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Der demokratische Geist

Es ist in den vierziger Jahren, und diese gefährliche Neugier – oder nennt man es erregte Besorgnis? – gilt nur einem Gemälde, das in der Berliner Kunstausstellung hängt, einem heute verschollnen Bilde, dessen Maler man nicht einmal namhaft zu machen weiß. Aber damals, während es ausgestellt ist, wird der Platz davor keinen Augenblick leer. Frauen durcheilen die Säle, nur um hier festzuwurzeln. Gelehrte, die sonst wenig nach Kunst zu fragen pflegen, stellen hier sich ein. Man deutet auf das Bild, man flüstert, man raunt. Kinder werden herbeigeführt, nur um diesen Eindruck sich einzuprägen. Und was stellt das Gemälde dar? Nichts als einen Wilddieb, der verfolgt wird und mit der Todeswunde in der Brust in die nahe Hütte flüchtet.

Unerklärlich die Erregung, es sei denn, daß durch den dargestellten Vorgang ein Nerv des Zeitempfindens getroffen worden wäre. Und dem war wirklich so. Dieser Zeit, die um die Adelswillkür auf den Gütern, die harte Not der Landarbeiter wußte, die das Jagdrecht als eine fortgeerbte Willkür aus der Feudalzeit empfand, wurde dieser Wilddieb zum sozialen Märtyrer. In die klaffende Todeswunde in seiner Brust krallte Mitleid ein. Und in dem Mitleid war Zorn.

So seltsam es klingen mag: In Deutschland ist der demokratische Geist aus Mitleid heraus geboren worden.

Caroline, damals (1790) noch Braut Wilhelm von Humboldts, kehrt auf ihren Spaziergängen auf dem väterlichen Gut vielfach in die Bauernhütten ein, und da, auf wackligem Stuhl im stickigen Raum wird es ihr klar, daß sie mit diesen Menschen viel mehr Gemeinsames hat als mit den andern, denen aus ihrer eigenen Sphäre, die sich so hoch über jene erhaben dünken. Die eigentliche Geburt der demokratischen Auflehnung aus solchem Mitempfinden und Mitleiden aber erlebt man mit Dorothea Schlegel, damals (1792) noch Dorothea Veit, die nach Rheinsberg gekommen ist, dort, am Hofe des ewigen Frondeurs, des Prinzen Heinrich, die französische Oper mit anzuhören. Hier in Rheinsberg gehen ihr die Augen auf. Dies märkische Dorf in der Sandwüste – kein ganzes Dach, keine reine Straße, kein ordentlich angezogenes Kind – und nur das Schloß, in dem der Prinz wohnt, der Park, in dem er lustwandelt, die Straßen, die er befährt, wohlausgestattet, sorgfältig betreut, gepflegt – das ist's, was Empörung in ihr aufgischen läßt. »›Verdammter Aristokrate!‹ konnte ich mir nicht verwehren auszurufen. Es ward sehr lebendig in mir, wie ein ganzes Volk mit einem Male sich gegen die schwelgenden Tyrannen auflehnen kann, die sich ewige Symphonien vorspielen lassen, und so das Geschrei des Elends nicht hören, das ihnen sonst zu Ohren kommen würde.« Gewiß sind solche Worte, denen man ungezählte ähnlich lautende beigesellen könnte, aus einer Nachwirkung der französischen Revolution heraus geschrieben; aber der Grundton, dies Aufflammen des sozialen Mitleids, ist deutsch. Ganz ähnliche Stimmung – nur diesmal in frommer Kapuze – sollte in Dorothea, zwanzig Jahre später, das Aufkommen der Maschinen und die damit verbundene Arbeitslosigkeit beschwören.

In Fichtes Reden steht der stolze Satz: Die Liebe zu dem armen verwahrlosten Volke sei ein unversiegbarer und allmächtiger und deutscher Trieb.

Man erlebt es aber alsbald mit, daß dies Mitleidsgefühl als solches überwunden wird, und das tritt bei der nun heranwachsenden jungen Generation ganz augenfällig in Erscheinung. Bettina bereits deklamiert dagegen. Man habe zu Mitleid schlechterdings kein Recht! Groß stehe der Unglückliche immer dem gegenüber, der sich im Hafen des Glücks wähne. Bemitleiden heiße dumm sein. Die Forderung lautet jetzt: »Ihr verbietet mir, mit einem armen Judenmädchen Umgang zu haben? Ich will Umgang haben mit allem, was zugleich mit mir auf dieser Welt lebt!« Allzu billig schien nunmehr das Mitleid geworden zu sein; – zumal jenes Mitleid, das sich doppelt auftischen läßt, um Brocken für die Hungernden zu sammeln, rief auch den Hohn Goethes wach. Im Jahre 1810 im Gespräch mit Körners sagt er: »Vergnügungen (Bälle, Konzerte usw.) zum Besten der Armen kommen mir vor wie eine Ökonomie, wo man mit dem Abgange des Eßbaren noch die Schweine füttert.« So wird man denn auch frühzeitig hellsichtig der sozialen Fürsorge des Staats und der Kommunen gegenüber. Aus solchem Mitleid und solcher Mitleidsüberwindung heraus schilt Arndt auf die Findelhäuser. Mördergruben der jungen Menschheit nennt er sie. Verkümmernde Pflanzen, Fristlinge des Todes scheinen ihm die Insassen zu sein.

In solcher seelenfrischen Überwindung des Mitleids ist nun aber auch Ruf zu neuer Pflicht. Mit dem jungen demokratischen Geist hat sich die Religiosität der Zeit auseinanderzusetzen. In der Art und Weise, wie das geschieht, ist abermals Gericht.

 

Der die »Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern« geschrieben, trug sich mit dem Plan, Nachmittagspredigten für die Ungebildeten zu halten. Schleiermacher, der Mensch, seine Sendung, sein Werk sind als Zeugen aufzurufen für die Durchdringung der Religiosität mit demokratischem Geist.

