und bat ihn mit zitternder Stimme:

»Ach, kommen Sie ein Stückchen mit mir!«

Sie schwieg, bis sie in eine ziemlich einsame Hintergasse gekommen waren: da blieb sie stehen und sah ihm gerade in die Augen mit feuchtglänzendem Blick:

»Sie kennen wohl die kleine Vaterlose nicht wieder, der Sie in Lysekil das Leben retteten?«

»Hm ... hm? Ja, ich glaube, ich entsinne mich. Na, Sie sind nun also frisch und glücklich?«

»Ja ... a ...« stammelte sie.

»Na, dann leben Sie wohl! Hat mich sehr gefreut, Sie zu treffen!«

Aber sie lief ihm nach und hielt ihn am Pelz fest.

»Halten Sie mich nicht für aufdringlich; aber würde es denen, die Sie zu Hause erwarten, allzu viel ausmachen, wenn Sie eine einzige halbe Stunde... Verzeihen Sie, wenn ich um etwas Unrechtes bitte!«

Ein Zittern durchfuhr ihn, und seine dünnen Lippen erbebten:

»Auf mich wartet niemand ... ich bin so einsam ... sehr einsam...«

»O, dann verzeihen Sie mir sicher! Kommen Sie mit mir! Kommen Sie!«

Und er ging mit ihr zu dem kleinen Heim, dessen Herrin sie war, und wurde ihrem Manne vorgestellt als »ein lieber, alter Freund«, und blieb Stunde um Stunde da.

Und er aß Abendbrot mit ihnen und kam, ohne recht zu wissen warum, in die Kinderstube, in der die Knaben zur Ruhe gelegt wurden, und Gustav das Abendgebet hersagte für sich und Willi.

Als der Kleine aber die Worte sprach: »Du lieber Gott, segne und bewahre auch den guten Herrn, der Mama gesund und glücklich und Großmamas letzte Jahre froh machte« – da wurde es wieder warm in Linders Brusttasche, und sein Herz klopfte so laut und stark, wie es das seit vielen Jahren nicht gethan hatte.

V.
Um schnöden Mammons willen

Nach mancherlei wechselvollen Erlebnissen kam ich infolge eines Ochsenhandels auf einem Viehmarkt zu einem Bauern in Westergötland hin. Als wir nach Hause gekommen waren, legte mein neuer Besitzer mich und mehrere andere Scheine in eine Schublade seines Cylinderbureaus, und so groß ist noch das Vertrauen und die Gutgläubigkeit der Menschen hier draußen auf dem Lande, daß die Schublade oft halboffen stand, so daß ich mich ein bißchen in dem neuen Heim umsehen konnte.

Und es war ein nettes Heim. Jeder Winkel war gefegt und geputzt, reine Gardinen an den Fenstern und Tannenreiser auf dem Boden, eine frohe, heitere, arbeitslustige Stimmung und frische, lebhafte Kinder, die einen furchtbaren Lärm machten.

Es war im Juni. Vor zwei Stubenfenstern winkten Zweige mit aufgebrochenen Apfelblüten herein, und vor dem dritten lag draußen die See, schön, sonnenüberstrahlt, voller Holme und Inseln.

Aber bisweilen, wenn es still war in der Stube, die Kinder draußen spielten, und die Hausherrin anderwärts beschäftigt war, kam der Bauer herein, schob die Lade des Cylinderbureaus auf, holte Papier und Feder vor und setzte sich, um zu rechnen! Und je länger er rechnete, desto mehr verfinsterte sich sein Gesicht, und schwere Seufzer entrangen sich seiner Brust. So konnte er stundenlang, den Kopf in die Hände gedrückt und mit zusammengebissenen Zähnen, sitzen, während draußen die eilige Heubergungsarbeit ihren Verlauf nahm, die Pferde wieherten, die Leute riefen, und alles lebendig und in Thätigkeit war, eine Thätigkeit, die wohl das wachsame Auge des Bauern erforderte.

Ein paar Mal kam er mit mehreren Scheinen und legte sie in die Schublade, strich sie sorgfältig aus und rechnete uns genau zusammen; aber sein Gesicht wurde immer düsterer und finsterer: es waren unserer offenbar nicht genug, oder wir hatten zu geringen Wert.

In den Nächten drehte und warf er sich im Bett hin und her und stöhnte wie in Angst.

»Du bist doch woll nich krank, Korl?« fragte die Frau manchmal besorgt.

»Ach, wat für Dummheiten, man kann doch woll eenmal in der Nacht uppwach'n?« lautete die verlegene Antwort.

Dann an einem Nachmittag mitten im Juli kam der Bauer leise zum Bureau geschlichen, blickte sich vorsichtig um, ob er auch allein war, nahm mich aus der Schublade, legte mich zusammen und steckte mich schnell in die Westentasche. Dann ging er zum Eckschrank hin, goß Branntwein in eine blaue, flache Flasche, steckte sie in die Rocktasche und ging hinaus. Auf dem Hof nahm er einen Spaten und warf ihn über die Schulter. Dann ging er zum Garten hinunter, wo die Frau beschäftigt war, und rief:

»Ik geh zum Ochsehaag, um zu seh'n, ob det Vieh Wasser häwt, un den Brunnen zu reenigen, wenn et nötig is.«

Er schritt so schnell zwischen den Äckern dahin und in den Wald hinein, als wenn er verfolgt würde. Schließlich warf er sich neben einem großen Stein nieder, wischte den Schweiß vom Gesicht ab und atmete schwer.

»Goden Awend, Buer,« flüsterte in demselben Augenblick eine dünne, heisere Stimme dicht neben ihm.

»Hst! Schrie nich so verdammt! Hier is doch wohl keener in der Nähe?«

»Keene Seel'!«

»Da, trink eenen, Jonas!«

»Dank förs Angebot, awer sunst wollt' ik nur sägge, wat dat andre anbetrifft, det kann ik mi nich öwernähme!«

»Warum denn nich, du Schurke?« stieß der Bauer heraus.

