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Das Goethe-Erlebnis

Es ist im Jahre 1823. Wilhelm von Humboldt hat Goethe in Weimar aufgesucht und ihn arg leidend angetroffen. Goethe gibt ihm die Marienbader Elegie, in die bislang noch niemand Einblick nehmen durfte, in seiner eigenen Handschrift, »sehr zierlich und sorgfältig äußerlich in Band und Papier behandelt«. Humboldt liest, er ist nicht nur entzückt, sondern über alles Beschreiben erstaunt. Das Gedicht scheint ihm nicht nur das Schönste, was Goethe je gedichtet, zu erreichen, sondern vielleicht zu übertreffen. Schließlich kommt es zum Abschiednehmen, und Goethe liegt nun doch arg danieder. Da, im Schmerz des Voneinandergehens, küßt ihn Humboldt auf die Stirn. »Ich kann nicht leugnen, daß ich mit wahrer Wehmut von ihm geschieden bin. Ich habe seine noch immer sehr schöne Stirn, die so das Bild seines freien, weiten, unbegrenzten Geistes entfaltet, mehrere Male, da er eben saß und ich ihn nicht aufstehen lassen wollte, geküßt, und ich zweifle, daß ich ihn je wiedersehe. Es geht unendlich viel mit ihm dahin, meinem Glauben nach mehr, als je wieder in deutscher Sprache aufstehen wird.« Der Humboldt, der dies geschrieben, ist nicht mehr preußischer Gesandter in Paris oder in London, es ist, als wäre er, sich also niederbeugend und Goethes Stirn küssend, akkreditierter Gesandter der Zeit bei einem der Zeitlosen.

Dieser Epoche zwischen den Revolutionen wird Goethe zu lebendiger Erfahrung. Das geschieht, wie es denn nicht anders sein kann, im heftigen Widerstreit der Meinungen, im Kampf. Auch hier erwirbt sich Krieg in verzweifelt angefochtener Eroberung Besitz.

In seiner »Romantischen Schule« hat Heine, als Mitbeteiligter, die Tragikomödie des Kampfes um Goethe geschildert, ein leidvoll Spottender. Den Nachgeborenen muß es gegeben sein, über die Arena und die Steinwürfe der darin Kämpfenden hinaus, den Horizont der Zeit – in solcher Sonnendämmerung – zu ermessen.

In bewunderungswürdig klarer Einsicht hat Heine bereits erkannt, daß das 18. Jahrhundert als solches zur künstlerischen und menschlichen Erscheinung Goethes kaum Stellung gewonnen hatte. Für »Götz von Berlichingen« hatte sich eine vaterländisch gesinnte, für »Werther« eine empfindsame Jugend begeistert, aber man hatte den »Götz« doch nur hingenommen als einen der vielen dramatisierten Ritterromane der Zeit, man hatte über dem »Werther« geschwärmt und die Berechtigung des Selbstmords erörtert – für die künstlerische Vollendung der Stoffgestaltung, diese Wahrheit über die Wirklichkeit hinaus, diese seelische Klanggebung, hatte man kaum Empfindung und Sinn besessen. Und dann hatte Goethe geschwiegen, oder war doch den vielen ungehört geblieben, und Wieland hatte dem breiten Lesepublikum laut und spannend, ergötzend und belehrend erzählt.

Der suchenden, seelisch beeindruckbaren, für zarte Schwingungen empfänglichen Zeit zwischen den Revolutionen erwuchs der Kampf um Goethe, auch darin hatte Heine recht gesehen, aus scheinbar zufälligem Anlaß. Den bot das Erscheinen der untergeschobenen Fortsetzung des »Wilhelm Meister«, jener »Wanderjahre« (1821), die den Pastor Pustkuchen zum seelsorgerisch beflissenen Verfasser hatten. Die falschen »Wanderjahre« machten Aufsehn, durch sie wurde die Streitfrage ins breite Publikum geworfen, wer denn nun eigentlich größer sei, Schiller oder Goethe?, eine Fragestellung, wie eingeboren in dies Deutschland der Vielstaaterei und der Zollschikanen.

