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Die Frage der Zeit

Zeit ist ein Unbegriffnes, und wahrscheinlich, höherem Ratschluß zufolge, Unbegreifbares.

Doch hat man eine Vorstellung von Zeit, die dann zuweilen in eine lebendige Empfindung übergeht. Auf einer Reise, etwa in der Hauptstadt eines fremden Landes, mag man es erfahren, daß man durch die Räume eines Museums geht – man kennt die Namen der Maler nicht, weiß nichts von ihrem Werk – aber in irgendeinem Saale hat man die Gewißheit: diese Landschaften, diese Bildnisse mit gerade diesem Gesichtsausdruck können nur in einem nicht zu verkennenden Jahrzehnt entstanden sein. Es ist denn auch kein Zufall, wenn aus der Zeit, die hier begriffen werden soll, es gerade die Stimme eines Malers ist, die vernehmbar wird und erklärt: »Die Arten der gewählten Darstellungen oder das Darstellungsvermögen im Gebiete der bildenden Kunst scheint in gewissen Zeitabschnitten sich sehr deutlich und deutsch auszusprechen, sowohl in der Verschiedenheit der geistigen Richtung als in der Verschiedenheit der praktischen Ausführung. Selbst die Art, Gewänder zu zeichnen, die Art, alles hart oder alles weich und verblassend zu sehen, oder es doch zu machen; oder alles flach oder alles rund zu sehen. Oder auch luftperspektiv entweder gar nicht beachtet, oder zu stark bezeichnet. Auch in der Ferne entweder alles übertrieben braun oder blau oder violett oder grün zu sehen. Diese Wahrnehmungen, so sonderbar, ja lächerlich sie auch klingen mögen, sprechen für die Meinung: die Menschen sind nicht so frei über Zeit und Ort erhoben, als es viele glauben.«

Und dieser selbe Abseitige und Einsame, in seiner Seele Landschaft Suchende, der Maler Caspar David Friedrich, der diese Worte in seinen »Bekenntnissen« niederschrieb, rätselte auch an dem Begriff der Zeit: »Wer aber regiert mit unsichtbarer Hand die Richtung der Zeit und lenket den Sinn so vieler auf ein Ziel, bald hierhin, bald dorthin? Mehr als ein bloßer Zufall ist es doch wohl? Ich spreche zwar hier von unbedeutenden Dingen; aber dieselbe unsichtbare Hand leitet vielleicht auch nach selben Gesetzen die größeren Weltbegebenheiten.«

 

Kultur der Schinkelzeit: Das weist auf den deutschen Norden und vergegenwärtigt ein Erstarken protestantischen Empfindungslebens, und aus ihm heraus eine Daseinsregelung, eine Alltagseinpassung, einen künstlerischen Stil. Man wird aber auch auf den katholischen Süden hören müssen, um zu der Oberstimme die Unterstimme zu erhorchen, und Wien wird sprechen, Berlin zu deuten.

Kultur der Schinkelzeit: Eine Spanne weltweiten Geschehens bei heimatlicher Enge; äußerer Not bei innerem Reichtum; künstlerischer Großtat bei handwerklicher Beflissenheit. Was aber den Betrachter mit einer Wehmut erfüllt, aus der ein Sehnen aufsteigt; was wie Abendrot – und es verglüht nicht – über der seelischen Landschaft dieser Jahrzehnte zu trösten scheint, ist doch die Empfindung: es war die letzte »organische« Zeit, von der wir wissen.

Noch immer ist sie uns – und es ist, als wollten wir sie damit freundlicher beschwören – die Zeit unserer Großväter, unserer Großmütter geblieben. Noch immer sitzt für uns hinter dem Fenster dieser Zeit und hinter den weißen Gardinen die alte Frau, und ihr Haar ist dicht, ob auch ergraut, sie liest in einem Buch, das wir alle kennen, und um sie ist Friede. Wir sehen diese Zeit in der Patina, die sie für unseren Blick angesetzt hat, und deren weiches Grün zaubert uns ein Idyll. Man wird aber erkennen, daß hier, wie nur irgendwann, Kampf gewesen ist, und daß hier wie stets Vergangenheit der Gegenwart lügt.

Kultur der Schinkelzeit: Immer ist Zeit in Ewigkeit und Ewigkeit in Zeit. Man ist sich dessen auch bewußt, daß Zeit irgendwie abzugrenzen immer ein Notbehelf bleibt; muß das aber schon geschehen, so wird man nicht etwa die Lebensdaten Schinkels (1781-1841), sondern die Jahre 1789 und 1848 zu Grenzmarken setzen. Und damit steht dies Halbjahrhundert zwischen zwei Revolutionen. Man wird im neptunischen Wellengang die vulkanische Eruption erkennen (Napoleon und sein Reich) und wie sie wieder in den Fluten versinkt – soweit, was je lebendig war, zu sterben vermag.