»Werd't nur nich beese, det is eene to groote Sünd'!«

»Ach, red' doch nich! Zu große Sünd' für dich, der im Gefängnis gesess'n hat för Diebstahl un geheemen Schankbetrieb!«

»Dat kann woll sind, aber det hier is noch schlimmer! Denkt an det Viech!«

Der Bauer sprang schnell auf und schrie in unterdrücktem Ton, bebend vor Zorn:

»Na, dann rüst' dich, mit Fru und Kind ut dem Hüsle zu zieh'n!«

»Liewer, gudder Buer, mokt mi nich onglöcklich! Könnt Ihr det nich selwer moke?«

»Du Schafskopf! Ik muß doch ville Mile von hier fort sind, wenn's brennt! Begreifst det nich?«

»Ik werd's dohn, wenn nur det Viech nich drinne bliewt. Seht, det ist det grusamste!«

»Na, trink noch 'n Schluck, armer Kerl! De Ochsen sollen draußen bliewe, na dat würd kurios utsehn; un de Kühe müsse de Nacht drinne stehen, wie sonst, und de Pferd', um parat zu sind, am Morjen to fohre, begreifst? Trink, trink, si nich bang vor'm Brantwin!«

»Dank villmols! Aber det wird e lange Plog för de arme Bester!«

»Ach, schwätz' nich, se erstick'n ja gleech vom Rauch, verstehst! Un nu wollen wir nich weiter über de Sach' red'n.« (Er zog mich aus der Westentasche heraus.) »Seh da, da hast hundert Krone, wenn de mir's übernehme willst, un ebenso ville kriegst, wenn de Feuerversicherung utbezahlt wird, un eene ganze Tonne Roggen kannst dir morgen hol'n. Aber thust 's nich, dann kannst ins Armenhus zieh'n, denn ik gloob' nich, daß et so'n Dummen giwt, der dir sin Hus überläßt.«

Der alte, arme, magere, zitternde Mann ergriff mich eifrig mit bebenden Fingern und flüsterte:

»Sid nich so ilig, Buer, ik werd's ja schon dohn. Aber wenn ik nu entdeckt würd ...?«

»Dann mußt 'e dich wie een Ochse benehmen. Wer zum Diewel soll dich deswegen in Verdacht hab'n? Sei doch nich dümmer, als det Vieh! Da, sieh, trink nun aus, Jonas!«

Wie ein Schatten glitt der Arme, indem er mich in den schweißfeuchten Fingern hielt, zwischen den Bäumen hin. Er lief, und es röchelte in der schmalen, eingesunkenen Brust. Die Dämmerung senkte sich herab, und er wagte weder nach rechts noch nach links zu schauen. Da rief es plötzlich hinter einem Busch:

»Jonas!«

»Ach, Harr Godd! Wat is denn? Erschreck mi doch nich so, datt ik ganz von Sinne werd', Katrin!« stöhnte er und blieb stehen, als er seine Frau erkannte.

»Watt fehlt di denn? Guck her! Helf mi det Bündel Risig drage, det ik uppgelese häw!« sagte die Frau.

Er steckte mich in seine schmutzige Westentasche, als er das Reisigbündel aufnahm.

Als alle in der Hütte zur Ruhe gegangen waren, schlich er auf den Boden hinauf und steckte mich zwischen die Dachsparren und die Birkenrinde unter dem Torf, die das Dach der Hütte bildeten. Die Landhütten sind in Norwegen und Schweden mit Birkenrinde und Torferde gedeckt. Aber noch vor Mitternacht kam er abermals auf den Boden hinaufgeschlichen, nahm mich und trug mich auf sein Ackerstück hinaus und legte mich unter einen großen Stein in einem Steinhaufen. Der Schweiß lief an ihm herab, und das Herz in der dünnen, ausgemergelten Gestalt schlug, als wäre er fast zu Tode gehetzt.

Aber noch vor Tagesgrauen kam er abermals zum Steinhaufen geschlichen, nahm mich wieder vor und kroch mit mir in der Hand ins Bett, lag und stöhnte eine Weile, schlummerte für wenige Minuten ein, fuhr wieder auf und erschreckte die Frau und die Kinder mit dem Verzweiflungsschrei: »Es brennt, es brennt!«

Er wagte seitdem nicht mehr, mich aus der Hand zu legen. Er trug mich ständig, bald hier, bald dort in seinen Lumpen umher, und wenn er allein war, hielt er mich lange Zeit in seiner schmutzigen, abgemagerten Hand.

Und ich war mit ihm in jener Nacht, in der er, scheu, wie ein gejagtes Tier, und fast von Angst erstickt bei jedem Rascheln im Walde, zum Kuhstall schlich, an dem Steinunterbau desselben sich niederkauerte, dort etwas mit den vor Angst bebenden Händen machte, und der Stall wenige Minuten später in Flammen stand ... Erst eilte er hinaus auf das Feld, warf sich in einen halb mit Wasser gefüllten Graben und bohrte sein von Angst verzerrtes Gesicht in das kalte Wasser. Dann wurde er durch das Brüllen der Tiere im Todeskampf aufgeschreckt, rannte zur Feuerstätte hin und hinein in die Flammen, um zu retten. Mit Brandwunden bedeckt und besinnungslos, wurde er herausgerissen und nahm, nachdem er wieder zum Bewußtsein gekommen war, an den Versuchen teil, die Ausbreitung des Feuers auf das Wohnhaus zu hindern. Hierbei arbeitete der alte, magere, verhungerte Mann für zwei, wagte sich hin, wo andere zurückschreckten, und hielt länger aus, als jemand.