Solcherart das Signal zum Kampf. Alsbald marschierten drei getrennte Heerhaufen mit wildem Getümmel wider Goethe auf: Jene Romantiker, die zum Katholizismus übergetreten waren; die protestantische Orthodoxie; das revolutionär gestimmte Jungdeutschland. Die beiden ersten Gruppen unter dem geeinten Heerruf wider den »Heiden«; die letztere wider den »Fürstenknecht«. Einer, der eine Zeitlang mitgetan hatte, derselbe, der die Tragikomödie dieses doch sehr notwendigen Kampfes geschrieben, Heinrich Heine, unter dem bitteren Bekenntnis: »Aus Neid.«

Das Verständnis für Goethe als künstlerische Persönlichkeit war im Kreise der Jenenser Romantik erstanden. Goethe hatte diese jungen Leute, in seiner Art und Abstand wahrend, zu sich herangezogen, hatte sie nachher, als ihre Religiosität aufdringlich wurde, recht unsanft von sich abgeschüttelt. Innerhalb der Romantik nun war das zentrale Goetheproblem von allem Anfang an der »Wilhelm Meister« gewesen. Im »Wilhelm Meister« hatte man die Kunst der Menschen- und Schicksalsgestaltung bis in die Tiefe erfaßt, den Roman als solchen aber – eben aus romantischer Lebensschau heraus – als »Candide gegen die Poesie« (Novalis) empfunden. War Dorothea Schlegel dazu ausersehn, der späteren katholisierenden Richtung innerhalb der Romantik die geistig-geistliche Munition in dem Kampf wider Goethe zu liefern, so ist ihre Stellungnahme von vornherein durch eine Tagebuchaufzeichnung über den »Meister« gekennzeichnet, in der sie das Buch als meist verehrtes, immer wieder gelesenes bezeichnet – das ihrer innersten Natur dennoch so gerade entgegengesetzt sei, daß sie nur sagen könne, sie verstehe es nicht. Und Goethe selber mache ihr denselben Eindruck wie der »Meister«. Die sich solcherart äußert, ist aber noch die unerlöste Dorothee. Die in den Schoß der Kirche Aufnahme Begehrende gibt bereits 1805 das Stichwort vom »sächsisch-weimarischen Heidentum« aus. Im weiteren Verlauf ihrer Entwicklung wird Goethe zu dem, der (1813) vorm äußeren Feinde flüchtet, um seine ganze Seele dem inneren Feinde preiszugeben; zum »alten kindischen Mann« (1816), »platt und bierbrudergemein«. Zum Teil spricht selbstverständlich auch hier der Neid, wenn auch nicht ein Aufbegehren in Dorothee selbst, sondern ihr Hochgefühl für Friedrich Schlegel den Giftstoff lieferte. Immerhin, von solchen Invektiven zu Brentanos Briefsatz an Luise Hensel: »Du willst dem Leben seine Sinnlichkeit nicht gönnen: – versage sie Dir, dann hast Du mehr getan, als alle Goethes geschadet haben«, ist der Weg noch weit. Denn aus Brentanos Worten spricht ein Unverstand, herausfordernd und zugleich lähmend, spricht mit heiserer und gespenstischer Stimme der geistige Tod.