Schon an der großen Französischen Revolution nahm Schleiermacher leidenschaftlichen Anteil, er lernte dann freilich bald den Unterschied machen und meinte, so willkommen es jedem tätigen Geist sein müsse, in einer Republik zu leben, so sehr sei vor den Ländern zu warnen, wo eben eine Republik gemacht werde. Wo Regierungswillkür, an der es denn nun freilich nicht gefehlt hat, der Freiheit des Bekenntnisses, sei es in Fragen der Politik, der Religion, der Wissenschaft, gefährlich wurde, stand er immer und ohne jede Rücksichtnahme auf die eigene Stellung den Bedrohten zur Seite. Ihn focht es nicht an, in Hinblick auf Schmalz, den Denunzianten, vom »Pranger des Württembergischen Verdienstordens« zu reden. Angesichts der Reaktion in Preußen wäre er für seine Person nur allzu bereit gewesen, das Heil für Deutschland außerhalb Preußens zu suchen – nur fand er es nicht. Und nie vermochte er sich darüber hinwegzutäuschen, daß Mißgriffe der weltlichen Regierung immer auch zugleich die Religion gefährden. Der Protestantismus bedarf der freien Luft, soll er gedeihen! Im Jahre 1820 bereits beurteilte er die Lage Preußens dank der unseligen Reaktionswirtschaft dahin, daß ein einziger wohlgezielter Angriff von außen den gesamten Staat über den Haufen werfen würde. Und es klingt wie Abschiedsgruß, wenn er nach langem Gespräch mit Alexander v. Humboldt – der ein Erzliberaler sei und dessen Standpunkt er nicht ganz teilen könne – die Worte niederschreibt: »Es macht mich doch oft wehmütig, nach so schönen Ansätzen und Hoffnungen unsere deutsche Welt in einem so sehr zweideutigen Zustand zurücklassen zu müssen, wenn ich scheide, wie es doch höchstwahrscheinlich mein Los sein wird« (1832). Beides war in Schleiermacher, Erkenntnis und Entschlossenheit zur Tat, alle Möglichkeiten einer Verjüngung der Religiosität in demokratischem Geist schienen durch ihn und in ihm gewährleistet zu sein, nur daß sein Einfluß verdrängt wurde, bevor er recht hatte wirken können.

Statt dessen ging die neue Religiosität nach den Freiheitskriegen mit dem demokratischen Geist eine Bindung ein, welche die wunderlichsten Ausgeburten, denkbar phantastische Gefühlsverwirrungen zur Folge hatte.

Geistige Führer der radikalen Burschenschafter nach den Freiheitskriegen waren die Brüder Karl und Adolf Ludwig Follen geworden, um die sich zumal die »Unbedingten«, jene Gruppe, aus der der Kotzebuemörder Sand hervorging, scharten. Diese nun predigten in ihren Liedern, die, streng geheimgehalten, von vertrauender zu schwurbereiter Hand gingen, den Tyrannenmord. Ihr Argument: der Dolch; ihre Beglaubigung aber: die Bibel. »O Jesu Christ, dein klares Wort ist: Freiheit, Gleichheit allen.« Das Ideal, das sie aufrichteten: »Ein Christus sollst du werden.« Denn darüber konnte keine Täuschung sein: Wer den Tyrannenmord vollzog, der hatte den Märtyrerweg zu gehen. Erst nachdem das durchlitten war, konnte das Volk zum letzten Strafvollzug, zu endlicher Selbstbefreiung aufstehn. Und ganz so, wie sie die Christussendung dem Täter ihrer Tat als Dornenkrone auf die Stirn drückten, ganz so sahen sie die von ihnen entfachte Bewegung als Fortsetzung und Vollendung der lutherischen Reformation, als das deutsche Werk der Zeit an. »Ihr Geister der Freien und Frommen, wir kommen, wir kommen, wir kommen, eine Menschheit zu retten aus Knechtschaft und Wahn, zur Blutbühn', zum Rabenstein führt unsre Bahn.«

Es ist sehr bezeichnend: Den einen und streng geheimgehaltenen Zusammenschluß ihrer Lieder stellt »Das große Lied« dar, das in scheinbarer Willkür der Aneinanderreihung doch in wohlüberlegtem Aufbau gesichertes Fortschreiten erkennen läßt. Hier nun stehen vor dem eigentlichen Aufbruch zur rächenden Mordtat – zwei Abendmahlslieder. Und so sah es wirklich in diesen Köpfen aus: In gemeinsamer Abendmahlsfeier meinte man den Mord zu heiligen.

Das ist denn nun freilich wie Fratze neben Schleiermachers durchgeistigtem und beseeltem Antlitz.

Was die Follen dichteten, das vollführte Karl Sand. Er ermordete Kotzebue, der in seinen Augen ein Vaterlandsverräter war. Und merkwürdig: man kann sich schwer dem Eindruck verschließen, daß der Vollzieher der Tat geistig noch unter den Projektemachern stand. Im Kreise der »Unbedingten« war Sand recht eigentlich der Dilettant.

