Johann Gottfried Herder
Briefe zu Beförderung der Humanität
Johann Gottfried Herder

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Fünfte Sammlung.

(1793.)

 

54.

Der Wunsch unsers FreundesBrief 5 (Seite 20). – H. fängt an, in Erfüllung zu gehen; »Bekenntnisse merkwürdiger Männer von sich selbst« sind in zwei Bündchen erschienen, die zu mehreren Hoffnung erwecken und Hoffnung geben.Winterthur 1791, 1793. Von J. G. Müller. – H. Petrarca, Augustin, Uriel Acosta, Franz Junius, Comenius, Holberg, Leibniz sprechen hier, allesammt in der eignen Sprache ihres Herzens und Geistes. Von Petrarca sind seine drei Gespräche über sich selbst, »Mein Geheimniß« genannt, ganz übersetzt, Augustin's »Bekenntnisse« im Auszuge. Acosta's Exemplar vitae humanae, wie es Limborch, Franz Junius' Lebensbeschreibung, wie sie Merula bekannt gemacht, Comenius' Bekenntniß von sich aus seinem »Eins ist Noth« (Unum necessarium), Holberg, Leibniz aus ihren Briefen. Können verschiedene, allesammt merkwürdige Männer in einem engeren Raum auftreten und von sich zeugen?

Ihrem eignen Zeugnisse hat der Autor mit Erzählung ihrer Lebensumstände fortgeholfen, wie, dünkt mich, nothwendig und recht ist. Was weiß ein Sterblicher, wer oder wozu er da sei, zu welchen Zwecken ihn die Vorsehung in ihrem großen Plan brauchen werde? Er schüttet sein Herz aus, in Freude oder meistens in Leid, vor Gott, vor sich selbst oder vor Menschen; sein Auge blickt nieder zur Erde. Denn seiner Schwächen, seiner mühsamen, oft eiteln Bestrebungen, seines Kampfes mit sich und mit Andern demüthig bewußt, zählt er sich kaum und kann und darf nicht rechnen, was seine Ziffer zum großen Nenner der Welt bedeute oder bedeuten werde. Hier darf der Autor, der den Bekennenden als Freund vorführt, zumal wenn er Jahrhunderte nach ihm lebt, wohl ein Wort über ihn sprechen und auf der großen Tafel der Weltbegebenheiten zeigen, wo er stand, wo er künftig stehen möchte.

Petrarca war eine der zartesten Seelen, die in menschlichen Körpern erschienen. Nicht seiner Sprache allein hat er jene Formen süßer Sonnette und Canzonen und mit diesen zugleich die erlesensten Gedanken der Provençalen, ja jenes Ideal einer Liebe eingedrückt, die sich mehr im Himmel als auf der Erde fühlt; sondern für ganz Europa war er ein eifriger Erwecker der Alten; für Italien, für Rom war er ein Patriot, desgleichen es unter den Petrarchisten keinen mehr gab, und, was über Alles geht, ein strenger Bearbeiter seines Herzens und Geistes. Seine Briefe und andre lateinische Schriften sind eine eigentliche Schule der Bildung sein selbst, voll männlicher Unterhaltung. Eine Seele dieser Art, die allenthalben Ruhe suchte und sie nirgend fand, in einsamen Selbstgesprächen mit ihrem Schutzgeist sprechen zu hören, mag freilich eitle Leser ermüden; Beobachter menschlicher Sinnesarten aber werden ihr angenehm lauschen, und zarte Gemüther, wie Petrarca selbst war, wird er tief in ihr Inneres führen. Diese Bekenntnisse und die »Nachrichten zu dem Leben des Petrarca«Lemgo 1774–1778. – H. [Vgl. S. 238*). – D.] müssen Jedem, der fürs stille Gemüth liest, eine liebe Unterhaltung sein.

Augustin, der zweite Mann, den unser Autor in seinem Selbstbekenntnisse darstellt, war ein Kirchenvater; er ist's auch in seinen »Confessionen«. Um die Seele eines Kirchenvaters kennen zu lernen, von der Manche, die auf diesen Namen schmähen, fast keinen Begriff haben, muß man sie lesen. Die ganze Denkart, ja, ich möchte sagen der Witz, die Phantasie, selbst die täuschende Sophisterei Augustin's ist in ihnen. Unser Autor ist über ihn nur kurz gewesen; denn über Augustin müßte man ein Buch schreiben.

Welche Kämpfe hat der arme Acosta sich zugezogen! welche Verfolgungen der redliche Junius standhaft ertragen! Auch bei Comenius sieht man seinen zwar nicht tief dringenden, aber viel umfassenden Geist, seinen allenthalben aufs Nutzbare, auf Reform der Wissenschaften und Schulen gestellten Sinn. Ueber ihn, der für sein Zeitalter mehr als Basedow war und noch mehr hätte sein können, wünschte ich, daß Jemand ausführlicher spräche.Adelung hatte in der »Geschichte der menschlichen Narrheit« sein Leben beschrieben. Eine gerechtere Würdigung gaben Raumer, in seiner »Geschichte der Pädagogik«, Seyffert u. A. –  D.

Holberg's Leben ist äußerst merkwürdig und unterhaltend, wie es auch der Mann selbst war. In seiner Zeit und Lage, nach einer solchen Jugend hat er ungemein viel geleistet; er riß sich selbst über die Denkart seines Landes hervor und ward, zwar in keiner Bemühung ein Stern erster Größe, allenthalben aber ein freundlicher Stern mitten im dichten Nebel. Manche seiner Schriften sind noch jetzt sehr lesbar, zumal sein »Klimm« und seine »Briefe«. Unter den Alten waren ihm Plutarch und Lucian, Terenz, Ovid, Juvenal, Petron und Plinius, unter den Neuern nebst einigen Geschichtschreibern Grotius, Bayle, Le Clerc, Molière die liebsten; man sieht die Spuren davon in seinen Schriften, in denen sich nirgend ein tiefer, allenthalben aber ein heller, lebhafter, vernünftiger, moralischer Geist zeigt.

Leibniz endlich – hier konnte unser Autor, der die bekannten Lebensumstände nicht wiederholen wollte, wenig sagen; denn die Geschichte seines Geistes hat Leibniz uns nicht selbst geschrieben. Er lebt für uns in seinen Schriften, aus welchen hier einige Umstände zusammengestellt sind. Hören Sie von ihm eine Weissagung:

»Ich finde, daß solche (leichtsinnige, irreligiöse) Meinungen, indem sie je mehr und mehr unter Leuten von der großen Welt, nach welchen sich die Uebrigen zu richten pflegen, Liebhaber finden und sich in die Modebücher einschleichen, Alles zu der Generalrevolution, von welcher Europa bedroht wird, zubereiten und die Zerstörung Alles dessen vollenden helfen, was von den edlen Grundsätzen der Griechen und Römer, welche die Liebe des Vaterlandes, des gemeinen Wesens und die Sorge für die Nachwelt ihrem eignen Glück, ja selbst dem Leben vorzogen, bis jetzt noch übrig geblieben ist. Der Gemeingeist (public spirit) vermindert sich außerordentlich, kommt je mehr und mehr aus der Mode und wird noch mehr abnehmen, wenn er aufhört, von einer guten Moral und der wahren Religion, wie selbst die gesunde Vernunft sie uns lehrt, unterstützt zu werden. Sogar die Bessern von der entgegengesetzten Seite nehmen kein andres Principium mehr als die Ehre an. Bei ihnen aber heißt ein Mann von Ehre schon Der, der nichts thut, was sie für niederträchtig halten. Und wenn sogar Einer aus Laune, oder um seine Ehrsucht zu befriedigen, Ströme Blutes vergießen und Alles über einander werfen würde, so wäre ihnen das Alles nichts, und selbst ein Herostrat würde ihnen ein Held sein. Laut macht man sich über die Liebe des Vaterlandes lustig; laut macht man Die lächerlich, die für das allgemeine Beste sorgen; und zeigt Jemand in der reinsten Absicht die traurigen Aussichten, die sich uns für die Zukunft eröffnen, so ist die Antwort: »Laß diese für sich sorgen!« Leicht aber dürften solche Leute zuerst das Unglück erfahren, welches sie blos für Andre aufbewahrt glauben. Kommt man dieser epidemischen Krankheit, deren üble Wirkungen bereits sichtbar zu werden anfangen, noch in Zeiten vor, so lassen sich ihre Folgen vielleicht noch hemmen. Nimmt sie aber überhand, so wird die Vorsicht die Menschen gerade durch die Revolution, die daraus entstehen muß, heilen und, was auch kommen mag, am Ende zum Wohl des Ganzen leiten; ob dies gleich ohne Züchtigung Derer, die durch ihre bösen Handlungen wider ihren Willen zur Beförderung des Guten beitrugen, weder erreicht werden wird, noch erreicht werden kann.«

So weit Leibniz. Wünschen Sie nicht, daß unserm Autor viele, auch ungedruckte Bekenntnisse merkwürdiger Männer zukommen mögen? Wenn in unserm Vaterlande der moralische Gemeingeist, über dessen Abgang Leibniz klagt, noch nicht ganz ausgestorben ist, so sollte dieser ihm solche in sein Sacrarium treuer Bekenntnisse zuführen.


55.

Angenehm hat mich der Name Petrarca in Ihrem BriefeBrief 54. Obiger Brief war ursprünglich an J. G. Müller, den Herausgeber der »Bekenntnisse berühmter Männer«, gerichtet. Einen andern, ausführlichen Brief an J. G. Müller über Petrarca's und Rousseau's Bekenntnisse, der den »Bekenntnissen« vorgesetzt wurde, hat Johann von Müller in seine Ausgabe unserer Briefe hier eingeschoben. – D. geweckt; er erinnerte mich an die Zeiten, da ich, nicht etwa nur seine Sonnette und Canzonen, sondern die Nachrichten aus seinem LebenMémoires pour la vie de Petrarque. Amsterdam 1764. 3 Quartbände. Ihre Ueebersetzung, Lemgo 1774–1778, ist sehr gut und zweckmäßig. – H. und die merkwürdigsten seiner Schriften und Briefe selbst las. Welch eine falsche Idee hat man gemeiniglich von Petrarca! wie falsch wäre auch die, wenn man sich aus diesen Selbstgesprächen etwa nur eine bußfertige Seele oder einen mit sich selbst Unzufriedenen abzöge! Ganz ein andrer Geist lebte in Petrarca.

Zuerst trug er das große, unaustilgbare Gepräge der Liebe des Alterthums in seiner Seele; ein Gepräge, das mir allenthalben ehrwürdig ist, wo ich's gewahr werde, und das uns bei ihm, zu seiner Zeit, unter seinen Umständen, in der Anwendung, die er davon machte, äußerst wohl thut. Die Griechen kannte er wenig und setzte sie den Römern nach; er ward mit ihrer Sprache zu spät bekannt, und da er die Römer als seine Landsleute ansah, deren Glanz in Italien er wiederzusehen wünschte, so gab ihnen dieses schon in seiner Seele einen Vorrang vor allen Völkern der Erde. Nie haben ihre Redner, Dichter und Weisen einen eifrigern Schüler gehabt als ihn, der nicht etwa nur in der Sprache ihnen nachzubuhlen suchte, sondern ihren großen Sinn, ihre hohe Gedankenweise zur seinigen machte. Dies zeigen seine Schriften und Briefe, seine Sammlungen von Beispielen der Vorwelt, die Grundsätze, an welche er sich hielt, mit welchen er Andre tröstete oder weckte, endlich seine lateinischen Gespräche, Gedichte und andre Einkleidungen, in denen man bis zu seinen höchsten Jahren hinauf den Schüler der Alten wahrnimmt. Hier klopft Petrarca jedem Jünglinge und Mann auf die Schulter: »Liesest Du die Alten also? wendest Du sie also an?« Petrarca's lateinischer Stil mag unrein sein; seine Denkart war es nicht. Ein Freund des Vaterlandes, wie Tullius und Cato, weiß er die strengen Grundsätze eines Seneca durch die gesellschaftliche Theilnehmung und Gefälligkeit des Horaz anmuthig zu mildern. Manche Briefe, in denen er seine Schwachheiten liebenswürdig bekennt und entschuldigt, ja gleichsam mit seinem eignen Herzen spielt, sind ganz in der Denkart Horaz' geschrieben; und eine sittliche Urbanität ist der Charakter aller seiner Schriften.

Dies Gefühl also, nach welchem er ganz unter den Alten lebte, webte den Faden seiner Begebenheiten und ward, wie man sagt, der Schmied seines GlücksNach dem Spruche des Appius Claudius Cäcus: »Suae quisque faber fortunae est.« – D. Auf eine niedrige Weise nach den Begriffen seiner Zeit ein Glück machen konnte und wollte er nicht; er schlug dazu alle Gelegenheiten aus, die er auch nicht zu brauchen gewußt hätte; dagegen erwarb er sich eine Liebe und Anhänglichkeit, ein Ansehen und einen Namen, über welchen man fröhlich erstaunt. Welche Briefe und Anreden, die er an Kaiser, Könige, Päpste, Cardinäle, Bischöfe und Fürsten schrieb! und welche Art, in der sie aufgenommen wurden! Keine Veränderung der päpstlichen und bürgerlichen Welt, die einigermaßen sein Italien betraf, ging vor, ohne daß er den lebhaftesten Antheil daran genommen hätte; eben weil sein Vaterland so ganz in seinem Herzen wohnte. Vergleicht man in diesem Punkt, im Punkt der Achtung nämlich, die man dem hellen Verstande, der reinen Wissenschaft Petrarca's erwies, seine Zeiten mit den unsrigen: welche soll man barbarisch nennen? Dort hatte man wenigstens eine Achtung für den Verständigen, der, obwol blos ein Mann der Wissenschaft und kein Staatsdiener, bei öffentlichen Anlässen anmunterte, rieth, warnte, lehrte; jetzt würde dem Petrarca selbst schon der poetische Lorbeerkranz auf seinem Schädel allenthalben ein Stillschweigen auflegen, wo er nicht zu loben vermöchte. Und doch war es eben und einzig diese Liebe und Achtung für Wissenschaften, die den Zeiten aufhalf, ohne welche wir noch in der Barbarei lägen. Wer sieht nicht noch jetzt das Bild des Königes Robert's von Neapel, der edlen Colonnas und so mancher andern seiner großen Freunde in Petrarca's Schriften mit Liebe und Bewunderung an? Wie in einem Traum liest man ihre freundschaftlichen Briefe und hört Petrarca's Zeugnisse von ihnen, bis man durch Zeugnisse von Andern, die nicht so dachten, eben auch in denselben Briefen unangenehm aus dem Traume geweckt wird.

Endlich ist das Ideal von Liebe, das Petrarca mit sich trug und in seinen Gedichten mit unglaublicher Kunst und Sorgfalt ausbildete, gewiß die kleinfügige Idee nicht, die man gewöhnlich sich an ihm denkt. Laura möge in Person oder zum leibhaften Petrarca gewesen sein, wer sie wolle: dem geistigen Petrarca war sie eine Idee, an die er auf Erden und im Himmel wie an das Bild einer Madonna allen Reichthum seiner Phantasie, seines Herzens, seiner Erfahrungen, endlich auch alle Schönheiten der Provençalen vor ihm dergestalt verwandte, daß er sie in seiner Sprache zum höchsten, ewigen Bilde aller sittlichen Weibesschönheit zu machen strebte. Auf griechische Weise konnte dies nicht geschehen; eine nackte Grazie oder eine Venus Urania konnte und wollte er nicht malen: er wählte also die Züge, die in seinem Zeitgeist, in der provençalischen Poesie, in den Begriffen seiner Religion und ihren Darstellungen als Stoff eines reinen weiblichen Ideals sittlicher Humanität zerstreut dalagen, und bildete seine Madonna daraus, die irdische und himmlische Laura. Diese zeigte er in Wirkung auf sich, auf sein eigen Herz, und zwar in mancherlei Umständen, in Wirkung auf seine Schwachheiten sowol als auf die edlere Seite seines Gemüths; hiedurch allein ward sie anziehend und belehrend. Denn eine Schönheit, die keine Liebe erregt, eine Liebe, die nur Bewunderung ist und ohne Kampf mit sich, ohne Fehler und Schwachheiten seufzt, sind ohne Reiz und Anwendung. Von allem Sittlich-Schönen im weiblichen Charakter pflückte Petrarca die Blüthe und wand seiner irdischen Freundin, die er vielleicht nur hie und da in seiner Jugend gesehen haben mag, die eines andern Mannes Weib und Mutter von Kindern war, die diese Gedichte vielleicht nicht verstand, die wenigsten sah (denn die schönsten sind nach ihrem Tode gedichtet), einen unsterblichen Kranz um ihre unschuldigen Schläfe. Wer den Geschmack der provençalischen Poesie, wer die Beatrice des Dante kennt, wird hieran nicht zweifeln und die Mühe bedauern, die der Lebensbeschreiber Petrarca's, ein Abkömmling der angeblichen Laura, auf die Anwendung jedes Zuges, der ihre Person betreffen soll, gewandt hat. Jeder Liebhaber kann und soll seine Laura in Petrarca's Gedichten finden; er soll sein Herz mit allen Schwachheiten auch darin finden und die Läuterung wahrnehmen, die ein reiner weiblicher Charakter im Gemüth sowol des Jünglinges als des Mannes bewirken soll und kann. Hiezu steht Laura da; und ich wüßte nicht, ob es einen schönern Zweck der Poesie der Liebe gebe, wenn einmal diese Gattung Poesie da sein soll. Gegen die römischen Dichter des Amors, Horaz, Tibull, Properz, macht Petrarca, der Idee seiner versi volgari nach, keinen kleineren Unterschied, als den er der Sprache, den Nationen und Zeiten selbst nach machen mußte. Von unsern erotischen Dichtern steht er in gleichem Maaße gesondert. Da es indessen doch wol Niemanden zu verargen sein wird, wenn er in seine Liebe Gemüth bringt und sie nicht blos als ein Werk des Bedürfnisses und der Convenienz betreibt, so sehe ich auch Petrarca's Laura als ein Ideal an, das keinen Jüngling verführen, das jedem edelgeschaffenen Jünglinge als ein Madonnenbild alter Zeiten in einer so schönen Sprache wohlthun wird. Die Empfindungen Petrarca's in Ansehung der Freundschaft gegen Freunde waren diesem Ideal nicht entgegen, und Italien, Rom, seine Sprache, die Menschheit waren seines Gemüths ewige Laura. Als ich in einer schönen Morgenstunde den letzten Aufenthalt seines irdischen Daseins vorüberfuhr,Im Juni 1789. Petrarca starb zu Arqua bei Padua. – D. umfing mich eine so süße Erinnerung seines freundschaftlichen Herzens und ganzen Lebens, daß ich nicht anders als die letzten Worte seines letzten Briefes ausrufen konnte: »Valete, amici, valete, epistolae!« Er starb im Jahr 1374; man weiß nicht recht, wie und wann; gnug, daß man den ruhigen Greis an seinem Pulte sitzend todt fand. Valete, amici!


56.

So angenehm mir Petrarca war, so weh that mir Uriel Acosta in seinem letzten Selbstbekenntniß. Der arme Jude, von Zweifeln über seine Religion ergriffen, gab alle Verhältnisse seiner edlen Geburt, seines Glückes und Standes auf, suchte Ruhe hie und dort, fand an seinen nächsten Verwandten die ärgsten Feinde und endigte damit, daß er, als ein Neuaufgenommener in der Synagoge seiner Glaubensgenossen, schimpflich entblößt, mit Füßen getreten, gepeitscht, verspeit, es nicht länger ertragen zu dürfen glaubte und sich selbst den Tod gab. Die Aufschrift seines Urlaubes aus dem Leben: »Exemplar humanae vitae«, rührte mich von jeher; und o möchte ein Jeder, der, von Menschen aus der Welt gedrängt, zuletzt noch einige Worte für Menschen zu schreiben guten Willen und Kraft hat, sein Exemplar des menschlichen Lebens dem Exemplar des Acosta hinzufügen! Die Menschheit erhielte damit eine Anzahl sonderbarer Exemplare.

Von Kindheit auf ist mir nichts abscheulicher gewesen als Verfolgungen oder persönliche Beschimpfungen eines Menschen über seine Religion. Wen geht diese als ihn selbst und Gott an? ja, wer weiß nicht, was an dem Wort Religion, sobald es innere Ueberzeugung und Gefühl betrifft, für tiefe Scrupel und Schwierigkeiten haften? Dem ist dieses, einem Andern das aufs Innigste anstößig; zu diesem Ausdruck kann er sich nicht gewöhnen, von jener früh erfaßten Vorstellungsart auf keine Weise sondern. An ihr hangen seine moralischen Begriffe, an ihr vielleicht seine vornehmste Triebfeder, ja sein Ideal der Moralität selbst. Dieser findet Zweifel, wo Keiner sie findet; die schwarze, phantastische Fliege verfolgt ihn, ohne daß ein Andrer als er sie sieht. Wie grausam ist's also, wie unvernünftig, nutzlos und unmenschlich, wenn sich ein Mensch, ein Gericht, eine Synagoge das Verdammungs-, das Verfolgungsurtheil über die Religion eines Andern, wäre er auch ein Neger und Indier, anmaßt!