Wortführer der Protestantisch-Orthodoxen in der Fehde wider Goethe war jener Hengstenberg, der wie jedwedes auch dieses geistige Prinzip in seiner »protestantischen Kirchenzeitung« zu bekämpfen berufen war, und dessen Name, in solcher Verbindung wieder auftauchend, nun freilich die Erinnerung an den Berliner Volkswitz von der Rampe am Königlichen Schloß mit den darin untergebrachten russischen Pferden, diesen anderen »Hengstenberg«, heraufbeschwört. Diesem Hengstenberg nun entstand, aus etwas anderer, doch verwandter, man kann füglich nicht sagen »geistiger« Provenienz in Wolfgang Menzel der Mitstreiter, einem Mann, der aus den dunklen Revieren des »Deutschtums« kam und zeitlebens darin verharrte. Wolfgang Menzel wird in seiner Fehde wider Goethe von Heine ein Aufwand an Esprit zugestanden, der eines besseren Zwecks wert gewesen wäre. Habe Friedrich Schlegel gemeint, daß »Goethes Poesie keinen Mittelpunkt habe«, so sei Herr Menzel noch weiter gegangen und habe gezeigt, daß Goethe kein Genie sei, sondern nur ein Talent, und habe Schiller als Gegensatz dazu gerühmt – womit man denn wieder bei Pustkuchen, dem Zollhaus und den Beamtenschikanen angelangt wäre.

Dazu die Fronde des »Jungen Deutschland« wider den Fürstenknecht. Wortführer wird hier Börne. Er schreibt einmal (1819) im vertraulichen Brief: »Seine Bilder kalt wie Marmor, seine Empfindung nur künstlerisch, so vornehm lächelnd, so herablassend zu den Gefühlen unserer niederen Brust! Ich habe ihn nie leiden können. In seinem ›Werther‹ hat er sich ausgeliebt, abgebrannt, zum Bettler geschrieben.« Im »Tasso« findet er den ganzen Goethe »mit aller seiner Größe und aller seiner Niedrigkeit«. »Nur künstlerisch« –: daß es darüber hinaus keine Steigerung gebe, weder im ethischen noch im vaterländischen Sinne, sondern nur eben ein Darunterzurück, das mußte bereits Heine dem Mitkämpfer aus leichtsinnigeren Jugendtagen, als es ihm ums Wesen der Kunst ernst geworden war, ankreiden.

So viele Stimmen, so viele Torheiten, scheint es. Und dennoch: all diese schwächlichen Zwiste stammten aus starken Charaktergegensätzen – Kampf war erforderlich, um den melodischen Frieden Goethes dieser Zeit zu sichern. Mit der Erkenntnis solcher Notwendigkeit erhellt sich der Horizont.

In seiner Selbstbiographie spricht Grillparzer von dem Goethe, der sich von der Poesie ab- und den Wissenschaften zugewendet habe und dessen Hervorbringungen, da er seine Wärme in zu viele Richtungen verteilt habe, lau oder kühl oder, der Antike zugewendet, manieriert geworden seien. Er habe der damaligen Zeit Empfindungsmattigkeit mitgeteilt. Und Charlotte Stieglitz notiert einmal in ihr Tagebuch, Goethe stehe in seiner letzten Periode dem Publikum wie ein absoluter König gegenüber. Keine Kammern. Jean Paul und Schiller seien durch Herzenskammern mit dem Volk vereint. – Und das ist derselbe Grillparzer, der wie ein Kind in Tränen ausbricht, als ihn Goethe bei der Hand nimmt, um ihn in sein Eßzimmer zu führen; dies dieselbe Charlotte Stieglitz, die schon in jungen Tagen den Versuch gemacht hatte, der Ottilie und dem Eduard der »Wahlverwandtschaften« durch Nahrungsverweigerung nachzusterben.