Nie ist ein Mörder frömmer gewesen. In seinem Abschiedsbrief, den er vor der Tat geschrieben, nannte er sich ruhig, ja selig in Gott, »seit ich durch Nacht und Tod mir die Bahn vorgezeichnet weiß, meinem Vaterlande heimzuzahlen, was ich ihm schulde«. »Als ein Prediger des Evangeliums wollte ich freudig dies Leben bestehen, und bei allenfallsigem Umsturz unserer Lebensformen und der Wissenschaft sollte mir auch Gott helfen, meines Amtes treu mich zu bewähren. Aber sollte mich dieses alles abhalten, der nahen Gefahr des Vaterlandes selbst abzuwehren?« »In der Welt haben wir Angst, aber in Gott können wir diese, wie Christus (!), überwinden.« Und dem entsprach seine Haltung nach der Tat durchaus. Ein gut Teil Schauspielerei: Noch im Gefängnis ließ er sich malen, im schwarzen Kleid, blutrot die Weste, die Hand unter dem Rock im Begriff, den Dolch zu zücken. Doch als ein Befriedeter starb er. Und nun das Seltsame, das dies Wolkengewirr der Gefühlsverirrungen wie Blitzstrahl durchleuchtet: Sand, der im Einvernehmen mit seinem Gott gemordet hatte, wollte nicht, daß ein Geistlicher seiner Hinrichtung beiwohne. Aus – »Achtung vor dem Stand, der nicht dahin gehöre, wo Blut fließe«.

Ein geistig Kranker? Vielleicht. Jedenfalls einer, in dessen Hirn das Deutschtum, in dieser Bindung von demokratischem Ungestüm und ungeistiger Religiosität, orgiastische Wirren angerichtet hatte. Der Dilettant der Tat.

Und hinter diesem Verirrten – die Zeit? Nach Börnes Zeugnis, der sich selber skeptisch einstellte, nannten Arndt und Görres Sands Tat »groß«. Jedenfalls steht fest, daß zu Sands Hinrichtung die gesamte Garnison aufgeboten wurde; daß viele, die ihr beiwohnten, tränenüberströmt heimkehrten; daß man sich drängte, Splitter des Blutgerüsts und Haare von ihm zu kaufen; daß der Scharfrichter, der eine Art Freundschaftsbund mit ihm geschlossen hatte, sich aus den Balken des Schafotts ein Weinbergshäuschen erbaute, in dem noch lange Jahre später Burschenschafter geheime Zusammenkünfte abhielten.

Im Ineinander von demokratischem Geist und Religiosität stellt all das, was unter dem angemaßten Prunkschild des Teutschtums sich breitmachte und in der Tat des Sand aufgeiserte, die gefährliche und Kräfte zehrende Krise dar.

 

In dieser Zeit zwischen den Revolutionen gewann der demokratische Geist in Deutschland durchaus deutsches Gesicht.

»Glaube mir, es gibt nur zwei gute und wohltätige Potenzen in der Welt: Gott und das Volk. Was in der Mitte liegt, taugt reinweg nichts, und wir selbst nur insofern, als wir uns dem Volke nahestellen« – so schreibt Wilhelm v. Humboldt im Jahre 1813, und in diesem hingeworfenen Briefwort ist nicht nur Bekenntnis, ganz wesenhaft gibt sich darin der deutsche demokratische Geist in seinem ethischen Gehalt. Demokratie in Deutschland wird zu einem Kapitel ethischer Weltanschauungslehre. Wenn Arndt in seiner Friedensrede eines Deutschen (1807) den Gedanken betont: Können die Herrscher euch nicht verteidigen, so seid ihr die Verteidiger, seid ihr Könige und Helden, – so ist das nur Nutzbarmachung der gleichen Anschauung: Gott wirkt durch das Volk; wenn nicht mittels, so eben trotz der Regierung. Daß die Nation den Mut haben werde, etwas gegen die Regierung durchzusetzen, war zu der nämlichen Zeit auch Humboldts Überzeugung.

Weil Demokratie in Deutschland eine ethische Angelegenheit ist, tritt der Erziehungsgedanke scharf belichtet in den Vordergrund. Hier bei diesen wahrhaften Kündern der Zeit ist das demokratische Ziel deshalb nicht auf der Spitze der Dolche – man möchte eher sagen, man sucht es in Herz und Hirn der Lehrer. Fichte steht auf. Er spricht zur deutschen Nation, und die Erziehungsfrage ist es, auf die er das Ja oder Nein der Zukunft setzt. Nationalerziehung! Ohne Unterschied der Stände! Betont wird, daß die höhere Geburt gewiß nicht die bessere Veranlagung zur Folge habe. »Wende man sich in Gottes Namen und mit voller Zuversicht an die armen Verwaisten, an die im Elende auf den Straßen Herumliegenden, an alles, was die erwachsene Menschheit ausgestoßen und weggeworfen hat!« Ein ursprüngliches Volk bedürfe der Freiheit. Sie sei das Unterpfand seines Beharrens als ursprünglich. Tiefer aber noch als von Fichte wird dieser Erziehungsgedanke von Humboldt erfaßt. Bei ihm heißt es: »Die niederen Stände bedürfen zu ihrer Bildung der höheren viel weniger, sie sind eigentlich selbständig, wie die Natur auch nicht des Menschen, wohl aber er ihrer bedarf.« Damit ist ein letztes Wort dieses ethischen, dieses sehr deutschen demokratischen Geistes ausgesprochen.

Dazu in Humboldt das Bewußtsein, daß in der Jugend die bessere Empfindung lebe, weil sie dem Volk, dieser ewig jugendlichen Masse, näherstehe.

