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Ihnen ist der berühmte Streit bekannt, der unter Ludwig XIV. über den Vorzug der alten oder der neuern Nationen in Wissenschaften und Künsten mit großer Wärme geführt ward, und an welchem auch außer Frankreich Gelehrte und Künstler Antheil nahmen. Da man nicht allemal gnug bestimmte, von welchen Alten oder Neuern, von welchen Künsten und Wissenschaften die Rede sei, es übrigens dabei auch mehr auf einen Rangstreit damals lebender Personen als auf eine unparteiische Schätzung alter und neuer Verdienste angesehen war, so konnte wenig ausgemacht werden, obgleich von beiden Theilen viel Gutes gesagt ward.
In der Cultur zum Schönen, die wir der Kürze halben Poesie nennen wollen, springt uns der Unterschied alter und neuer Zeiten, d. i. der Griechen und Römer in Vergleich aller neueren europäischen Völker ins Auge. Wir mögen italienische, spanische, französische, englische, deutsche Dichter, aus welchen Zeiten wir wollen, lesen, der Unterschied ist unverkennbar.
Und doch wird es schwer, ihn sich im reinsten Umriß aufzuklären, noch schwerer, ihn bis auf seine ersten Ursachen zurückzuführen und dabei jeder Nation und Zeit ihr Recht widerfahren zu lassen. »Wie?« kann man fragen, »blüht diese schöne Blume der Humanität, Poesie in Denkart, Sitten und Sprache, nicht überall und allezeit gleich glücklich? Und wenn zu ihrem Aufkommen ein besondrer Boden, eine eigene Pflege und Witterung gehört, welches ist dieser Boden, diese Witterung und Pflege? Oder wenn sie mit jeder Zeit, unter einem andern Himmelsstrich auch ihre Gestalt und Farbe verändern muß, welches ist das Gesetz dieser Veränderung? geht sie ins Bessere oder Schlechtere über?«
Ueber diese Fragen, die man oft gethan hat, sind mir einige Fragmente zu Händen gekommen, die mir der Aufmerksamkeit unsrer Gesellschaft nicht unwerth scheinen. Die Blüthe der alten Cultur unter Griechen und Römern setzen sie entweder als bekannt voraus, oder es fehlt die Untersuchung darüber in den mir zugekommenen Blättern.Vgl. dagegen die Anmerkung Herder's auf dieser Seite. – D. Diese bemerken vorzüglich, wie sich die mittlere und neue europäische Cultur in und durch Dichtkunst, und zwar bei den verschiedenen Nationen Europas nach besondern Veranlassungen, Hilfsmitteln und Zwecken gebildet habe. Das Endurtheil, in manchen Stücken die Vergleichung selbst, überlassen sie dem Leser. Da in ihnen die Poesie in einem weiten Verstande genommen und als Werkzeug oder als Kunstproduct und Blüthe der Cultur und Humanität nach Nationen und Zeiten im Allgemeinen betrachtet wird, mich dünkt, so werden wir bei jedem Fragment zu eignen Gedanken Gelegenheit finden, und dies ist doch der schönste Zweck einer schriftlichen Unterhaltung.
Erstes Fragment.
Verfall der Poesie bei Griechen und Römern.
Im Frühlinge und in der Jugend singt man; in der Winterzeit und im Alter verstummen die Töne. Die lebendigste Poesie Griechenlandes traf auf eine gewisse Jugendzeit des Volks und der Sprache, auf einen Frühling der Cultur und Gesinnungen, in welchem sich mehrere Künste, keine noch im Uebermaaß, glücklich verbanden, endlich selbst auf einen Frühling von Zeitumständen und Weltgegend, in welchem entsprießen konnte, was entsprossen ist. Von der Poesie der ältesten Sänger und von Bildung der Sprache durch ihren Gesang, von Alcäus und der Sappho, von Pindar und dem Chor der Griechen haben wir geredetDiese Fragmente fehlen. – H. und allenthalben einen jugendlich aufstrebenden Geist, jene erste Blume der Cultur bemerkt, die, wenn sie verblüht und zur Frucht gediehen ist, der laueste Zephyr nicht wieder erwecken mag.