 

Man hört auf die Stimmen der in diesen Jahresläuften Lebenden, um zu erfassen, was ihnen ihre Epoche bedeutete.

Dorothea Schlegel empfindet diese Zeit (1808) als eine geheimnisreiche, ahndungsvolle, vorbereitende«, und Rahel schilt sie (1811) als die »des sich selbst ins Unendliche bis zum Schwindel bespiegelnden Bewußtseins«; damit sind gleichsam zwei Warten gestellt; die eine erschließt den Blick in Himmel und Wolken, die andere ins Menschengetriebe.

Damals (1814) erschien Karl Friedrich von Savignys Schrift »Über den Beruf unserer Zeit zur Gesetzgebung«, und der wesentliche Gedanke, den er darin durchführte, war, nachzuweisen, wie sehr Kraft und Wille des einzelnen an das Maß der Begabung seines Zeitalters gebunden sei und daß jeder Kulturfortschritt mit Kultureinbuße verbunden sein müsse. Rahel aber hatte schon 1812 geschrieben: »Wissen Sie, was ich bemerke, woraus großenteils das Unglück der Zeiten besteht? Daß eine immer in die andere greift, und nicht die neue in die alte, sondern die alte noch in die neue.«

Goethe, in dessen Blickeinstellung bei selbstherrlicher Persönlichkeitswahrung immer ein Höchstmaß an Objektivität ist, zieh die Epoche zehn Jahre später (1825), daß eine mittlere Kultur gemein werde; dahin strebten, seiner Auffassung nach, die Bibelgesellschaften, die Lancasterische Lehrmethode und was nicht alles; auch mißfiel ihm, daß alles jetzt »ultra« sei, alles transzendiere unaufhaltsam, im Denken wie im Tun.

Dazu die Stimmen der Mißvergnügten, der allzu jungen Bettina, des allzufrüh gealterten Grillparzer und des einigermaßen depossedierten Pückler-Muskau. Bettina, das Kind, sprach (1806) von einer Zeit der Ebbe, weil keine tiefere Erkenntnis, kein reiner Wille, den eigenen Geist zu steigern, sie treibe. Grillparzer, der Greis, glaubte (1822) eine Abnahme an Phantasie bei doktrinären und demagogischen Bestrebungen, der alle Kunst töte, feststellen zu können, nannte die Nation (1848) wetterwendisch und in ihren Überzeugungen unklar, und Pückler-Muskau meinte, der Zeitgeist gehe wahrlich in Siebenmeilenstiefeln, weil – der Fürst selber nur noch »Hintersassen«, aber keine »Untertanen« mehr hatte. Daneben klingt Ernst Moritz Arndts Ausspruch wie gefestigtes Manneswort; er ist sich bewußt, in einer Zeit geistiger und politischer Umwälzungen und Bewegungen zu stehen, mit welcher wenige frühere Zeiten verglichen werden könnten (gesprochen ist das vor den Befreiungskriegen); auch begrabe die Zeit die eigenen Geburten so schnell, daß heute vergessen sei, was gestern gewesen.

Einer, dem es nicht vergönnt wurde, sich mit Taten ins Buch der Geschichte einzuschreiben, dem es vorbestimmt war, als Sechsundzwanzigjähriger 1814 bei Montmirail zu fallen, dem denn nun aber freilich eine seltene Beobachtungsfähigkeit, mit Ahnungskraft verschwistert, gegeben war, Alexander v. d. Marwitz, schrieb etwa ein Jahr vor seinem Tode: »Es ist eine wunderliche und wirklich mystische Zeit, in der wir leben. Was sich den Sinnen zeigt, ist kraftlos, unfähig, ja heillos verdorben, aber es fahren Blitze durch die Gemüter, es geschehen Vorbedeutungen, es wandeln Gedanken durch die Zeit und zeigen sich wie Gespenster in mystischen Augenblicken dem tieferen Sinn, die auf eine plötzliche Umwandlung, auf eine Revolution aller Dinge deuten, wo alles Frühere so verschwunden sein wird wie eine im Erdbeben untergegangene Erde, während die Vulkane unter entsetzlichem Ruin eine neue, frische emporheben. Und der Mittelpunkt dieser Umgestaltung wird doch Deutschland sein mit seinem großen Bewußtsein, seinem noch fähigen und grade jetzt keimenden Herzen; seiner sonderbaren Jugend (ich meine die physische, unser junges Volk).«

Tiefer, scheint es, läßt sich diese Zeit in der Tat kaum begreifen. Denn beides ist in den Worten des Fünfundzwanzigjährigen, der Blick für die Kleinheit der Menschen, die Ahnung von der Größe des Geschehens. Und das ist vielleicht immer so: die Menschen bleiben, die sie waren. Es ist aber ein Schicksal und ein Wille in solcher Zeit, die ruft sie auf und braucht sie, wie sie sind.