Durchaus nicht auf der Spitze der Dolche schwebt dieser wahrhaft deutsche demokratische Geist. Vielmehr ist überall das Gefühl für die Notwendigkeit des Fortschritts mit einer tiefen Liebe, mit einer Liebe voll Selbstverleugnung zum angestammten Fürstenhaus verschwistert. Als Ziel all seiner Reformen prägte Hardenberg den kategorischen Satz: »Demokratische Grundsätze in einer monarchischen Regierung.« Darum in Fichtes Reden zum Beschluß des Ganzen die Beschwörung an die Fürsten: Lernt eure Völker kennen! Mit der Warnung: »Sie haben Sinn für die Freiheit und sind derselben fähig; aber sie sind euch gefolgt in den blutigen Krieg gegen das, was ihnen Freiheit schien, weil ihr es so wolltet.« Freilich, die Fürsten dieser Zeit machten es ihren treuesten Anhängern schwer. Im Jahre 1813 mußte Humboldt bekennen: »Bis jetzt ist mir keiner unter den Fürsten aufgestoßen, Bayern ausgenommen, der mir eine gegründete Hoffnung recht patriotischen Benehmens gäbe. Ihre Völker sind gewiß besser.«

Ablehnend gegen den demokratischen Geist verhielt sich unter den berufenen Führern der Zeit wohl einzig Goethe. Gewiß, man kann unter seinen Aussprüchen manches herbeiziehn und dartun, daß auch er sich der Notwendigkeit einer Mündigerklärung des Volkes bewußt war. Aber es bleibt doch sehr bezeichnend und weist ins Innere der Stellungnahme – gerade die unscheinbaren Züge pflegen verräterischen Aufschluß zu geben –, daß sich in den »Wahlverwandtschaften« die Freunde ohne weiteres klar darüber sind, daß, wer Besserungen einführen wolle, die Menge nicht befragen dürfe. »Alles eigentlich gemeinsame Gute muß durch das unumschränkte Majestätsrecht gefördert werden.« Ein Satz, der dem Hauptmann in den Mund gelegt wird, Goethes eigner Anschauung aber gewiß durchaus entspricht. Ein Satz, überaus wahr, wenn die Förderung des Werks, überaus falsch, wenn die Förderung des Menschen letztes Ziel ist. Aber derselbe Goethe, der Gleichheit nur für die Toten forderte, vermochte doch, während er an der »Iphigenie« schuf, den wehen Gedanken an die hungernden Strumpfwirker im nahen Apolda nicht abzuweisen. Und Mitleid war Urquell jedweden demokratischen Empfindens in Deutschland.

Es ist das Verhängnis aller geschichtlichen Entwicklung, daß die großen Geister ihrer eigenen Zeit nur mit sehr leiser, nur sehr wenigen vernehmbarer Stimme reden. Dieser Epoche zwischen den Revolutionen aber fehlte auch der Trommler auf der Gasse nicht. Er erstand ihr in Rotteck, dessen demokratisch konzipierte Weltgeschichte überaus weitgehende Verbreitung fand.

Wie noch jeder Popularisator – wie anders sollte er sonst von den vielen verstanden werden? – sprach Rotteck aus der Empfindungsweise einer überholten Zeit heraus. Seiner ganzen Veranlagung nach war er im Rationalismus des 18. Jahrhunderts steckengeblieben. Man braucht, um nur ein Beispiel herauszugreifen, nur etwa die Betrachtung ins Auge zu fassen, die er einer geschichtlichen Persönlichkeit wie etwa Pisistratus widmet, um ganz klar zu sehen. Entscheidend wird für ihn einem Pisistratus gegenüber nur die Frage, ob man über seinem späteren segensreichen Wirken das zuvor verspritzte Bürgerblut vergessen dürfe? Der schulmeisterlichen Frage wird die belehrende Antwort zuteil: »Nie wird die gesunde Philosophie die Tugend desjenigen preisen, der erst dann sie übt, wenn die ungerechte Leidenschaft befriedigt ist.« Aber diesem Magister Rotteck brannte die demokratische Sendung im Herzen. Zu einer Kraft wurde ihm seine Beschränktheit, zu einem Vermögen seine Armut. Zu denen gehörte er, die Wiesen und Wälder, Länder und Erdteile durchstreifend, immer nur den Blick auf die eine, ihre Formel bestätigende Fundspur richten. Ganz folgerichtig klang seine Weltgeschichte in die Perspektive aus: Zwischen Asien und Amerika, zwischen Willkürherrschaft und freiheitlicher Verfassung habt ihr zu wählen, und das will besagen, zwischen Niedergang oder Aufstieg. So der Präzeptor, und viele, die auf seine Worte schwuren. Nur daß auch ein Rotteck so sehr deutsch war, daß er zwar den republikanischen Geist forderte, ihn aber mit monarchischer Staatsform sehr wohl vereinbar hielt.

Nur die Fürsten konnten bei der tiefen Anhänglichkeit des deutschen Volks das Fürstentum in Deutschland gefährden.

Es ist aber am Horizont der Zeit all die langen Jahre hindurch, die Kriege überdauernd, den Frieden verdächtigend, manchmal nahezu verschwindend, dann wieder greller aufleuchtend, in der nämlichen Blickrichtung verharrend, ein feuriges Mal. Man sucht es mit Vernunftgründen wegzudisputieren; man schreibt die Verantwortung dafür den höheren Mächten zu; man ergreift Gewaltmaßregeln dagegen; hilft nichts: das Flammenzeichen bleibt. Zeitweise scheint niemand darauf zu achten; zu andern Jahresläuften regt es alle Gemüter auf; immer ist es im Unterbewußtsein aller, die ihre Blicke über die nächste Umgebung richten –: die Not der schlesischen Weber.

In der Schlacht von Wartenburg hatten die schlesischen Weber sich hervorgetan. Man hatte sie beobachtet, wie sie noch vor dem Gefecht sich Pflaumen gepflückt hatten. Nun, nach gewonnener Schlacht, lagen die ausgemergelten Leiber scharenweise mit durchschossener Brust unter den Obstbäumen an den Elbdeichen. Preußische Helden. Das war in den Freiheitskriegen gewesen, und die Erinnerung an die Tat war noch nicht erloschen, als man es für geboten erachtete, das preußische Militär gegen die Hungernden, wider ihre Peiniger Aufgestandenen zu führen.