Alles in der Welt hat seine Stunde. Es war eine Zeit, da Poesie alle menschliche Weisheit in sich faßte oder deren Stelle vertrat. Sie sang die Götter und erhielt die ruhmwürdigen Thaten der Vorfahren, der Väter und Helden; sie lehrte die Menschen Lebensweisheit und war, sowie das einzige und schönste Mittel ihres Unterrichts, so auch an Festen und in Gesellschaft ihr geistigstes Vergnügen. Ehe die Schrift erfunden, oder so lange sie noch nicht häufig im Gebrauch war, sangen die Töchter der Erinnerung, die Musen, und wurden mit Entzücken gehört. Dichter waren der Mund der Vorwelt, Orakel der Nachwelt, Lehrer und Ergetzer des Volks, Lohner großer Thaten, Weise.
Je mehr die Schrift aufkam und sich durch sie die Sprache ausbildete, je mehr mit der Zeit Wissenschaften aus einander gingen und einzeln bearbeitet wurden, desto mehr mußte der Poesie allmählig von ihrer Allgemeinherrschaft entnommen werden; denn sobald man schreiben konnte, wollten Viele eine wahre Geschichte lieber in Prose, die der Poesie nachgebildet war, lesen oder lesen hören, als Fabel und Geschichte fernerhin in Hexametern durch Gesang vernehmen. Allmählig verstummte also die erzählende Muse oder sang aus Sagen ihrer ältern Schwester künstlich gearbeitete Töne nach.
Je mehr die Philosophie aufkam, je mehr man die Natur der Dinge, insonderheit des Menschengeschlechts und seiner Verfassungen untersuchte, desto weiter entfernte man sich von jener alten Einfalt moralischer Sprüche, denen die Poesie einst Glanz und Nachdruck geben konnte. Philosophische Unterredungen und Systeme konnte der Dichter nicht mit derselben Kraft wie alte Begebenheiten und sinnliche Gegenstände darstellen; er war hier in einem fremden Lande.
Auch die Mythologie selbst, die der Poesie einst so viel Schwung gegeben hatte, ward mit der Zeit eine alte Sage. Der kindliche oder jugendliche Glaube der Vorwelt an Götter und Heroen war dahin; was tausendfach gesungen war, mußte zuletzt, blos dem Herkommen gemäß, mit trockner Kälte gesungen werden; es hatte seine Zeit überlebt.
Endlich, da Scherz und Freude die Eltern des Gesanges sind, wo waren diese hingeflohen in jenen traurigen Zeiten, die Griechenland zuletzt erlebte? In- und auswärtige Kriege zerstörten, lösten auf und mischten Alles unter einander. Der lebendige Geist aufblühender Pflanzvölker, fröhlicher Inseln, im Ruhm und Gesange wetteifernder Städte war längst entwichen; und ob man gleich die Anstalten, durch welche er gewirkt hatte, öffentliche Gebräuche, Tempel, Spiele, Wettkämpfe, Theater u. s. w., so lange es möglich war, erhielt oder wiederherstellte, so war doch jene Jugend nicht zurückzurufen, in welcher dies Alles wie durch sich selbst entstanden und veranlaßt war. Auch Hadrian rief diesen Genius nicht aus Hektor's Grabe.Vgl. Werke, VII. S. 102. – D. Zuletzt kamen die Barbaren heran; und als die christliche Religion über Griechenland herrschte, da sang z. B. Synesius der BischofSynesius ward im Jahr 410 Bischof zu Ptolemaïs und bedung sich dabei ausdrücklich, daß er weder seine Frau verlassen, noch eine Auferstehung des Leibes glauben dürfe. Seine »Hymnen« sowol als seine andern Schriften sind ein Gemisch des Christentums und der Alexandrinischen Philosophie, in welcher Hypatia seine Lehrerin gewesen war. – H. [Der Hymnus, dessen Anfang Herder giebt, ist der erste. – D.] von jenen alten Zeiten also:
»Wolauf, klangvolle Zither!
