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Alles nimmt einmal einen Anfang. Am besten sind oft jene Dinge, die einen bescheidenen Anfang nehmen, und was ich jetzt erzählen will, ist der sehr bescheidene Anfang von einer Sache, die sich großartig ausgewachsen hat. Was ich jetzt erzähle, ist schon 30 Jahre her.
Es war an einem Mittwochnachmittag, ich war dortmals Assistent an der Realschule in Wunsiedel im Fichtelgebirge. Mein äußerer Mensch hat an diesem Mittwochnachmittag allerdings weniger den Schulmeister verraten und hätte mehr auf einen Bauern oder Gutsverwalter schließen lassen, wenn nicht gewisse Anzeichen im »Gesicht« dieses unwahrscheinlich gemacht hätten. Ich hatte hohe Stiefeln an und eine Lodenjoppe, denn ich war schon drei Stunden querfeldein durch frischgefallenen Fichtelgebirgsschnee marschiert, als ich eben mit knapper Not noch auf der Station X. den Zug erreichte, mit dem ich wieder nach Hause kommen wollte. Es war ein Wagen 3. Klasse, ein sogenannter amerikanischer Durchgangswagen. Er war gut besetzt; Bauersleute, Geschäftsleute, 82 Metzger und Viehhändler, die eben im Gäu waren, bildeten die Hauptkundschaft. Die Unterhaltung war sehr lebhaft. Ich hatte anfänglich auf niemand geachtet; ich war die letzten zwei Kilometer etwas gesprungen, hatte stark geschwitzt und brauchte einige Minuten, um mich zu erholen. Ich hätte vielleicht bis zu meiner Endstation alles verträumt, wenn ich nicht plötzlich sehr laut die Worte gehört hätte: »Das ist dir einmal ein Lump, der Waungsiegler« (Mundart für Wunsiedler). Das hat mich natürlich unwillkürlich auf die lebhafte Unterhaltung aufmerksam gemacht, denn mein Lokalpatriotismus hat sich gerührt, als ich von einem Wunsiedler Lumpen reden hörte. »Es sollen über 2000 Mark sein«, bemerkte ein Mann, dem man den Handelsmann auf weite Entfernung ansah. Jetzt war ich erst recht neugierig. Ich stehe auf und nähere mich der unterhaltenden Gruppe, indem ich mich behaglich mit dem Arme auf die Abteilungswand stütze.
»Die Waldershöfer waren von jeher die Dümmsten«, kam aus dem Munde eines Mannes, der ein Bauersmann zu sein schien. »Darum sagt man im Schaffkopf: Er spielt waldershöferisch, wenn der Gerufene die Rufaß selbst anspielt.«
83 Ein dritter meint: »Es ist wirklich wahr, es ist etwas daran.«
»Was ist denn passiert in Waldershof und Wunsiedel? Was gibt's denn da Neues?« Mit dieser Frage mische ich mich in die Unterhaltung ein. Man hat mich etwas fragend angeschaut; aber alsdann hat mir der Herr mit dem schwarzen Barte die Geschichte von dem Wunsiedler Doktor erzählt, welcher den Waldershöfern weiß gemacht habe, er könne ihnen für ihre Kartoffeln 60 Pfennig für den Zentner Mehrerlös verschaffen. Die Waldershöfer wären so dumm gewesen, hätten das geglaubt, hätten die Kartoffeln fortgeschickt, viele Waggons, und jetzt bekämen sie kein Geld; das ganze Kartoffelgeld sei verloren, und der Wunsiedler Professor hätte nichts, dem könne man nichts nehmen. Auf meine Frage, wie dieser Lump denn heiße, der die Bauern so betrogen hätte, hat er mir einen Namen mitgeteilt, der mir nicht ganz unbekannt war. Heim sollte der brave Mann heißen. »Das ist doch ein schlechter Kerl, wenn er so gehandelt hat«, bemerkte ich, und alle Mitreisenden waren mit mir vollständig einverstanden. Der Zug hält in diesem Augenblick in einer Nebenstation. Es steigt niemand aus, es schien auch, 84 daß niemand einsteigen wollte. Da im letzten Augenblick sprang noch jemand auf das Trittbrett; es war einer, der infolge des Schnees auch langsamer gegangen war und sich verrechnet hatte, genau so wie ich vorher; doch er kam noch mit. Die Türe geht auf, und herein kam ein mir gut bekannter Bauer. Ich habe ihm sofort ein Zeichen gegeben, er möge mich nicht kennen, aber es war umsonst, er hatte mich schon mit den Worten begrüßt: »Grüß Gott, Herr Doktor, wie geht's Ihnen denn?