Mit Schauder liest man Acosta's Erzählung, Klagen und Seufzer, die er im tiefen Schmerz über die ihm, einem Rückkehrenden, in einem Gotteshause zugefügte peinliche Beschimpfung ausstößt,Müller's Bekenntnisse merkwürdiger Männer, Bd. 2. S. 169 ff. – H. und die mit dem traurigen Gefühl der völligen Verlassenheit und Ohnmacht enden: »Hier habt Ihr die wahre Geschichte meines Lebens, und welche Person ich auf dem eiteln Schauplatz dieser Welt in meinem unbeständigen und unglücklichen Leben gespielt habe. Richtet nun gerecht und unparteiisch, Ihr Söhne der Menschen; richtet frei und nach der Wahrheit, wie es sich Männern geziemt! Findet Ihr etwas, das Euch zum Mitleiden hinreißt, so erkennt und beweint das traurige Loos der Menschheit, das auch Euch zu Theil geworden ist!«

Dank der Menschheit sei allen Denen, die so unerträgliche Lasten und Fesseln, die jede unziemende Beschimpfung, jede kränkende Verfolgung, die Menschen Menschen von göttlichen oder menschlichen Rechts wegen ungescheut, ja pflichtmäßig und frohlockend anthaten, in ihr wahres Licht stellten! Grotius, John Locke, William Penn, Shaftesbury, Bayle, Leibniz, auch Spinoza, Voltaire und Mehrere nicht zu vergessen; was für Gesinnungen sie übrigens in andern Dingen haben mochten, in diesem Punkt sind sie Friedensengel im Namen aller Derer geworden, die, um mich eines schauderhaften Bildes der Apokalypse zu bedienen, als Erwürgte unter dem Altar um Rache rufen und in ihrem Blut weiße Feierkleider begehren. Die Rache solcher Verfolgungen ist nie ausgeblieben und bleibt nie aus; es wäre aber endlich Zeit, daß wir aus bessern Gründen als aus der Furcht solcher Rache zum Gefühl der Wahrheit und Menschlichkeit gelangten. Auch unsern deutschen Rechtslehrern, Thomasius, Polykarp Leyser, Hommel u. s. w., die über die mit Blut geschriebenen Carpzov'schen Gesetze hie und da die Fackel der Vernunft angezündet und mildere Grundsätze in Gang gebracht haben, werde Dank! Sie thaten, was sie thun konnten.

Vor Andern, dünkt mich, sind in Briefen Gesinnungen der Humanität wirksam verbreitet worden, selbst wo sie das strenge Rechts-, Staats- und Kirchensystem noch nicht aufnehmen durfte. In Briefen an Freunde schüttete Mancher sein Herz aus, wie er es in Schriften zu thun nicht wagte, und die Briefgestalt selbst ward zur glücklichen Form, milde Gesinnungen über einzelne Vorfälle sowol als über Lehren und Personen Freunden oder dem Publicum verständlich zu machen und ans Herz zu legen. Holberg's Briefe gehören auch in diese Zahl; in England und Frankreich ist die Art eines humanisirten Vortrages durch Briefe sehr ausgebildet worden und hat die nützlichsten Grundsätze verbreitet. In England z. B. fanden Plinius' Briefe eine glückliche Aufnahme; die Ersten der Nation buhlten ihnen nach. Selbst die erdichteten Briefe des Phalaris schätzte der Ritter Temple übermäßig hoch, so daß seit Addison ihre Wochenschriften, seit Richardson ihre Romane vorzüglich die Gestalt der Briefe liebten. Die französischen Briefeinkleidungen vom türkischen Spion an bis zu den persischen und so viel andern Briefen sind Jedermann bekannt; durch Einkleidungen solcher Art gewann nicht nur die Sprache, sondern auch der denkende Geist Leichtigkeit und Freiheit. Ohne eine Abhandlung oder Deduction schreiben zu wollen, konnte man Gedanken, Empfindungen äußern, seinen Verstand berichtigen, sein Urtheil am Urtheile des Andern schärfen und prüfen. In Deutschland hat aus mehrern Ursachen diese Form meistens nur gelehrte Urtheile, Trivialitäten oder Romane betreffen können.

Ich wünschte eine Auswahl treffender Stellen aus den wahren Briefen merkwürdiger und großer Männer; dem Sammler der Selbstbekenntnisse, einem Mann von reiner, fürs wahre Wohl der Menschheit gestimmten Denkart, möchte ich sie am Liebsten empfehlen. Von Staatsmännern, Kirchenvätern. Reformatoren, Sectirern, von Gelehrten und Weisen aller Art ist eine so ungeheure Menge Briefe ans Licht gefördert worden, daß eine Auswahl ihrer eigensten Meinungen und Urtheile über Begebenheiten, Schriften, fremde Meinungen und Handlungsarten die lehrreichste Unterhaltung sein müßte. Wer kann, wer mag jetzt das große Epistelfach berühmter und nicht berühmter Männer mit gehörigem Fleiße durchstören? Und doch liegt so manches Merkwürdige, Angenehme und Nützliche in ihm!


57.

Sie wünschten, daß Jemand über den menschenfreundlichen Comenius ausführlicher spräche. Der bescheidene Mann spricht von sich selbst, auch wo er es thun sollte und konnte, in seiner Kirchengeschichte der böhmischen Brüder, sehr wenig; das einzige Nothwendige lag ihm zu sehr am Herzen.

Wenn ich einen Mann unsrer Nation (denn warum sollte man Böhmen und Mähren nicht zu Deutschland rechnen?) mit dem guten St. Pierre vergleichen möchte, so wäre es Comenius; und dies gewiß nicht zu seinem Nachtheil. St. Pierre hat durch seine Schriften, die, als sie erschienen, Wenige lasen, Mehrere ungelesen verlachten, Andre auf eine schale Art widerlegten, ja, deren offenbarste Wahrheit ihm sogar Verdruß zuzog, in der Folge mehr Gutes gewirkt als manche blendende Schriftsteller seines Zeitalters, die ihn aus der Akademie verwiesen.Er ward 1718 ausgestoßen wegen seines gegen das Regierungssystem Ludwig's XIV. gerichteten Traité sur la polysynodie. – D. Seine Träume von einem ewigen Frieden, von einer besseren Verwaltung der Staaten, von einer größeren Nutzbarkeit des geistlichen Standes, von einer gewissenhaftern Pflege der Menschheit, selbst seine politischen Weissagungen können nicht immer Träume eines honnetten Mannes bleiben, wie sie damals ein duldender Minister nannte. Wenn St. Pierre wieder aufstünde und gewahr würde, daß nicht blos, wie d'Alembert meint, das Wort bienfaisance und glorioleVgl. Herder's Werke, II. S. 295. – D. von ihm in der Sprache seiner Nation geblieben, sondern daß seine Grundsätze, seine Wünsche, seine Hoffnungen gewissermaßen der Geist aller Guten und Würdigen in Europa worden sind: der kalte, trockene Mann würde dabei nicht gleichgiltig bleiben. Wahrscheinlich würde er gelassen sagen: »Die Zeit ist schneller fortgeschritten, als ich es ihr zutraute.«

Unser St. Pierre, Comenius, hat eine andere Gestalt. Er wurde zwar auch in einem Labyrinth von Weissagungen irregeführt, welches ihm zuletzt sehr leid that; diese hatten auch eine viel rohere Gestalt, als der politische Calcül des St. Pierre seiner Erziehung und seinen Lebensumständen nach haben konnte; in ihrem Ziel aber treffen Beide zusammen, und dieses ist das Wohl der Menschheit. Ihm weihten Beide, obwol auf den verschiedensten Wegen, alle ihre Gedanken und Bestrebungen; Beiden schien Alles das entbehrliche Ueppigkeit oder häßliche Unsitte, was nicht dahin führte. Beide haben eine schöne Klarheit des Geistes, eine beneidenswürdige Ordnung und Einfalt der Gedanken; sie sind von allem Leidenschaftlichen so fern und los; es verdrießt sie nicht, eine Sache oft, meistens mit denselben Worten zu sagen, damit man sie fassen und ja nicht vergessen möge, daß auch in diesen liebenswürdigen Fehlern sie einander ähnlich erscheinen. Der letzte Zweck ihrer Bemühungen ist ganz derselbe.

Comenius, wissen Sie, war der letzte Bischof der böhmischen Kirche. Er lebte in den traurigen Zeiten des dreißigjährigen Krieges, da mit ihm so viele, viele Familien auf die härteste Weise vertrieben wurden; seit welcher Zeit dann diese blühenden Gemeinen nie mehr zu einigem, geschweige zu ihrem alten Flor gelangten. Wollen Sie Ihr Inneres sanft und schrecklich erschüttert fühlen, so unterrichten Sie Sich über den Zustand dieser Gemeinen von ihrer Entstehung an und endigen mit dieser traurigen Verstoßung! Keine Gemeine Deutschlands ist mir bekannt, die mit so reinem Eifer für ihre Sprache, für Zucht und Ordnung bei ihren Gebräuchen sowol als in ihrem häuslichen Leben, ja für Unterweisung und Aufklärung im Kreise ihres Nothwendigen und Nützlichen gesorgt, gestritten, gelitten hätte, als diese. Von ihr aus entsprang jener Funke, der in den dunkelsten Zeiten des härtesten geistlichen Despotismus Italien, Frankreich, England, die Niederlande, Deutschland wie ein Feuer durchlief und jene vielnamigen Albigenser, Waldenser, Lollarden u. s. w. weckte. In ihr ward durch Huß und Andre der Grund zu einer Reformation gelegt, die für ihre Sprache und Gegenden eine Nationalreform hätte werden können, wie keine es in Deutschland ward. Bis auf Comenius strebte dahin der Geist dieser slavischen Völker. In ihr ist eine Wirksamkeit, eine Eintracht und Tapferkeit gezeigt worden, wie außer der Schweiz diesseit der Alpen nirgend anders; und es ist kaum zu zweifeln, daß, wenn man sich vom zehnten, vierzehnten Jahrhundert an diese Thätigkeit nur einigermaßen unterstützt gedenkt, Böhmen, Mähren, ja überhaupt die slavischen Länder an der Ostseite Deutschlands ein Volk worden wären, das seinen Nachbarn andern Nutzen gebracht hätte, als den es jetzt seinen Oberherren zu bringen vermag. Die Unvernunft und Herrschsucht der Menschen wollte es anders. Eine Ilias beweinenswürdiger Umstände tritt dem Geschichtforscher vor Augen, über die der Freund der Ordnung und des Fleißes seufzend erröthet. Comenius betrug sich bei Allem mit der Würde eines apostolischen Lehrers.

Der Flüchtling nahm seine Jugendbeschäftigung vor; er ward ein Lehrer der Jugend, aber in einer großen Aussicht. Seine Grundsätze: »Kinder müßten mit Worten zugleich Sachen lernen; nicht das Gedächtniß allein, sondern auch der Verstand und Wille, die Neigungen und Sitten der Menschen müßten von Kindheit auf gebessert werden; und hiezu sei Klarheit, Ordnung der Begriffe, Herzlichkeit des Umganges vor Allem nöthig,« diese Grundsätze sind so einleuchtend, daß Jeder sie in Worten vorgiebt, ob er sie gleich eben nicht in Comenius' Geist und Sinne befolgt. Dieser griff zur That; er gab seine Janua, er gab einen Orbis pictus heraus, die zu seiner Zeit eine unglaubliche Aufnahme fanden, in wenigen Jahren in elf Sprachen übersetzt wurden, seitdem unzählige Auflagen erlebt haben und eigentlich noch nicht übertroffen sind; denn haben wir jetzt nach anderthalbhundert Jahren annoch ein Werk, das für unsre Zeit völlig das sei, was jene unvollkommenen Werke für ihre Zeit waren? Im ganzen Nordeuropa erregte Comenius Aufmerksamkeit auf die Erziehung; der Reichstag in Schweden, das Parlament von England beachtete seine Vorschläge. Nach England ward er gerufen; von Schweden aus sprach der große Kanzler Axel Oxenstirn mit ihm; er ward zu Ausarbeitung derselben unterstützt; und obwol, wie leicht zu erachten war, eine Hauptreform der Erziehung in Comenius' Sinn aus zehn Ursachen nicht zu Stande kommen konnte, zumal im damaligen Zeitalter hundert Unglücksfälle dazwischen kamen, so hatte Comenius dabei seine Mühe doch nicht ganz verloren. Seine Vorschläge, obgleich die meisten seiner Werke uns die Flamme geraubt hat, sind ans Licht gestellt, ja, sie liegen größtentheils, so einfach sind sie, in aller Menschen Sinne; nur erfordern sie Menschen von Comenius' Betriebsamkeit und Herzenseinfalt zur Ausführung. Wenn er auflebte und unsre neue Erziehung betrachtete, was würde der fromme Bischof zu mancher Marketenderei sagen?

Sein Plan ging indeß noch weiter. Er sahe, daß keine Erziehungsreform ihren Zweck erreichte, wenn nicht die Geschäfte verbessert würden, zu denen Menschen erzogen werden; hier griff er das Uebel in der Wurzel an. Er schrieb eine Panegersie, einen allgemeinen Aufruf zu Verbesserung der menschlichen Dinge, in welchem ihm St. Pierre an Ernst und, ich möchte sagen, an heiliger Einfalt selbst nachstehen möchte. Er ladet aufs Menschlichste dazu ein, meint, es sei ja Unsinn, Glieder heilen zu wollen, ohne den ganzen kranken Leib zu heilen; ein gemeinschaftliches Gut sei eine Gemeinfreude; gemeine Gefahr fordre auch gemeinschaftliche Sorge, und schlägt Mittel zur Beratschlagung vor. Die menschlichen Dinge, die er für verderbt hält, seien Wissenschaften, Religion und Staatseinrichtung. Ihrer Natur nach bezeichneten sie den Charakter unsers Geschlechts, Humanität, mithin die eigentliche Menschheit, indem Wissenschaft den Verstand, Religion den Willen, die Regierung unsre Fähigkeit zu wirken bestimmen und bessern sollte. Aller Menschen Bestreben gehe dahin; denn Jeder wolle wissen, herrschen und genießen; edlere Seelen seien nach der edelsten Macht, der wahren Wissenschaft und einer unzerstörlichen Glückseligkeit begierig; sie zu befördern, opferten sie Kräfte, Mühe, ihr Leben selbst auf. In uns liegen also ewige Wurzeln zu einem Baume der Wissenschaft, der Macht und des Glücks; Philosophie solle uns Weisheit, politische Einrichtung den Frieden, Religion innere Seligkeit geben; diese drei Dinge seien nur Eins; sie könnten nie von einander, nie vom Menschen gesondert werden, ohne daß er ein Mensch zu sein aufhöre. Sie ziemten ihm allerwege und allenthalben.

Jetzt zeigt Comenius, wie und wodurch alle drei verderbt seien. Der Verstand werde von Wenigen wenig gebraucht; der Wille unterliege den Begierden; man suche Reichthum, Ehre, Lust, Eitelkeiten, Schatten der Dinge; man suche sich außer, nicht in sich selbst. Man wisse nicht, was man wollen, thun, wissen solle; man theile sich in philosophische, politische Religionssecten; man streite, ohne einander zu überzeugen, und doch sei es das einzige Zeichen, daß man selbst weiß, wenn man Andre überzeugt. Die Weisheit werde in Bücher gekerkert, nicht in der Brust getragen; unsre Bücher seien also weise, nicht wir. Selten habe man bei der Wissenschaft einen wahren Zweck; man lerne, um zu lernen, oder noch zu thörichtern Absichten. Das Band der Sprache sei zerrissen, und noch habe keine einzige Sprache ihre Vollkommenheit erreicht. Die Gebrechen, deren er die Religion zeiht, führt er nur kurz und mit Bedauern an, da sie zu offen am Tage liegen. In der Politie meint er: nichts könne regieren als das Rechte, Niemand Andre regieren, als der sich selbst zu regieren weiß. Menschenregierung sei die Kunst der Künste; ihr Zweck sei Friede. Mithin zeugen alle Kriege und Unordnungen der menschlichen Gesellschaft, daß diese Kunst noch nicht da sei; weder zu regieren, noch regiert zu werden wüßten die Menschen; von welchen Verderbnissen er sowol die Ursachen als die Schändlichkeit und den Schaden klar vorlegt.

Von jeher, fährt er fort, sei das Bestreben der Menschen dahin gegangen, diesen Uebeln abzuhelfen, und zeigt mit großem Verstande, sowol was man bisher dazu gethan und auf welchen Wegen man's angegriffen habe, als auch weshalb diese Mittel unhinreichend oder unwirksam geblieben. Indessen sei der Muth nicht aufzugeben, sondern zu verdoppeln. Manche Krankheiten tilge die Zeit; in der verdorbenen Menschheit sei der Trieb zu ihrer Verbesserung unaustilgbar und auch in den wildesten Abwegen wirksam. Nur müsse die Menschheit ihr wahres Gute, so wie die Mittel dazu ganz und rein kennen lernen; sie müsse von den Ketten böser Gewohnheiten befreit werden und nicht eher nachlassen, bis sie in einer Allgemeinheit zum Zweck gelange. Zu dieser Harmonie wirke selbst der Haß der Secten, ihre bittern Verfolgungen und Kriege gegen einander in Wissenschaften, Religion und Regierungsanstalten; Alles zeige, daß eine große Veränderung der Dinge im Werk sei. Ohne uns könne diese Veränderung keine Verbesserung werden; wir müßten zu ihr, und zwar auf bisher unversuchten Wegen, auf dem Wege der allgemeinen Einheit, Einfalt und einer freien Entschließung (Spontaneität) mitwirken. Der Zweck der Einheit und allgemeinen Verbindung liege in unserm Geschlecht; nur durch Einfalt könne unser Verstand, Wille und Handlungsweise von ihren Verderbnissen loskommen; dahin wiese die einträchtige Norm unsrer gemeinen Begriffe, Fähigkeiten und Instincte; mittelst dieser, und dieser allein, käme man ohne alle Sophisterei zum reinen Gute der Wahrheit. Freiheit des Willens endlich sei der Charakter des Göttlichen in uns; Gott zwinge nicht und wolle nicht, daß Menschen gezwungen, sondern gelehrt, geleitet, unterstützt werden. So weit wir vom Wege der Einigkeit, Einfalt und Sinnesfreiheit abgewichen seien, so sei eine Rückkehr dahin möglich, sobald wir uns nur vornähmen, ohne Ausschließung Alles, für Alle, auf alle Art und Weise zu verbessern. In diesen drei Worten liege das ganze Geheimniß: »omnia, omnibus, omnimode esse emendanda«; denn alle bisherige Vereitelung guter Bemühungen sei blos daher gekommen, daß man nicht Alles, nicht für Alle, nicht auf alle Weise habe verbessern wollen, sondern zurückbehalten, geschont, geschmeichelt und dadurch das Böse oft ärger gemacht habe. Das Studium, zu particularisiren, sei die ewige Grundlage der Verwirrung; Jeder rathe, sorge für sich, für Alle Niemand. Man schaue gewöhnlich auch nicht rings umher, sondern Dieser auf dies, Jener auf jenes; dafür sei er entbrannt und vergesse, hindere, verachte alles Andere. Am Wenigsten habe man den ganzen Apparat von Kräften und Mitteln angewandt, dessen die Menschheit fähig ist, ja, den sie wirklich im Besitz hat. Sehr ernstlich begegnet Comenius den Einwürfen, daß eine allgemeine Verbesserung unmöglich sei und ein Unternehmen der Art zur Zerstörung aller bisherigen Einrichtungen gereichen würde. Möglich sei sie allerdings; das zeige die Haushaltung der Natur, der Begriff der Kunst, die Identität der Menschheit; auf dem Wege der Einfalt werde man die Möglichkeit einer solchen Verbesserung wol finden; denn sie liege allenthalben vor uns, und die Einfalt selbst sei das wirksamste Gegengift aller Verwirrung. Auch den freien Willen der Menschen glaubt Comenius auf seiner Seite zu haben, sobald man sie nur nicht täuschte, sondern in Allem für Alle rein sorgte. Nichts als das Schlechte würde zerstört; nur das Ueberflüssige würde hinweggethan; das Gute bliebe, mit unendlich vielem neuen Guten vermehrt, verstärkt, vereinigt. Hiezu ladet er nun in der einfältigsten Herzenssprache die Menschen ein; der Bischof spricht zur gesammten Menschheit wie zu seiner Gemeine.

Glauben Sie nicht, daß dergleichen utopische Träume, wie man sie zu nennen pflegt, nutzlos seien! die Wahrheit, die in ihnen liegt, ist nie nutzlos. Dem Comenius konnte man sagen, was der Cardinal Fleury dem St. Pierre sagte, da Dieser ihm sein Project des ewigen Friedens und des europäischen Reichstages überreichte: »Ein wesentlicher Artikel ist darin vergessen, die Missionarien nämlich, die das Herz der contrahirenden Fürsten zu diesem Frieden und zu diesem Reichstage disponiren;« allein wie St. Pierre sich bei seinem Project auf den großen Missionar, die allgemeine Vernunft, und ihre Dienerin, die Zeit oder allenfalls die Noth, verließ, so wahrscheinlich auch Comenius. Er schrieb eine Consultation (ich weiß nicht, ob er sie umhergesandt habe), die sogar erst dreißig Jahre nach seinem Tode gedruckt ward. Comenii Historia fratrum Bohemorum. Accedit ejusdem Panegersia de rerum humanarum emendatione. Edidit Buddeus. Halae 1702. Rieger in seiner »Geschichte der böhmischen Brüder« führt an, daß in der Waisenhausbibliothek zu Halle noch mehrere Handschriften von Comenius da sein sollen. Wären nicht einige davon für unsre politisch-pädagogischen Zeiten des Drucks werth? – H. Da sie wenige Bogen enthält, wünschte ich, daß sie übersetzt erschiene, wenn auch nur zum Zeichen, wie anders man damals über die Verbesserung der Dinge schrieb, als man jetzt zu schreiben gewohnt ist. Fromme Wünsche der Art fliegen nicht in den Mond; sie bleiben auf der Erde und werden zu ihrer Zeit in Thaten sichtbar. Es schweben nach Ariosto's schöner DichtungCanto XXXV. 14–16. – D. immerdar einige Schwäne über dem Fluß der Vergessenheit; einige würdige Namen erhaschen sie, ehe diese hineinsinken, und schwingen sich mit ihnen zum Tempel des Andenkens empor.

