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Einige Kleinigkeiten hatten bewirkt, daß Eva Andersson und Karl Petersson dahin gekommen waren, einander für »Zeit und Ewigkeit« anzugehören.
Erstens hatte Eva, als sie Karl zum erstenmal sah, noch nicht mehr, als drei Herren, in der Nähe gesehen: Ihren Papa, den Kreistierarzt und den Propst in der Kirche. Aber Papa war nun tot, der Kreistierarzt schon verheiratet, als Eva erst zwölf Jahre alt war, und der Propst zwar Witwer, aber 63 Jahre älter, als Eva.
Da traf sie Karl Petersson in einem Sommerpensionat in Smaaland, wo sie zur Erholung weilte, und sich sonst nur verheiratete Herren, Rheumatiker und Weiberfeinde oder Unmündige, Verlobte oder solche Herren befanden, die im Staatsdienst standen, aber infolge der weisen Avancements-Verhältnisse ihres Landes nicht hoffen konnten, in den nächsten zwanzig Jahren den Lebensunterhalt für ein Menschenpaar zu verdienen.
An einem schönen Tage waren sie und Karl Petersson – er war Landwirtschaftsingenieur mit 4000 Kronen Jahresgehalt – draußen und gingen im Walde harmlos spazieren.
Wäre das Wetter schön geblieben, wäre vielleicht nichts weiter passiert, sie wären jeder seinen Lebensweg gegangen, hätten sich aus dem Gesicht verloren und im Alter, wenn sie zufällig von einander reden hörten, mit halb zerstreutem und halb sinnendem Ausdruck im Gesicht gesagt: »Ja so, der! Ja, so die!«
Aber nun kam ein starker Platzregen, und die beiden jungen Leute mußten in einen kleinen Holzschuppen flüchten, der dazu bestimmt war, dem Schaf vor den Gefahren des mystischen Nachtdunkels Schutz zu gewähren.
Da standen sie dicht beieinander, während der Platzregen auf das Dach herabdonnerte, und das Wasser auf allen Seiten herabgoß, und kleine nasse Tropfen auf dem jungen, frischen Gesicht des Mädchen und in ihrem Haar funkelten. In einer Ecke lag das Schaf, das Schutz gegen das Unwetter gesucht hatte, wiederkäuend. Das junge Lämmchen saugte an dem Saum von Eva's Kleid, und vom nahen Dorfe vernahm man den energischen Protest eines Ferkelchen dagegen, daß man es seines jungen Lebens berauben wollte zur Befriedigung der Eßbedürfnisse der feinen Sommergäste.
Aber der Tod hat seine Gesetze, wie das Leben. Am nächsten Tag war Markt, und der Bauer brauchte Geld; die Klagen des kleinen Schweinchens gingen allmählich in ein weiches Adagio über, der Regen hörte auf, die Sonne guckte wieder hervor, nasse Tropfen glänzten gleich imitierten Diamanten, auf den Bäumen, die Vögel probierten vereinzelte Töne, das Lämmchen verzichtete darauf, länger zu saugen, sondern legte sich hin und guckte Eva mit milden, freundlichen Augen an.
Die Luft war reich ozonhaltig, die Natur atmete gleichsam leichter nach dem Bade, das Birkenlaub und Evas Haar dufteten, und von den beiden jungen Leuten war noch keiner dreißig Jahre alt.
All das waren ja Kleinigkeiten, aber zusammen von starker Wirkung. Wie von einer unwiderstehlichen Naturgewalt getrieben, begannen Eva Andersson und Karl Petersson sich zu küssen, ließen plötzlich alle Titulaturen beiseite, umarmten sich und flüsterten, daß sie sich schon lange, lange geliebt hätten.
Sie verließen die Schafhütte mit armumschlungen. Das Schaf sah ihnen mit vielsagendem Ausdruck nach.
Sie konnten ihre Erregung nicht verbergen, als sie nach Hause kamen und sich dem Spinat mit Schinken und einer mangelhaft geronnenen Schüssel saurer Milch widmen sollten.
Alle siebenunddreißig übrigen Sommergäste warfen ihnen fragende Blicke zu. Ganz einfach zu sagen, es wäre garnichts geschehen, ging nicht an; aber ihr holdes Geheimnis mußte um jeden Preis gewahrt werden.
Der Preis wurden zwei kleine Lügen.
Karl sagte sieben Herren, daß er einen Wechsel für jemand anders hätte einlösen müssen. Eva behauptete, einen Goldring verloren zu haben, den sie von ihrer Großmutter bekommen hätte.
»So was ist verdammt unbehaglich!« sagten die Herren.
»Ach, wie unangenehm!« bedauerten sie die Mädchen.
Nähere Bedingungen über den in der Schafhütte geschlossenen Bund waren nicht aufgesetzt. Nur über die Zeitdauer war man leicht einig gewesen: Sie sollten einander »für Zeit und Ewigkeit« angehören!
Übrigens habe ich niemals von einer anderen Kontraktzeit für derartige Übereinkünfte gehört. Doch das hinderte nicht Herrn Karl und Fräulein Eva, zwei Monate und drei Tage nach ihrer geheimen Verlobung sich zornentbrannt Angesicht zu Angesicht gegenüber zu stehen in der »guten Stube« bei Evas Mama, die euphemistisch »Salon« genannt wurde, obwohl Schwester Emilie nachts darin schlief.
Die Wangen beider glühten, und häßliche Worte entfuhren ihren Lippen, die in diesem Augenblick nichts von Kußapparaten an sich hatten.