Hier nun wurde der demokratische Geist im Namen dessen aufgerufen, was ihm in Deutschland recht eigentlich zur Geburt verholfen hatte, im Namen des Mitleids. Hier handelte es sich nicht mehr um Verfassungsfragen, bei denen jedweder über ein Mehr oder Minder der Volksbeteiligung an der Regierung zu verhandeln bereit sein mochte. Hier aber war – eben weil er die zugesagte Verfassung schuldig geblieben war – nur einer verantwortlich: der König von Preußen. Gegen ihn stand das Mitleid auf.

Die schlesischen Weber hungerten weiter, aber sie fanden nicht nur ihr Gedicht, sie gewannen sich auch ihren Dichter. In die Stille der Zeit sprach Heine sein Gedicht von den schlesischen Webern hinein. Man weiß nicht: ist das noch die Stimme der Romantik, oder ist nur einer schrillen Stimme des Tages diese seltsame Resonanz aus Lüften und Wolkengebilden gegeben? »Deutschland, wir weben dein Leichentuch. / Wir weben hinein den dreifachen Fluch – / Wir weben, wir weben!« Und hier nun fand sich der Vers, in dem gleichsam die beiden greifenden Hände der Demokratie – einer annoch gut bürgerlichen Frauensperson, deren eine Hand nach Verfassung, deren andere nach sozialer Hilfeleistung ausgestreckt war – ineinander krallten: »Ein Fluch dem König, dem König der Reichen, / Den unser Elend nicht konnte erweichen, / Der den letzten Groschen von uns erpreßt / Und uns wie Hunde erschießen läßt – / Wir weben, wir weben.«

Das war nicht mehr die Stimme des Trommlers in den Gassen, der eigentlich nur ein wohlmeinender und herzlich gutmütiger Magister war. Es war wie einer jener gefährlichen Naturlaute, die zu Zeiten des Wetterumschwungs zwischen Himmel und Erde vernehmbar werden.

 

Aus einem Branntweinladen taumelt ein Betrunkener, vernimmt den Kanonendonner zur Feier der Einnahme von Paris und ruft aus: »Da hört ihr's, der Krieg ist vorbei, die Adlichen haben gesiegt.« Varnhagen erzählt die Anekdote, um beizufügen, der Kerl habe eigentlich die tiefste Staatseinsicht bewiesen. Denn immer sei in Deutschland nach allen großen Kriegen – vom Dreißigjährigen, zum Siebenjährigen, zu den Freiheitskriegen – die Aristokratie wieder mächtig geworden.

Das eben war es, was jenem Bild mit dem zu Tode getroffenen Wilddieb den Stachel verliehen hatte: In dem Mitleid mit dem armen Häscher war der Zorn wider das Adelsregiment gewesen.

In den Freiheitskriegen scheint das Verhältnis der Offiziere, in denen man doch noch großenteils Vertreter des Adelsstandes zu sehen hat, zu den Gemeinen durchaus gut gewesen zu sein. Philipp Veit schrieb im April 1813 an seine Mutter: »Nichts ist erfreulicher, als das Verhältnis der Offiziere zu den Gemeinen zu sehen und zu hören, mit welcher Liebe einer von dem andern spricht.« Vielleicht war auch dies mit eine Ursache dafür, daß das preußische Heer, just zur Zeit der Schlacht von Belle-Alliance, von Wellington, dem Hochtory, als republikanisch empfunden wurde, eine Auffassung, die sich, zumal in österreichischen Kreisen, bis tief in die Reaktionsepoche hinein erhalten hat. Nach den Freiheitskriegen aber trat der Umschwung bis zur Umkehrung ein. Man vergegenwärtige sich: Die Zeit lag nicht eben weit zurück, daß französische Emigranten aus stolzadligen Familien in Deutschland ihr Brot als Tanzlehrer, Pastetenbäcker, Köche, Friseure, Fechtmeister in bürgerlichen Kreisen gesucht hatten; der Nimbus der Vornehmheit, der Anspruch auf Dienstwilligkeit war damit geschwunden; die wirtschaftlichen Verhältnisse hatten sich mit nicht wegzuleugnender Deutlichkeit stärker als alle Vorrechte der Geburt erwiesen. Das mußte auch dem deutschen Adel bei einigem Nachdenken die Augen geöffnet haben. Nun aber nach den Freiheitskriegen glaubte der Adel, von den Fürsten darin unterstützt, seine Ansprüche erneut und in erhöhtem Maße geltend machen zu können. Eigene Sitze bei den Ständetagen; Patrimonialgerichte und gutsherrliche Polizei; uneingeschränkte Bevorzugung im Militär- und Zivildienst; Ausschluß der Bürgerlichen von den Höfen; vielfach Adelslogen in den Theatern; Adelkasinos; dazu erneute Mißachtung unstandesgemäßer Arbeit und der Mesalliancen mit einer »Demoiselle« –: stärker denn je machte sich nach den Freiheitskriegen der Adelshochmut auch im täglichen Verkehr, auch in der dienstlichen Begegnung mit Bürgerlichen fühlbar, – nur daß dies alles in ebendieser Epoche zwischen den Revolutionen bereits zu einem Spiel geworden war, das der Adel ohne rechtes Vertrauen auf sich selbst, das Bürgertum ohne sonderlichen Glauben an die vermeintlichen Vorzüge und Vorrechte des Gegenspielers fortsetzte; ein eingefrorenes Gewohnheitsspiel.

Ein in der geschichtlichen Entwicklung oft zu beobachtender Vorgang: Institutionen, aus denen der lebendige Geist gewichen ist, bestehen gleichsam durch die Schwere der Materie fort. Mit einem andern Bild: In lebendiger Landschaft ist auch Ruine.