Ich lege Ihnen einen Aufsatz bei, der mir namenlos zukam; theilen Sie ihn unsern Freunden mit! Er ist nicht mit Comenischem Geist geschrieben; es läßt sich aber Manches darüber sagen.


Haben wir noch das Publicum und Vaterland der Alten?Eine von Herder zur Feier der Beziehung des neuen Gerichtshauses in Riga am 11. October 1765 (vgl. Werke, I. S. 254 ff.) herausgegebene Abhandlung liegt zu Grunde. Vgl. »J. G. von Herder's Lebensbild. Mitgetheilt von seinem Sohne Dr. E. G. von Herder. Erlangen 1846«, I. 3 a. IX. ff. – D.

I.
Haben wir noch das Publicum der Alten?

Um eine vorgelegte Frage zu beantworten, muß man sie erst verstehen. Also:

Was ist Publicum? Ein sehr unbestimmter Begriff, der, wenn man alle Eigenheiten des einzelnen Gebrauchs und Mißbrauchs seiner Benennung absondert, ein allgemeines Urtheil, wenigstens eine Mehrheit der Stimmen in dem Kreise, in welchem man spricht, schreibt oder handelt, zu bezeichnen scheint. Es giebt ein reales und ideales Publicum; jenes, das gegenwärtig um uns ist und uns seine Stimme, wo nicht zukommen läßt, so doch zukommen lassen kann; das ideale Publicum ist zuweilen so zerstreut, so verbreitet, daß kein Lüftchen uns aus der Entfernung oder aus der Nachwelt den Laut seiner Gedanken zuführen mag. Bei jeder Gattung des Publicums aber denkt man sich ein verständiges, moralisches Wesen, das an unsern Gedanken, an unserm Vortrage, an unsern Handlungen Theil nimmt, ihren Werth und Unwerth zu schätzen vermag, das billigt oder mißbilligt, das wir also auch zu unterrichten, eines Bessern zu belehren, in Ansehung seines Geschmacks zu bilden und fortzubilden uns unterfangen dürfen. Wir muntern es auf, wir warnen; es ist uns Freund und Kind, aber auch Lehrer, Zurechtweiser, Zeuge, Kläger und Richter. Belohnung hoffen wir von ihm nicht anders als durch Beifall, in Empfindungen, Worten und Thaten.

Unter den Alten versteht man in Ansehung der Kunst die Griechen, in Ansehung der Literatur Griechen und Römer, in Ansehung Alles dessen aber, worüber das Publicum gefragt oder belehrt werden kann, jede Nation, die in früheren Zeiten auf uns gewirkt hat, mit der wir uns hier oder dort in Ansehung gefällter Urtheile zu vergleichen, zu messen haben. Man sieht, daß in diesem Gesichtspunkt sowol die Ebräer als die sogenannten Barbaren des Mittelalters von unsern Alten nicht ausgeschlossen sind; denn diese haben viele Meinungen unsers Publicums und in Manchem seinen ganzen Geschmack constituirt.

Wer sind nun die Wir, die sich mit diesen Alten vergleichen? Im Ganzen möchte man die jetzige Generation der Menschen darunter verstehen. Da diese doch aber in einen Gesichtskreis oder gleichsam in einen großen Saal beschränkt werden muß, um Zuschauerin, Hörerin, Urtheilerin, Richterin zu werden, so wird dieser Kreis bald sehr weit, bald sehr enge genommen; ja, vom weitesten Kreise, den unsre Einbildung kaum fassen mag, wird oft behauptet, was nur dem engesten, einem sehr auserlesenen Kreise gebührt. Aus Erfahrungen seiner Landes- und Stadtwelt spricht man gemeiniglich für die Christenheit, für Europa, für Welt und Nachwelt, an denen man sich immer eine mystische Person oder Versammlung, eine aufgeklärte oder aufzuklärende Gemeinheit denkt. Um allen aus dieser Verwirrung entspringenden Mißverständnissen zu entweichen, wird's also nöthig sein, jedesmal den Gesichtskreis zu bestimmen und in Absicht jeder Frage, die an ein Publicum gelangt, Zeiten und Völker zu unterscheiden.

1. Vom Publicum der Ebräer.

Das ebräische Volk ward von seinem Ursprunge an als ein genetisches Individuum, als ein Volk betrachtet. Der sterbende Stammvater sprach zu seinen Söhnen für die ganze Reihe zukünftiger Zeiten; ja, ehe der Sohn des Stammes geboren war, geschah schon dem ganzen zukünftigen Volk die Verheißung. Als es in vielen Tausenden um den Berg Sinai gelagert dastand, sprach der Gesetzgeber im Namen seines Gottes zu ihm, als zu einer Person, die dieses Gottes Knecht und gerettetes Kind sei; und da er vor seinem Lebensende dies Gesetz wiederholte, ließ er das Volk als einen Mann geloben. Er forderte von ihm Achtung und Liebe des Gesetzes als von einem moralischen Wesen. So sprachen alle Propheten, denen der Gesetzgeber ausdrücklich Raum zu dieser Stimme ans gesammte Volk als an ein Eigenthum Gottes gelassen hatte. So klein der Kreis sein mochte, in dem mancher Prophet sprach oder zu seiner Zeit schrieb, so groß wird er dieser seiner Idee nach. Der Bote seines Gottes spricht zum Sohne Jakob, zum Knecht Israel für alle Zeiten. Daher der hohe, weitschallende Ton des Patriotismus in den ebräischen Psalmen und Propheten. Wo und in welcher Sprache sein Nachhall ertöne, er ergreift das Herz; ein Publicum wird lebendig. Man findet sich in einer Versammlung, in der Einer für Alle steht, Alle für Einen. Die Last der Gebote, Segen und Fluch trägt das ganze Volk auf seinen Schultern. Danklieder tönen von Allen empor; auch über die kleinsten Begegnisse des Individuum werden sie angenommen, weil dies Individuum zum ganzen Volk gehört. So trägt in den Bestrafungen der Propheten jeder Israelit die Schuld des Andern; der Trost des Andern kommt auch ihm zu Statten; gemeinschaftliche Wünsche, eine gemeinschaftliche Aussicht erhebt das Herz des freudigen und des gedrängten Volkes. Auch seitdem Israel unter alle Nationen zerstreut ward, ist dieser Prophetenton eines Nationalpublicum nicht verhallt. Alle seine Gesänge und Gebete sprechen noch zu Gott mit der Stimme eines verlornen Kindes, eines gedemüthigten Knechtes. Wenn ein Geist der Poesie, der Lehre, der Ermahnung in diesem Volke wieder aufleben sollte, so kann er nicht anders als in solchem Ton zum Volk singen und reden.

Haben wir dies Publicum der Ebräer? Mich dünkt, jedes Volk habe es durch seine Sprache. Diese ist ein göttliches Organ der Belehrung, Strafe und Unterweisung für Jeden, der für sie Sinn und Ohr hat. Das Band der Zunge und des Ohrs knüpft ein Publicum; auf diesem Wege vernehmen wir Gedanken und Rath, wir fassen Entschließungen und theilen mit einander Belehrung, Leid und Freude. Wer in derselben Sprache erzogen ward, wer sein Herz in sie schütten, seine Seele in ihr ausdrücken lernte, der gehört zum Volk dieser Sprache. Ich vernehme noch Otfried's Stimme; die Kern- und Biedersprüche mancher alten Deutschen, die den Charakter meines Volks in sich tragen, sprechen zu mir; Kaisersberg,Geiler von Kaisersberg. – D. Luther predigt mir noch; und was auch von andern Nationen in meine Mundart meisterhaft überging, ist die Stimme eines Publicums worden, zu dem auch ich gehöre. Meine Stimme, so schwach sie sei, bewegt auch Wellen dieses ätherischen Weltmeers. Von den Millionen, die deutsch reden und lesen, werden auch mich Einige verstehen und hören, wären es nur so viel, als PersiusI. 3: »Vel duo vel . . . Nemo.« Vgl. Herder's Werke, VIII. S. 94. – D. sich anmaßt, aut duo aut nemo; auch diese Zwei, lobend oder tadelnd, erregen ihre Wellen weiter. Im Publicum der Sprache hat sogar der Niemand ein Ohr; er lernt von oder an mir und spricht weiter. Und dies Publicum breitet sich fort, so lange die Sprache, selbst mit Veränderungen, dauert, bis sie verständlich zu sein aufhört. Kein Gesetz kann diesen Fortgang verbieten, keine Macht ihn aufheben, bis die Sprache vertilgt ist; und ehe diese vertilgt wird, dazu gehören allmächtige Kräfte der Zeiten.

Nicht der Schriftsteller gehört zu diesem Publicum allein, sondern auch der mündliche Unterweiser, der Gesetzgeber, der Feldherr, der Redner und Ordner. Mittelst der Sprache wird eine Nation erzogen und gebildet; mittelst der Sprache wird sie ordnung- und ehrliebend, folgsam, gesittet, umgänglich, berühmt, fleißig und mächtig. Wer die Sprache seiner Nation verachtet, entehrt ihr edelstes Publicum; er wird ihres Geistes, ihres inneren und äußeren Ruhms, ihrer Erfindungen, ihrer feineren Sittlichkeit und Betriebsamkeit gefährlichster Mörder. Wer die Sprache eines Volks emporhebt und sie zum kräftigsten Ausdruck jeder Empfindung, jedes klaren und edlen Gedankens ausarbeitet, der hilft das weiteste und schönste Publicum ausbreiten oder in sich vereinigen und fester gründen.

Daß unser Deutschland durch seine Sprache sich dies Publicum in solchem Umfange, mit solcher Festigkeit gegründet habe, wie es hätte geschehen mögen, ist sehr zu zweifeln. Ganze Länder sind davon abgerissen; Provinzen und Kreise verstehen einander kaum, nicht nur nicht in Reden, sondern oft selbst nicht in Schriften. Was in manchen Gegenden für Witz gilt, wird in andern als niedriger Scherz verachtet; das Ganze hat so wenig einen gemeinschaftlichen Schritt in der Cultur gehalten, daß schwerlich eine Vorstellungsart zu finden wäre, die auf alle Theile desselben als auf ein gemeinsames Publicum mit gleicher Macht wirkte. Nicht aber nur Provinzen und Kreise, selbst Stände haben sich von einander gesondert, indem seit einem Jahrhunderte die sogenannten obern Stände eine völlig fremde Sprache angenommen, eine fremde Erziehung und Lebensweise beliebt haben. In dieser fremden Sprache sind seit einem Jahrhunderte unter den genannten Ständen die Gesellschaftsgespräche geführt, Staatsunterhandlungen und Liebeshändel getrieben, öffentliche und vertraute Briefe gewechselt worden, so daß, wer einige Zeilen schreiben konnte, solche nothwendig vormals italienisch, nachher französisch schreiben mußte. Mit wem man deutsch sprach, der war ein Knecht, ein Diener. Dadurch also hat die deutsche Sprache nicht nur den wichtigsten Theil ihres Publicums verloren, sondern die Stände selbst haben sich dergestalt in ihrer Denkart entzweit, daß ihnen gleichsam ein zutrauliches gemeinschaftliches Organ ihrer innigsten Gefühle fehlt. Beide sind auf ihrem getrennten Wege nicht so weit fortgeschritten, als sie in Wirkung und Gegenwirkung aus einander hätten kommen mögen, indem der eine Theil meistens an Phrasen, an Worten ohne Gegenstand, leer von innerer Bildung, hängenbleiben mußte, dem andern hingegen bei aller Mühe des Fortstrebens ewig und immer eine Mauer entgegengestellt war, an welcher leere Schälle zurückprallten. Ohne eine gemeinschaftliche Landes- und Muttersprache, in der alle Stände als Sprossen eines Baumes erzogen werden, giebt es kein wahres Verständniß der Gemüther, keine gemeinsame patriotische Bildung, keine innige Mit- und Zusammenempfindung, kein vaterländisches Publicum mehr. Entweder bequemt man sich nach der fremden Denkart des Andern und buhlt ohne Dank und Kraft um dessen leere Vorstellungsweise wie um einen nichtigen Schatten, oder man spricht und schreibt nicht für ihn; er ist ein todtes oder ein hinderndes, oft feindlich wirkendes Glied der Gemeine. Wenn die Stimme des Vaterlandes die Stimme Gottes ist, so kann diese zu gemeinschaftlichen, allumfassenden und aufs Tiefste greifenden Zwecken nur in der Sprache des Vaterlandes tönen; sie muß von Jugend aus durch alle Classen der Nation an Herz und Geist erklungen sein: so nur wird durch sie ein Publicum, verständig und verstanden, hörend und hörbar. Jede fremde bleibt eine entzweiende Samaritersprache.

2. Publicum der Griechen.

Daß dem also sei, wollen wir schöner an den Griechen lernen. Wahrscheinlich war ihre Sprache anfangs so ungebildet als jede Volkssprache in rohen Zeiten: da stieg Kalliope, da stiegen Götter vom Himmel hernieder. Mercur erfand die Lyra; die Zither begleitete Apollo mit herzerweckendem Gesänge; mehreren Söhnen der Muse folgte Baum und Fels, es horchten ihnen Ströme; kurz, ohne Fabel zu reden, Poesie, mit Musik begleitet, erschuf und bildete sich ein griechisches Publicum in einer feinern Sprache und einer feineren Gedankenweise. Die Fabelnamen Orpheus, Linus, Musäus sind in Absicht der Wirkung, die sie hinterließen, keine Fabelnamen; die Form ihrer Götter- und Menschengestalten, die Melodie ihrer Weisheitsprüche und Lehren, der rhythmische Gang ihrer Empfindungen und Bilder ward dem Ohr, dem Gedächtniß der Hörenden eingeprägt und ging von Munde zu Munde, endlich auch in Schriften und Gebräuchen auf die spätere Nachwelt. Die Gesänge, die Homer und andre Rhapsoden in kleineren Kreisen sangen, waren nicht verhallt; sie kamen gesammelt nach Athen, sie erklangen am panathenäischen Feste. Die Hymnen der Homeriden, Lieder und Chorgesänge der verschiedensten Art, dichterische und musikalische Wettstreite zierten und kränzten jede Volksversammlung, jedes öffentliche Spiel, jede feierliche Religions- und Staatshandlung. So ward ein Publicum der Griechen für Poesie, bald auch für Prose. Herodot las seine Geschichte dem versammelten Griechenlande, wie so viele Dichter vor ihm ihre Gedichte größeren oder kleineren Kreisen gesungen hatten: denn selbst die Gastmahle der Griechen hatten eine Art fröhlicher Publicität und waren nicht ohne Musen. Auf diesem Wege entstand das griechische Schauspiel, das allen seinen Theilen nach ein Publicum voraussetzte und ein Publicum vergnügte. Auf diesem Wege gelangte die griechische Kunst zu ihrer Höhe; die Muse, die dem Künstler seine reinen, hohen Ideen eingab, hatte sich auch Gelegenheiten, Oerter und Plätze geheiligt, wo sie solche mit Würde zeigen und einem dazu gestimmten Volk sichtbar machen konnte. Selbst in die Beratschlagungen und Zänkereien vor Gericht ging Redekunst als ein Haupterforderniß über. Indem Alles vorm Publicum verhandelt wurde, so ward dies Publicum durch Rede gefesselt, durch Kunst der Rede geführt und gelenkt.

Haben wir dies Publicum der Griechen? Nein; und in mehreren Stücken ist's villeicht gut, daß wir es nicht haben. Wo über Krieg und Frieden, über Leben und Tod der Beklagten, über Verdienst und Belohnung die Kunst der Rede gebieten darf: wie vielen Verleitungen ist und bleibt die Seele eines unerzogenen Volks ausgesetzt, die mit ihrem ganzen Urtheil im Ohre wohnt! Die Geschichte der griechischen Republiken, insonderheit Athens, zeigt uns davon eine große Galerie fürchterlich schön gemalter Beispiele, bei deren Ueberblick mancher Nordländer oft mit frohem Schauder sagen wird: »O der leichtsinnigen Griechen! Wohl uns! diese Zeiten sind vorüber!« Ein Gleiches wird er vielleicht von den Religions- und Staatsfeierlichkeiten, den öffentlichen Spielen, Tänzen, Uebungen und Wettkämpfen, vielleicht auch vom ganzen Theater in Athen sagen. Und allerdings gehört Alles dorthin und in jene Zeiten.

Aber warum hätten wir denn ein Theater, wenn wir kein Publicum fürs Theater haben mögen? Warum hätten wir Kunst, wenn es nicht die griechische sein kann? Warum unterfingen wir uns, Vergnügungen des Geschmacks zu haben, wenn es kein Publicum des Geschmacks geben soll? Warum endlich spielen wir mit Musik, Redekunst, Poesie und Sprache, wenn diese nicht zu Zwecken angewandt werden, zu denen sie, allein und verbunden, eigentlich bestimmt und geschaffen sind? Ihrer Natur nach erfordern sie ein Publicum; ohne solches sind sie todt und begraben.

Ein Hymnus z. B. gehört seiner Natur nach für eine Versammlung. Der Dichter, der diese nicht um sich erblickt, nimmt Himmel und Erde, Wälder und Felsen zu seinen Zuhörern und Zeugen. Die Stimme eines lyrischen Dichters ruft ein Publicum an und auf. Der Sänger, ja selbst der Geschichtschreiber großer Begebenheiten fordert einen Kreis von Männern, Weibern, Jünglingen und Kindern um sich her, denen seine Begebenheiten in Ohr und Seele tönen. Sie öffnen ihm nicht etwa nur eine Bühne, auf der er in ihrem Beifall seinen ganzen Ruhm ernte, sondern ihre Gemüther selbst sind seine Arena, der Schauplatz, das Ziel, das Maaß seiner Wirkung. Die Scene, die der epische Dichter nicht also beschreibt, daß sie den Augen des Zuhörers sichtbar wird, also daß auch in der Seele der Handelnden mit gehaltenem Interesse Alles vor seinen Augen vorgeht, ist keine epische Scene; die Begebenheit, die der Geschichtschreiber im Zusammenhange ihrer Folgen, wo möglich auch ihrer Ursachen, nicht also gegenwärtig zu machen weiß, daß dem Zuhörer sein eignes klares Urtheil darüber reift, ist eine mangelhaft erzählte Geschichte. Der lyrische Dichter, der mit seiner Kunst in der Seele des Hörenden nicht den Grad von Theilnehmung trifft, auf den seine Kunst als auf den Punkt ihrer Vollkommenheit rechnet, hat auf ein Nichts gearbeitet und verfehlt seine Wirkung. Alle diese Productionen also wollen ein Publicum, aus welchem sie gleichsam hervor-, auf welches sie zurückgehen, aus welchem sie die Regel ihrer Kunst nahmen.

Wo sind nun in Deutschland die Odeen unsrer Geschichtschreiber, unsrer lyrischen und epischen Dichter? Wo sind die Schulen, in denen man die edelsten Gesänge den Jünglingen ans Herz legt und sie nebst den schönsten classischen Stellen der Alten nicht etwa blos declamirt, sondern in die Seelen schreibt? Nur was selbst Gestalt hat, kann Gestalt geben; nur Flamme kann Flamme verbreiten. Ein Athem aber kann auch aus Funken eine Flamme wecken und viele todte Kohlen entzünden. An glühenden Funken hat es Deutschland nicht gefehlt; sie sind aber nie zur Flamme angefacht worden. Der sogenannte Minnegesang war Hofgeschmack; er ging vorüber. Die Zeiten der Reformation brachten flehende Gefahr-, dankende Lobgesänge in den Mund Vieler; sie gingen mit der Gefahr vorüber. Der dreißigjährige Krieg weckte Stimmen mancher Art für beide Parteien; die Feldherrn der Ligue wurden ebensowol als die Feldherrn und Retter der Union gepriesen, und unter den Letzten sind die Namen eines Ernst von Mansfeld, Christian von Anhalt, Johann Ernst und Bernhard von Weimar, Gustav Adolph, Georg von Baden der deutschen Muse nicht fremde geblieben. Leider aber ist diese keine Tochter Mnemosynens, oder sie ist von ihr zwischen Schlaf und Wachen erzeugt. Nach dem westphälischen Frieden vergaß man aller Gefahr und hat über hundert Jahre, dann und wann unsanft aufgerüttelt, sanft geschlafen. Alle weckende Stimmen, leise und lauter, sind vergebens gewesen; unsre Dichter waren oder hießen Versmacher, Reimschmiede; seit einem halben Jahrhundert las man Voltaire und ließ die deutsche Geschichte erröthen und schweigen. Sie schweigt noch und darf an eine Geschichte des deutschen Geschmacks, der deutschen Cultur, der deutschen Festivitäten und Lustbarkeiten nicht ohne Beschämung denken.