Nach Tejer Melodieen,
Nach Lesbischen Gesängen
In feierlichern Tönen
Ein dorisch Lied zu singen;
Ein Lied, doch nicht von Nymphen,
Die Aphrodisisch lächeln,
Auch nicht von holden Knaben
In süßer Lebensblüthe.
Ein himmlisch reines Feuer
Von gottgeweihter Inbrunst
Treibt mich, daß ich die Zither
Zu heil'gen Liedern schlage
Und jeder süßen Sünde
Der Erdenlust entweiche.
Was ist denn Macht und Schönheit,
Was ist denn Ruhm und Reichthum
Und alle Königsehren
Entgegen frommer Andacht?
Der sei ein schöner Reiter,
Ein schneller Schütze Jener,
Ein Anderer bewache
Gehäufte goldne Schätze;
Dem hange seine Locke
Zierlich hinab die Schulter;
Von Jenem sei gepriesen
Bei Jünglingen und Mädchen
Sein glänzend holdes Antlitz:
Mir sei ein stilles Leben,
Ein heiliges vergönnet,
Unscheinbar vor den Menschen,
Doch nicht vor Gott verborgen!
Mir stehe bei die Weisheit,
Die stark ist, mich zu leiten
Durch Jugend und durch Alter!
Sie, Königin des Reichthums,
Die auf unebnen Wegen
Das harte Joch der Armuth
Mit leichtem Muth erträget;
Sie, die in bittrem Kummer
Des Lebens heiter lächelt!
So viel sei mir gewähret,
Daß, schwarzer Sorg' entnommen,
Ich eines Nachbars Hütte
Im Mangel nie bedürfe.
Horch auf! Cicada singet,
Von Morgenthaue trunken.
Schau, wie die Saite stärker
Mir schlägt und eine Stimme
Begeisternd mich umtönet!
Was giebst Du für ein Lied mir,
Du heilige Begeistrung?«
Und so geht der Gesang in Platonisch-christliche Ideen über.Für Verständige bedarf es der Erinnerung nicht, daß es auch im christlichen Zeitalter, bis zur Eroberung Constantinopel's und fernerhin griechische Dichter gegeben habe. Es gab griechische Dichter, aber keine Poesie Griechenlandes in dem Sinne, von dem hier die Rede ist. – H.
Die Geschichte der Römer endete nicht anders. Ihnen war die Poesie, insonderheit der lyrische Gesang, gewissermaßen immer eine fremde Kunst geblieben; die Oden Catull's und Horaz' sind nur ein Nachhall der griechischen Lyra. Auch hat es ein Gelehrter unsrer Zeit wahrscheinlich gemacht,Meierotto, »De rebus ad auctores quosdam classicos pertinentibus,« Berolini 1785, p. 131 sqq.: »Judicium aequalium de Horatio.« – H. daß selbst Horaz' Oden zuerst lange nicht so viel Celebrität hatten, als sie in der Folge, insonderheit seitdem die lateinische Sprache eine todte Sprache war, mit Recht erhielten. Nachfolger fand dieser schöne Dichter unter den Römern wenige, und keinen, der an ihn reichte. Bis auf ein paar Stücke des Statius und einige arme Gedichte der Grammatiker sind diese auch untergegangen, so daß in Latium das Feld der lyrischen Poesie von Augustus' Zeiten hinab für uns am Oedesten daliegt.Was übrig geblieben ist, hat Wernsdorf in den Poetis Latinis minoribus, T. III. sammt den Nachrichten von dem, was untergegangen ist, mit großem Fleiß gesammelt. – H.