Aus dem Gefühl des längst ergangenen Spruchs, gegen den man nur sehr aussichtslose Berufung einlegen könnte, spottete ein Pückler-Muskau: »Laßt dem armen ausgedienten Adel seine Poesie, das einzige, was ihm übrigbleibt. Ehrt das schwache Alter, Spartaner!«

Das Verhalten des Adels selbst in dieser Zeit zwischen den Revolutionen schildert Alexander v. Sternberg, einer von denen, die noch beobachten, während ihnen der Strick schon um den eignen Hals gelegt wird, in zwei Grenztypen, zwischen denen man sich denn die Fülle der Abschattierungen so oder anders vorstellen mag. Er weiß von einer ungarischen Gräfin, die vor dem Abteil I. Klasse steht und die, trotzdem ihr Reisegepäck, auch ihr Reisewagen, bereits in dem Zuge verstaut ist, ihre Dienerschaft Unterkunft gefunden hat, nicht zu bewegen ist, einzusteigen. Irgend etwas von Tabaksgeruch ist ihr aus dem Abteil entgegengeschlagen, trotzdem längst kein Raucher mehr darin weilt. »Wie?« ruft sie aus, »ich soll hier sitzen, und ich weiß nicht, wer da vorher gesessen? Ich ersticke vor Verdruß und Ekel! Ich will nach Hause, ich will nicht reisen.« Die Vollblutaristokratin, die mit der neuen demokratischen Errungenschaft der Eisenbahn nichts zu schaffen haben will: Zeitmumie, mit »trotzigem Gesichtchen, eisenfestem Stirnchen, flammendem Augenpaar«. Und anderseits ein alter preußischer Oberst, Aristokrat bis in die Fingerspitzen, der ein Nachtleben führt, nächtens auch seine Spaziergänge unternimmt. Es ist in den Tagen der Revolution. Mit einem tiefen Seufzer steckt sich der alte Herr eine riesengroße schwarzrotgoldene Kokarde an seinen Hut, und da Sternberg dergleichen zu tun sich weigert, verzichtet er auf dessen Begleitung.

Solche Unsicherheit in der Haltung, die vielleicht nichts als ein leichtes Nervenzucken in der Zeitphysiognomie bedeutet, ist, sei es in anderer Weise, auch in dem Bürgertum bemerkbar.

Man kann nicht sagen, daß sich das Bürgertum damals Freiheiten erkämpft hätte; der Ausdruck wäre unangebracht. Das Bürgertum hatte Karriere gemacht.

Ganz wesentlich für die Zeitphysiognomie, daß es seit 1803 in Deutschland, seit 1810 in Preußen nunmehr auch Orden für Bürgerliche gab. Weiteres Zeichen der gleichen Entwicklung, daß Bürgerliche den Subskriptionsbällen im Konzertsaal des Berliner Opernhauses beiwohnen durften, wo man gegen eine Eintrittsgebühr von einem Thaler 16 Groschen den Rundgang des Hofes mitansehn konnte – ein für damalige Geldverhältnisse sehr ansehnlicher Eintrittspreis –, von dem »König der Reichen« hatte Heine gesprochen. Charakteristisch auch, daß der hohe Beamte, zumal wenn er ein Adeliger war, sich damals gern sehr bürgerlich gab. Allen voran der Oberpräsident von Westfalen, der Freiherr Ludwig von Vincke, der, ein ganz hervorragender Verwaltungsbeamter, im blauen Kittel, den Knotenstock in der Hand, die Pfeife im Munde, seine Provinz zu durchwandern pflegte, den Bürgers- und Bauersmann glauben zu machen, er sei seines Standes und mit dem Kleid der Gleichheit, selbstverständlich an sich unvergleichbar, zu beglücken. Kein Zweifel, daß das Bürgertum Karriere gemacht hatte.

Es war zugleich zu einer uniformen Masse geworden, oder, da das Wort Schattierungen verwischt, anstatt ihnen Umriß zu geben: Die Gruppen im Bürgertum waren in ständige Bewegung zu- und durcheinander geraten, und das erregende Prinzip hieß Besitz, hieß Geld. Es ist die Zeit, da sich die großen Vermögen zu bilden, die vielen ins Proletariat hinabzugleiten beginnen. Im Jahre 1821 macht Rahel die Beobachtung, daß mit dem Ansehn des Adels auch das der Gelehrten geschwunden sei. Es sei allzu bekannt, daß eine Menge Leute gelehrter seien als die den Titel Doktor Führenden. Die Bildung breite sich aus. Und dafür hat Rahel den denkbar treffenden Ausdruck: Nicht vom Geist, vom Körper der Zeit müsse man in Hinblick auf solche Vorgänge sprechen. Und diese innere Entwicklung findet die äußere Beglaubigung; mehr als das; man greift zu dem Mittel, die bereits vorhandene Bewegung zu beschleunigen: Seit 1819 werden für das aufstrebende Bürgertum und in bewußtem Gegensatz zu der bislang allein anerkannten Gelehrtenbildung in Preußen Gewerbeschulen eingerichtet.

Die Mode trug das ihre dazu bei, die Standesunterschiede zu verwischen. Sie kleidete die gesamte Frauenwelt in den gleichen billigen Kattun, sie ersann sich die Konfektion, den teuren Schneider zu ersetzen. Nicht zufrieden damit, die Menschen einigermaßen gleich angezogen zu haben, öffnete sie ihnen auch die gleichen Vergnügungsstätten. Zumal die Berliner Konditoreien wurden wichtig für die Verwischung der Standesunterschiede: Hier saß der Adlige neben dem Kaufmann; hier las man die vielen ausländischen Zeitungen; hier diskutierte man fleißig demokratischen Geist.