Am Nachmittag kam der Bauer von der weiten Reise heim, auf der er gewesen war, als das Unglück geschah. Er weinte und raufte sich voll Verzeiflung die Haare über seinen Kuhstall und seine prächtigen Thiere. Und dann warf er einen verstohlenen Blick auf Jonas.

Als Jonas aber dem Blick begegnete, fiel er ohnmächtig nieder.

»De orme Olle! He häwt sich riin to Tot' georbetet. He wor der Ifrigste von uns alle! Et is keen Wonder, det hem toletzt de Kräfte verginge,« sagten die Leute.

Das Polizeiverhör war vorüber, und man erklärte, daß die Ursache des Brandes nicht zu ermitteln sei. Vermutlich hatte ein im Stall heimlich übernachtender Landstreicher Veranlassung zu dem Unglück gegeben.

Jonas wollte seinen Arbeitslohn genießen.

Er ging zum Hof, in der Absicht, den Bauer zu bitten, ihm Kleingeld für mich zu geben, der ihn verdächtig gemacht hätte, kehrte aber am Zaum wieder um. Er wanderte fünf Meilen bis zur nächsten Stadt, um mich in einem Laden einzuwechseln; als er mich aber hervorziehen wollte, wurde es ihm dunkel vor den Augen, er zitterte von Kopf bis zu Fuß, stammelte eine Bitte um ein Almosen und kehrte unverrichteter Sache heim.

Nach der Rückkehr legte er sich aufs Krankenbett. In seinen wilden Fieberphantasieen sah er wieder und wieder den Todeskampf der verbrennenden Tiere und hörte voll Grausen ihr angstvolles Brüllen. Seine rotgrauen Haare sträubten sich, und seine eingesunkene Brust röchelte wie in der Todesstunde.

Einmal, als er erwachte, sah er das ernste Gesicht des alten Dorfschulzen an seinem Bett. Jonas streckte beide Hände vor und schluchzte:

»Jo, jo, ik häw et gedohn! Verhafte Se mi! Dann häwt det eenmal ee End!«

»Si nu ruhik, Jonas, un hör', wat ik sägg. Ik komm to di von de Feuerversich'rungsgesellschaft mit fuftien Kronen, wil du so rasch un döchtig bim Lösche gewese wärst!«

»Fuftien Kronen! Nee dafür doh ik's nich! Ik zieh nich för tusend Kronen in det Armehus. Bitt mir nich, Dorfschulze!« schrie Jonas in wilden Fieberphantasieen.

»Der Arme, er weiß nichts mehr von sich! Er hat sich sicher bei der Feuersbrunst überanstrengt. Nimm du det Geld, Katrin,« sagte der Dorschulze zur Frau und ging.

Am neunten Tage starb Jonas und wurde gleich darauf begraben, und der Bauer war ungewöhnlich gütig und schickte der Witwe und den Kindern unaufhörlich Roggenbrot und Speck und Schmalz.

Als aber Katrin das Bett des Jonas in Ordnung bringen wollte, fand sie im Bettstroh ein zusammengedrücktes Stück Papier, das sehr merkwürdig aussah. Sie strich es auf dem Tisch glatt und fand zu ihrem Erstaunen, daß es ein Hundertkronenschein war.

Und kein Mensch im ganzen Sprengel konnte begreifen, wie er dahingekommen war.

VI.
Es bleibt in der Familie.

Sehr »mitgenommen«, an den Rändern zerknittert und schmutzig auf den Flächen, so daß mein »offizieller Text« kaum mehr lesbar war, landete ich in der Chiffonière eines alten, reichen Barons auf einem großen Rittergut in Södermanland.

Es war einer von der alten Sorte, die gern viel Geld zu Hause liegen hatten und zu vornehm waren, um fortwährend auf der Bank Geld abzuheben oder einzuzahlen. Ich war daher niemals, seit ich die Papiergeld-Druckpresse und das Gewölbe meiner Kindheitsbank verlassen hatte, in so großer und wertvoller Gesellschaft von Meinesgleichen gewesen.

Wir und der Baron hatten dasselbe Schlafgemach. Unsere Chiffonière stand an der einen Langwand, sein Bett an der andern. Wir Hunderter fühlten gleichsam Sympathie für den alten Edelmann. Er gehörte ja fast der höchsten Adelsklasse an, wir der nächsthöchsten »Schein«klasse; es ist sicher verdrießlich, daß es Tausender und Grafen giebt, aber die Barone wie die Hunderter, gehören doch auch zur Aristokratie.

Ich blieb in seiner Chiffonière zwei Jahre und will nun erzählen, wie ich dort fortkam und wohin mich das Geschick verschlug.

»Stockfinster war die Nacht,« wie es in »Gasparone« heißt, das ich einmal in der Tasche einer Demimonde-Dame angehört habe. Es war Herbst, Regenschauer peitschten gegen die Scheiben ... Aber ich will mich kurz fassen, die Scheibe des Giebelfensters – wir wohnten im zweiten Stock – wurde plötzlich eingedrückt, Schritte schlichen über den Boden hin, und nach einigen leisen, erfahrenen Griffen war unsere Lade geöffnet.

Aber der alte Baron hatte noch ein bißchen von dem Blut übrig, das im dreißigjährigen Krieg seinem Stammvater den Schild mit dem Schwert und den Greifen darauf verschaffte. In einer halben Minute stand er am Boden und hatte die Mündung eines Stutzen so sicher, als es sich im Dunkel machen ließ, auf denjenigen gerichtet, der unsere Ruhe störte; und es dauerte nicht lange, so hatte er mit der linken Hand auch das Licht angezündet. Und da stand er denn, freilich grauhaarig und im Nachthemde, aber fest und gerade mit funkelnden, braunen Augen und seiner Adlernase und seinem Schnurrbart, so daß ich glaube, niemand hätte ihn lächerlich gefunden.