Auf dem Theater wird ein Publicum oder ein Theil desselben einem andern Publicum zur Schau vorgestellt; offenbar war dies die Idee der Griechen, im Trauerspiel mit dem Chor, im Lustspiel mit dem einzeln oder in Masse personificirten Volke. Theater und Zuschauer hingen also wie Bild und Abbild, wie Seele und Körper zusammen; sie wirkten an und gegen einander; eins wurde durch das andre gehoben und belebt. In Italien und Frankreich (England kenne ich nicht) ist dies auf den besten Bühnen auch also; daher der Theatergeschmack in diesen Ländern so lang umherirrte, bis er einen Punkt der Vereinigung mit seinem Publicum fand und sich entweder durch musikalisches oder durch dramatisches Spiel in eine Mitte des Gebens und Nehmens, des gegenseitigen Genusses und Belehrens setzte. Ich zweifle, ob dies in Deutschland, wenige Charaktere und Scenen ausgenommen, je der Fall gewesen. Daß man es wenigstens auf die Vereinigung und gegenseitige Ausbildung des Geschmacks der Bühne und des Publicums sehr spät und äußerst selten angelegt hat, ist aus der Geschichte des deutschen Theaters klar. Außer den alten Mysterien, Klosteragenden oder Marionetten kam die Bühne als Hoffeierlichkeit nach Deutschland; das Volk ward hinzugelassen, sich an diesen prächtig gekleideten Hof- und Staatsrevolutionen, die hinter den Lichtern vorgingen, als Pöbel zu erbauen. An manchen Orten Deutschlands hat die Bühne diese Hoftheater-Gestalt und Verwaltung beibehalten und steht also ganz außer dem Gebiete der Kunst, weil sie zum Hofetikette gehört. In andern Provinzen ziehen Banden umher, wie man die Schauspieler mit dem alten deutschen Heldennamen zuweilen noch jetzt nennt; sie gehen, wie es die Deutschen von jeher gern thaten, aus Bande in Bande und nehmen Dienste, nachdem sie bezahlt und gedungen werden. Wäre es nicht unvernünftig und grausam, von ihnen ein Ideal der Kunst, ein correspondirendes Publicum zu fordern? Einzelne Dichter und Schauspieler haben sich, ich möchte sagen über das Mögliche, hinaufgeschwungen; sie konnten aber keine neue Welt um und vor sich schaffen; Diese müssen aufführen, was Jene geben, wie sie es mit Andern aufführen können, und wie am Ende ihr Publicum gebietet. Da ich hier keine Kritik des Theaters schreibe, so bemerke ich nur Eins: daß bei uns, wie mich dünkt, durchs Theater das Publicum gebildet werden müsse, nicht aber durchs Publicum das Theater. Fürs Theater haben wir noch kein richtendes Publicum, eben weil die theatralische Kunst im Sinne der Griechen die Kunst der Künste ist, von der selbst nicht jeder Dichter, noch weniger jeder Liebhaber, am Wenigsten endlich der sich belustigende Pöbel Begriff hat. Schmeichelt man dessen Gaum und belustigt sich an seinem Beifall, so ist man am Rande; man verdirbt und verderbt. Welche Räume aber haben wir noch auszumessen, ehe nicht an ein gebildetes Publicum, sondern nur an die Bildung dieses Publicums nach deutscher Sitte und Lage zu gedenken ist! Und doch giebt es außer einem mit Sinn und Wohlgefallen belebten Schauspiel kein Schauspiel; es wird ein Haus voll Puppen, oder wir sind in schlechter Gesellschaft.

Soll eine Nation keine Einbildungskraft haben, so wolle man diese auch nicht wecken; sie schlummere. Weckt man sie, so bilde man sie auch aus; man lasse nur Stücke, die für sie sind, und diese auf eine Weise aufführen, daß man vom bösen Geschmack des Publicums nicht abhange, sondern diesen Geschmack ausrotte oder ihn zum Guten lenke. In Athen entstand das Theater zu Aeschylus' Zeit aus dem hohen Gefühl der Freiheit und des Sieges über den großen König; dies Gefühl stimmte die Seele zum Anblick andrer großen Begebenheiten, die tragisch vorgestellt wurden. In Frankreich und England ist das Theater (die Modificationen der Zeit abgerechnet) auf ähnliche Weise entstanden; denn wenn man von großen Begebenheiten seiner Zeit hört oder liest, so will man diese auch durch Kunst bearbeitet und von ihr vorgestellt sehen. Das Publicum der Welt wird sodann von selbst ein Publicum des Theaters. Gleichergestalt fordert die Komödie, die Charaktere und Sitten vorstellt, eine anschauende Kenntniß der Nation, eine leichte Existenz, eine sich selbst bestimmende moralische Freiheit. Der dürftige Knechtessinn ist eine mephitische Luft, in der jede Flamme erstickt wird.

Die Philosophie der Griechen hatte eigentlich kein Publicum, wie die Künste; ihrer Natur nach hatte sie dessen auch nicht nöthig.

Die ältesten Weisen der Griechen waren Gesetzgeber; und wohl dem Volk, dessen Gesetzgeber Weise sind. Sokrates erschien in einer bedrängten Zeit: sein Publicum waren Privatgesellschaften oder einzelne Personen; seine Methode war auf die Entwickelung der Grundsätze des Wahren, Guten und Schönen in diesen einzelnen Personen berechnet. Und dieses, dünkt mich, sei der Zweck der wahren Philosophie: Selbstbildung. Der Lehrer kann und will dabei nur eine Hebamme unsrer Gedanken, ein Mithelfer unsrer eignen, arbeitenden Kräfte werden. Sokrates hatte seinen eignen Genius, der nachher nicht oft, aber doch hie und da, z. B. in Montaigne, Addison, Franklin u. A., wieder erschienen ist und die eigne Bearbeitung des menschlichen Geistes und Willens zum Zweck hatte. Von der Stimme des Publicums hängt diese nicht ab; vielmehr wird sie oft durch solche behindert, daher Sokrates mit den Sophisten, die das Publicum stimmten und mißstimmten, fast immer im Streit lag.

Die Sokratische Philosophie gedieh zu mehreren Schulen; in diesen gab's exoterische und esoterische Zuhörer – abermals ein Unterschied, den die Natur der Sache billigt. Ein großes, unausgesondertes Publicum, das Metaphysik spricht und über Metaphysik entscheidet, ist ein Ungeheuer! und wenn man von einer Nation sagen könnte, sie habe nie für etwas als für Metaphysik Enthusiasmus gezeigt, so sagte man dieser Nation nicht viel Gutes nach. Xenophon und Plato behandeln die Philosophie sehr vernünftig; allenthalben locken sie solche als eine Blüthe des menschlichen Geistes und menschlicher Geschäfte hervor. Der Denker Aristoteles schrieb für kein anderes Publicum als für seine Schule; daher die ganze Form seiner Schriften. Epikur und Zeno gingen mit veränderten Grundsätzen auf gleichem Wege; jedem ihrer Schüler blieb es frei, die Metaphysik ihrer Secte an Stelle und Ort zu lassen, dagegen aber die wahre, die praktische Philosophie für Leben und Publicum desto kräftiger anzuwenden. Dies ist der wahre Sokratismus.

Wenn eine philosophische Schule als solche aufs Publicum wirken wollte und auch hie und da mächtig gewirkt hat, war's der Pythagoreismus; wir wissen aber, wie es ihm erging. Und was damals in kleinen zubereiteten Kreisen nicht geschah, wann wird es erfolgen? Ein philosophisches Publicum ist ein höchstes Bild, zu welchem man streben kann, das man aber ja nirgend ganz und realisirt zu erblicken glaube.

Wo also die Griechen standen, stehen wir in Ansehung des Publicums mehr und minder mit der Philosophie noch jetzt; Jeder, der es sein kann und werden will, muß sich selbst zum Philosophen bilden. Der Lehrer hält ihm die Wahrheit vor, damit er sich solche autonomisch zueigne; denn Weisheit läßt sich so wenig als Tugend und Genie von Andern lernen.

Die Schulen der Philosophie indessen, blos als Handleiterinnen betrachtet, mit welcher erstaunlichen Macht können sie aufs Publicum wirken! Ein Lehrer der Philosophie, wie er sein soll, hat ein Reich über menschliche Seelen, in welchem er mächtiger als ein König gebietet. Er pflanzt Grundsätze, er giebt Ideen, er stellt Ideale fest, die nachher auf tausend Gedanken und Handlungen seiner Zuhörer, ja aller Derer, auf welche sie wirken, erkannten und unerkannten Einfluß haben. Unsägliche Wirkungen z. B. hat die stoische Philosophie, der Epikureismus, Platonismus, Pythagoreismus in der Reihe der Dinge hervorgebracht und wird sie hervorbringen, wenn auch unter neuen Namen, mit andern Modificationen und Formen. So lange es Vernunft und Willen im Menschen giebt, so lange wird es ein verborgenes, stilles Publicum für Philosophie geben; nur erwarte man dieses nie sichtbar auf einem Markt oder in einer Schule.

Fassen wir, was gesagt ist, zusammen (denn vom politischen Publicum der Griechen wollen wir nicht reden), so ergiebt sich, daß in Ansehung der Sprache, der Kunst und des Geschmacks gegen die Griechen, wie wir sie jetzt nehmen, wir eigentlich noch gar kein Publicum haben und gehabt haben. Mit Wohlgefallen haben wir uns eine Cultur andichten lassen, von der ganze Stände und Provinzen durchaus nichts wissen, und schlummern auf diesem erträumten Ruhme. Ich fürchte und hoffe, daß uns die Zeit aus diesem Schlummer wecken werde. Unsere Nation kennt sich schwerlich, bald ist es Religions-, bald politische Partei, bald die unübersteigliche Grenze eines Standes und Ständchens, was die Stimme, ja sogar nur den Gedanken an ein teilnehmendes Publicum, selbst in Sachen des Geschmacks und der Bildung, geschweige des allgemeinen Interesse, theilt und aufhält. Welche Werke der Wissenschaft, des Fleißes, der Verteidigung Deutschlands oder irgend eines allgemeinen Nutzens sind zu Stande gekommen, zu denen der Beitritt eines ansehnlichern und reicheren Publicums aus mehreren oder allen Provinzen nöthig war? Die reichern Stände sind dabei jederzeit am Untheilnehmendsten geblieben; und jene alten Einrichtungen, die eigentlich doch für Wissenschaften und Cultur der Nation bestimmt sind, Domcapitel und Stifte, waren sammt dem ganzen Theile der Nation, der die französische Cultur liebte, für deutsche Wissenschaften gewöhnlich ganz todt; daher wir denn, trotz alles Privatfleißes, trotz mancher kühner Unternehmungen voll guten Zutrauens, das dafür büßen mußte, an Dingen dieser Art unsern Nachbarn, Briten und Franzosen, ja selbst Dänen und Schweden weit nachstehn. Die deutsche Literatur, eine rüstige Arbeiterin und Dienerin des Wissens, erscheint in einem Bettlermantel von Maculatur; sie richtete selten etwas mehr aus, als wohin Privatfleiß, einzelnes Genie reicht. Die unschätzbaren Sammlungen der Kunst, die in vorigen Jahrhunderten ein vorübergegangner Hofgeschmack zusammengebracht hat, stehen oft unter harten Gesetzen der Clausur als Heiligenbilder da, anschaubar, nicht immer brauchbar, noch weniger weckend, am Wenigsten begeisternd. Ueber den Werth unsrer besten Productionen haben sich die Stimmen unsers Publicums nach Jahren und Jahrhunderten noch so wenig vereinigt, daß, wenn nicht Ausländer den Ton angegeben und mit Gewalt festgesetzt hätten, selbst über Leibniz' Verdienst Deutschland noch in der größten Unsicherheit wäre. Indessen geht der Weg der stillen Bildung fort. Was uns nicht genommen werden konnte, ist deutsche Sprache, deutscher Verstand und guter Wille; diese werden, wenn und sobald sie es vermögen, einmal ein deutsches Publicum bilden. Die Vernunft geht auch ihres Weges fort und ist in allen Zeiten und Erdräumen nur eine. Der Geschmack endlich ist eine Nationalpflanze; wo sie nicht gepflegt wird oder des Bodens und Klima wegen nicht anders als in schlechten Treibhäusern aufkommen kann, da geht sie durch Unfreundlichkeit des Himmels unter. Have!

3. Publicum der Römer

Von diesem werde ich nur wenig sagen dürfen. Was in ihm Kunst und Geschmack war, stammte von den Griechen her, die meistens auch seine Mithelfer blieben. Als Ueberwinderin sammelte Rom; sie erfand aber nichts Neues. Auch die Sprache der Römer bildete sich nur durch die Griechen zu einer reinen und ewigen Sprache.

Das Publicum also, das für die classische Denkart in Rom blühte, war ein erbeutetes, künstliches Publicum; die Einrichtung der Stadt selbst war von einer Art, daß vielleicht keine Reichsstadt sie sich auf dauernde Zeiten wünschen möchte. Weder das Volk noch der Senat verdienen, außer der Rücksicht, daß sie Herren der Welt werden wollten und waren, absolute Hochachtung; einen Populus Romanus, der mit römischer Anmaßung für seine Stimme Brod und Circensische Spiele begehrt, wünschten wir uns auch nicht. Ebenso wenig Clienten und Candidaten nach römischer Weise. Also das Forum und den Senat an seine Orte gestellt, blieb den Römern, die ein dauerndes Publicum suchten, nichts, als was auch wir haben, der Beifall und die Stimme der erlesensten edlen Römer. Diese hörten ihren Vortrag oder kauften ihre Rolle; sie billigten und mißbilligten, wie es ihnen gutdünkte. Daß aber in den bessern Stellen ihrer Gedichte Lucrez und Catull, Horaz und Virgil, Ovid, Tibull, Properz u. A. so classisch ausgearbeitet, vollendet und schön schrieben, zeigt, daß sie sich feinere Vorbilder, schärfere Leser und ein höheres Publicum dachten, als viele unsrer Dichter und Schriftsteller zu denken gewohnt sind. Ihre eigne Bildung und die Höhe, auf welcher Rom stand, trug dazu bei. Der Geschichtschreiber Rom's schrieb die Geschichte der Weltmonarchin; ihre Dichter sangen in der römischen Sprache; in dieser stellten ihre Rechtsverständigen Urtheile aus, als die Stimme ihrer großen Redner dahin war; mit dem Allen können wir uns nicht gleichen. Wenn aber unsre Sprache eine Schwester der griechischen ist, da die römische nur die angenommene Tochter derselben war, so hätten wir, sobald wir uns zur römischen Denkart erheben könnten, eine weitere Laufbahn vor uns als Jene. Ueberwinder der Welt wollen wir nicht werden; was aber in uns römischen oder (wenn dieser einst größere Name noch einen Werth hat) deutschen Charakter enthält, warum sollten wir das einer Sprache nicht geben können, die einst in viel roherem Zustande auch eine Herrin der Welt war? Dichter und Geschichtschreiber, Rechtslehrer und Gesetzgeber, warum wurdet Ihr zu solcher Zeit nicht auch wie Jene für ein fortdauerndes Publicum Herren der Erde?

4. Publicum des Christenthums

Als der Urheber des Christenthums seine Stimme erhob, verbreitete er mit derselben ein Publicum über die Völker. Er kündigte ein ankommendes Reich an, zu dem alle Nationen gehören, und das nicht in äußerlichen Cerimonien, sondern in Uebungen des Geistes, in Vollkommenheiten des Gemüths, in Reinheit des Herzens, in Beobachtung der strengsten Billigkeit und einer verzeihenden Liebe unter den Menschen blühe. Dahin zielen seine Reden, dazu rüstete er Andre aus, und das Gebet, das er seine Schüler lehrte, ist darüber ein bittendes Bekenntniß. »Es soll ein Reich zu uns kommen, in dem alles Ehrwürdige geehrt, jede heilige Pflicht gethan und der Wille Gottes auf Erden so willig und vollkommen vollbracht werde, wie ihn die seligen Geister ausüben.« Seine Stimme, die Stimme seiner Boten in Lehren und Schriften erklang; es entstand eine Gemeine, ein christliches Publicum unter mehreren Nationen, das sich zu dieser Lehre, Pflicht und Hoffnung bekannte.

Haben wir noch dies Publicum? Allerdings; die kleinste christliche Versammlung ist ein Symbol der einen allgemeinen Kirche, die unter hundert Völkern der Erde lebt. Diese war und ist hie und da mit Mißbräuchen bedeckt, mit Mißverständnissen umnebelt; der reine klare Sinn der Stiftung dieser Geistesversammlung, ihr auf alle Zeiten und zum Gebäude der gesammten Menschheit wirkender Zweck bleibt aber unverkennbar. Nicht in der Prachtgestalt eines drückenden stolzen Gesetzes, in der aufmunternden, sanften Gestalt einer tröstenden Friedensbotschaft wirkt dies moralische Institut auch zu den strengsten Pflichten. Wo Zwei oder Drei versammelt sind, lebt der Stifter dieser Versammlung; im Inhalt seiner Lehre selbst liegt ihr Zweck, die Auferbauung eines moralischen Gebäudes, bis zum Ende der Zeiten.

Es ist traurig, wenn dieser Zweck, auf ein seiner Natur nach fortgehendes ewiges Publicum zu wirken, hie und da verkannt wird, indem man entweder Particularmeinungen, sogar Spekulationen ins Christenthum mischte, die dazu durchaus nicht gehören, oder den todten Buchstaben todtbuchstäblich behandelt. Jedem Denkenden bleibe seine Privatmeinung über Dies und Jenes; jeder speculative Kopf schmücke sein Lehrgebäude mit seiner besten Speculation aus; nur die Christenheit, als Publicum betrachtet, bleibe damit verschont. Die Lehre und der Zweck des Stifters sei oder werde ein reiner Strom, der, was ihm von National- und Particularmeinungen wie ein trüber Bodensatz anhing, mehr und mehr niederschlägt und absetzt. So thaten es schon die ersten Boten des Christenthums mit ihren jüdischen Vorurtheilen, je mehr sie in die Idee eines christlichen Publicums, eines Evangeliums für alle Völker eintraten; und es kann nicht fehlen, daß diese Läuterung des Christenthums durch sanfte oder rauhe Mittel nicht mit den Jahrhunderten fortgehen sollte. Es ist sehr lehrreich, die Folge zu bemerken, mit der sich in der sogenannten Kirchengeschichte die harte Hülse des Christenthums gebildet, hie und da aufgelöst und jedesmal einen reicheren Kern, einen feineren Samen der Fortpflanzung gewährt hat; so wird das Werk, mit oder ohne Namen des Urhebers, fortgehen bis ans Ende der Zeiten. Manche Formen sind zerbrochen, andre werden sich auflösen; nicht durch äußere Gewalt, sondern durch den innern treibenden Keim selbst, den die Sonne ruft, dem die ganze Natur ihre Stärke zuhaucht. Glücklich, wenn man in ein Publicum tritt, an welches diese Stimme in reinem Klange tönt! Sie umfaßt alle Stände, dringt durch alle Gewölbe und trifft den wesentlichen Punkt der Menschheit. Ueber augenblickliche enge Verhältnisse, selbst über die Schranken der Fassungskraft dieser einzelnen Versammlung hinweggerückt, ahnt man ein fortgehendes erlesenes Publicum und athmet die Aura einer reinmoralischen Zukunft.

5. Publicum der Literatur

Das Christenthum hatte ein Band unter Völkern geknüpft, wie es durch die Eroberungen Alexander's, der Römer und Hunnen nie geknüpft worden; seinem Zweck nach ein friedenstiftendes Band, so oft es auch zu Streit und Händeln Gelegenheit gab oder gemißbraucht wurde. In den Händen der Vorsehung ward es zugleich ein Band der Cultur, einer gemeinschaftlichen Cultur der Völker. Wechselseitige Rechte und Pflichten kamen dadurch zwar nicht in bleibenden Gebrauch, doch aber in ein anerkanntes Licht, in eine immer neu angefangene Uebung. Die Völker Europa's wurden sich nicht nur bekannter, sondern auch durch gegenseitige Bedürfnisse bei gemeinsamen Zwecken und Bestrebungen einander unentbehrlich; ihre Tendenz ward immer mehr und mehr auf einen Punkt gerichtet. Erfindungen kamen hiezu, die bei diesen gemeinschaftlichen Bedürfnissen ein Volk vom andern borgte, worin eins dem andern vorzueilen suchte; es entstand in ihrer Vervollkommnung ein Wetteifer unter den Nationen. Nun konnten nicht so leicht mehr Gedanken, Versuche, Entdeckungen, Uebungen untergehen, wie in Zeiträumen der einst von einander getrennten Völker; das Samenkorn, das hier und jetzt keine Wurzel fand, trug ein günstiger Zephyr auf einen mildern Boden, wo es vielleicht unter neuem Namen gedeihte. Im Druck der Zeiten und des Klima schlossen sich Zünfte zusammen, die mit gemeinsamer, oft etwas roher Hand dem Fleiß, der Thätigkeit, allmählig auch der Erfindung und dem Geist der Menschen Schutz und Dauer verschafften, die also, wiewol sie durch Privatleidenschaften und drückende Verhältnisse das Werk der Vorsehung oft zu hindern schienen, zuletzt dasselbe doch fördern mußten. Durch alles Reiben der Völker, der Gesellschaften, Zünfte und Glieder unter einander erwuchs immer ein größeres oder feineres Publicum, das in Streit und Friede, in Liebe und Leid an einander Theil nahm. Auf diesem Wege bekam die rohe Kunst, der vom Bedürfniß erpreßte Fleiß der Einwohner Europa's nicht nur diesen ganzen Welttheil, sondern durch ihn auch alle Welttheile zum gemeinschaftlichen Boden. Was für den Krieg und Handel, für die Seefahrt und den Luxus erfunden und ausgeübt ward, verbreitete seine guten und schädlichen Wirkungen auf alle Welttheile unsrer bewohnten Menschenerde; alle Völker Europa's greifen hiebei in einander und halten unsern Erdball für das Publicum, worauf sie zu wirken haben.