Die Ursachen hievon sind fast dieselben wie in der griechischen Geschichte. Die alte Mythologie war den Römern von Anbeginn an ungleich fremder und entfernter, als sie es in den neueren Zeiten den Griechen je werden konnte. Schon bei Virgil und Ovid, bei Properz und Horaz bemerkt man dies Fernhergebrachte zuweilen mit einigem Anstoß; bei Seneca, Statius, beim blühenden Claudian, Ausonius u. s. w. noch viel mehr. Man fühlt, die alte Götterlehre habe sich überlebt. Ohne Zweifel war dies mit eine Ursache, warum die meisten römischen Dichter, z. B. Ennius, Lucan, Silius, Claudian, lieber historische als rein heroische Gedichte schrieben und einige sogar ziemlich unpoetische Gegenstände wählten. Der alte Blumengarten war abgeblüht. Die Thebaïden- und Achilleïdendichter, noch mehr aber die schrecklichen Atridensänger hatten nicht nur den Reiz der Neuheit verloren, sondern die Satirendichter gingen ihnen auch hart entgegen.
Der Zustand Italiens und der römischen Provinzen unter den meisten Kaisern lockte noch minder einen neuen Frühling hervor. Wahnsinnige Tyrannen bedrückten die Welt; Kriege, bald auch die Anfälle der Barbaren verheerten sie, und unter den wenigen guten Kaisern ward aus mehreren Ursachen lieber griechische Philosophie als römische Dichtkunst gepflegt. Jener hatte nach damaligen Umständen die trost- und hilfbedürftige Zeit mehr als dieser nöthig. In Zeiten, die Tacitus beschreibt, in andern, die nachher folgten, wollte man wahrlich oft weniger singen als seufzen.
Der letzte Römer, Boëthius, endlich suchte auch in lyrischen Silbenmaaßen Trost gegen sein Unglück; seine Philosophie gewährte ihm aber nicht sowol Gedichte als philosophische Sentenzen.Boëthius' und Auson's Gedichte sind zur Zeit des allgemeinen Verfalls der römischen Sprache und Poesie merkwürdige Erscheinungen. Beide Dichter waren Christen, und doch lassen sie es sich in ihren Gedichten wenig merken, der Erste gar nicht, der Zweite ist gleichsam wechselsweise Christ und Heide. Beide suchen wie ans Trümmern vergangener Zeiten Schätze hervor. Jener Philosophie, die er in alle Silbenmaaße seines Seneca ordnet. Dieser das Andenken an alle ihm werthe Sachen und Menschen. Beide, insonderheit Boëthius, sind den folgenden dunkeln Jahrhunderten leitende Sterne gewesen; wie denn auch in ihm und in mehreren Dichtern der letzten Zeit bereits sichtbarerweist ein neuer Geschmack hervorgeht, der den folgenden Zeiten verwandt und ihnen daher lieber war als der große Geschmack der alten classischen Dichter. Von Boëthius haben wir nach zwei merkwürdigen Uebersehungen des vorigen Jahrhunderts (Nürnberg 1660. Sulzbach 1667. letzte vom Tulzbach'schen Kanzler Knorr von Rosenroth) neulich eine unsrer Zeit gemäßere erhalten, aus welche viel Fleiß gewandt ist: »Trost der Philosophie, aus dem Lateinischen des Boëthius, von F. C. Freitag«. Riga 1794. In den Silbenmaaßen ist der Uebersetzer dem Dichter nicht gefolgt; die seinen aber sind edel und streben im Rhythmus der Jamben dem Milton nach. Boëthius ist ein Philosoph für alle Zeiten. – H. Längst schon war nach und nach das Christentum ins Reich gedrungen, es hatte den Sieg erlangt und erfüllte bald alle heilige Orte mit christlichen Gesängen und Hymnen.
Nachschrift.