«, und er hat sofort eine Unterhaltung mit mir angefangen. Jetzt hat mich die Gesellschaft etwas verblüfft angeschaut, und der Mann mit dem schwarzen Barte hat einige Zeit gebraucht, um die Frage hervorzubringen: »Sind Sie ein Doktor?« Aber die Antwort konnte ich nicht geben, denn mein eben eingestiegener guter Freund platzte heraus: »Na, kennst du den Dr. Heim nicht?« Au weh, diese langen Gesichter. »Eben bin ich im Begriffe, mit dem Kartoffelgelde von Waldershofen nach Amerika zu fahren, und jetzt müssen Sie mich so verraten, denn auf der nächsten Station werden mich die Leute sofort verhaften lassen«, bemerkte ich lachend. Jetzt hat es Entschuldigungen geregnet, jetzt wollte niemand etwas wissen. Der 85 eine hat gemeint, da kann man sehen, was alles geredet wird. Der andere hat überhaupt nichts gesagt, und der Herr mit dem schwarzen Vollbart, der die ganze Geschichte erzählt hatte, wußte auf einmal nur so viel, daß ihm kürzlich gänzlich unbekannte Leute die Geschichte auf dem Bahnhofe oder im Wartesaale von Eger erzählt hätten.
Ich habe ihm bloß die Bemerkung gemacht: »Wer Sie sind, das weiß ich, das andere wird sich geben.« Mein guter Freund, der mich leider zu früh verraten hatte, ließ sich von jemand die ganze Geschichte erzählen, und der hat nun den Leuten noch eine Moralpredigt gehalten: »So seid Ihr, Leute; wenn von jemand was Schlechtes gesagt wird, gleich glaubt ihr es. Gegen die Lumpen sind die Bauern nie mißtrauisch, nur gegen ihre Freunde. Man verachtet den Dieb, der ein Stück Brot gestohlen. Wer einem anderen die Ehre stiehlt, findet sofort Zuhörer und Hehler.«
Ein merkwürdiger Anfang das. Es ist die Geschichte meiner ersten genossenschaftlichen Geschäfte, die ich in meinem Leben gemacht habe – für andere! Für diese Kartoffelladungen, von denen hier die Rede ist, hatten wir wirklich bedeutenden Mehrerlös. Ich hatte eine fast kindliche Freude 86 darüber, daß der Versuch geglückt war. Die Leute hatten Mut bekommen; die Folge davon war, daß ich sie auch zum gemeinschaftlichen Versand von Getreide gebracht habe, und noch in diesem Winter, von dem ich gerade erzähle, habe ich um 180 000 Mark Getreide genossenschaftlich verkauft und seit jenem Winter für viel hundert Millionen. Und wie klein war der Anfang: ein Waggon Kartoffeln! Es war immer mein Grundsatz, klein zu probieren, weil es dann auch nur kleines Lehrgeld gekostet hat.
Als ich nach Hause kam, habe ich natürlich sofort meiner Frau die Kartoffelgeschichte erzählt. Die war sehr entrüstet und aufgebracht über eine solche Gemeinheit. Mich selbst hat es weniger angegriffen, weil ich die Menschen kenne. Ich bin am anderen Donnerstag früh in meine Schule gegangen. Als ich um 11 Uhr nach Hause kam, hat mir meine Frau mitgeteilt, es sei um 10 Uhr ein Herr dagewesen, um mich zu sprechen; er habe sehr bescheiden angefragt, wann denn der Herr Doktor Zeit hätte und daß er ja nicht stören möge. Er werde um halb 12 Uhr wiederkommen.
Wie hat der Mann ausgesehen? – Ein mittelgroßer Mann mit schwarzem Vollbarte . . .
87 Liebe Leser, ich brauche euch wohl nicht zu sagen, wer dieser Mann war. Es war mein Reisegenosse vom Tage vorher, der die Kartoffelgeschichte von dem »Waungsiegler Lumpen« erzählt hatte. Ich brauche euch wohl auch nicht zu sagen, warum er zu mir gekommen ist. Er hat mir seine Abbitte gleich schriftlich mitgebracht und ganz freiwillig eine Gabe für einen guten Zweck geleistet.
Manches hat sich seitdem geändert. Was dortmals in Bayern als Neuerung kühnster Art gegolten hat, nämlich genossenschaftlich zu verkaufen, hat heute hundertfache Nachahmung gefunden.