Aber gerade weil das Bürgertum Karriere gemacht hatte, war es, nicht anders als der Adel, in seiner inneren Haltung unsicher geworden. Die »Faust«-Aufführung im Berliner Schauspielhaus (1838) »chokierte«. Man fand es sehr unanständig, in Gegenwart des Hofes das Flohlied mitanhören zu müssen. Höchst charakteristisch aber wird eine Beobachtung Varnhagens, der (1838) notiert, es werde gebräuchlich, daß eine Dame, die abends nicht allein über die Straße gehen wolle, sich von ihrer Magd abholen lasse; deren Ehrbarkeit also aufs Spiel setze, um die ihre zu wahren. So das Urteil des Moralisten. Der Gesellschaftspsychologe wird sagen: Das Bürgertum wollte sich vornehme Haltung geben, verfügte aber über die Mittel dazu nicht (Bedienter und Wagen), fand auch nicht den Stil.

Auch das nur wie leichtes Nervenzucken in der Zeitphysiognomie.

 

Es entsteht in dieser Epoche etwas, das man patriarchalische Demokratie nennen möchte.

Bezeichnend dafür werden zwei Geschichten: Caroline v. Humboldt erzählt (1816) von dem jungen preußischen Leutnant Plewe, der sich beim Könige zu melden hat und auf dessen Frage, wie es gehe, mit »Schlecht« antwortet und, dieserhalb weiter befragt, dem König auseinandersetzt, daß der Landmann gedrückt, das Versprochene nicht erfüllt, der Name des Herrschers mißbraucht werde. Das alles in militärischer Haltung, und der König hört es mit an. Und Dorothea Schlegel weiß von dem französischen Gefangenen, der, dem österreichischen Erzherzog vorgeführt, diesen beständig mit »Citoyen« anredet. Man macht ihm nachher deshalb nicht eben gelinde Vorwürfe, und er sagt: »Ich weiß, daß der Prinz nicht ›Citoyen‹ ist, aber ein armer Gefangener tut eben alles, um seinem Sieger zu schmeicheln.« Man vergegenwärtige sich die Gestalten, und sie werden zu grellfarbigen Figurinen auf dem Bilderbogen der Zeit.

Man befragt die Anekdote, die Zeitstimmung vor der herannahenden zweiten Revolution zu ergründen, und immer ist in ihrer Antwort der Hinweis auf diesen ganz eigentümlich patriarchalisch-demokratischen Geist. Wieder ist es zeitdeutend, daß eben damals das Bild des deutschen Michels in der Karikatur – er tauchte zuerst auf dem Titelblatt der Heidelberger Einsiedlerzeitung als Symbol des von den Romantikern bekämpften Philistertums auf – die bekannte Darstellungsweise des gutmütigen Trottels mit der Nachtmütze über den Ohren gewann.

Mit spitzem Griffel notierte Varnhagen, hämisch und bekümmert zugleich, und man hat bei ihm die Auswahl:

Zwei Bürger stehen vor einem Bildnisladen und betrachten die Porträts des verstorbenen und des regierenden Königs (1841): »Zwei selige Könige.« »Wie das?« »Der hochselige und der redselige.« – Es spuke in Sanssouci. Friedrich II. gehe dort ohne Kopf umher (1841). – »Wie kam in der Nacht vor dem Ordensfest Feuer aus auf dem Schlosse?« »Man hatte zuviel arme Ritter backen wollen.« Nach der Erörterung des sozial-ritterlichen »Schwanenordens« findet man an einem Portal des Gartens von Sanssouci den Anschlag: »Zum Schwanenwirt«. – Karikatur Friedrich Wilhelms IV.: Er hat in der Rechten ein Papier, worauf Order steht, in der Linken eins mit Konterorder, auf seiner Stirn liest man Désordre (1844). – Die Terrasse vor dem Schloß, wo die russischen Pferde stehn, wird vom Volkswitz »der Hengstenberg« (zu Unehren des Führers der Orthodox-Klerikalen) benannt. – »Man hat hier gleich den Witz gemacht, nun werde es an der Börse besser werden, da der König den Berlinern soviel ›vorschießen‹ lasse.«

Was will das alles besagen? Man nimmt sich selber in seinem demokratischen Aufbegehren nicht sonderlich ernst, sehr viel weniger aber den Träger der Regierungsgewalt; gutmütige Bosheiten, patriarchalische Demokratie.

Und aus dem gleichen Boden erwächst fast ausnahmelos die gesamte freiheitliche Kunstdichtung der vierziger Jahre. Sie deklamiert. Sie gefällt sich recht eigentlich in einer »Rolle«. Sie lebt des Vorrechts, daß ihr der Karl Sand, der Dilettant der Tat, ausbleibt. Sie endet füglich und aus tief innerlicher Bestimmung in der Audienz des Dichters Herwegh bei Friedrich Wilhelm IV., dem »Romantiker auf dem Throne der Cäsaren«.

So und nicht viel anders hatte eines Tages Gabriele von Bülow, Gattin des preußischen Gesandten am Londoner Hofe, dem König von England ihre Begeisterung für Verfassung vorgeschwärmt.

Freilich, es schrillen auch andere Töne hinein. Wenn bei dem Leichenbegängnis des Herzogs Karl von Mecklenburg-Strelitz in Berlin in den Straßen »Hurra« gerufen wird und das Wort laut wird: »Gott sei Dank, daß der Hund tot ist« (1837), so ist da wenig mehr von Patriarchalität zu spüren. Und wenn eben damals das Studentenlied den Vers gewinnt: »Wer die Wahrheit kennet und sagt sie frei, / Der kommt nach Berlin auf die Hausvogtei!« so scheint damit ein Fazit gezogen, das jede weitere Rechnung überflüssig macht.

Letzte Antwort hat hier die geschichtliche Entwicklung gesprochen.

