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Der Kandidat med. Eberhard Berg, der bald seinen Doktor machen sollte, stand in dem Empfangszimmer seiner zweizimmerigen Wohnung in Stockholm und packte seinen Reisekoffer.
Es handelte sich um die froheste Fahrt, die er noch in seinem ganzen 32jährigen Leben gemacht. Er sollte zu »ihr« Hinreisen, die sein Herz erobert hatte. In der verborgensten Tasche seines Portemonnaies trug er das sogenannte »goldne Band,« das er morgen Abend an ihren Finger stecken wollte. Ach wie dumm die Menschen doch sind! »Goldnes Band!« Altes, häßliches, triviales Wort! Ein Siegeszeichen, eine Trophäe war es, dieses kleine Ding, das er noch einmal, mitten im Tumult des Einpackens hervorzog und leicht liebkoste.
Es war im Juni, und der Glanz des Frühsommers lag über seinem ganzen Dasein. Er war jung und frisch und stark, voll Begeisterung für den Beruf, den er erwählt, seine äußeren Verhältnisse waren derart, daß er seine Studien ohne Schulden abschließen konnte, und seine Braut besaß eine Erbschaft, die sie in Stand setzen würde, recht bald ihr eigenes Heim zu begründen, auch wenn seine Praxis im Anfang nicht sonderlich einträglich werden sollte.
Vierundzwanzig Stunden später würde er bei ihr sein, dort hoch oben in Nordland.
Aber seltsam! Kandidat Bergs schönes, männliches Gesicht strahlte doch nicht jenes frohe Entzücken wieder, das man bei so günstigen Umständen hätte erwarten können. Während Freudenblitze aus seinen großen, blauen Augen leuchteten, zogen schwere Wolken über sein Gesicht, und während er hier und da den Refrain einer lustigen Melodie trällerte, drangen schwere Seufzer aus seiner sich stark hebenden und senkenden Brust hervor. Eberhard Berg war nämlich ein ganz ungewöhnlicher junger Mann und angehender Arzt. Erstens hatte er ein Gewissen, leicht beweglich, wie das einer jungen Konfirmandin, und zweitens war er solch ein Vollblutidealist, etwas ganz Seltenes unter den jungen Ärzten.
Es war eine Erinnerung vom letzten Sommer, eine äußerst ideale Erinnerung, die seiner Brust Seufzer entpreßte und seine Stirn mit Wolken überdeckte.
Er hatte sich damals draußen am Seestrande eine Bodenkammer in einer Fischerhütte gemietet, um in vollem Ernst und ganz ungestört sich solchen Studien widmen zu können, die keine Kliniken und Anatomiesäle erforderten.
Aber der Fischer, dem die Hütte gehörte, hatte eine zwanzigjährige Tochter, ein stattlich schönes Mädchen, der richtige sogenannte Ingeborg-Typus mit »Locken, wie Gold, und Augen blau«, und in diesen Augen las Eberhard Berg während des Sommers so eifrig, daß ihm nur ganz wenig Zeit blieb, in den Büchern zu lesen.
Er liebte sie warm, innig und rein, er liebte sie, wie ein Vollblutidealist liebt, machte Verse auf sie und hielt sich selbst Strafpredigten, wenn er es bisweilen nicht hatte unterlassen können, sie draußen im Hag auf seine Kniee niederzuziehen und die strahlenden Augen und leicht erbebenden Lippen zu küssen.
Sie ließ es mit kindlicher Widerstandslosigkeit geschehen, die ihn die ganze Größe ihrer vollkommenen Unschuld und Naivität ahnen ließ, und sie nahm das Geld und die anderen Gaben, die er ihr hinterließ, ohne Protest und Gewinnsucht, wie ein Kind Beeren oder Schiffchen annimmt.
Er hatte ihr kein Gelübde gegeben, und sie hatte keines gefordert. Wenn er sie flüsternd fragte, ob sie ihn liebe, schmiegte sie sich nur still an seine Brust. Sie wußte in einer bezaubernden Weise zu schweigen, das geliebte Wesen, die beredter war, als alle weiblichen Liebesworte auf Erden.
Nicht alle Vollblutidealisten bethätigen in ihrem Leben so getreu ihre Weltanschauung, wie er. Aber Eberhard Berg bezwang den Sturm in seinem siedenden Blut, bot seine ganze Willenskraft auf, nicht »ihre Seele zu besudeln,« und machte sich schon Vorwürfe wegen eines Kusses und einer Liebkosung.
Es war ja sein Eigentum, um das er so besorgt war, denn sie sollte seine Frau werden, so wahr es einen Gott im Himmel gab. Er wollte es ihr jetzt noch nicht sagen, es sollte ganz plötzlich kommen, wenn der Gedanke bald ausgeführt werden konnte; er wollte sie nur mit dem unlösbaren Bande der Hingebung an sich fesseln, und er sah so deutlich, daß er das gethan hatte. Als sie im Herbst beim Abschied in Thränen ausbrach, lag sie wie eine gebrochene Rose in seinem Arm, und als er dann spät im Oktober sich von den Studien losriß und hinausfuhr und sie auf ein paar Tage besuchte, war sie blaß geworden und abgemagert aus – Trauer um ihn.