Von frühen Zeiten her sind Schulen und Universitäten ein Mittel gewesen, für Kenntnisse und Wissenschaften ein Publicum zu verbreiten; ja, sie sind es noch. Selbst die Scharfsinnigen in mehreren geistlichen Orden flüchteten sich hinter ihre Schutzmauern und breiteten von da aus ihre Meinungen weit umher. Was man nicht lehren durfte, darüber disputirte man nach akademischen Gesetzen und übte die Denkkraft der Menschen. Wiclef und Luther schützte die Universität; und auch Huß hätte sie geschützt, wenn er sich nicht auf das treulose Wort eines Kaisers verlassen hätte. Mehr noch aber als Schutz gab die Universität den Meinungen ihrer Lehrer: auch Gewicht, Stärke, Ausbreitung. Tausende junger Leute aus verschiedenen Ländern, in Jahren, da die Seele Alles mit Liebe erfaßt, da Jünglinge den Lehrer nicht ohne Begeisterung ansehen, hörten ihre Stimme und trugen ihr Wort Jeder in sein Vaterland, zu seinem Geschäfte. Jahre nach Jahren wechseln diese Zöglinge der Universitäten; als Schaaren von Zugvögeln kommen sie, rauben das Wort des Lehrers und fliegen damit in ihre Lande. Ein großes, achtungswürdiges Publicum! das bildsamste, wirkungsreichste, dessen die Menschheit in ihrem jetzigen Zustande fähig ist, und welches noch lange, in immer verbesserter Gestalt dauern möge! Die Jahre des Jünglinges auf der Akademie sind ihm zeitlebens die liebsten Jahre; was er da mit Lust zur Wissenschaft, im ersten Feuer der Begeisterung, noch unbekannt mit Lasten und Hinderungen des Lebens, oder mit jugendlichem Muth diese verachtend, als Beute des Wissens, als Regel der Uebung annahm, das bleibt ihm lang oder immer ein froh erworbener Schatz, eine heilige Regel.

Haben wir noch dies Publicum der Schulen und Universitäten? Wir haben's noch, und es hat sich (was man auch sagen möge) nicht verschlimmert, sondern verbessert. Seltner treten jetzt die rohen Heere erwachsener Streiter auf dieses Feld des Wissens und Lernens; zartere Jünglinge sind es, in denen das Wort des Lehrers auch zartere, deshalb aber nicht unkräftigere Wurzeln schlägt. Wenn sie es nicht mit der Klinge behaupten, so hangen sie ihm desto gewissenhafter an; der Lehrer sprach für sie selbst jugendlicher und weckte ihr eignes Nachdenken, ihre mit ihm wirkenden Kräfte. Einst lernte man und behauptete; er cultivirt und bessert. Statt des ehemaligen Secten- und Raufgeistes nehmen mehrere Universitäten eine feinere Tendenz an, Gesellschaften der Wissenschaft, Pythagorische Schulen zu werden, in denen sich die erlesensten Jünglinge nicht zum Wissen der Dictaten, sondern zur Wissenschaft, zur Uebung und Kunst ihres Lebens oder Geschäfts bilden. Ein schönes Publicum, wenn der Lehrer den Werth seines Geschäfts fühlt. Glaube Niemand, daß mit Wiclef, Huß, Luther diese große Wirkung der Universitäten vorüber sei; die Reformation auf ihnen in jeder Wissenschaft, Facultät und Lehre ist noch nicht stillgestanden; ja, sie wird und kann nicht stillstehen, so lange Universitäten da sind. Mehrere Lehrer einer Facultät, mehrere Facultäten, mehrere Universitäten gegen einander sind gemeiniglich in Wettstreit; dieser Wettstreit muß mit den Jahren nicht abnehmen, sondern wachsen. Je mehr die Handwerkshindernisse geschwächt werden (dies müssen sie nothwendig), je mehr das Werk der Akademien ein Werk des Geistes und einer freien Uebung wird, desto mehr entzündet sich der Wetteifer mit reinerer Flamme. Universitäten sind Wacht- und Leuchtthürme der Wissenschaft; sie spähen aus, was in der Ferne und Fremde vorgeht, fördern es weiter und leuchten Andern selbst vor. Universitäten sind Sammlungs- und Vereinigungsplätze der Wissenschaft; aus ihrer Zusammenstellung und gegenseitigen Befehdung oder Befreundung entspringen dort und dann neue Resultate. Universitäten endlich sollten die letzten Freistätten und eine Schutzwehr der Wissenschaften sein, wenn solche nirgend eine Freistatt fänden. Was allenthalben verkannt würde, was im Geschäft hie und da seine Stimme wehrlos erhübe, sollte hier einer unparteiischen Aufmerksamkeit und eines Beistandes genießen, der von keinem Einfluß gestört würde. Irre ich nicht, so ist dies mehrmals geschehen; die Rathschläge der Lehrer haben Verfolgungen aufgehalten, die die Rathschläge der Staatsweisen nicht unterdrücken mochten; und so sehe ich auch für die Zukunft Rathschläge der Lehrer auf Universitäten hervorgehen, denen die Rathschläge blöder Weisen kaum bestehen mögen. Bis also die Universitäten sich selbst unnoth machen, unterstütze man ihren Werth; ihr Publicum wird noch lange durch ein besseres nicht ersetzt werden. Zunächst gilt dieses von den Universitäten Deutschlands; fast sind sie die einzige Gattung deutscher Institute, die jedes Ausland mit Recht ehrt.

Ein noch größeres Publicum hat uns die Buchdruckerei verschafft; es ist sehr gemischt und fast unübersehlich. Welche Mühe kostete es in ältern Zeiten, Bücher zu haben, mehrere zu vergleichen und über einen Inbegriff von Wissenschaft zu urtheilen! Jetzt überschwemmen sie uns; eine Fluth Bücher und Schriften, aus allen für alle Nationen geschrieben. Ihre Blätter rauschen so stark und leise um unser Ohr, daß manches zarte Gehör schon jugendlich übertäubt wurde. In Büchern spricht Alles zu Allem; Niemand weiß, zu wem. Oft wissen wir auch nicht, wer spreche; denn die Anonymie ist die große Göttin des Marktes. Von einem solchen Publicum wußte weder Rom noch Griechenland; Guttenberg und seine Gehilfen haben es für die ganze Welt gestiftet.

Was ist darüber zu sagen? Dies, daß es, ohngeachtet aller und der schnödesten Mißbräuche, ein großes Geschenk, ein unwiderrufliches Privilegium für die menschliche Gesellschaft und ein ungeheures Mittel der Vorsehung sei, dessen Wirkungen und Folgen noch nicht vor unserm Auge liegen. Was geschehen ist, können wir nicht zurücknehmen; die Buchdruckerei ist da, nicht nur als Nahrungszweig für Handel und Arbeit, sondern als eine Tuba der Sprache, so weit dies oder jenes Product reicht. Alle Monarchen der Welt, wenn sie mit vereinten Kräften für jede Druckerstube träten, könnten die arme Familie dieses Letternkastens, das Asyl und den Telegraph menschlicher Gedanken, nicht zerstören. Ja, wer wollte es zerstören, da es nebst einigem Bösem so unsäglich viel Gutes gestiftet hat und seiner unschuldigen, aber kräftigen Natur nach nothwendig noch stiften wird. Der Redner übertäubt mich; der Schriftsteller spricht leise und sanft; ich kann ihn bedächtig lesen. Der Redner blendet mich mit seiner Gestalt, mit seinem Gefolg und Ansehn; der Schriftsteller spricht unsichtbar, und es ist meine Schuld, wenn ich mich von seinem Wortprunk hintergehen oder mir von seinem Geschwätz die Zeit rauben lasse; ich soll ihn prüfen, ich darf ihn wegwerfen. Gegenseits ist auch freilich das Irrsal und die Verführung des Redners vorübergehend und in einem Kreise beschlossen; das Gift und Irrsal des Schriftstellers, seine Ehre und Schande dauert. Er selbst kann sie nicht, als etwa durch Besserung, durch Widerruf zurückrufen; und auch dadurch wird, was geschehen ist, nicht ungeschehen. Wer weiß, ob dies Blatt des Widerrufs oder der Widerlegung in die vorige Hand kommt, oder ob es dem Irrthum gleich wirkt? Das Publicum der Schriftsteller ist also von eigner Art; unsichtbar und allgegenwärtig, oft taub, oft stumm und nach Jahren, nach Jahrhunderten vielleicht sehr laut und regsam. Verloren und doch unverloren, ja unverlierbar ist, was man in seinen Schooß schüttet. Man kann nie mit ihm abrechnen; sein Buch ist nie geschlossen, der Proceß vor und mit ihm wird nie beendet; es lernt immer und kommt nie zum letzten Resultat.

Man hat diesem Ewigunmündigen Vormünder setzen wollen, die Censoren, aber, wie die Erfahrung gezeigt hat, mit fruchtloser Mühe und meistens mit dem widrigsten Erfolg. Der Unmündige kostet am Liebsten, was man ihm versagte; er sucht auf, was man ihm hinterhalten wollte; das Verbot eines Vortrages an dies Publicum ist gerade das Mittel, selbst einem unnützen Wort Ansehen, Gewicht und Aufmerksamkeit zu geben. Und welcher bescheidene Mann wird ein Vormund des gesammten Menschenverstandes, des Publicums aller Zeiten und Länder zu sein wagen? Laß jeden Weisen und Thoren schreiben nach seiner Weise, wenn er in zweifelhaften Fällen nur sich nennt und Niemand persönlich beleidigt.

Es sei mir erlaubt, mich hierüber zu erklären. Der weiseste Censor, wenn er auch die Stimme eines ganzen, ja des aufgeklärtesten Staates vorstellt, kann in dem, was Lehre und Meinung betrifft, schwerlich die Stimme des Publicums, der sich ein Schriftsteller freiwillig unterwirft, auf- oder überwiegen wollen. Wenn sein Urtheil auch die Weisheit Salomo's wäre, wenn es die Klugheit aller vergangenen Jahrhunderte enthielte und dem geprüften Verstande einer großen Zukunft voreilte: so fehlt ihm doch Eins, die Legitimation hiezu; denn weder die Vor- noch Nachwelt hat ihn darüber beurkundet. Der Schriftsteller wird also gegen ihn immer die Einrede haben, daß er dem Urtheil der Welt vorgreife, daß er sich unbefugt eine Entscheidung anmaße, die nur dem Publicum im weitesten Sinne des Worts gebührt; er wird von diesem Papst eines kleinen Staates an das allgemeine Concilium appelliren, das allein, und zwar nur in immer fortgehenden Stimmen, ein Richter des Wahren und Falschen sein könne. Wahrscheinlich werden ihm viele Stimmen beitreten; und bei dem größten Recht wird der Censor, der Form nach und um der Folgen willen, Unrecht behalten. Ich darf nicht wiederholen, was man, wo es Wahrheit gilt, über Freiheit der Meinungen, die nur widerlegt, nicht aber unterdrückt werden dürfen, so oft und viel gesagt hat.

Wenn man also dem Publicum keine, auch nicht die tollsten Meinungen rauben darf, indem der Staat, wo sie ihm falsch oder gefährlich scheinen, lieber ihre offne Widerlegung veranlassen mag, damit zum Vortheil der Welt die Finsterniß vom Lichte besiegt werde: so darf bei dieser ungebundnen Freiheit, bei der Achtung, die der Staat selbst dem Publicum erweist, da er ihm nichts vorenthält, was irgend ein Schriftsteller ihm darbringt, der Staat wol auch fordern, daß jeder Schriftsteller sich nenne, der dem Publicum etwas darzubringen gutfindet. Und zwar dies in allen Schriften, über jeden Gegenstand, Recensionen fremder Bücher nicht ausgenommen. Denn wie hätte ich ein Recht, Anonymie zu verlangen, wo ich mich vors Publicum dränge und zu ihm meine Stimme erhebe? Einen freiwilligen Lehrer der Welt und Nachwelt muß man kennen; er muß sich, wenn ihm Pflicht, Recht und Wahrheit lieb ist, nicht verbergen. Ein Mann, der öffentlich spricht, steht für sein Wort; sonst nennt man ihn einen Feigen oder Lügner. Mit diesem einzigen leichten, wie mich dünkt, nicht ungerechten Mittel, wie mancher Keckheit, wie mancher Verleumdung würde vorgebeugt, die jetzt blos hinter der Anonymie Schutz sucht! Wie vorsichtiger, überdachter und gehöriger würde man zum Publicum sprechen, wenn man wüßte, daß man nicht ohne eigne Ehre oder Schande zu ihm sprechen könnte! Und verdient das Publicum, der ehrwürdigste Name, der genannt werden kann, die Gesellschaft aller Guten und Edlen, nicht diese Achtung? Jeder Schriftsteller würde veranlaßt, in der würdigsten Gestalt vor ihm zu erscheinen, seine Stimme vor diesem großen Tribunal bescheiden hören zu lassen, dagegen aber auch, was er weise behauptet, standhaft zu vertheidigen, ein ehrlicher Bekenner zu sein der von ihm dem Publicum gemeldeten Wahrheit. Jene Winkelträgereien, aufgefangene Gerüchte, erstohlne Personalitäten verlören sich von selbst; kein Ehrliebender wollte mit solcher Waare öffentlich am Markt stehn, die schändlich ist und fürs Publicum nicht gehört. In Griechenland und Rom schämte sich kein Schriftsteller seiner Werke; auch unter uns darf sich kein Stand einer Schrift, wenn sie gut ist, schämen; dem höchsten wie dem niedrigsten Stande sollte Anonymie nicht erlaubt sein, und überhaupt dieselbe für das, was sie ist, für Hinterlist, Schimpf, niedriges Gewerbe und Feigheit gelten. Wer zum Publicum spricht, spreche als ein Theil des Publicums, also öffentlich, mit seinem Namen!

Noch ein viel Mehrers wäre über das Verhältniß des Schriftstellers zum Publicum zu reden. Jede Gattung der Scribenten schreibt für ihre Gattung Leser, die sie ihr Publicum, ihre Welt nennen. Aus fröhlichen oder traurigen Erfahrungen, welche Schriften am Meisten gelesen werden, kann man also auf den Geschmack, auf das Maaß der Bildung des Publicums schließen, dem diese Schriften vor andern oder ausschließend wohlthun. Die mittelmäßigen, die leichten, üppigen, lüsternen finden natürlich die meisten Leser; viele gerühmte Schriftsteller haben nur durch Zeugnisse Anderer ihren Ruhm erlangt und stehn auf guten Glauben ungelesen in den Bibliotheken: das Publicum hallt nur ihre Namen wider. Deshalb aber wird kein guter Kopf, wenn er es nicht des Bauchs wegen thun muß, sich unwürdig, wie man sagt, zum Publicum herabstimmen oder seinem lüsternen, falschen Geschmack fröhnen. Der Schriftsteller soll das Publicum, nicht dies den Schriftsteller bilden. Delila schnitt Simson das Haar ab und übergab ihn kraftlos den Philistern; sie verspotteten ihn, und er mußte vor ihnen spielen.

Nicht die Blätter des Baums, die Keime, Blüthen und Früchte sind sein edelstes Erzeugniß. Nicht das zahlreichste, sondern das verständigste Publicum ist mit seinem Beifall die Ehre des Schriftstellers, sein Zweck und Lohn. Das Urtheil dieser vielleicht wenigen Leser dauert fort und wirkt weiter. Oft findet ein Schriftsteller diese Leser nur nach seinem Tode; Minos und Aeakus sind's, die unparteiisch über ihn richten. Dem Homer schaffte Lykurg und die Pisistratiden ein größeres, ein attisches Publicum; dem Milton Addison, Garrick dem Shakespeare u. s. w. Nichts ist angenehmer, als einem verdienten Todten Gerechtigkeit zu erweisen und über seinem Grabe die Stimme eines besseren, dankbaren Publicums zu werden. So hat Rousseau nach seinem Tode die Ehre mit Wucher genossen, die Voltaire bei seinen Lebzeiten sich zuzueignen wußte; und so giebt's bei allen Nationen andre Autoren, die berühmt sind, andre, die es zu sein verdienen.

An Liebe und Achtung gegen seine besten Schriftsteller, wenige ausgenommen, steht Deutschland seinen cultivirten Nachbarn, Franzosen, Engländern, Italienern, nicht vor, sondern nach; der größere Theil des Publicums kennt sie nicht und trägt wenigstens sie nicht eben in Herz und Seele.

Haben wir also hierin, ich will nicht sagen das Publicum der Alten, sondern nur das Publicum der Franzosen, Engländer, Italiener? Wer diese Länder kennt und Deutschland kennt, antworte! An den Schriftstellern liegt es schwerlich; sie thaten, was sie konnten; manche vielleicht zu viel. An dem Charakter und an der Verfassung der Nation liegt es; an der Uncultur und Uncultivirbarkeit, wenn mir zu Bezeichniß eines Barbarismus ein barbarisches Wort erlaubt ist, am falschen Geschmack und der genetischen Rohheit mancher Stände und Lebensarten. Bei Weitem ist unsre Sprache noch nicht so gebildet, jedem Vortrage, jeder Art des Wissenswürdigen so zugebildet als die Sprachen unsrer Nachbarn; vielmehr haben wir mit einer benachbarten Nation zu kämpfen, daß ihre Sprache die unsere nicht ganz vertilge. Erwache also, Du schlafender Gott, wenn Du nicht etwa dichtest oder über Feld gegangen bist! erwache, deutsches Publicum, und laß Dir Dein Palladium nicht rauben! Aus dem trägen Schlummer, aus dem niedrigen Stolz, der das Beste wegwerfend verachtet, aus der Anmaßung, die dem Schlechtsten das Privilegium des Besten ertheilen zu können glaubt, aus der nie teilnehmenden Kälte, aus der völligen Seelenentfremdung, glaube mir, wird nichts und kann nichts werden. Die Zeit, da das Alles galt, ist vorüber. Unsanft aus dem Schlafe gerüttelt, erwache und zeige, daß Du kein Barbar bist, damit man Dir nicht als einem Barbaren begegne! Deine Sprache, die Schwester der griechischen, die Königin und Mutter vieler Völker, für ganz Europa hast Du zu sichern, auszubilden, zu bewahren.

Sollten wir aber blos in Reden und Schriften, in Lehren und Hören ein Publicum haben? keins für unsre Handlungen? keins für unser ganzes Dasein? kein Publicum, das auf uns wirkte, worauf wir durch unser Beispiel, durch unser Vorbild schweigend wirken? Zweifle daran Niemand, ja, auch daran Niemand, daß diese stille Wirkung in einem kleinen Kreise von mächtiger Wirkung sei. Sie ist reell; in ihr ist nichts Schein und Schminke. Der Kreis, in dem Du lebst und Dein Geschäft treibst, ist Dein Publicum; sei dies klein oder groß, Du prägst in dasselbe das Bild Deiner Existenz, Deiner Denk- und Handlungsweise. Hiemit wirkst Du unvermerkt oder bemerkt auf die Deinen, die nach Deinem Muster oder mit Einflüssen von Dir fortwirken, auf Deine Mitarbeiter, Untergebene oder Vorgesetzte. Leise oder stürmisch verbreiten sich also Wellen und Wogen mit und ohne Deinen Namen auf Deine Zeitgenossen und die Nachwelt fort. So haben zu allen Zeiten die würdigsten Männer auf ihr Publicum gewirkt; sie sprachen mit der starken Stimme ihres thätigen Beispiels und dachten nicht daran, daß im größeren Publicum ihr Name genannt würde. Das schärfste und edelste Publicum waren sie sich selbst, der Aufmunterer, Zeuge und Richter ihrer Handlungen, ein Gesetz, das in ihnen lebte. Wohl uns, wenn wir uns dies Publicum sind! Wir haben sodann die laute, oft sehr unsichre und unreine Stimme der größeren Welt nicht nöthig.


II.
Haben wir noch das Vaterland der Alten?

Griechen und Römern war das Wort Vaterland ein ehrwürdig süßer Name. Wem sind nicht Stellen aus ihren Dichtern und Rednern bekannt, in denen Söhne des Vaterlandes ihm als einer Mutter kindliche Liebe und Dankbarkeit, Lobpreisungen, Wünsche und Seufzer weihen? Der Entfernte sehnt sich darnach zurück; hoffnungsvoll oder klagend schaut er zur Gegend desselben hin, empfängt die Lüfte, die daher wehen, als Boten seiner Geliebten. Wiedergegeben dem Vaterlande, umfängt er es und küßt seinen Boden mit Thränen. Der in der Entfernung Sterbende vermacht ihm noch seine Asche; auch nur ein leeres Grabmal des Andenkens wünscht er sich bei den Seinen. Fürs Vaterland zu leben, hieß ihnen der höchste Ruhm, fürs Vaterland zu sterben der süßeste Tod. Wer mit Rath und That dem Vaterlande aushalf, wer es rettete und mit Kränzen des Ruhms schmückte, erwarb sich einen Sitz unter den Göttern; Himmels- und Erdenunsterblichkeit war ihm gewiß. Dagegen wer das Vaterland beleidigte, es durch seine Thaten entehrte, wer es verrieth oder bekriegte: in den Busen seiner Mutter hatte der das Schwert gestoßen, er war ein Vater-, ein Kinder-, ein Freundes- und Brudermörder, »Cariorem decet esse patriam nobis quam nosmet ipsosCic. Fin. III. 19. 64. Bei Cicero steht: »Quod deceat cariorem esse partriam nobis quam nosmet ipsos.« – D. »Dulce et decorum est, pro patria moriHor. Carm., III. 2. 13. – D. u. s. w. Haben auch wir dies Vaterland der Alten? Und welches sind die geliebten Bande, die uns daran fesseln?