»So, nun wollen wir mit einander reden, mein Jungchen!« begann der alte Baron als artiger Wirt, indem er ein paar Schritte rückwärts ging und an der Wand hintastete, worauf der gellende Laut einer Glocke dem Besucher klarmachte: wenn er seine Visite zu beendigen wünschte, müßte es so schnell, wie möglich, geschehen.

Aber auch dafür schien keine Möglichkeit vorhanden zu sein, wie auch die flammenden Augen des Einbrechers umherirrten und nach dem Fenster hinstarrten, vor dem er natürlich eine Leiter stehen hatte. Die Mündung des Stutzen war ständig im Wege.

»Setz' dich!« kommandierte der alte Baron barsch, als wenn er noch vor seinem Bataillon der schwedischen Garde gestanden hätte.

Noch einmal irrte der Blick des nächtlichen Besuchers, gleich dem eines gefangenen Tieres, umher, dann glitt ein ironisches Lächeln über das braune, verstörte Gesicht, als er sah, wie unrettbar er fest saß, und er sank mit seiner zerlumpten Jacke auf den Lehnstuhl in der Ecke nieder.

»Verdammte Situation!« murmelte er in ohnmächtiger Wut, aber doch nicht ohne einen Anflug von Galgenhumor, als er sah, daß Alles vorbei wäre.

Im selben Augenblick guckte ein bleiches, erschrecktes altes Frauengesicht zur Thür herein.

»Herr Jesses!« schrie die Alte, als sie die Gruppe im Schlafzimmer sah, und sank auf die Schwelle nieder.

»Na natürlich, die alte Gans,« fluchte der Baron, nahm die Wasserkaraffe in die linke Hand, ohne den Einbrecher aus dem Auge zu lassen, und goß ihren Inhalt der Alten mitten in's Gesicht, die sich darauf wie ein nasses Huhn zu schütteln begann.

»So, du alte Hexe, kommst nun wieder zum Leben? Fort, hinunter, hol' den Bergmann und die Knechte und sag', daß ich Besuch bekommen hab'. Sie sollen einen tüchtigen Strick mitbringen!«

Der Inspektor und die Knechte kamen, und nachdem sie Zeit gefunden hatten, ihrem Erstaunen und ihrer Bestürzung Ausdruck zu verleihen, wurde der Einbrecher fest und ordentlich gebunden.

»So, Bergmann, kommen Sie nun her und bewachen Sie den Kerl mit dem Stutzen, bis ich mir ein paar Kleider angezogen habe. Du, junger Held, reitest sogleich nach dem Lensmann; es ist am besten, er bringt Handfesseln mit.«

Die Kleider des Barons lagen auf einem Stuhle neben dem, auf welchem der Einbrecher saß, und als der Baron sich niederbeugte, um sie zu nehmen, erblickte er erst recht das Gesicht des Verbrechers. Er stutzte, richtete sich schnell auf und fragte eilig:

»Wie ... wie heißest du?«

»Axel Björk. Ich habe eine gute Erziehung genossen, bin willig und gewandt und passe in den Dienst Eurer Gnaden, wenn eine Stelle frei sein sollte,« erwiderte der Gefangene frech und kurz mit einem Hohnlächeln um seinen, von einem borstigen Bart umgebenen Mund.

Der Baron warf ein paar Kleidungsstücke in größter Eile über, worauf er wieder den Stutzen zur Hand nahm und sagte:

»Bergmann und Jonas, Ihr könnt draußen im Saal warten. Ich läute, wenn es etwas giebt!«

Der Gefangene schüttelte sich.

»Hört, lieber Herr, wollen wir nicht die Gelegenheit wahrnehmen und gleich etwas Wärmendes bestellen. So in der Morgenkühle ist es verdammt frostig. Und dann habe ich gewiß beim Einsteigen die Fensterscheibe ein wenig beschädigt. Bitte um Entschuldigung! Ich trinke alles!«

Als sie allein geblieben waren, zog der alte Baron einen Stuhl vor und setzte sich dem Gefangenen gerade gegenüber, mit dem Stutzen auf dem Knie.

»Wo bist du geboren? Wer war deine Mutter ... dein Vater, meine ich?«

»Ach so, auf die Weise! Wir wollen ein bischen Philanthropie betreiben und Interesse für Unglück zeigen, während wir auf den Lensmann warten. Immer zu,« sagte der Landstreicher. »Ja, geboren werde ich wohl nicht weit von dieser Gegend sein, und mein Vater scheint ein feiner Kerl gewesen zu sein, aber da er auf alle Freuden der Vaterschaft verzichtete und niemals den Verkehr mit mir kultivierte, kenne ich nur meine Mutter. Ein verteufelt braves Frauenzimmer; starb im Vorjahr. Haushälterin an seinem Platz, aber in letzter Zeit hatte sie natürlich verdammt wenig beiseite zu legen. Kam ins Unglück um den jungen Herrn vom Hause, wo sie diente. Ließ mich in eine gute Schule gehen bis zur vierten Klasse. Energisches Weib meine Mutter. Grete Björk wenn sie Ihnen bekannt war?«

Der alte Baron war erbleicht und zitterte während der Erzählung des Diebes. Nun stand er auf, zog die Thür zu und flüsterte:

»St! Sei still! Schrei nicht so verdammt, Spitzbube! ... Hm ... hm ... wenn ich nun Gnade für Recht ergehen ließe ... und ... dir ein bißchen helfen wollte, würdest du dann versuchen, ein besserer Mensch zu werden?«

»Wie ... wie meinen Sie? Mit einem behaglichen Heim und einer trefflichen Besitzung, wie Sie, alter Herr, würde ich, selbstverständlich, ein tüchtiger Mitwanderer auf dem Pfade der Tugend sein. Zum Teufel, warum sollte ich auch einbrechen, wenn ich schon drinnen wäre? Aber, weiß der Teufel ... das ist merkwürdig ... das Porträt in der Schublade meiner sel'gen Mutter ... Ja, beim lebendigen Gott ... So ist's! Ich bin unversehens in den trauten Schoß meines Vaterhauses eingestiegen,«