Und damit begreift man: Literatur ist ein ewig Junges, das sich in seinen Zielen, Forderungen und Widerständen nicht nur mit jeder Generation, auch mit jeder geschichtlichen Wendung, auch mit den Temperaturschwankungen der Stimmungsbildung immer wieder, und im Gegensatz zum eben Dagewesenen, erneut. So auch damals. Und dieser Literatur des Tages gegenüber, sie in Firnenhöhe überragend, scheinbar erstarrt, dem Wandel trotzend, unerreicht und unerreichbar, gebietend und in dem Gebot lähmend: Goethe. Es mußte Kampf sein. So nur begreift man, daß selbst ein Gervinus, der gewiß künstlerisch Einsichtigen einer, aus dem Gefühl für die lebendige Literatur des sich wandelnden Tages heraus die Grenzlinie zwischen dem jungen und dem alten Goethe ziehen mußte, daß ihm der junge, schon als ein in Entwicklung Befindlicher, näherstand; daß auch bei ihm Klage um den gealterten Goethe war. Goethe war dieser Zeit zu einer harten und schweren Aufgabe gesetzt. Sie hat sie sich gelöst.

Indem sie die Lösung erzwang, fand sie tiefer in ihr eigenes Innere hinein. Schuf sie sich seelisch Stil.

 

Man erlebt es mit Philipp Otto Runge, dem Maler der Romantik, daß er sich aus seiner, eben damals neuerstandenen Religiosität heraus zu Goethe in Widerspruch setzt und namentlich am »Faust« und dem vermeintlichen Pochen auf die menschliche Kraft Anstoß nimmt; dann (1803) Goethe persönlich kennenlernt, sich Blick in Blick mit ihm mißt; und schließlich, nicht zum wenigsten durch die »Farbenlehre«, ganz in den Bann gerät – ein Schicksal, das viele der Namenlosen so oder anders auch an sich erfahren haben mögen. Der am Zeithorizont befremdend, unzugänglich, graniten aufragte, erwies sich nun doch als Magnetberg. Wenn Fanny Mendelssohn einmal (1828) schreibt: »Dieser ist bestimmt, das Los eines Menschen nach jeder Richtung hin aufs vollkommenste zu erfüllen, und da er nicht vor dem ›Werther‹ gestorben ist, kann ihm das höchste mögliche Alter nicht entgehen« – so fühlt man: Goethe ist hier bereits als ein geistig Organisches in schicksalhafter Bedingtheit begriffen. Ein Darüberhinaus gibt es kaum noch. Es bilden sich zugleich kleine Goethezirkel, zumal unter den Wissenschaftlern der Berliner Universität, in denen das Werk Goethes andächtig aufgenommen wird, und von den Grimm und Savigny zu den Schelling und Hegel ist Weitergeben treu gehüteter Tradition. Der verständige Alexander von der Marwitz erkennt in Goethes Prosaaufsätzen bereits höchste Muster des Stils, er hat das Gefühl dafür, daß hier jedes Wort organisch von Geist und Bildung durchdrungen sei, ein Varnhagen steht auf und jagt die Toren heim, die da vermeinen, es einem Goethe an Vaterlandsgefühl zuvortun zu können: »In seiner Brust war alle Freiheit Germaniens früh versammelt und wurde hier, zu unser aller nie genug erkanntem Frommen, das Muster, das Beispiel, der Stamm unserer Bildung. In dem Schatten dieses Baumes wandeln wir alle.« Damit aber steht man bereits in dem Kreis um Rahel.

Dieser Zeit ist ein Altar der Goetheverehrung bestellt. Wer andächtigen Sinnes naht, ist hier willkommen. Die Flamme der Begeisterung aber brennt recht eigentlich aus Rahels Herzen heraus.