So weit das erste Fragment. Sammeln wir seine Winke, so werden wir gewahr, daß in Griechenland und Rom die ächte Poesie mit Religion, Sitten und dem Staate selbst untergegangen sei; denn woran sollte sie sich außer diesen ihren drei Grundstützen halten? Waren die Götter zu Märchen worden, an welche Niemand mehr glaubte, so ward man ihrer Lobgesänge, zuletzt auch des Gelächters über sie bald überdrüssig; der Hymnus sowol als der Mimus hatte sich an ihnen erschöpft.
Mit dem Ernst und der Anständigkeit in Sitten hatte die Poesie ihren gesundesten und festesten Nerv verloren; denn das Lachen eines Kranken ist nicht ein Zeichen seiner Gesundheit. Die niedrigen Zwecke, wozu man im üppigen Rom die Poesie anwandte, machten sie verächtlich, zuletzt abscheulich; so wie gegentheils die strafende Poesie, die ihre Geißel dagegen erhob, nothwendig auch oft über die Grenzen des Schönen und Wohlgefälligen streifen mußte.
Sank endlich der Staat, so sank alles Edle mit ihm, nichts konnte sich retten; denn wohin hätte es außer dem Staat sich retten mögen? Wie in einbrechender Nacht sehen wir also allmählig die Sonne, die Abendröthe, zuletzt auch die hie und da noch funkelnden Sterne verschwinden; das Firmament umziehen dunkle Wolken, es wird Nacht. Vermutlich wäre das ganze südliche Europa eine so dunkle Nacht und ein Chaos worden, wenn nicht aus Orient ein sonderbarer Strahl die Finsterniß zertheilt und einer neuen Morgenröthe von fern den Weg gebahnt hätte. Das zweite Fragment wird hievon reden.
Zweites Fragment.
Christliche Hymnen
Den Hymnen, die das Christentum einführte, lagen jene alten ebräischen Psalmen zum Grunde, die, wo nicht als Gesänge oder Antiphonien, so doch als Gebete sehr bald in die Kirche kamen. Das Denkmal, das die bleibende Gegenwart des Stifters unter den Seinigen darstellen sollte, das Abendmahl, war unter Lobgesängen aus dem Psalmbuch eingesetzt; er, der Stifter des Christenthums selbst, hatte sich mit Worten aus dem Psalmbuch getröstet; dem Psalmbuch also gaben Apostel und Kirchenväter mit Recht, auch seiner Popularität wegen, das größte Lob, da sowol die Stimme einzelner Personen als eines ganzen Volks in ihm so herzlich, so stark und lieblich erschallte. Luther, bei sehr veränderten Zeitumständen, nennt es einen Blumengarten von allerlei Blumen, einen ganzen Weltlauf von Zuständen des menschlichen Herzens und Lebens.Luther's Vorrede zum Psalter. – H. Da ist keine Klage, meint er, kein Schmerz, kein Jammer, aber auch keine Hoffnung, kein Trost, keine Freude, die in ihm nicht ihren Ausdruck finde.
Und weil es mit der größten Einfalt abgefaßt ist (denn lyrisch einfacher kann nichts sein als der Parallelismus der Psalmen, gleichsam ein doppeltes Chor, das sich einander fragt und antwortet, zurechtweist und bestärkt), so war es einer einfältigen Christengemeine, sowol in Zeiten des Drucks als in Empfindungen der Freude und Hoffnung wie vom Himmel gegeben. Daher der frühe Gebrauch dieses Buchs in der christlichen Kirche; daher von den ersten Zeiten an, ehe es christliche Dichter geben konnte, jene lauten Gesänge, dadurch sich ihre Zusammenkünfte den Römern merkbar machten;Plinius' Brief an Trajan. – H. [Plin. Epist., X. 97: »Carmenque Christo quasi Deo dicere secum invicem.« Daß dies carmen Psalmen gewesen, ist nichts weniger als wahrscheinlich. – D.] es waren Psalmen.