Der alte Baron wurde weiß im Gesicht, wie Leinwand, stand auf und hob die Schußwaffe empor:

»Schweig', Schurke, oder du bist des Todes!«

Der Gefangene senkte die Stimme, hohnlächelte aber. »Huh, was Papachen sagt! Kindesmord auf seine alten Tage, das wäre ja recht nett von einem, der ein so braver Papa gewesen ist, während die Mama, trotz ihrer Lage, mich am Leben ließ, als ich zur Welt kam. Bei ihr hätt' ich es fast entschuldigen können, wenn sie ...«

»Schweig', wahnsinniger Spitzbube!«

»Na, na, thu man nicht so, Väterchen! Obwohl Papachen beim Bangen nach seinem geliebten Gretchen und aus Sehnsucht nach seinem kleinen Axel sehr gealtert ist, erkenne ich doch das liebe Gesichtchen von Vaters Porträt wieder.«

»Du lügst, du irrst dich, unglücklicher Mensch, du wirst das Gefühl von Mitleid und Barmherzigkeit in mir ersticken, das sonst vielleicht ...«

»Aber was in aller Welt habe ich denn so furchtbares gethan? Ich bin zu meinem lieben Papa durchs Fenster eingestiegen, da ich die Thüren des schonen, friedlichen Vaterhauses verschlossen fand. Kann Papa beschwören, daß er nicht einst auf dieselbe Weise zu Mama ging? Das liegt vielleicht im Blut, Väterchen! Die Fensterscheibe ging entzwei, das wohl; aber das kam nur daher, weil Papa nicht bereit stand, es zu öffnen, wie Mama es wohl that ... Na, das war ihre Sache, aber soviel ist sicher, hätte sie nicht das Fenster geöffnet, stände ich jetzt nicht hier!«

»Wenn du deinen verdammten Mund halten willst und mit deinem Wahnsinn aufhören, würde ich vielleicht ...«

» ... mich adoptieren? Seht, nun spricht das Vaterherz! Aber hier wird keine noch so gefühlvolle Familienscene meines früheren Papas mich von den Handfesseln befreien, die unser dummer Inspektor mir anlegte.«

Mit zitternder Hand nahm der Baron einen Dolch aus der Waffensammlung von der Wand herab und schnitt die Handfesseln des Gefangenen auf.

Der Gefangene sprang wie eine Feder empor, schielte durch das Fenster hinaus, gab ganz seine frühere Frechheit und seinen höhnenden Ton auf und sagte eilig:

»Und nun zum Geschäft! Sie haben meine Mutter betrogen und verlassen und sie dahin gebracht, daß sie sich zu Tode grämte; ich habe eine Fensterscheibe zerbrochen ... das ist alles. Mörder und Einbrecher! Zieht man unsere verschiedene Erziehung in Betracht, bin ich wohl nicht so sehr entartet. Schnell her mit einigen Geldscheinen, und dann lassen Sie mich gehen. Sie werden es schon fertig bringen, mich in Ihrem Testament zu vergessen!«

»Ich habe einen Boten geschickt ... der Lensmann kommt ...«

»Ersinnen Sie etwas; Sind Sie so ungeübt im Lügen, Sie? Dann müssen Sie es sich abgewöhnt haben, seit Sie Grete Björk belogen!«

Der Baron ging zu der Chiffonière hin, that einen Griff in den Zehnerhaufen und warf die Scheine dem Vagabunden hin. Dieser steckte sie nachlässig in seine Rocktasche.

»Ein Wort an Ihre dienstbaren Geister, wenn ich bitten darf! Ich möchte nicht gern mit einem Schuß im Leibe von hier fortgehen.«

Der Baron klingelte und flüsterte dem herbeieilenden Bergmann einige Worte zu.

Der Vagabund setzte seinen Hut fest auf das schwarze struppige Haar, trat einen Schritt vor und legte die Finger auf mich und flüsterte in seinem früheren höhnischen Ton:

»Dieser schmutzige, geflickte Lappen paßt nicht in die Münzsammlung eines feinen Herrn. Den nehme ich als Zugabe, denn keiner von uns weiß, ob ich öfter Gelegenheit bekomme. Ihnen Besuche zu machen! Seien Sie nicht böse! Du lieber Gott, es bleibt ja doch in der Familie!«

VII.
Schuld und Sühne

Eine der stärksten Leidenschaften der Menschen, die Habgier, und eine Menge der Schandtaten derselben hat das Geld zum Ziel und zur Ursache. Ich habe viel Male auf dem Tische der Gerechtigkeit gelegen und will nun einen dieser Fälle erzählen.

Durch eine Gerichtskostenrechnung war ich bei einem Notar eingegangen, der ein ordentlicher Mann war und in einer Ecke seiner Kanzlei einen mächtigen Geldschrank stehen hatte. Da lag ich, bisweilen in recht großer Gesellschaft von Kassenscheinen, wichtigen Akten und allerhand Arten Stempelpapier.

Oft stand der Geldschrank die ganzen Vormittage offen, und ich konnte genau beobachten, was in der Kanzlei vorging. Wenn es still und ruhig war, die Federn in gleichmäßigem Takt auf dem Papier kratzten, und nur hier und da einige kurze Worte gewechselt wurden, begriffen wir, daß der Notar selbst da war. Aber wenn eine ganze Weile lebhaft geplaudert wurde, Operettenmelodieen gesummt, und manches lustige Liedchen gepfiffen, dann wußten wir, daß die jungen Juristen in spe sich selbst überlassen waren. Aber nicht immer waren sie in diesem Falle froh und lebendig; bisweilen saßen sie träge, mit fahlen Gesichtern und wortkarg da, noch stiller und ernster, als wenn »der Alte« auch in der Kanzlei war, und dann hörte man nur einsilbige Äußerungen wie:

»Scharfes Spiel, gestern Abend!«

»O, wie es da oben heut' hämmert!«

»Du hattest den ganzen Abend Pech, glaub' ich?«

Und dann kratzten die Federn wieder ein Weilchen weiter, und brauchte man Stempelpapier, so hatte der Referendar Hendrik den Schlüssel zum Geldschrank, in dem es lag.