Wenn man von Rahels seelischer Beziehung zu Goethe redet, dann spricht man von dem Liebesvermögen der Frau im tiefsten Sinne. Man deutet auf ein Organisches, das, die Persönlichkeit erfüllend, sie bodenständig macht; von dem alle Wurzeltriebe ausgehn und alles Erreichbare umklammern. In dieser seelischen Hingabe ist unendlich viel Scham; auch körperliche. Der schwärmerischen Bettina gegenüber tut sie gelegentlich, als kenne sie Goethe gar nicht; sie kann nicht anders. Nachdem sie ihm persönlich begegnet ist, ist's ihr, als habe sie ihre Unschuld ihm gegenüber verloren. Es ist ihr zuwider, denken zu müssen, er werde von ihr bekrochen und besponnen, wie eine edle, reine Pflanze von Gespinst und Würmern. Sie fühlt sich anderseits ihm so verschmolzen, daß sie in seinen Worten empfindet. Scham verbietet ihr, ihm zu sagen, was er ihr sei; und dann ist wieder ein Respekt in ihr, der die Scham scheucht und sie zu Bekenntnis zwingt. Erotik der Seele. Die ist so allumfassend, daß sie ihn einmal ihren »Schutz der Erde« nennt; so zeitgebietend, daß der Plan, an jedem wiederkehrenden 18. Oktober überall in Deutschland ein Werk von ihm auf den Bühnen zur Aufführung zu bringen, sie in Tränen ausbrechen läßt und sie in ihm den erkennt, der Geschichte im geistigen Sinne macht: Weil sie ihr Volk umbilden, murre das Rohe im Volke gegen die Moses, Sokrates, Goethe. – Wie nur irgend jemand hat Rahel in Goethe die Allsendung der Kunst begriffen, er ist ihr der »künstlerischste Deutsche«.

So groß die Liebe, so eiferfreudig ihr Tun. Rahel hat es sich zur Lebensaufgabe, zur ausschließlichen, gesetzt, für ihre Wahrheit – und Goethe war ihre Wahrheit – Jünger zu werben.

Und nun gibt es einen Tag (1822), da sie aufjubelt und fühlt, »ich hab' meine Sache nicht mehr auf nichts gestellt«. Eine Nachricht in »Kunst und Altertum« gibt ihr die Gewißheit. »Daß dieser Mann erlebe von seinen Zeitgenossen, daß er vergöttert, anerkannt, studiert, begriffen, mit dem einsichtigsten Herzen geliebt würde, war der Gipfel all meiner Erdenwünsche und Kommission!« Und das ist ihr besondere Freude, daß dieser Triumph von Berlin ausgehe, dieser Stadt, von der Er häßlich berührt wurde und die doch – sie spricht's in dankbarer Erinnerung an Friedrich den Zweiten – die beste deutsche Stadt sei.

Soviel ist sicher: In der schweren Aufgabe, den auf der Zeit lastenden Goethe zu begreifen, war der protestantischen Hauptstadt die entscheidende Arbeitsleistung zugewiesen.

 

Wenn angesichts dieser Zeit von einem Goethe-Erlebnis zu sprechen ist – worin bestand es?

In einem Brief von Wilhelm von Humboldt aus dem Jahre 1804 finden sich die Worte: »Aber ich habe mich für das ganze Leben in dem Hange bestärkt, in tiefer Stille, was ich liebe, die Natur und mich selbst zu genießen und daraus eine solche Ruhe zu schöpfen, daß das mancherlei fremdartige, was jeder im Leben und immerfort tun muß, mich nie mißmutig oder gar bitter macht. Das Leben leicht tragen und tief genießen, ist ja doch die Summe aller Weisheit.« Das ist ohne allen Bezug auf Goethe gesagt und drückt doch, scheint es, auf ein leicht Faßliches zurückgeführt, das aus, was Goethe dieser Zeit zu geben hatte.

Welches ist denn unser, der Nachgeborenen, Eindruck von dieser Epoche? Man geht durch stillere Straßen, und es ist wie ein Ertönen leiser und beschwingter Weisen hinter geschlossenen Fenstern.