Der Boden des Landes, auf dem wir geboren sind, kann für sich allein dies Zauberband schwerlich knüpfen; vielmehr wäre es die härteste aller Lasten, wenn der Mensch, als Baum, als Pflanze, als Vieh betrachtet, eigen und ewig, mit Seele, Leib und allen Kräften dem Boden zugehören müßte, auf welchem er die Welt sah. Harte Gesetze gnug hat es über dergleichen Erbeigenthümlichkeit, Eigengehörigkeit u. s. w. gegeben und giebt es noch; der ganze Gang der Vernunft, der Cultur, ja selbst der Industrie und der Nutzberechnung geht dahin, diese gebornen Sclaven eines Mutterleibes oder der Muttererde mit sanftern Banden an ein Vaterland zu knüpfen und sie von der harten Scholle, die sie im Leben mit ihrem Schweiß, im Tode mit ihrer Asche düngen sollen, allmählig zu entfesseln.

Als noch Nomadenvölker in der Welt umherzogen, wüste Plätze Zeiten lang innehatten und in diesen ihre Väter begruben, da gab der Boden des Landes, den diese Völker besaßen oder besessen hatten, Anlaß zum Namen eines Landes der Väter. »An unsrer Väter Gräbern erwarten wir Euch!« rief man den Feinden zu. »Auch ihre Asche wollen wir schützen und unser Land sichern.« So ist der heilige Name entstanden, nicht als ob Menschen aus dem Boden entsprossen wären. Nur Kinder können das Vaterland lieben, nicht erdegeborne Knechte oder wie Wild gefangene Sclaven.

Was uns im Vaterlande zuerst erquickt, ist nicht die Erde, auf die wir sinken, sondern die Luft, die wir athmen, die väterlichen Hände, die uns aufnehmen, die Mutterbrust, die uns säugt, die Sonne, die wir sehen, die Geschwister, mit denen wir spielen, die freundlichen Gemüther, die uns wohlthun. Unser erstes Vaterland ist also das Vaterhaus, eine Vaterflur, Familie. In dieser kleinen Gesellschaft leben die eigentlichen und ersten Freuden des Vaterlandes wie in einem Idyllenkreise; in Idyllen leibt und lebt das Land unsrer ersten Jugend. Sei der Boden, sei das Klima, wie es wolle, die Seele sehnt sich dahin zurück, und je weniger die kleine Gesellschaft, in der wir erzogen wurden, ein Staat war, je weniger sich Stände und Menschenclassen darin trennten, um so weniger Hindernisse findet die Einbildungskraft, sich in den Schooß dieses Vaterlandes zurückzusehnen. Da hörten und lernten wir ja die ersten Töne der Liebe; da schlossen wir zuerst den Bund der Freundschaft und empfanden die Keime zarter Neigung in beiden Geschlechtern; wir sahen die Sonne, den Mond, den Himmel, den Frühling mit seinen Bäumen, Blüthen und damals uns so süßeren Früchten. Der Weltlauf spielte vor uns; wir sahn die Jahreszeiten sich wälzen, kämpften mit Gefahren, mit Leid und Freude; wir sommerten und winterten uns gleichsam in die Welt ein. Diese Eindrücke, moralisch und physisch, bleiben der Einbildungskraft eingegraben; die zarte Rinde des Baums empfing sie, und ohne gewaltsame Vertilgung werden sie nur mit ihm sterben. Wer hat nicht die Seufzer und Klagen gelesen, mit denen selbst Grönländer sich von ihrem Jugendlande entfernten, mit denen sie aus der Cultur Europa's durch alle Gefahren dahin zurückstrebten? Wem tönen nicht noch die Seufzer der Africaner ins Ohr, die aus ihrem Vaterlande geraubt wurden? In einfachen kleinen Gesellschaften lebten sie da, in einem Idyllenlande der Jugend.

Die Staaten, oder vielmehr Städte der Griechen, denen der Name des Vaterlandes so theuer und lieb war, schlossen sich unmittelbar an diese kleinen Gesellschaften an; die Gesetzgebung begünstigte diese und leitete von ihnen ursprünglich ihre ganze Energie her. Es war das Land der Väter, das man beschützte; es waren Jugendgenossen, Geschwister und Freunde, nach denen man sich sehnte; den Bund der Liebe, den Jünglinge schlossen, billigte und nützte das Vaterland. Mit seinen Freunden wollte man begraben sein, mit ihnen genießen, leben und sterben. Und da die edlen Vorfahren dieser Stämme das Gemeinwesen, zu dem sie gehörten, unter dem Schutz der Götter errichtet, mit ihrer Mühe und Arbeit bezeichnet, mit ihrem Blute besiegelt hatten, so ward den Nachkommen der Bund solcher Gesetze als ein moralisches Vaterland heilig; denn höher schätzten die Griechen nichts als das Verdienst der bürgerlichen Einrichtung, dadurch sie Griechen geworden und über alle Barbaren der Welt erhöht waren. Die Götter ihres Landes waren die schönsten Götter; seine Helden, Gesetzgeber, Dichter und Weise waren in Einrichtungen, Liedern, Denkmalen und Festen unsterblich; hiemit prangten ihre öffentliche Plätze und Tempel; der Sieg der Griechen über die Perser allein machte ihnen ihr Land, ihre Verfassung, ihre Cultur und Sprache zur Krone des Weltalls. Im Aether solcher Ideen schwammen die Griechen, wenn sie den Namen des Vaterlandes oft edel gebrauchten, oft auch mißbrauchten. Mehrere Städte theilten diesen Ruhm, jede auf ihre Weise. Und was Rom sich an seiner Weltbeherrscherin, dem Sammelplatz alles Sieges und Ruhms, dachte, davon zeugt die römische Geschichte.

In die Zeiten Griechenlands oder Rom's sich zurückwünschen, wäre thöricht; diese Jugend der Welt, sowie auch das eiserne Alter der Zeiten unter Rom's Herrschaft ist vorüber; schwerlich dürften wir, wenn auch ein Tausch möglich wäre, in dem, was wir eigentlich begehren, bei dem Tausche gewinnen. Sparta's Vaterlandseifer drückte nicht nur die Heloten, sondern die Bürger selbst und mit der Zeit andre Griechen. Athen fiel seinen Bürgern und Colonien oft hart; es wollte mit süßen Phantomen getäuscht sein. Die römische Vaterlandsliebe endlich ward nicht für Italien allein, sondern für Rom selbst und die gesammte Römerwelt verderblich. Wir wollen also aufsuchen, was wir am Vaterlande achten und lieben müssen, damit wir es würdig und rein lieben.

1. Ist's, daß einst Götter vom Himmel niederstiegen und unsern Vätern dies Land anwiesen? Ist's, daß sie uns eine Religion gegeben und unsre Verfassung selbst eingerichtet haben? Ueberkam durch einen Wettkampf Minerva diese Stadt? Begeisterte Egeria unsern Numa mit Träumen? Eitler Ruhm! denn wir sind nicht unsre Väter. Sind auf Minerva's heiligem Boden der großen Göttin wir unwerth, reimen sich Numa's Träume nicht mehr mit unsern Zeiten: so steige Egeria wieder aus der Quelle, so lasse Minerva zu neuen Begeisterungen sich vom Himmel hernieder!

Ohne Bilder zu reden, es ist für ein Volk gut und rühmlich, große Vorfahren, ein hohes Alter, berühmte Götter des Vaterlandes zu haben, so lange diese es zu edeln Thaten aufwecken, zu würdigen Gesinnungen begeistern, so lange die alte Zucht und Lehre dem Volke gerecht ist. Wird sie von diesem selbst verspottet, hat sie sich überlebt oder wird gemißbraucht: »was hilft Dir«, ruft Horaz seinem Vaterlande zu, »stolzer pontischer Mast, was hilft Dir Deine vornehme Abkunft? was helfen Dir die gemalten Götter an Deinen Wänden?«Oden, I. 14. 11-15. Vgl. Herder's Werke, VIII. S. 37. – D. Ein müssig besessener, von unsern Vorfahren träge ererbter Ruhm macht uns bald eitel und unsrer Vorfahren unwerth. Wer sich einbildet, von Hause aus tapfer, edel, bieder zu sein, kann leicht vergessen, sich als einen solchen zu zeigen. Er versäumt, nach einem Kranze zu ringen, den er von seinen Urahnen an schon zu besitzen glaubt. In solchem Wahn von Vaterlands-, Religions-, Geschlechts-, Ahnenstolze ging Judäa, Griechenland, Rom, ja beinah jede alte mächtige oder heilige Staatsverfassung unter. Nicht was das Vaterland einst war, sondern was es jetzt ist, können wir an ihm achten und lieben.

2. Dies also kann, außer unsern Kindern, Verwandten und Freunden, nur seine Einrichtung, die gute Verfassung sein, in welcher wir mit dem, was uns das Liebste ist, gern und am Liebsten leben mögen. Physisch preisen wir die Lage eines Orts, der bei einer gesunden Luft unserm Körper und Gemüth wohlthut; moralisch schätzen wir uns in einem Staat glücklich, in dem wir bei einer gesetzmäßigen Freiheit und Sicherheit vor uns selbst nicht erröthen, unsre Mühe nicht verschwenden, uns und die Unsrigen nicht verlassen sehen, sondern als würdige, thätige Söhne des Vaterlandes jede unsrer Pflichten ausüben und solche vom Blicke der Mutter belohnt sehen dürfen. Griechen und Römer hatten Recht, daß über das Verdienst, einen solchen Bund gestiftet zu haben oder ihn zu befestigen, zu erneuen, zu läutern, zu erhalten, kein andres menschliches Verdienst gehe. Für die gemeinschaftliche Sache nicht der Unsern allein, sondern der Nachkommenschaft und des gesammten, ewigen Vaterlandes der Menschheit zu denken, zu arbeiten und (großes Loos!) glücklich zu wirken: was ist hiegegen ein einzelnes Leben, ein Tagewerk weniger Minuten und Stunden?

Jeder, der auf dem Schiff in den fluthenden Wellen des Meeres ist, fühlt sich zum Beistande, zur Erhaltung und Rettung des Schiffs verbunden. Das Wort Vaterland hat das Schiff am Ufer flott gemacht; er kann, er darf nicht mehr (es sei denn, daß er sich hinausstürze und den wilden Wellen des Meers überlasse) im Schiff, als wär' er am Ufer, müssig dastehn und die Wellen zählen. Seine Pflicht ruft ihn (denn alle seine Gefährten und Geliebten sind mit ihm im Schiffe), daß, wenn ein Sturm sich empört, eine Gefahr droht, der Wind sich ändert oder ein Schiff hinanschleudert, sein Fahrzeug zu übersegeln, seine Pflicht ruft ihn, daß er helfe und rufe. Leise oder laut, nachdem sein Stand ist, dem Bootsknecht, Steuermann oder dem Schiffer; seine Pflicht, die gesammte Wohlfahrt des Schiffes ruft ihn. Er sichert sich nicht einzeln; er darf sich nicht in den Kahn einer erlesenen Ufergesellschaft, der ihm hier nicht zu Gebot steht, träumen; er legt Hand an das Werk und wird, wo nicht des Schiffes Retter, so doch sein treuer Fahrgenoß und Wächter.

Woher kam es, daß manche einst hoch verehrte Stände allmählig in Verachtung, in Schmach versanken und noch versinken? Weil keiner derselben sich der gemeinen Sache annahm, weil jeder als ein begünstigter Eigenthums- oder Ehrenstand lebte; sie schliefen im Ungewitter ruhig wie Jonas, und das Loos traf sie wie Jonas. O, daß die Menschen bei sehenden Augen an keine Nemesis glauben! An jeder verletzten oder vernachlässigten Pflicht hangt nicht eben eine willkürliche, sondern die nothwendige Strafe, die sich von Geschlecht zu Geschlecht häuft. Ist die Sache des Vaterlandes heilig und ewig, so büßt sich seiner Natur nach jedes Versäumniß derselben und häuft die Rache mit jedem verdorbneren Geschäft oder Geschlechte. Nicht zu grübeln hast Du über Dein Vaterland; denn Du warst nicht sein Schöpfer: aber mithelfen mußt Du ihm, wo und wie Du kannst, ermuntern, retten, bessern, und wenn Du die Gans des Capitolium's wärest.

3. Sollte uns also nicht, eben im Sinne der Alten, die Stimme jedes Bürgers, gesetzt, daß sie auch gedruckt erschiene, als eine Vaterlandsfreiheit, als ein heiliges Scherbengericht gelten? Der Arme konnte vielleicht nichts thun, als schreiben, sonst hätte er wahrscheinlich etwas Besseres gethan; wollt Ihr dem Seufzenden seinen Athem, der ins wüste Leere hinausgeht, rauben? Noch werther aber sind dem Verständigen die Winke und Blicke Derer, die weiter sehen. Sie muntern auf, wenn Alles schläft; sie seufzen vielleicht, wenn Alles tanzt. Aber sie seufzen nicht nur, in einfachern Gleichungen zeigen sie, vermöge einer unzweifelhaften Kunst, höhere Resultate. Wollt Ihr sie zum Schweigen bringen, weil Ihr blos nach der gemeinen Arithmetik rechnet? Sie schweigen leicht und rechnen weiter; das Vaterland aber zählte auf diese stillen Rechner. Ein Vorschritt, den sie glücklich angaben, ist mehr als zehntausend Cerimonien und Lobsprüche werth.

Sollte unser Vaterland dieser Rechenkunst nicht bedürfen? Sei Deutschland tapfer und ehrlich! Tapfer und ehrlich ließ es sich einst nach Spanien und Africa, nach Gallien und England, nach Italien, Sicilien, Kreta, Griechenland, Palästina führen; unsre tapfern und ehrlichen Vorfahren bluteten da – und sind begraben. Tapfer und ehrlich ließen die Deutschen innerhalb und außerhalb ihrem Vaterlande sich, wie die Geschichte zeigt, dingen gegeneinander; der Freund stritt gegen den Freund, der Bruder gegen den Bruder; das Vaterland ward zerrüttet und blieb verwaist. Sollte also außer der Tapfer- und Ehrlichkeit unserm Vaterlande nicht noch etwas Anders noth sein? Licht, Aufklärung, Gemeinsinn; edler Stolz, sich nicht von Andern einrichten zu lassen, sondern sich selbst einzurichten, wie andre Nationen es von jeher thaten; Deutsche zu sein auf eignem wohlbeschützten Grund und Boden.

4. Der Ruhm eines Vaterlandes kann zu unsrer Zeit schwerlich mehr jener wilde Eroberungsgeist sein, der die Geschichte Roms und der Barbaren, ja mancher stolzen Monarchien wie ein böser Dämon durchstürmte. Was wäre es für eine Mutter, die, eine zweite, ärgere Medea, ihre Kinder aufopferte, um fremde Kinder als Sclaven zu erbeuten, die ihren eignen Kindern über kurz oder lang zur Last werden? Unglücklich wäre das Kind des Vaterlandes, das, dahingegeben oder verkauft, ins Schwert laufen, verwüsten, morden müßte, um eine Eitelkeit zu befriedigen, die Niemanden Vortheil gebiert. Der Ruhm eines Vaterlandes kann zu unsrer Zeit und für die noch schärfer richtende Nachwelt kein andrer sein, als daß diese edle Mutter ihren Kindern Sicherheit, Thätigkeit, Anlaß zu jeder freien, wohlthätigen Uebung, kurz, die Erziehung verschaffe, die ihr selbst Schutz und Nutz, Würde und Ruhm ist. Alle Völker Europa's, andre Welttheile nicht ausgeschlossen, sind jetzt im Wettstreit, nicht der körperlichen, sondern der Geistes- und Kunstkräfte mit einander. Wenn eine oder zwei Nationen in weniger Zeit Vorschritte thun, zu denen sonst Jahrhunderte gehörten, so können, so dürfen andre Nationen sich nicht Jahrhunderte zurücksetzen wollen, ohne sich selbst dadurch empfindlich zu schaden. Sie müssen mit jenen fort; in unsern Zeiten läßt sich's nicht mehr Barbar sein; man wird als Barbar hintergangen, untertreten, verachtet, mißhandelt. Die Weltepochen bilden eine ziehende Kette, der zuletzt kein einzelner Ring sich widersetzen mag, wenn er auch wollte.

Vaterländische Cultur gehört hiezu, und in dieser auch Cultur der Sprache. Was ermunterte die Griechen zu ihren rühmlichen und schwersten Arbeiten? Die Stimme der Pflicht und des Ruhmes. Wodurch dünkten sie sich vorzüglicher als alle Nationen der Erde? Durch ihre cultivirte Sprache, und was mittelst derselben unter ihnen gepflanzt war. Die imperatorische Sprache der Römer gebot der Welt; eine Sprache des Gesetzes und der Thaten. Wodurch hat eine nachbarliche Nation seit mehr als einem Jahrhunderte so viel Einfluß auf alle Völker Europa's gewonnen? Nebst andern Ursachen vorzüglich auch durch ihre im höchsten Sinne des Worts gebildete Nationalsprache. Jeder, der sich an ihren Schriften ergetzte, trat damit in ihr Reich ein und nahm Theil an ihnen. Sie bildeten und mißbildeten; sie befahlen, sie imponirten. Und die Sprache der Deutschen, die unsre Vorfahren eine Stamm-, Kern- und Heldensprache nannten, sollte wie eine Ueberwundene den Siegeswagen Andrer ziehn und sich dabei noch in ihrem beschwerlichen Reichs- und Hofstil brüsten? Wirf ihn weg, den drückenden Schmuck, Du wider Deinen eigenen Willen eingezwängte Matrone, und sei, was Du sein kannst und ehemals warst, eine Sprache der Vernunft, der Kraft und Wahrheit! Ihr Väter des Vaterlandes, ehrt sie, ehrt die Gaben, die sie unaufgefordert und unbelohnt, und dennoch nicht unrühmlich, darbrachte! Soll jede Kunst und Thätigkeit, durch welche Mancher dem Vaterlande gern zu Hilfe kommen möchte, sich erst wie jener verlorne Sohn außerhalb Landes vermiethen und die Frucht seines Fleißes oder Geistes einer fremden Hand anvertrauen, damit Ihr solche von da aus zu empfangen die Ehre haben mögt? Mich dünkt, ich sehe eine Zeit kommen –

Doch lasset uns nicht prophezeihen, sondern hinter Allem nur bemerken, daß jedes Vaterland schon mit seinem süßen Namen eine moralische Tendenz habe. Von Vätern stammt es her; es bringt uns mit dem Namen Vater die Erinnerung an unsre Jugendzeiten und Jugendspiele in den Sinn; es weckt das Andenken an alle Verdiente vor uns, an alle Würdige nach uns, denen wir Väter werden; es knüpft das Menschengeschlecht in eine Kette fortgehender Glieder, die gegen einander Brüder, Schwestern, Verlobte, Freunde, Kinder, Eltern sind. Sollten wir uns anders auf der Erde betrachten? Müßte ein Vaterland nothwendig gegen ein andres, ja gegen jedes andre Vaterland aufstehn, das ja auch mit denselben Banden seine Glieder verknüpft? hat die Erde nicht für uns Alle Raum? liegt ein Land nicht ruhig neben dem andern? Cabinette mögen einander betrügen; politische Maschinen mögen gegen einander gerückt werden, bis eine die andre zersprengt. Nicht so rücken Vaterländer gegen einander; sie liegen ruhig neben einander und stehen sich als Familien bei. Vaterländer gegen Vaterländer im Blutkampf ist der ärgste Barbarismus der menschlichen Sprache.


58.

Leibniz' Weissagung ist eine alte, bewährte Wahrheit.Vgl. das Ende des 54. Briefes (S. 237). – H. Eine Gemeinheit ohne Gemeingeist krankt und erstirbt; ein Vaterland ohne Einwohner, die es lieben, wird zur Wüste, und ein Haus, an Meeres Ufer, auf Sand gebaut, als ein Platzregen fiel und ein Gewässer kam, und wehten die Winde und stießen an das Haus, da fiel es und thät einen großen Fall, sagt Christus.Matth., 7. 26 f. – D.

Daß diese Gebrechlichkeit zu Leibniz' Zeiten nicht angefangen, sondern sich nur merklicher gemacht habe, bewährt die deutsche, ja nach Verschiedenheit der Völker, Verfassungen und Länder, alle Geschichte. Lesen Sie, was Schmidt vom Zustande der deutschen Nation vorm Anfange des dreißigjährigen KriegesSchmidt's »Neuere Geschichte der Deutschen« B. 4. C. 9 f. – H. sagt und mit Zeugnissen belegt; nach dem westphälischen Frieden ward die Sache gewiß nicht besser. In Sitten und Grundsätzen, politisch und moralisch ging Alles mehr und mehr nicht zu einer größeren Consistenz, sondern zu einer Auflösung hin, die auch von Moment zu Moment folgte. Daß aber durch dieses schleichende Fieber eine neue Gesundheit, wenngleich auf Kosten leidender oder abgestorbener Glieder, bereitet werde, dies ist ein des großen Leibniz würdiger Gedanke. Das menschliche Geschlecht ist ein Phönix; auch in seinen Gliedern, ganzen Nationen, verjüngt es sich und steht aus der Asche wieder auf.