»Verteufelt kuriose Idee von dem Alten, das Stempelpapier da liegen zu haben, wo alles Geld liegt. Es ist wirklich unheimlich, da heranzugehen und herumzuwühlen. Denkt, wenn er sich 'mal verrechnet und sich einen Hunderter zuviel anschreibt, und wir haben dann den Schlüssel,« meinte Hendrich bisweilen.

Aber eines Abends um halb zwölf dachte er nicht so, sondern stand mit schwitziger Stirn und feuchten Haaren vor dem Geldschrank und öffnete eilig mit ungeschickt tastender Hand die Thüre und griff mit seinen feuchten Fingern in die Scheine hinein.

»Großer Gott, was thu' ich!« murmelte er und zog die Hand zurück.

Dann richtete er sich auf, rechnete einige von uns zusammen und flüsterte:

»Ach Dummheit! Ich habe ja den Schlüssel und werde abbezahlen und ...«

Dann steckte er uns ein, eilte ein paar Straßen entlang und betrat einen belebten, hellerleuchteten Raum, wo Scheine knitterten, Zigarren glimmten und es nach Alkohol roch. Da wurde hoch gespielt, um große Summen, und bisweilen einem zugetrunken, den man den »großen Fremden von König Spielmanns Hof, dienstthuenden Hofmarschall bei Fritz Zickelbein« nannte.

Als mein Referendar nach Hause ging, hatte er zweitausend Kronen in der Tasche.

»Potztausend, wie dein Glück sich wandte, Hendrik, seitdem du Kassenverstärkung bekamst! Wen hast du eigentlich so mitten in der Nacht anpumpen können? Bessere Stelle, was? Hältst wohl die Adresse geheim?« sagte einer seiner Freunde und wollte ihn unterfassen.

Der Referendar riß sich aber los, stellte sich, als wenn er nichts hörte, und eilte nach Hause, und bevor er zur Ruhe ging, war die Kasse in der Kanzlei wieder in völliger Ordnung. Aber er hatte einen großen Überschuß, und darunter befand auch ich mich.

Armer Kerl, der Rest der Nacht wurde furchtbar für ihn. Nach einem ehrenhaften Leben von mehreren zwanzig Jahren war er einen Augenblick gestolpert, da seine Seele erregt, und sein Hirn vom Alkohol verwirrt war, so daß er kaum wußte, was er that. Aber nun war die Gefahr vorüber, der Rausch fort, und nun stand auch die Furchtbarkeit seiner That klar vor seinem Auge.

Am Morgen steckte er uns, die wir von seinem Gewinn übriggeblieben waren, mit einer Fingerhaltung, als wären wir Schmutz, und als könnte man sich an uns die Finger verbrennen, in ein Kuvert mit der Adresse »An den Herrn Vorsitzenden des städtischen Armenvereins« mit einigen Zeilen darin, daß jemand, der unbekannt bleiben wollte, u.s.w.

»Gratulieren, gratulieren, lieber Freund!« riefen die Kameraden in der Kanzlei, als der Referendar Hendrik, bleich und verstört, den Arbeitsraum betrat mit seinem Geldbrief in der Tasche und kaum den Augenblick abwarten konnte, da er Zeit fand, ihn zur Post zu bringen.

»Danke!« erwiderte er tonlos.

»Nun nimmst du Wohl den Augenblick wahr, so lange das Eisen noch heiß ist und das Glück jung, und jagst dem Wolf heut' Abend noch so ein paar Hunderter ab?«

»Ich rühre keine Karte mehr an!«

»Ach, dummes Geschwätz!«

»Ich schwör' es euch bei Gott!«

»Du bist ein drolliger Kauz. Das Glück erschreckt dich wohl, während du dich im Unglück als ein ganzer Kerl bewährtest. Aber der Teufel weiß, ob du so dumm bist, wie du dich stellst? Du willst wohl nur deinen Raub in Ruhe genießen? Du bereitest dir wohl ein Extravergnügen mit der Einnahme, was?«

»Ist bereits geschehen! Und nun an die Arbeit!«

Zwölf Jahre später wurde ich in einem Laden eines Eisenbahnstationsortes von einem Arbeiter aus der Kasse entwendet. Er war arbeitslos, ohne jeden Heller, und Frau und Kinder hungerten daheim. Aber in solchem Fall soll man Kartoffeln auf dem Felde stehlen oder ein Brot oder ein Stück Speck, wenn man will, daß einem die Gesellschaft allenfalls verzeihen soll. Hundert Kronen darf einer aus dieser Gesellschaftsklasse nicht ungestraft stehlen.

Und die Gesellschaft verzieh auch diesmal nicht. Binnen kurzem stand der Verbrecher vor den Schranken des Gerichtes, und ich selbst lag als corpus delicti auf dem Gerichtstisch.

Die Sache war einfach und klar genug, der Angeklagte versuchte auch nicht zu leugnen. Gebeugten Hauptes gestand er alles.

Ob er schon vorher bestraft wäre?

»Nein.«

Aber trotzdem war man empört über die »Frechheit« des Mannes, und jeder, der etwas zu verlieren hatte, fühlte deutlich, daß dieser »verhärtete« Verbrecher sein und der ganzen Gesellschaft Feind war.

Und der Richter sprach würdige, ernste und strafende Worte.