 

Wenn es wahr ist – und das trifft gewißlich zu – daß es dieser Zeit vergönnt war, ihren Lebenswillen in allen Äußerlichkeiten des Wohnens, Wirkens, Verkehrs zu eigenartigem Ausdruck zu bringen; sie ihr seelisches Empfinden in Einklang damit versetzte; sie ihr Schicksal in entsprechendem Verstehen auf sich nahm; sie ihre Gemütsregungen in der Landschaft wiedererkannte, die Antwort auf Daseinsfragen im Tode fand; sie demgemäß »Stil« im hohen Sinne besaß und ihn schöpferisch betätigte: – dann ist es auch wahrscheinlich, daß sie sich selbst ihren Mythos schuf.

Wenn es gelingen könnte, den Mythos dieser Zeitenspanne zu erspüren, dürfte man sich getrösten, von der lebendigen Seele der Kultur der Schinkelzeit berührt worden zu sein.

 

Es fällt auf, daß dieser Zeit eine neue Märchenfigur entsteht, und das ist die Lorelei. Sie taucht in Brentanos Rheinmärchen auf und ist dort die Tochter der Phantasie, die sie mit einem schönen Jüngling, dem Widerhall, den sie in einem Felsen sitzend fand, erzeugte. Die Lorelei ist Hüterin des Rheinhorts, und wenn sie ein lautes Wort hört, oder ein Schiffer einen Schrei tut, so erschallt das Geschrei siebenfach, zum Zeichen ihrer Wachsamkeit. Bei ihrem Eintritt in die Dichtung der Zeit ist die Lorelei also nichts als das Echo, das in bestimmter Rheingegend vernehmbar wird. Aber die Lorelei kehrt in Brentanos bekanntem Gedicht »Zu Bacharach am Rheine wohnt eine Zauberin« wieder und hat nun bestimmte Physiognomie gewonnen und ein menschliches Schicksal erfahren. Als eine Männerverderberin steht sie vor dem geistlichen Gericht, aber, in tiefster Seele von ihrer Schönheit ergriffen, vermag der Bischof nicht, sie zu verdammen. Sie selbst klagt ihre Schönheit als ihr Verderben. Sie soll ins Kloster gebracht werden, erbittet aber als letzte Gunst auf dem Gange dahin, auf einen Felsen steigen zu dürfen, um in den Rhein zu blicken. Sie sieht den Schiffer im Kahne, nennt ihn ihren Liebsten und stürzt sich hinab. Das Echo nimmt klagend ihren Namen auf.

Die Lorelei ersteht neu und abermals gewandelt in Eichendorffs Gedichten. Bei Namen genannt ist sie nur einmal im »Waldgespräch«, sie warnt und betört und tötet, die Hexe, und ihr Schloß steht auf hohem Felsen am Rhein. In dem kurzen, im Zwiegespräch zwischen der Lorelei und dem ihr Verfallnen gehaltenen Gedicht steht die Zeile: »Wohl irrt das Waldhorn her und hin.« Aber wenn auch nicht bei Namen genannt, wird die Lorelei in anderen Gedichten Eichendorffs erkenntlich. Sie ist die »Zauberin im Walde«, die Goldhaarige, die dem süßen Florimunde die Perle aus ihrer Halskette reicht und ihn in den Tod lockt: seit er gestorben und sie geschwunden, sind die Wunderlieder der Vögel und das Horn im Walde verstummt. Sie ist abermals die Nixe auf dem Stein in »Der stille Grund«, die ihr goldenes Haar flicht und so wunderbar singt – und wo sie gesungen, da treibt halbzerschellt ein Nachen. Ein letztes Weben ihrer Wesenheit meint man aus dem Gedicht »In Danzig« zu erspüren, wenn auch nichts geblieben ist als ein Rauschen in der Luft, ein uraltes Lied, das erklingt und den Schiffer gefährdet. – »Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, / Daß ich so traurig bin –«: Heine nimmt das Motiv auf und gibt ihm den letzten, den ins Volksbewußtsein gedrungenen Ausdruck.

Was all diesen Gedichten gemeinsam (bei Betonung oder Verwischung des rheinischen Ursprungs): Eine Frauengestalt entwächst der Landschaft. Sie singt, oder es ist doch um sie herum ein Klingen. Sie lockt in den Tod.

Noch weiß man nicht, was diese Gestalt für das Zeitbewußtsein bedeutet, und ob das in ihr seinen Mythos gefunden haben kann.


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