Sehr übel ist's, daß wir in der Geschichte die Meinungen und Grundsätze der Völker, die dort und dann herrschten, so wenig bemerkt finden. Man sieht Erfolge, oft späte Erfolge, und muß die vielleicht längst im Verborgenen wirkende Triebfeder trüglich errathen. Noch seltner werden in ihr dergleichen herrschende Meinungen und Grundsätze in ihrer Abstammung und Fortpflanzung genealogisch verfolgt; man sieht sie hie und da wie Ströme aus der Erde brechen und sich, indeß ihr Lauf unter der Erde fortgeht, dem Auge verlieren. Am Seltensten sind Geschichtschreiber mit wirklich moralischem Blick über Vorfälle und Personen. So oft man von einem ägyptischen Todtengericht über vergangene Zeiten spricht, so selten übt man es aus, weil vielen Beschreibern die Biegsamkeit des Geistes, sich in vergangene Zeiten zu setzen, andern die Wage des Urtheils, der moralische Sinn, fehlt. Und fehlt dieser, oder ist er schief und verdorben, so wird die Geschichte selbst verderblich; ihr Urheber sieht mit falschem Blick, er wägt mit betrügerischen Gewichten.

Beispiele davon anzuführen, erlassen Sie mir! Ueber Juden, Griechen und Römer, über Christen und Barbaren, über unsre und fremde Nationen sind dergleichen in Menge vorhanden. Je täuschender geschrieben, desto verderblicher; und o, wer mag den unmoralischen und unmenschlichen Stumpfsinn nennen, mit dem man Helden, Thaten, Begebenheiten und Revolutionen unter Alten und Neuen so oft knechtisch anstaunte, Lob und Tadel wie ein gedungener Elender austheilte und die unschuldig Verfolgten zuweilen noch im Grabe verfolgte! Eine Geschichte der Meinungen, der praktischen Grundsätze der Völker, wie sie hie und da herrschten, sich vererbten und im Stillen die größten Folgen erzeugten, diese Geschichte, mit hellem, moralischen Sinn, in gewissenhafter Prüfung der Thatsachen und Zeugen geschrieben, wäre eigentlich der Schlüssel zur Thatengeschichte. Wegelin, ein denkender Geschichtforscher, hat diesen Gesichtspunkt oft im Blick; weil er aber zu systematisch denkt, so verliert er sich auf der ungeheuren Bahn meistens in dunkeln, zu allgemeinen Maximen.Wegelin ist seitdem gestorben. Er ruhe sanft! Sein Geist hat viel gedacht, viel combinirt. Ich wünschte nicht, daß seine hinterlassenen Schriften untergingen; jeder seiner Aufsätze ist eine Sammlung unverarbeiteter Gedanken, die wenigstens immer eigne Gedanken veranlassen oder verbessern und bestärken. Der große König selbst hat seine Schriften gelesen und geehrt. – H. [Jacob Daniel Wegelin, Professor der Geschichte und Mitglied der Berliner Akademie der Wissenschaften, in deren Mémoires viele seiner historisch-politischen Abhandlungen stehen, war am 7. September 1791 gestorben. – D.]

Und doch hängt von diesem scharf gehaltenen Augpunkt aller Nutzen der Geschichte ab; die Figuren des Gemäldes werden untreu, verworren und dunkel, wenn man ihnen dies Licht raubt. Wie viel z. B. ist über Macchiavell's »Fürsten« gesagt worden, und doch zweifle ich, ob mit ausgemachtem Resultate, indem Einige dies Buch für eine Satire, Andre für ein verderbliches Lehrbuch, Andre für ein wankendes, schwachköpfiges Mittelding zwischen beiden halten. Und ein Schwachkopf war wahrlich Macchiavell nicht; er war ein Geschicht- und Welterfahrner, dabei ein redlicher Mann, ein feiner Beobachter und ein warmer Freund seines Vaterlandes. Daß er den Werth und die Form von mancherlei Staaten gekannt habe, davon zeugen seine »Dekaden über den Livius«, und daß er kein Verräther der Menschheit werden wollte, beweist jede Zeile seiner andern Schriften sowie bis zum Alter hinan sein geführtes Leben. Woher nun das Mißverständniß dieser Schrift eines Schriftstellers, der so bestimmt, rein und schön zu schreiben wußte? Woher, daß dies Mißverständniß sich zwei Jahrhunderte erhalten und den feinsten Köpfen mitgetheilt hat, so daß ihm selbst der große Verfasser des »Anti-Macchiavell's«Friedrich der Große. – D. nicht entkommen mochte? Und doch ging das Buch zweiundsiebzig Jahre umher, gebilligt und gelesen; Niemand fand darin Arges. Macchiavell hatte es einem Fürsten aus einem von ihm geliebten Hause, dem Neffen eines Papstes, zugeschrieben, der ihn hochhielt, dem er damit gewiß keine Schande machen wollte. Mich dünkt, das ganze Mißverständniß rühre daher, daß man den Punkt nicht bemerkt, auf welchem damals das Verhältniß der Politik und Moral stand.

Beide hatten sich sichtbar und völlig getrennt. Die Zeiten Alexander's VI. und Cäsar Borgia waren zwar vorüber; aber auch Julius und Leo, Frankreich und Spanien, Florenz und die kleinen Tyrannen von Italien, ja, jenseit der Alpen wollte Niemand als Regent und Politiker Moralist sein. Man lachte die Tramontaner aus, die ins Regierungswesen so enge Begriffe brachten; denn von Erlangung oder Erhaltung der Macht und von den Mitteln dazu, insonderheit von Verschmitztheit und Klugheit sei, glaubte man, hier die Rede, nicht aber von Güte und Weisheit. Die Religion, von der Moral ganz abgesondert, war selbst Politik, deren Hauptgesetz überhaupt die Staatsraison (la ragione del stato), deren Hauptmaxime es war: »die Dinge, jedes zu seiner Zeit, im Punkt seiner Reife nutzen zu können« (conocer las cosas en sa piato, en sa sazon, y saber las lograr). Eine solche Politik brachte Karl V. nach Deutschland; daher er auch die Reformation nie anders anzusehen vermochte; eine solche übten Könige, Fürsten, Staatsminister. In allen politischen Schriften war sie anerkannt; fast jede Stadt Italiens war Jahrhunderte lang ihr Schauplatz gewesen und war es noch. Hier schrieb Macchiavell seinen Principe, ganz in den Begriffen seiner Zeit, ganz nach Vorfällen, die damals Jedermann in Andenken waren. Aus diesen hatte er eben seine politischen Sätze abgezogen und belegte jeden derselben mit Beispielen begangener Fehler. »Wenn dies Euer Handwerk ist,« sagt er gleichsam, »so lernt es recht, damit Ihr nicht so unselige Pfuscher bleibt, als ich Euch zeige, daß Ihr seid und waret! Ihr habt keinen Begriff, als von Macht und Ansehen; wohl! so braucht wenigstens die Klugheit, die Euch zur sichern Macht und Italien endlich einmal zur Ruhe leitet. Ich habe Euch Euer Werk nicht angewiesen; treibt Ihr's aber, so treibt es recht!« Daß dies die Haltung der Gedanken in Macchiavell's ganzem Buche sei, wird jeder Unparteiische fühlen.

Damit wird es nun weder Satire, noch ein moralisches Lehrbuch, noch ein Mittelding beider; es ist ein rein politisches Meisterwerk für italienische Fürsten damaliger Zeit, in ihrem Geschmack, nach ihren Grundsätzen, zu dem Zwecke geschrieben, den Macchiavell im letzten Capitel angiebt: Italien von den Barbaren (gewiß auch von den ungeschickten Lehrlingen der Fürstenkunst, den unruhigen Plagegeistern Italiens) zu befreien. Dies thut er ohne Liebe und Haß, ohne Anpreisung und Tadel. Wie er die ganze Geschichte als eine Erzählung von Naturbegebenheiten der Menschheit ansah, so schildert er hier auch den Fürsten als ein Geschöpf seiner Gattung, nach den Neigungen, Trieben und dem gesammten Habitus, der ihm beiwohnt. Nicht anders hatte er in seinen »Dekaden« jede andre Regierungsform beäugt; nicht anders hatte er seine sechs Bücher von der »Kriegskunst«, seinen »Goldnen Esel«, den »Belfagor« aus der Hölle, der auf Erden ein Weib nahm, seine »Clizia« und »Mandragola« geschrieben; er ließ jedes Ding in seiner Art sein, was es war oder sein wollte. Wären Sie hiemit noch nicht befriedigt, so soll meinen redlichen Staatssecretär ein Heiliger rechtfertigen, der das, was Jener mit einer feinen Reißfeder entwirft, mit einem Kirchenpinsel ausmalt. Also spricht der h. Thomas von Aquino. – Doch ich mag meinen Text mit den barbarisch kräftigen Worten des Kirchenvaters nicht entweihen. Lesen Sie solche in Naudé, Considérations politiques sur les coups d'état, gleich im ersten Capitel. Ich wollte, daß diese kleine Schrift des Naudé, die nach seiner Gewohnheit voll Gelehrsamkeit ist, übersetzt und mit dem zu ihr gehörigen historischen Commentar, den eine spätere Ausgabe schon besitzt, begleitet erschiene. Ohne sarkastische Anmerkungen, mit dem ruhigen Blick, mit welchem Macchiavell den Livius, oder Barbeirac die Moral der Kirchenväter ansah, müßten auch Naudé's Betrachtungen über die Staatsstreiche beäugt werden. Man blickte damit in welchen dunkeln Abgrund der Zeiten!Vgl. jetzt Ranke, »Zur Kritik neuerer Geschichtschreiber«. – D.


59.

Nun änderten sich aber viele Dinge jenseit und diesseit der Alpen. Die Reformation entstand; sie entlarvte den Unfug der kirchlichen Politik so schrecklich, daß immer auch einige, obgleich wenige Strahlen auf die Staatspolitik fallen mußten. Jesuiten entstanden, die ein feineres Gewebe zu spinnen und die Cabinette schlauer zu regieren wußten. Karl V. machte in Italien Ordnung; es krystallisirten sich die kleineren Staaten, und nur den größeren, einer Katharina von Medicis, Heinrich VIII., Karl V., Philipp II., stand es frei, in der alten großen Macchiavellischen Manier zu verfahren. Da endlich stand ein Jesuit auf, klagte das Buch an, und es wurde verdammt, 72 Jahr nach seiner Erscheinung. Macchiavell's System ward verdammt, weil es von den Staaten zu grob, von den Jesuiten jetzt feiner ausgeübt ward; man wollte den alten Meister nicht mehr anerkennen, der diese Grundsätze zu klar exponirt hatte, und war überzeugt, der Jünger sei jetzt über den Meister. Nicht ohne; diese Politik aber stürzte sowol den Jünger als den Meister, und o wäre sie für unser Menschengeschlecht endlich begraben! – Was ist ein Principe Macchiavell's seiner Natur und Gattung nach? Der königliche Jüngling, der einen Anti-Macchiavell schrieb, hätte einen Anti-Principe schreiben sollen, wie er ihn auch nachher (außer vielleicht in Fällen der dringenden Noth oder der Convention) für Welt und Nachwelt rühmlich gezeigt hat. »Vivre et mourir en Roi« war sein großes Wort der Pflicht und Ehre.Vgl. oben Brief 9, S. 39. – D.

Zu Deinem Grabe wallfahrtete ich einst, mein Anti-Macchiavell, Hugo Grotius. Du schriebst kein »Recht des Krieges und Friedens«; denn Du warst kein Prinz; Du schriebst »vom Rechte des Krieges und Friedens«. Und zwar sammeltest Du dazu nur Collectaneen; nicht aus Italien und Deiner Zeit allein, sondern vorzüglich aus den guten Alten, aus den Gesetzen der Vernunft und Billigkeit, aus der Religion selbst; woraus denn allmählig ein Recht der Völker erwuchs, wie man in den barbarischen Zeiten es nicht hatte erkennen mögen. Laß Dich das Ungemach nicht gereuen, heilige Seele, das Du Deiner guten Grundsätze und Bemühungen wegen hier erduldetest. Religionen hast Du nicht vereinigen können, wie Du es wolltest; aber Grundsätze der Menschen hast Du vereinigt, und auch Völker werden sich einst zu ihnen verbinden.

Bei Gustav Adolph fand man, als er in einem Ausritt meuchelmörderisch gefallen war,Daß er nicht meuchelmörderisch fiel, ist jetzt anerkannt. – D. Grotius' Buch im Zelte auf seinem Tisch aufgeschlagen; die edelsten Männer in Schweden, Frankreich, Holland, Deutschland liebten und ehrten ihn; die ganze europäische Nachwelt ist seine Verbündete und Verbundne worden. Was seitdem über Recht der Völker, über Natur- und Vernunftrecht geschrieben worden, geht auf Grotius' Bahn.

Nach so ungeheuren Fortschritten der Zeit konnte man freilich auch mit Institution der Prinzen nicht auf Macchiavell's Wege bleiben. Er selbst wäre bei veränderten Zeitumständen nicht darauf geblieben; und o hätten wir von Macchiavell das Bild eines Fürsten für unsre Tage! Außer den Jesuiten, die eine Politica de Dios noch lange trieben, standen andere Prinzenlehrer, La Motte le Vayer, Nicole, Bossuet, Fénélon auf; wie ihre Grundsätze befolgt sind, zeigt die Geschichte. Nach den stürmischen Zeiten, in denen Languet, Milton, Hobbes schrieben, gaben Algernon Sidney, Locke, Shaftesbury, Leibniz mildere Grundsätze an, bis in unsern Tagen Rousseau's Contrat social Wirkungen erregt hat, an die sein Verfasser schwerlich dachte. Wie gern kehrt man aus dem Tumult dieser Zeiten zu den friedlichen Geistern Grotius, Locke, Leibniz zurück!

»Heil den Predigern der Menschenrechte!« sagt ein neuerer Lehrer des Staatsrechts; »aber versäumen sie ja nicht, vorher Menschenpflichten zu lehren. Um jene in ihrem ganzen heiligen Umfange einzuführen, müssen wir erst eine Majorität von Menschen haben, die fähig sind, diese in ihrem ganzen Umfange auszuüben.« Ich lege Ihnen das kleine Buch bei,Schlözer's »Allgemeines Staatsrecht«. Göttingen 1793. – H. aus dem diese Stelle genommen ist; Sie werden in ihm noch weit mehrere dieser Art finden. Sein Verfasser verspricht uns noch drei Bändchen dieser Art; wir wollen ihn bei seinem Wort halten.


60.

Auch Leibniz unter den Propheten?Bezieht sich auf das Ende des 54. Briefes. – H. Was es mit den gewöhnlichen politischen Prophezeiungen für eine Bewandschaft habe, wußte der scharfsinnige Mann besser als Jemand. »Auf Ausrechnungen für die Zukunft,« sagt er in einem Briefe,Felleri Otium Hannoveranum, p. 108. – H. »gebe ich nichts. Jene Prophezeiungen, die man in alten Büchern gefunden haben will, sind von Denen geschrieben, die die alten Kriege zwischen Frankreich und England im Sinne hatten; die Erfahrung aber lehrt, daß Alle, die sich an so etwas gewagt haben, getäuscht wurden. Zuweilen können dergleichen Prophezeiungen nützlich sein, dem Pöbel, wie man es nennt, durch einen frommen Betrug Muth zu machen; bei Verständigen aber haben sie so wenigen Werth, daß sie vielmehr dem Ansehen und dem guten Ruf des Propheten Nachtheil bringen, indem sie keinen gründlichen Beweis zulassen, ohne welchen doch ein redlicher Mann, der seine Pflicht versteht, nicht so leicht etwas behauptet. Gewisser möchte ich,« fährt er fort, »das voraussagen, daß, wenn in Deutschland die Dinge nicht besser gemacht werden, ** einen längern Widerstand leisten werde, als wir uns einbilden. Wir Deutschen brauchen unsre Kräfte nicht gnug. – Statt also uns mit schmeichelnden Prophezeiungen einzuschläfern, ist guter Rath nöthig, daß wir unsre Nerven anspannen und mit Beiseitsetzung jeder Privatbehaglichkeit fürs gemeine Beste sorgen.«

An andern Orten indeß spricht er von den Voraussagungen kluger Männer anders. »In meiner Jugend,« sagt er,Epistolae Leibnitii, edit. Kortholt, I. 366; Felleri Otium Hannoveranum, p. 217. – H. »wollte ich eine Abhandlung davon schreiben,« wobei er Seneca, Tacitus, Macchiavell, Conring, Lotichius, Dach zum Beispiel anführt. Wir thun ihm also nicht Unrecht, wenn wir noch einige Blicke seiner Uebersicht über die Dinge um ihn auszeichnen. Er blickte weithin, er sahe scharf und ohne Galle; er war frohmüthig und redlich.

»So oft ich,« sagt er Felleri Otium Hannoveranum, p. 121. – H. zu seinem Freunde Ludolf, »den gefährlichen Zustand der Dinge um uns her und dabei unsre Trägheit, unsre verkehrten Rathschläge betrachte, so oft schäme ich mich unser vor den Augen der Nachwelt. Offenbar geht es dahinaus, daß in Europa sich Alles drüber und drunter kehre, und doch beträgt man sich, als ob Alles in höchster Sicherheit sei, und als ob wir Gott selbst zum Gewährsmann unsrer Ruhe hätten. Ueber Kleinigkeiten streitet man; ums Große bekümmert sich Niemand, so daß es Ekel und Ueberdruß macht, an die Geschichte der gegenwärtigen Zeit nur zu denken. So gar sehr bestätigen wir Deutschen die ungünstigen Urtheile der Ausländer von uns durch unser Betragen.«

»Im Felde der Wissenschaften stecken wir noch in den ersten Wegen. Ein Schicksal verhindert uns, daß wir die Schätze der Natur nicht sorgfältiger ausspähen und größern Nutzen daraus ziehen. Ich bin der Meinung, daß die Menschen fast unglaubliche Dinge zu Stande bringen könnten, wenn sie mehreren Fleiß anwendeten. Um ihre Augen aber ist eine Binde gezogen, und man muß die Zeit erwarten, da Alles reif sei.«Ibid., p. 412. – H.

»Wie die englische Societät Naturversuche zusammenträgt, so sollte eine andre sein, die Regeln des Lebens, nützliche Bemerkungen und versteckte Vorschläge, wie der Zustand der Menschen zu verbessern sei, zusammentrüge. Aus den Schriftstellern sollte man ausziehen, nicht nur was irgend nur einmal, sondern von wem es zuerst gesagt sei. Hier muß man von den ältesten Zeiten anfangen, doch aber nicht Alles erzählen, sondern was zum Unterricht des menschlichen Geschlechts dient, auswählen. Wenn die Welt noch tausend Jahre steht und so viel Bücher wie heutzutage fortgeschrieben werden, so fürchte ich, aus Bibliotheken werden ganze Städte werden, deren viele dann durch mancherlei Zufälle und schwere Zeitumstände ihr Ende finden werden. Daher wäre es nöthig, aus einzelnen und zwar den Originalschriftstellern, die andre nicht ausschrieben, Eklogen wie Photius zu machen und ihr Merkwürdiges mit den Worten des Schriftstellers selbst zu sammeln. Was aber merkwürdig sei, kann, bei der großen Verschiedenheit der Köpfe und der Wissenschaften, freilich nicht Jeder beurtheilen.«Felleri Otium Hannoveranum, p. 147. – H.

»Ich glaube, daß es bei Euch viele geschickte Männer giebt.Ibid., p. 27, an einen Engländer. – H. Indessen mache ich einen großen Unterschied zwischen gründlichen Kenntnissen, die den Schatz des menschlichen Geschlechts vermehren, und zwischen der Notiz von Thatsachen, die man gemeiniglich Gelehrsamkeit nennt. Ich verachte diese Gelehrsamkeit nicht, deren Werth und Nutzen ich einsehe; dennoch aber wünschte ich, daß man sich mehr an das Gründliche hielte; denn es giebt allenthalben zu wenig Personen, die sich mit dem Wichtigsten beschäftigen. Nichts ist so schön und so befriedigend, als eine wahre Kenntniß vom System der Natur zu haben. Würden Viele dies Studium lieb gewinnen, so würde man weit gelangen, nicht nur in Rücksicht auf Bequemlichkeiten des Lebens und der Gesundheit, sondern in Rücksicht auf Weisheit, Tugend und Glück; statt dessen, daß man sich jetzt mit Kleinigkeiten abgiebt, die uns ergetzen, nicht aber vervollkommnen und veredeln. Unter Vollkommenheiten rechne ich nichts, als was uns auch nach diesem Leben bleiben kann; die Kenntniß von factis ist wie die Kenntniß der Straßen in London. Sie ist gut, so lange man dort ist.«

»Das göttliche Naturlicht in uns zu vermehren, hat man Dreierlei zu thun nöthig. Zuerst sammle man eine Kenntniß der vortrefflichen Erfindungen, die schon gemacht sind; sodann erforsche man, was noch zu entdecken ist; endlich bringe man Beides, das Erfundne und noch zu Erfindende, in Lobgesänge an den Urheber der Natur, zu Erweckung der Liebe zu ihm und zu den Menschen. Wären die Sterblichen so glücklich, daß ein großer Monarch diese drei Dinge einmal für sein Werk ansähe, in zehn Jahren würde zur Ehre Gottes und zum Wohl des Menschengeschlechts mehr bewirkt werden, als wir sonst in vielen Jahrhunderten ausrichten möchten.«Ibid., p. 19. – H.