Ich hob unmerklich meine eine verbogene Ecke empor und lauschte mit meinem schmutzigen Esels-Ohr.

Es war Referendar Hendrik, jetzt Amtsrichter.

Und dieselben Hände, die einst zitternd und fieberhaft in den Geldschrank des alten Notars gegriffen hatten, dieselben Hände, die mich voll Abscheu am Morgen darauf fortgeworfen, dieselben Hände – weiße, feingeformte Hände mit gepflegten Nägeln, Verlobungsring und Freimaurerzeichen ersten Grades glätteten mich nun auf dem Tisch, strichen mich achtungsvoll, wie das Geld, auch wenn es alt und mitgenommen ist, gewöhnlich hier im Leben behandelt wird, aus und übergaben mich dem Kläger.

Ich sah den Amtsrichter an. Sein Gesicht war ruhig, ernst und würdig, die Stirn glatt, der Blick klar. Kehrte sein Gedanke noch einmal zu jener furchtbaren Nacht zurück, da der bekannte Hazardspieler »der blaue Wolf« jene Spielhöhle besuchte, so betrachtete der Amtsrichter jene Episode gewiß als einen bösen Traum, von dem er nicht mehr genau beurteilen konnte, in wieweit er selbst darin thätig war. War es wirklich so, daß er in die Kasse ...? Na, es war jedenfalls eine falsche Art, sich Geld zu borgen, aber er hatte ja den Schlüssel, und die Summe wäre natürlich unter allen Umständen gedeckt worden.

Und dann sah ich den Verbrecher an, den Verbrecher, der da vor den Schranken stand.

Er sah schlaff und verkommen und ganz gebrochen aus. Und er schien zu der Einsicht gekommen zu sein, daß es erstaunlich kühn, ja unerhört frech von ihm war, einen ganzen, großen Hundertkronenschein zu entwenden. Die ernsten, ermahnenden Worte des Richters hatten ihn wohl zu dieser Erkenntnis gebracht.

Und dann lautete das Urteil dessen, der mich zuerst »geliehen« hatte, über ihn, der mich soeben »gestohlen« hatte, auf »drei Monate Strafarbeit und zwei Jahre Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte.«

VIII.
Im Arbeiterheim.

Im Herbst 1870 war ich nach Nordland hinaufgekommen mit einer Rimesse an eine Bank, zusammen mit vielen Kameraden.

Einen Abend verbrachte ich dort in einem feinen Saal im Stadthotel in Sundsvall, wo die Holz-Fürsten die Pfropfen springen und die Scheine fliegen ließen beim Bezahlen der Festrechnungen und am Spieltisch. Ich sah, wie feine, reiche Herren, oder solche, die sich wenigstens fein dünkten, bei dem lustigen Gelage allmählich aus ihrer Haut herauskrochen. Flüche regneten,, ich wechselte am Spieltisch in einer Stunde mehrmals den Besitzer und wurde mit einem kräftigen Faustschlag auf die Tischplatte geworfen, wie es ein Fuhrknecht nicht anders hätte machen können. Und die gegenseitigen Beschuldigungen wegen des »corriger la fortune« fehlten auch nicht in dieser Gesellschaft, in der sich auch mehrere wirkliche Ehrenmänner befanden, die wohl durch Geschäftsverhältnisse gezwungen waren, in diesem Kreise zu verkehren.

Einen zweiten Abend verbrachte ich unter wirklich feinen Geschäftleuten und gemütlichen Kerlen. Sie spielten auch und vielleicht ebenso hoch, aber gewannen und verloren, wie Herren, und hatten ein höfliches, verbindliches Benehmen, wurden auch nicht roher, als die Pfropfen knallten, und ihre Backen sich röteten.

Am Abend darauf war ich auf einem dritten Fest, einem Trinkgelage von flotten, wetterzerfurchten Holz-Fuhrleuten, die vielleicht im Winter mit Frau und Kind gehungert hatten, aber nun bei der vortrefflichen Bahn und den reichlichen Fuhrverdiensten von dreizehn bis vierzehn Kronen per Tag für Pferd mit Mann, auch ein »Herrenleben« führten, ihren »Knallwein« mit naivem Entzücken »pichelten« und ihren mit Obstwein vermischten Cremant fast ebenso teuer, wie die Prinzipale ihren Cliquot bezahlen mußten.

Und dann hinaus in einen Arbeiterbeutel in Krylbo, wo die Eisenbahn mit jedem Tage ihre Eisenarme höher und höher nach Norden hinaufstreckte, wo harte Arbeit in gefrorenem Boden, schwarzes Brot und amerikanischer Speck mit Saus und Braus tagelangem, festlichem Leben und feinen Getränken abwechselten.

Sie wundern sich, daß ein Hundertkronenschein in die Tasche eines Arbeiters kommt; aber da sie dort zeitweise vier bis sieben Kronen täglich verdienten, konnten sie wohl am Schluß des Monats einen Hunderter ausbezahlt bekommen. Aber freilich, er bleibt selten lange in ihrer Tasche.

So lag ich an einem 15. Dezember zerknittert und schmutzig und voller »Esels-Ohren« in dem Geldkasten des Lohnzahlers und wartete auf den Trupp der Eisenbahnarbeiter.

Es war eine grobe, schwielige Faust mit alter Nordmannskraft, die mich und sechs bis sieben Zehner ergriff, und es war eine dürftige, kalte und schmutzige Herberge, eine richtige Eisenbahnarbeiter-Kaserne in einem alten, verfallenen Bauernhof, in der er seine Wohnstätte hatte. Der Arbeiter zog einen Stuhl an den schmierigen Tisch voll Fettflecken und mit einem kleinen Biersee in einer Ecke und der qualmenden Lampe mit zersprungenem Cylinder darüber. Dann holte er mich und meine kleinen Schwestern, die Zehner, vor breitete uns aus und besah seinen Schatz.