Und das eben ist Goethe letzthin, und das brachte er der Zeit: Ein Hörbarwerden des seelischen Klanges. Und diese Saiten im Innern sind eingestimmt auf die Körperlichkeit des Menschen, auf sein Tun und Lassen, auf die Umgebung, auf die Landschaft, auf das All. Jede seiner Gestalten wird diesem Dichter gleich wichtig, denn sie bedeuten alle Töne, unentbehrlich jeder für die Harmonie des Werks. Und hinter jedem Menschen, ja hinter jedem Wort ist Stille, wie Ewigkeit hinter Zeit. So wird durch jede Leidenschaft die Ruhe fühlbar, aus jeder zeitlichen Bedingtheit das sichere Fortschreiten der Geschichte, aus jedem Baum im Park das unbeirrte Atmen der Natur. Indem die Zeit zu Goethe fand, besann sie sich auf ihre eigene Melodie. Zwischen den Revolutionen, bei fortzitternder Erregung, bei Kriegsunbilden und sozialen Gefährnissen, bei umgestaltenden Entdeckungen und wirtschaftlichen Nöten eine seelische Beschwingtheit auf dem Urgrund tiefer Stille: das ist der Stil der Zeit, ist der Zug aus Goethes Wesenheit und Werk, der wirksam wurde.

In solcher Weise brauchte die Zeit in ihrer Jugendlichkeit den Alten. Der Widerschein aus seinem Werk wurde Regenbogen an ihrem Himmel.

Farben sind Töne. Man denkt der Worte aus dem »Prolog im Himmel«: »Die Sonne tönt, nach alter Weise, / In Brudersphären Wettgesang, / Und ihre vorgeschriebne Reise / Vollendet sie mit Donnergang.« – »Doch deine Boten, Herr, verehren / Das sanfte Wandeln deines Tags.«

 

Fürst Pückler-Muskau, der nicht selten überraschenden Tiefblick erwiesen hat, schreibt einmal: »So wie es die Bedingung von Goethes Zeit war, durch Poesie dem Leben einen höheren Schwung, eine höhere Bedeutung zu geben, so scheint den jetzigen Zeitmoment die bildende Kunst herauszufordern, alles, was sich für idealische Ausbildung erschwingen läßt, für sie zu verwenden.« Das ist ausdrücklich im Hinblick auf Schinkel gesagt.

Es ist zutreffend. Der inneren Goethewelt hat Schinkel das ihrer Musikalität entsprechende Haus gebaut. Es ist wie Zeitsymbol, daß Schinkels Berliner Schauspielhaus mit einem Prolog von Goethe eröffnet wurde. Darin hieß es: Er hat »das Ebenmaß bedächtig abgezollt, daß ihr euch selbst geregelt fühlen sollt«. Schinkels antike Baugesinnung ist mit Recht als Bekenntnis zum Dichter der »Iphigenie« bezeichnet worden.

Man liest in August Grisebachs Schinkelbiographie in Hinblick auf die Berliner Bauakademie, es komme »jenes Streben nach einem Ideal zum Ausdruck, das in der Geistesgeschichte der Epoche eine bedeutsame Rolle spielt: der Vermählung des Heidnischen und Christlichen, des Hellenischen und Vaterländischen, des klassischen und Romantischen«. Man kann es kürzer und dennoch erschöpfend zusammenfassen und es das Goethe-Erlebnis nennen.

Denn von Schinkel ist diese Synthese organisch empfunden worden. Sehr bezeichnend, daß er einmal notiert: »Das Gotische in der Architektur ist unbestimmt anregend, daher weiblich. Das Griechische männlich.« Es handelt sich hier nicht um ein äußerliches Von-Goethe-Übernehmen, sondern um die berufene Verlebendigung der Goetheschen Sendung in einer andern Kunst.

Durchaus als lebendiges Fortwirken in Aufnahme und Schaffen ist das »Goethe-Erlebnis« für diese Zeit zu begreifen. Selbst wenn eine Charlotte Stieglitz sich vermaß, der Ottilie und dem Eduard der »Wahlverwandtschaften« nachzusterben, so entsprach sie damit nur einem Lebensimpuls der Zeit. Denn Tod ist auch hier nichts als Antwort auf die Frage des Lebens.

Die Antwort aber lautet –?


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