»Ich hatte im Sinn, mancherlei Gedanken, die das Wohl des Kaisers und des Reichs betreffen, unter dem Namen: »Deutsche Rathschläge« ans Licht zu stellen; es ist aber verdrießlich, Worte in den Wind zu verhauchen und nach Art der Declamatoren, die in Schulen über die beste Form der Republik zu Athen oder Karthago reden, Dinge vorzutragen, die Niemand anwendet. Die besten Gedanken werden verächtlich, wenn man sie öffentlich hinstellt; unsre Feinde werden dadurch mehr gewarnt als gebändigt. Indessen besitze ich manches Ueberdachte, das auch großen Männern wichtig geschienen hat und in unsern Zeiten dem Ganzen sehr nützlich sein könnte. Vor Allem bin ich mir der Treue bewußt und der Liebe zum allgemeinen Besten.«Felleri Otium Hannoveranum, p. 4 sq. – H.

Gewiß verzeihen Sie mir, daß ich von Leibniz' Weissagungen so bald auf seine Vorschläge übergegangen bin; eines klugen Mannes Weissagungen sind Vorschläge des Bessern. Nicht auf Visionen, sondern auf Erfahrungen und auf jene dauerhaften Vernunftprincipien sind sie gebaut, die auch in die fernste Zukunft reichen. Da glücklicherweise die Akademie der Wissenschaften, deren ruhmwürdiger Stifter Leibniz war, in Manchem schon zum ersten Plan desselben zurückgekehrt ist, so wäre es vielleicht gut, daß sie in Allem dahin zurückkehrte und aus Leibniz' Schriften und Briefen sämmtliche Vorschläge sammeln ließe, die er zur Erweiterung der Wissenschaften und zum Wohl des menschlichen Geschlechts seinen Freunden oder der Welt offenbarte. Ungeheuer Vieles ist seitdem noch nicht geschehen, was er zu thun sich vornahm oder von außen ausgeführt wünschte; er ist uns in diesem Allen der nähere Baco, der mit genauerer Kenntniß der Sache, als der Engländer besaß, die Lücken der Wissenschaften, die Mängel unsrer Erkenntnisse und Bemühungen ansah und seine Entwürfe, mit Gründen unterstützt, zuweilen sehr vollständig detaillirt hat. Jungen Männern würde ich daher seine Briefe und Schriften nicht nur als eine reiche Fundgrube von Gedanken, sondern auch als ein Directorium ihrer Bemühungen anpreisen, wohin sie streben sollen, was allenthalben für die Menschheit noch zu thun sei. Glücklich ist, wer einen solchen Wegweiser frühe gebraucht.


61.

Oft habe ich zu unsern Zeiten gedacht: »Wenn Leibniz lebte!« Er lebt indessen in seinen Schriften, und wir können aus seinen muntern Urtheilen, die sich auf alles Merkwürdige seiner Zeit erstreckten, auch für jetzt viel Nutzen ziehen.

Sie wissen, mit welchem Eifer Leibniz sich um die Vereinigung der Religion bewarb und verwandte. Für die damalige Zeit blieb seine Mühe fruchtlos; indessen selbst das Fruchtlose seiner Vorschläge, die allenthalben voll Verstandes waren, ist für uns lehrreich. Ein damaliger Regent wollte die Sache kürzer angreifen und eine Vereinigung der Secten, nicht in Lehren, sondern in Gebräuchen, nicht mit gutem Willen beider Theile, sondern durch Befehle, durch Zwang bewirken. Ein untüchtiger Rathgeber schrieb zu Beschönigung dieser Mittel ein Arcanum Regium in pietistischer Form. Lesen Sie, wie sich die großen Friedensbeförderer Leibniz und Molanus darüber erklären.Leibnitii Epistolae ad diversos, editae a Christiano Kortholto Lipsiae 1734–1742. T. I. p. 88. – H. Das Gutachten endigt also: »Der neuen Regel, daß ein evangelischer Fürst Papst in seinem Gebiet sei, muß man nicht mißbrauchen. Bei den verständigen Katholischen selbst ist ein allgemeines Concilium der Kirche, wo nicht über, doch nicht unter dem Papste.«

Hören Sie, was Leibniz von Spielen urtheilt: »Ich wünschte, daß Jemand alle Arten von Spiel mathematisch behandelte und sowol die Gründe ihrer Regeln und Gesetze als ihre vornehmsten Kunststücke angäbe. Unsäglich viel zur Erfindungskunst Brauchbares liegt in den Spielen. Und dieses daher, weil die Menschen im Scherz sinnreicher als im Ernst zu sein pflegen; denn überhaupt geht uns besser von der Hand, was wir mit Lust verrichten.Felleri Otium Hannoveranum, p. 165. – H.

»Es könnte ein Spiel ausgedacht werden, das man das Spiel der Vorsorge oder der Zufälle nennen könnte: Wenn das geschieht, was könnte sich zutragen? Weil diese Zufälle zum Theil allgemein und auf Vieles anzuwenden sind, müßte ein Gesetz sein, solche bei einer neuen Frage nicht wieder zu gebrauchen, oder man könnte die allgemeinen Zufälle gar ausschließen und das Gesetz machen, daß man nur Zufälle anführe, die vermieden werden können, ohne daß die Handlung selbst unterbleibe. Den möglichen Zufall könnte der Eine, das Mittel dagegen sein Nachbar sagen u. s. w.

»Man hatte vormals ein Fragspiel: Wozu ist das Stroh gut? Man könnte es das Spiel der Effecte, oder cui bono? nennen. So könnte ein Spiel der Ursachen oder Mittel eingeführt werden, z. B. Womit kann dies oder das gethan werden? Solche Spiele schärfen den Verstand und führen zu ernsthaft Gutem, da andre Possen nur zu ernsthaft Bösem führen.

»Man hat ein Gedächtnißspiel, da man sich übt, etwas auswendig Gelerntes schwer Auszusprechendes mit wachsender Rede herzusagen; dergleichen Spiele könnten noch mehr erfunden werden, nicht zu Vermehrung der Seelenkräfte allein, sondern auch zu Uebung der Tugenden. In manchen Spielen ist Bescheidenheit, Mäßigung nöthig, wie im Königsspiel u. s. w. Ich wollte, daß Comenius daran gedacht hätte, da er sein Buch: »Die Schule ein Spiel«, herausgab.«Epistolae Leibnitii, III. p. 278. – H.

Bei unsern fürchterlich-großen Zeit- und Menschenspielen sind Ihnen diese Leibnizischen Gedanken nicht bisweilen eingefallen? Wenn das geschieht, was könnte sich zutragen? Wie kann es vermieden werden? und wenn es sich zuträgt, was hilft dagegen? Ferner: Wozu ist das Stroh gut? cui bono Dies oder Jenes? Das ganze Leben der Menschen ist ein Spiel; wohl Dem, der es froh und mit Verstande spielt!

Von Spielen zur Philosophie. Die Urtheile, die Leibniz nicht nur über die Alten, sondern auch über die Scholastiker und die Reformatoren der Philosophie, über Jordanus Brunus, Campanella, Baco, Hobbes, über Grotius, Locke, Cartes, Pufendorf, Shaftesbury u. s. w. fällt, sind, obwol immer in seinem eignen Gesichtskreise, mit einer Unparteilichkeit, einer Milde und so allgemeinen Theilnehmung entworfen, daß ich dieses großen Gemüths wegen Leibniz gern zum Schutzgeist der gesammten Philosophie wünschte. Von hundert merkwürdigen Aeußerungen hierüber hören Sie eine über Cartes:Ibid., p. 392. – H.

»Ich wünschte, daß treffliche Männer die leere Hoffnung, Oberherren im Reich der Philosophie sein zu können (arripiendae tyrannidis in imperio philosophico), aufgäben und den Ehrgeiz, eine Secte stiften zu wollen, fahren ließen; denn eben hieraus entspringen jene ungeschickten Parteilichkeiten, jene leeren und eitlen Bücherkriege, die der Wissenschaft und dem Gebrauch der kostbaren Zeit so sehr schaden. In der Geometrie kennt man keine Euklidianer, Archimedianer, Apollinianer; Alle sind von einer Secte, der Wahrheit zu folgen, woher sie sich anbieten möge. Auch wird Niemand geboren werden, der sich das ganze Patrimonium der Gelehrsamkeit zueigne, der das ganze Menschengeschlecht an Geist übertreffe und alle Sterne um sich her auslösche wie die ätherische Sonne. Wir wollen den Descartes loben, ja gar bewundern; deshalb aber wollen wir Andre nicht vernachlässigen, bei denen sich viele und große Dinge finden, die Jener nicht bemerkt hat. Nichts steht dem Fortkommen der Wissenschaft so sehr entgegen als jener Knechtsdienst, in der Philosophie eines Andern Gedanken zu paraphrasiren; und eben diese Paraphrasirkunst halte ich für die Ursache, warum von den Blos-Cartesianern ebenso wenig Neues und Ausnehmendes geleistet werde, als von den Aristotelikern geleistet worden, nicht aus Mangel des Genies, sondern des Sectengeists, der Parteisucht halben. Wie nämlich unsre Einbildungskraft, wenn ihr eine Melodie allein vorschwebt, schwerlich und mit Mühe zu einer andern übergeht; wie Der, der unablässig einer geschlagenen Straße folgt, keine neuen Wege entdecken wird: so sind auch Die, die einem Autor sich einverleiben, leibhafte Knechte dieses Autors, die er durch Gewohnheit in Dienst und Besitz hat; zu etwas Neuem und Verschiednem können sie ihr Gemüth nicht erheben. Und doch ist bekannt, daß den Wissenschaften nichts so sehr fortgeholfen hat als die Verschiedenheit der Wege, auf denen man die Wahrheit gesucht hat.«

Nichts verehre ich an Leibniz mehr als diese große, unparteiische Jugendseele, die bis ans Ende seiner Tage Alles mit Freuden aufnahm, was irgend der Wissenschaft diente. Keine Form wies er verächtlich ab; in Allem suchte er das Beste. Von ausschließenden Leibnizianern hatte er so wenig Begriff, daß vielmehr seine Schriften und Briefe darauf arbeiten, in Zukunft alle Secten zu vernichten, aus Alten und Neuen die Wahrheit zu lernen und auch einer sonst schlechten Schrift den Beitrag nicht abzuleugnen, den sie dem Gemeingute der Menschheit liefert. Ich wünschte, daß seine Gedanken, seine Urtheile über die verschiedensten Schriftsteller in ihrer ganzen großen Unparteilichkeit für Jünglinge ausgehoben und als Leibniz' Geist, als die einzige, immer frische und neu strömende Quelle der Wissenschaft dargestellt würde. Vor einigen Jahren erschien, wie mich dünkt, eine Schrift, die der »Geist des Herrn von Leibniz« hieß; wahrscheinlich aber ist's nicht der rechte Geist gewesen; denn er ist ohne Wirkung bald verschwunden. Doch was sage ich Wirkung? Hat Leibniz auf die deutsche Nation gewirkt? Sogar seine Schriften sind von uns noch nicht gesammelt; und nachdem ein AusländerChristian Kortholt war zu Kiel geboren, aber schon 1730 nach Leipzig gekommen und 1742 Professor in Göttingen geworden. Von dem Commercium epistolicum Leibnitianum von Gruber erschien 1745 nur der Anfang, und in demselben Jahre der Briefwechsel mit Bernoulli. Ein paar einzelne Briefwechsel mit Leibniz gaben Michaelis (1755) und Vesenmeyer (1788). Erst in unserm Jahrhundert ist auch für den Briefwechsel von Leibniz Bedeutendes geschehen. – D. sie für uns zu sammeln die Mühe nahm, haben wir sie noch nicht einmal ergänzt.


62.

Wollen Sie Sich überzeugen, daß Leibniz auch bei seinen Lebenszeiten in Deutschland eine ziemlich fremde Pflanze gewesen, so lesen Sie das Leben, das sein nächster Bekannter, Eccard, von ihm geschrieben; seine Bekanntmachung haben wir dem gelehrten Murr»Journal zur Kunstgeschichte«, Th. 7. S. 123 ff. – H. zu danken. Die blühende Aloe sandte reiche Gerüche um sich her; allenthalben wollte sie Wurzeln schlagen und neue Absenker pflanzen. Es gelang ihr hie und da, ohngeachtet des sträubigen Erdbodens, und wäre Leibniz die Stiftung einer Akademie der Wissenschaften zu Wien und Dresden so geglückt, wie ihm die Akademie zu Berlin glückte, welche unnennbar gute Folgen hätten sich seitdem verbreitet! Sein Geist lebte in einer idealischen Welt, im Reich aller denkenden, fürs Wohl der Menschheit wirkenden Geister. Für diesen großen Staat schrieb er seine Aufsätze, meistens auf Veranlassung fremder Aeußerungen, und unterhielt einen so ungeheuren Briefwechsel, daß man ihn einen Mitarbeiter und Präsidenten der Gesammtakademie aller europäischer Wissenschaften nennen könnte. In seinen näheren Verhältnissen aber war er hier Kanzleirevisionsrath, dort Geschichtschreiber des fürstlichen Hauses; hier schrieb er für einen Pfalzgrafen, der König von Polen werden, dort für deutsche Fürsten, die Gesandte beim Friedensschluß haben wollten, u. s. w. Er unterhielt die Fürsten mit Curiosis, wenn es auch nur ein wunderbar gestalteter Rehbock sein sollte, Fürstinnen mit sinnreichen philosophischen Gedanken, Neugierige mit dem, was sich in andern Ländern zutrug; erfand für den Bergbau Werkzeuge, Maschinen, Windmühlen und – that doch nicht zur Gnüge. Zwei Jahre vor seinem Tode ward dem alten Mann nachdrücklich befohlen, »die Historie des Hauses vor allen Dingen fertig zu machen«, und als er begraben ward, »war das Einzige zu verwundern,« sagt sein getreuer Amanuensis und College Eccard, »daß, da der ganze Hof ihm zu Grabe zu folgen invitirt war, außer mir kein Mensch erschienen, so daß ich dem großen Mann die letzte Ehre einzig und allein erwiesen.«Zur Erläuterung dieses Umstandes wird in den schätzbaren Zusätzen zu Eccard's Lebensbeschreibung Folgendes angegeben: »Der König war damals nicht mehr in Hannover. Der Monarch stand eben nicht allzu wohl mit dem Wiener Hofe, und es mißfiel ihm, daß Leibniz 1713 ohne Erlaubniß nach Wien gegangen und über anderthalb Jahre außen blieb, auch die Reichshofrathsstelle angenommen hatte. Se. Majestät sagten daher einstmals, da ein Hündchen, welches verloren gegangen, zu Hannover ausgetrommelt wurde, halb im Scherz, halb im Ernst: »Ich muß wol meinen Leibniz auch austrommeln lassen, um zu erfahren, wo er jetzt stecken mag.«« – Eine merkwürdige Erläuterung. – H. Im Jahr 1695 schrieb er an Burnet: »Unbequem ist mir's, daß ich nicht in einer Stadt wie Paris oder London lebe, wo viele gelehrte Männer sind, deren Hilfe man sich bedienen, von denen man lernen kann; denn viele Dinge sind von der Art, daß ein Mensch allein sie nie zu Stande bringen mag. Hier findet man kaum Jemand, mit dem zu sprechen ist, oder vielmehr es ist hier zu Lande nicht hofmännisch, sich von gelehrten Dingen zu unterhalten.« Noch das Jahr vor seinem Tode hatte er sich vorgenommen, nach Paris zu reisen und da sein Leben zu beschließen.

»Weil er nicht zum Abendmahl ging,« sagt Eccard, »schalten die Prediger oft öffentlich auf ihn; er blieb aber bei seiner Weise. Gott weiß, was er vor Motiven dazu gehabt; die gemeinen Leute hießen ihn daher insgemein auf Plattdeutsch Lövenix, welches qui ne croit rien heißt.« Aus seinen Schriften und Bemühungen für die Vereinigung der Kirchen kennen wir seine reinen und aufgeklärten Religionsgrundsätze gnugsam; gewiß kann man ihm nicht den Vorwurf machen, daß er zu wenig geglaubt habe.

»Kurz vor seinem letzten Augenblick wollte er noch etwas aufschreiben. Als ihm Papier, Tinte und Feder gereicht wurden, fing er an zu schreiben, das er aber nicht mehr lesen konnte, als er es bei dem Licht durchsehen wollte. Er zerriß das Papier, warf es weg und legte sich zu Bette. Er versuchte nochmals zu schreiben, verhüllte sich die Augen in seine Schlafmütze, legte sich auf die Seite und entschlief sanft, nachdem er sein ruhmvolles Alter auf 70 Jahre, 4 Monate und 24 Tage gebracht hatte.« Lesen Sie Eccard's Lebensbeschreibung; das Barbarus hic ego sumAus Ovid (Trist., V. 10. 16), mit dem Schlusse: »quia non intelliger ulli.« – D. wird Ihnen manche Seite ins Ohr flüstern.

Fontenelle sagt in seiner Lobschrift gar artig: »Aus vielen Hercules habe das Alterthum nur einen Hercules gemacht; er sehe keinen andern Rath, als den einen Leibniz in viele Gelehrte zu decomponiren; denn sonst würde bei dem beständigen Uebergange von Schriften des verschiedensten Inhalts, alle zu einer und derselben Zeit geschrieben, diese unaufhörliche Mischung von Gegenständen, die in Leibniz' Kopf seine Ideen nicht verwirrte, eine Verwirrung und ein embarras in sein Eloge bringen.« Und doch wünschte ich fast, daß Leibnizens Vaterland diesen embarras, diese passages brusques et frequens d'un sujet à un autre tout opposé, qui ne l'embarrassoient point, in Leibnizens Arbeiten nicht gebracht hätte, um den einen Hercules in mehrere Hercules zu decomponiren. Wie anders konnte Newton in England seine Werke vollenden!

Sie wissen, daß Leibnizens Verlassenschaft in der landesherrlichen Bibliothek zu Hannover aufbewahrt wird, und es ist zu erwarten, daß die Regierung, die für alle und allerlei Wissenschaften mehr als irgend eine andre in Deutschland thut und gethan hat, einem dazu tüchtigen Manne, unter gegebner bürgerlichen Treue, die Bekanntmachung des Inhalts derselben auftrage. Der einzige Band, den Raspe mit Kästner's Vorrede von daher ans Licht stellte, ist vielleicht mehr werth als Leibnizens »Theodicee« selbst; und wer unternähme es, für den kleinsten Zettel Leibnizens in Ansehung der Idee verantwortlich zu werden, die er darauf nur hinwarf?

Dankbar erkenne ich jede Blume, die eine würdige Hand nicht auf Leibniz' verscharrte Asche, sondern dem ewigen Ehrenmal streut, das er sich selbst errichtet hat. Die Wolffische Schule, so ungleich sie seiner Denkart war, hat ihm gleichsam ein Kenotaphium gebaut; durch sie ist eine Klarheit der Begriffe und eine Präcision des Ausdrucks in unsre Sprache gebracht worden, die ihr vorher unbekannt waren. Sollte, da ihre Periode vorüber ist, Jemand noch jetzt Bedenken tragen, Leibnizens Briefwechsel mit Wolff herauszugeben, der, was er auch enthielte, dem Letztern nicht anders als zur Ehre gereichen könnte?

Auch außer dieser Schule, wie jugendlich lieb ist mir Alles, was Leibniz ehrt und in sein Licht stellt! Jede Zeile, die Kästner in mancherlei Art und Form zur Ehre und zum Verständniß seines Landsmannes schrieb, von Cochius jede kleine Abhandlung in der Akademie der Wissenschaften zu Berlin (wären doch von ihm noch ungedruckte Abhandlungen vorhanden!) sind mir schöne Reste von Philosophen der alten Zeit.

Hören Sie, was Leibniz von seinem Censorgeist sagt: »Niemand hat weniger Censorgeist, als ich habe. Sonderbar ist's; aber mir gefällt das Meiste, was ich lese. Da ich nämlich weiß, wie verschieden die Sachen genommen werden, so fällt mir während dem Lesen meistens bei, womit man den Schriftsteller vertheidigen oder entschuldigen könnte. Sehr selten ist's, daß mir im Lesen etwas ganz mißfällt, obgleich freilich dem Einen dies, dem Andern das mehr gefallen möchte. Ich bin einmal so gebauet, daß ich allenthalben am Liebsten aufsuche und bemerke, was lobenswerth ist, nicht was Tadel verdient.« Könnte der Geist der Philanthropie selbst billiger und milder denken?

Und doch, warum erfuhren eben die friedliebenden, die billigsten Gemüther, Erasmus, Grotius, Comenius, Leibniz, so manchen übeln Dank ihrer Zeitgenossen? Die Ursache ist leicht zu finden: weil sie parteilos und jene mit Vorurtheilen befangene streitende Parteien waren. Diesen gaben Unwissenheit, Eigennutz, blindes Herkommen, gekränkter Stolz und zehn andre Furien das Streitgewehr oder den Dolch der Verleumdung in die Hände; Jene kämpften friedlich hinter dem Schilde der Wahrheit und Güte. Der goldene Schild der Wahrheit und Güte bleibt; ihre Streiter können persönlich fallen, aber ihr Sieg ist wachsend und unsterblich.

 


 


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