 

Sehr viel wichtiger als die Revolutionsliteratur war die Volksdichtung geworden, die eben damals in den Märchen der Brüder Grimm und in »Des Knaben Wunderhorn« der Arnim und Brentano erneut zu Allgemeingut geworden war. Denn hier war Besitz, was dort gefordert wurde. Hier war Natur, was dort nur Deklamation. Hier war in Selbstverständlichkeit, was dort nur Wunschverlangen. In diesen Märchen gab es nur den König und das Volk. Herrschte Gottesgnadentum des Königs, so gedieh nicht minder Gottesgnadentum des Volks. Jede Erfüllung lag im Bereich der Hände. Nichts hinderte den linkischen Bauernbuben, Erbe des Throns zu werden, sofern er nur nicht gar zu abgeneigt war, die blondhaarige Prinzessin heimzuführen. Die aber miteinander auf den Thron zu sitzen kamen, die hatten füglich vorher miteinander die Gänse gehütet. Und nicht viel anders in dem Volkslied. Wer sich als Handwerksbursche auf die Wanderschaft begab, dem gehörte die Welt. Jugend war Glück; Arbeitstüchtigkeit fand höchsten Lohn. Und wo nur irgend das Abenteuer am Wege festhielt, da war auch Heimat.

Aus dem Mitleid war der demokratische Geist in Deutschland erstanden; er hatte sehr deutsches Aussehn gewonnen; er war gedanklich erstarkt; er war durch die Gassen getrommelt worden; er hatte deklamiert; ein Widerschein am Horizont hatte ihn nicht zur Ruhe kommen lassen –: Wichtiger als all das ist vielleicht, daß er, abseits jeder Forderung, im Bewußtsein aller derer, die zu gewinnen, wie derer, die zu verlieren hatten, zu einer Selbstverständlichkeit geworden war, die da am überzeugendsten zutage trat, wo zu jedweder Überredung Anlaß und Möglichkeit fehlte: in den bildenden Künsten.

Wenn Schinkel in dieser Zeit sein Museum baute, so war er sich sehr bewußt, der Allgemeinheit dadurch zuzuführen, was bislang ausschließlicher Besitz der wenigen gewesen war. Ein Heiligtum der Kunst fürs Volk, eine weltliche Andachtsstätte für alle zu schaffen, war ihm im Sinn; beeindruckte seine Phantasie; gebot seiner zeichnenden Hand. Wo er berufen war, in fürstlichen Palästen neue Gesellschaftsräume einzubauen, diktierte ihm der Begriff der neuen zwangloseren Geselligkeit. In den Sälen des Palais Prinz Albrecht (1829) verzichtete er deshalb grundsätzlich auf Säulenstellungen und auf stark ausladende Gliederung. Den heiteren, den anspruchsloseren Eindruck zu erzielen, rief er sich für die Wandflächen die Malerei zu Hilfe. Man erfährt aus seinen eigenen Aufzeichnungen, wie sehr es ihn innerlich beschäftigte, daß der Erbauer des Straßburger Münsters die Plattform weltlicher Vergnügung vorbehalten hatte, und schon ihm wurde der Anblick der gewaltigen Industriebauten in England (1826) zu einem künstlerischen Problem, das in eine demokratische Kunsterfassung hinüberwies. Er bereits erlebte innerlich die Fabrik als Raumaufgabe.

Nicht viel anders in der Malerei. Ludwig Richter hat einmal in seinen Tagebuchaufzeichnungen (1825) gescholten, daß eben dadurch, daß die Erwartungen des deutschen Volkes von den Fürsten nicht erfüllt worden seien, die deutsche Kunst entdeutscht worden sei – derselbe Ludwig Richter, den man den deutschesten der deutschen Maler genannt hat. Und wirklich! Sein Name bedeutet das Wiedererstehen der deutschen Volksdichtung in Zeichnung und Malerei. Wovon man sprach, dies Gottesgnadentum des Volks ist in seinen Bildern. Gänseliesel oder heimliche Prinzessin? – recht weiß man's nie. Man kann bei ihm von Innigkeit und Bescheidung sprechen, aber diese Innigkeit und Bescheidung ist zugleich gemütsrevolutionär.

Aus Mitleid geboren, erhielt der demokratische Geist in Deutschland auch apostolische Sendung. Dieser Zeit zwischen den Revolutionen ersteht das, was man Gemütsprotestantismus nennen möchte. Dabei ist es unwesentlich, daß er mindestens in dem Grade, in dem er sich gegen den Papst wendete, den Herrschern und herrschenden Klassen abhold war; sehr wichtig, wofür er protestierte: Für das Gottesgnadentum des Volks.

Das Merkwürdigste bleibt – und weil die Feststellung so überraschend, beruft man sich nicht ungern auf Ludwig Justis bis auf die wörtliche Bezeichnung übereinstimmenden Eindruck: Caspar David Friedrich, der gedanklichste der deutschen Maler, hat »demokratische Bäume« gemalt.

Man findet sie vornehmlich auf zwei Gemälden, die in der Berliner Nationalgalerie hängen, dem Bild des verschneiten Friedhofs und der Harzlandschaft. Es sind Eichen. Sie sind der Krone beraubt. Gedrungen, knorrig, mächtig die Stämme, aber das Gezweig verkümmert. Bäume, denen man es ansieht, daß sie hart um ihren Bestand haben ringen müssen, allen Wetterunbilden ausgesetzt waren, nicht zu ihrem Baumrecht kamen. Unschöne Bäume, wenn man so will, Baumproletarier. Aber sie zeugen von gesteigerter Kraft. Predigen das Gottesgnadentum der Unterdrückten. Zeugen für einen Schöpfer, der am härtesten züchtigt, wo er am reichsten liebt.

Und damit steht man am Ende. Der Kreislauf ist beschlossen. Aus Mitleid entsprungen, hat der demokratische Geist in Deutschland zu jenem Gnadentum heimgefunden, das über der Gewalt der Fürsten ist; vom »König der Reichen« zum König der Armen.

Noch wird man sich dieser demokratischen Bäume in anderem Sinne bewußt bleiben müssen. Diese Zeit zwischen den Revolutionen schuf sich im Baum ihr Symbol.


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