Sie hatten einander allerlei vorzuwerfen, nur Kleinigkeiten, natürlich, aber aus Kleinigkeiten besteht ja das Leben. Große Ereignisse mögen die Geschichtsumwälzungen hervorrufen, im Schicksal der Individuen haben Worte, die man irgendwo aufgefangen hat, Briefe, die mit dem Schnupftuch aus der Tasche gezogen sind, die unerwartete Heimkehr eines Gatten, Dienstmädchengeschwätz und Kaffeeklatsch, unvorsichtige Worte, ein unbedachter Scherz und der momentane Zustand des Magens weit größeren Einfluß ausgeübt.
Karl warf Eva vor:
»Daß sie auf einem Ball, dem er verhindert war, anzuwohnen, sehr lustig und sehr liebenswürdig gewesen sei. Daß ihr Papa ihn in der Politik hätte belehren wollen. Daß sie zu interessiert bei einem Gespräch mit Stadtkämmerer Jansson ausgesehen habe, einem Gespräch, das außerdem viel zu lange gedauert habe. Daß sie ihre Mama mitnehmen wollte, wenn sie nach der Bezirksstadt fuhren, um sich Möbel anzusehen« – und ähnliche ganz unbedeutende Kleinigkeiten!
Eva aber hatte nur das gegen Karl: »Daß er ihr nichts davon erzählt hatte, daß er schon zweimal verlobt gewesen wäre, sondern ihr gesagt hätte, er habe nur sie geliebt. Daß er im Geheimen schnupfte und nicht versprach, es sich abzugewöhnen. Daß er einen mit kleinen Tierchen behafteten Hühnerhund hätte, der Mamas Divandecke Besuche abstattete, die dadurch für Mama selbst zum Mittagsschlaf ganz unbrauchbar würde, woher Mama schon ganz leidend und nervös sei. Daß er den längsten Weg gegangen sei, als er seine Cousine Mathilde von einem Souper nach Hause begleiten sollte. Daß er der ›gräßlichen‹ Lina Bodell – Evas ›bester Freundin‹ – gesagt habe, sie wäre ganz reizend und kleidete sich ganz bezaubernd.«
Lauter Kleinigkeiten!
Und nun war alles zwischen ihnen aus, und nun sollten sie »für Zeit und Ewigkeit« scheiden und alle Erinnerungen begraben, und alle Geschenke zurückgegeben werden.
Er mußte ihre Geschenke mit einem Dienstmann schicken, sie sandte die seinigen mit ihrem stets schmierigen Dienstmädchen zurück.
Unter den letzteren befand sich auch ein Porträt ihres ungetreuen Schatzes, das Spuren davon trug, daß auf seinem Rande eine »Kleinigkeit« geschrieben gewesen, die später sorgfältig mit Bleistift übermalt war.
Nicht nur die Damen sind neugier ... hm ... wißbegierig.
Er besaß einen Radirgummi und wandte das für Bleistift bestimmte Ende an, bis er lesen konnte, daß darunter deutlich wahrnehmbar mit Tinte geschrieben stand: »O du mein lieber, lieber kleiner Liebling!«
Offenbar waren die Worte zu einer Zeit geschrieben, da noch alles gut und friedlich zwischen ihnen war, obgleich sie sich nun ihrer schämte.
Die Worte waren ja nicht gerade genial, und Evas Gedankenwelt schien keine allzugroße und weite zu sein; aber es hatte den Anschein, als wenn sie etwas für Karl Petersson empfunden hatte, als sie sie schrieb.
Und Karl fühlte sich geschmeichelt, gerührt, sein Herz wurde warm und reuevoll nur durch diese paar einfachen, kleinen Worte; er ergriff seinen Hut, lief auf der Straße zwei ältere Witwen über und kniete dann drei Minuten später vor Eva und bat sie, mündlich zu wiederholen, was sie auf der Karte geschrieben hatte.
Sie that es.
Karl sagte, daß alles, warum sie sich gestritten hätten, ja nur Kleinigkeiten wären.
Eva schluchzte und meinte, winzigere Kleinigkeiten, als die Gründe ihres Verdrusses hätte sie niemals gesehen oder sich denken können.
Sich gegenseitig verzeihen, war unter solchen Umständen natürlich auch ... eine Kleinigkeit.
Nun hat die unterbrochene »Zeit und Ewigkeit«, die sie einander lieben sollten, wieder angefangen, nach Kalenderjahren zu zählen.
Eva und Karl sind seit vier Monaten verheiratet, und die Mühseligkeiten des Lebens erscheinen ihnen bei einer Liebe, wie die ihrige, als Kleinigkeiten.
Gestern kam Karl von seinem Bureau nach Hause, schlich sich hinter Eva hin, küßte ihren weißen Nacken und verriet Lust, den ganzen Abend den Bräutigam zu spielen.
Sie stieß einen leichten Schrei aus und verbarg schnell mehrere weiße, halbfertig genähte kleine Sachen, die für ein kleines Menschlein bestimmt zu sein schienen.
»Was ist denn das?« fragte Karl.
»Nur einige Kleinigkeiten, die du nicht zu sehen bekommst,« sagte Eva schelmisch.
Aber er ergriff sie doch, küßte sie, und die Hände, die daran arbeiteten, lachte, jauchzte, jubelte und weinte.
Die ganze Summe des Lebens besteht meist aus Kleinigkeiten.