Es war ein ordentlicher Kerl; aber einen Hundertkronenschein hatte er wohl doch noch nicht in Händen gehabt, denn er besah mich mit besonderem Interesse und drehte und wendete mich herum. Dann betrachtete er meine Rückseite, stutzte und buchstabierte: »Fär – gunde – ryd ... Fär – gun – de – ryd ... ja, da steht Färgunderyd ...«

Ich weiß natürlich nicht, was auf meiner Rückseite steht, denn es kommt vor, daß die Leute alles Mögliche aus die Geldscheine schreiben, und ich war sowohl mit Buchstaben, als mit Zahlen bedeckt. Vielleicht hatte ein Pferdehändler aus dieser Smaalandsgegend den Namen seines Geburtsortes darauf geschrieben.

Aber dieser Name hatte eine seltsame Wirkung auf den Arbeiter. Er buchstabierte ihn wieder und wieder zusammen, sein Herz klopfte, seine Wangen glühten, selbst seine Hand war wärmer geworden.

Plötzlich rief er:

»Jehann, häwst de Brefpapeer und Bref-Morke, so giw se mi! Een Kuwert häw ik selwer!«

Der Angeredete erhob sich brummend von dem an der Wand befestigten Bett und brachte das Verlangte, und dann ging der Eisenbahnarbeiter und lieh sich bei einem Kameraden Schreibzeug, strich den Biersee mit dem Jackenärmel fort und schrieb:

»Liewe Moder!«

Und dann setzte er einige schiefe, ungleichmäßige Zeilen, nur ganz wenige, darunter und legte dann mich mit dem Brief in das Couvert hinein. Und nachdem er das gethan hatte, wischte er sich mit umgekehrter Hand den Mund ab und murmelte: »Jo, jo, ik häw an de Olle in Färgunna sit fifviertel Johr nich geschriewe!«

Ein sogenannter »besserer« Herr mit den Einnahmen von drei Eisenbahnarbeitern, der es niemals versäumen würde, »seinem lieben Mamachen« zu Weihnachten und Neujahr und zum Geburtstag schöne Gratulationskarten und zierliche Briefchen zu schreiben, hätte in diesem Fall einen schönen, langen Brief voll »Liebe« geschrieben und dann, zwei, vier, höchstens fünf Zehner hineingelegt. Aber der Sohn der Hütte wägt nicht so genau, alles oder nichts heißt seine Losung.

Dann ging meine Fahrt mit eilendem Zuge nach Süden. Überall lag Weihnachtsstimmung in der Luft. Der Postbeamte war verliebt und dichtete, indem er die Verse an seine Geliebte vor sich hinmurmelte. Überall in den Coupés sprach man von Weihnachten.

So war ich denn endlich auf der Poststation, die sich in dem einfachen, sauberen Heim des Dorfschullehrers befand, angelangt. Da lag ich einen Tag und zwei Nächte in meinem Brief auf dem Regal und hörte allerlei. Gerade um die Weihnachtszeit tritt in einem solchen Hause der Konflikt zwischen den Forderungen der Bildung und den kleinen Einnahmen am schärfsten hervor. Er hatte wohl siebenhundert Kronen und Futter fürs Vieh von der Gemeinde und vielleicht hundertfünfundzwanzig für die Postverwaltung. Man spielte da korrekt und gefühlvoll Weihnachtslieder und Choräle auf dem Klavier im andern Zimmer; aber das Klavier selbst war überaus jämmerlich, vermutlich auf einer Auktion für dreißig bis vierzig Kronen gekauft. Da ging eine Frau aus und ein, sie hatte die Sprache der gebildeten reichen Leute; aber sie machte sich Sorgen, ob sie die Mittel haben würde, eine schöne Schürze zu Weihnachten zu kaufen.

Es ist schwer, etwas bessere Erziehung, etwas mehr Bildung, einen weiteren Blick bekommen zu haben, und dann in Allem so beschränkt zu sein.

Aber trotzdem waren der Schulmeister und sein Weibchen ganz glücklich. Sie küßten sich und liebkosten sich und zwitscherten, wie zwei Gelbfinken vor derselben Weihnachtsgarbe Man steckt in Skandinavien am Weihnachtsabend den Vögeln eine Korngarbe an's Dach oder im Garten auf, damit sie auch »Weihnachten« haben. des frostgetroffenen Birnenbaumes. Sie merken wohl, daß ich ein alter, schrumpeliger Schein geworden bin, da ich nun so schrecklich schwätze und solch bedenkliche Abschwenkungen vom Thema mache.

Also, schließlich mußte man doch einen Boten schicken, der mich über gefrorene Moore und durch sausenden Wald zu einem alten Hüttchen trug, das das Elternhaus des Eisenbahnarbeiters war.

»Liewe Moder!«

Diese Zeile und die wenigen andern lasen Vater und Mutter und die beiden Schwestern wieder und wieder durch, und der große Schein wurde von vier Händen gestreichelt und Dank und Segen auf den Spender herabgewünscht.

Der Vater und die Mädchen waren in ihrer Freude unerschöpflich in Vorschlägen, wie die unerwartete Hilfe verwandt werden sollte. Es lag fast etwas von der Verlegenheit des Überflusses darin.

Doch die Mutter saß ruhig und still mit dem Brief in der verschrumpelten Hand. Sie war die Einzige im Hause, die »Geschriebenes nicht lesen konnte«; aber das machte nichts, sie wußte bereits den Brief auswendig.

Und als sie schließlich aufstand und ihn zwischen die Gesangbuchblatter in die Truhe legte, sagte sie ruhig und mild:

»Wenn se uns hid Nocht det grote Geld wegstehle dähten, würd' ik mi doch ganz glik freie, det der Ojust noch lewt, det der Ojust noch keen Lump geworde es, un det der Ojust noch an sine olle Moder un sin Voder denkt.«


 << zurück weiter >>