Wie glänzten nicht ihre Augen, als er versprach, nächsten Sommer wiederzukommen. Dann ... – –
Und nun war es Sommer! Nun war die Zeit für ihn gekommen, zu seiner Strandhütte zurückzukehren. Nun ging sie draußen umher und wurde von Sehnsucht, von Unruhe und Hoffnung verzehrt, ihn jetzt bald vom Deck des Dampfboots ihr zuwinken zu sehen.
Und nun würde er nicht kommen ... gar nicht ... niemals mehr ... Und seine kleine Strandblume würde hinwelken und sterben. Sie gehörte nicht zu jenen Mädchen, die sich nach einem solchen Schlage wieder aufrichten und trösten ...
Er reiste nun zu jener, die an Bildung und gesellschaftlicher Stellung seinesgleichen war, zu ihr, die in einigen kurzen Wintertagen dort oben in Nordland die Strandblume in seiner Erinnerung völlig verblassen ließ, und er war ja sehr, ganz unsäglich glücklich, nur diese bohrenden Selbstvorwürfe ließen ihm keine Ruhe. Was hätte er nicht dafür gegeben, wenn er sie niemals gesehen, wenn er sie durch das Feuer, das er in ihrem Herzen entzündet, niemals unglücklich gemacht hätte, sie, die er noch vor wenigen Monaten so lieb gehabt.
Vergebens sagte er sich selbst, nicht einer unter tausend Männern hätte, wie er, empfunden, alle Welt hätte über seine Schwärmerei und überspannten Phantasieen gelacht. Ihr war ja »kein Schaden« zugefügt, er hatte kein Gelübde gebrochen. Was half ihm das alles, da er doch fühlte, daß er selbst niemals zu dieser niedrigen, rohen Anschauung herniedersteigen könnte.
So, nun war eingepackt, und nun nur noch eine Stunde im Dienste der Pflicht, eine Runde unter der Führung des Meisters in einem Hochquartier des Leidens, der Gebäranstalt Gethsemane, wo hauptsächlich solche, die kein offizielles Recht auf Mutterfreuden hatten, doch deren Schmerzen auskosten durften.
Der Professor begann die Runde, sprach und demonstrierte ein paar Fälle von langwierigem Kindbettfieber, da ... plötzlich wich alle Farbe aus Eberhard Bergs Gesicht, und seine Füße drohten zu versagen. Dort lag seine – Strandblume!
Ob sie, als die Runde zu Ende war, ein Zeichen des Wiedererkennens gab, als sie an ihrem Bett vorbeikamen, weiß er noch heute nicht, nur daß er sich dann wieder allein in den Krankensaal hineinschlich, die Wärterin hinausschickte, sich aus einen Stuhl am Bett der »Strandblume« setzte und flüsterte:
»Eline ... so muß ich dich wiedersehen!«
»Ja, Harr Jesses, lieber Harr Kandedat, dat is e Elend!«
»Wer hat dich in diese Lage gebracht?«
»Na, des Lotsens Söhn to Hus uff de Insel!«
»Wie ... wie lange hast du mit ihm verkehrt?«
»De Harr Kandedat fragen ... Jo, wir sind gute Freinde gewesen, so zwee Johre, und dann mußt es so onglöcklich kommen, dat ik ...«
»Zwei Jahre! ... Dann sind Sie jetzt also verheiratet?«
»I no, Harr Jesses, wenn wir nur hätte hirate könne!«
Eberhard Berg strahlte plötzlich auf und fühlte sich sichtbar erleichtert. Er hatte seine Reisekasse bereits bei sich, und wußte, es würde ihm keine Schwierigkeit bereiten, Ersatz dafür zu bekommen, und sein Herz floß vor Dankbarkeit gegen die Vorsehung über.
Er leerte seine Brieftasche und sein Portemonnaie in ihre etwas abgemagerten Hände.
»Reicht es, Eline?«
»Jo, Harr Jessas, jo, dat glob' ick wohl. Gott segne den Harrn Kandedat! Dat is, wie ik im Sommer Joseph seggt, als er eifersüchtig wor, denn er häwte den Harrn Kandedat mit mir im Hag gehen geseh'n! Na, na, beruh'ge dir man, seggt ik, denn so 'n finer Herr kömmt niemals nich mehr to uns. Tusend Dank! Ik kann nur nich begrieve, wie Se so frindlich sein können!«
»Na, adieu denn, Eline!«
»Adies, adies! Und ville Dank vor all Ihre Güte und Frindlichkeit gegen mi Arme!«
Als Herr Kandidat und künftiger Dr. Eberhard Berg zu seiner gepackten Reisetasche nach Hause ging, drehten sich die Leute auf der Straße nach ihm um, denn er eilte mit elastischen Schritten und stolzer Haltung, wie ein Triumphator, dahin, sein Gesicht strahlte vor Freude, und seine Lippen und Augen lachten.
Als er die Thüre zu seinem Zimmer öffnete, stand darin seine alte Aufwärterin. Er faßte sie, schwang sie drei-, viermal im Kreise herum und schrie: »Frau Grönlund, haben Sie schon einmal einen glücklichen Menschen gesehen? Dann gucken Sie mich an!«
Als er am Abend nach Nordland abdampfte, stand er erst eine Weile am Coupéfenster und murmelte halb schwärmerisch, halb philosophisch vor sich hin: »Ja, ja, so ist das Leben!«
Und dann nahm er aus seiner Brieftasche eine Photographie heraus, küßte sie zärtlich und rief: »Aber schön, herrlich und froh, trotz alledem!«