»Das schöne Buch, das Richtscheid guter Sitten,
Die starke Kraft, den Himmel zu erbitten,
Des Lebens Trost, der Muth zum Sterben giebt,
Was der Held sang, den Gott grundaus geliebt,
Ward durch den Saal der ganzen Welt gesungen
Und regte sich in aller Christen Zungen«,
sagt Opitz.
Nicht nur von Seiten des Inhalts, sondern auch von Seiten der Form ward dieser Gebrauch der Psalmen dem Geist und Herzen der Menschen eine Wohlthat. Wie man in keinem lyrischen Dichter der Griechen und Römer so viel Lehre, Trost und Unterweisung wie hier beisammen fand, so war auch schwerlich irgendwo sonst (wenn man die Psalmen nur als Oden betrachtet) eine so reiche Abwechselung des Tons in jeder Gesangesart wie hier gegeben. Zwei Jahrtausende her sind diese alten Psalmen oft und vielfach übersetzt und nachgeahmt worden, und doch ist noch manche neue Bildung ihrer vielfassenden reichen Manier möglich. Sie sind Blumen, die sich nach jeder Zeit, nach jedem Boden verwandeln und immer in frischer Jugend dastehn. Eben weil dies Buch die einfachsten lyrischen Töne zum Ausdruck der mannichfaltigsten Empfindungen enthält, ist es ein Gesangbuch für alle ZeitenVgl. Herder's Werk: »Vom Geist der ebräischen Poesie«. Abschnitt IX bis XI. – D.
Den näheren Ton zu christlichen Gesängen gaben indeß die Lobgesänge Zacharias' und der Maria, der Gruß des Engels, der Abschied Simeon's u. s. w., mit denen das Neue Testament anfing. Ihre sanftere Stimme war dem Geist des Christenthums gemäßer als selbst der laute Paukenschall jener alten frohlockenden Hallelujah, obgleich auch diese vielfach angewandt und mit Stimmen der Propheten oder andrer biblischen Gesänge bald verstärkt, bald gemildert wurden. Ueber den Gräbern der Verstorbenen, deren Auferstehung man im Geist schon gegenwärtig erblickte, in Einöden und Katakomben ertönten zuerst diese Buß- und Gebet-, diese Trauer- und Hoffnungspsalmen, bis sie nach öffentlicher Einführung des Christenthums aus dem Dunkel ins Licht, aus der Einsamkeit in prächtige Kirchen, vor geweihte Altäre traten und jetzt auch in ihrem Ausdruck Pracht annahmen. Schwerlich wird Jemand sein, der z. B. im Gesange des Prudentius: »Jam moesta quiesce querela«, nicht von rührenden Tönen sein Herz ergriffen fühlte, dem der Todtengesang: »Dies irae, dies illa« nicht Schauder einjagte, den so viel andre Hymnen, jeder mit seinem Charakter bezeichnet, z. B. »Veni, redemtor gentium«, »Vexilla Regis prodeunt«, »Salvete, flores Martyrum«, »Pange, lingua gloriosi« etc. . ., nicht in den Ton versetzten, den jeder Hymnus will und in seiner demüthigen Gestalt, mit allen seinen kirchlichen Idiotismen mächtig gebietet. In diesem tönt die Stimme der Betenden, jenen könnte nur die Harfe begleiten, in andern schallt die Posaune; es ruft und tönt die tausendstimmige Orgel etc.
Fragt man sich um die Ursache der sonderbaren Wirkung, die man von diesen altchristlichen Gesängen empfindet, so wird man dabei eigen betroffen. Es ist nichts weniger als ein neuer Gedanke, der uns hier rührt, dort mächtig erschüttert; Gedanken sind in diesen Hymnen überhaupt sparsam. Manche sind nur feierliche Recitationen einer bekannten Geschichte, oder sie sind bekannte Bitten und Gebete. Fast kommt der Inhalt aller in allen wieder. Selten sind es auch überraschend feine und neue Empfindungen, mit denen sie uns etwa durchströmen; aufs Neue und Feine ist in den Hymnen gar nicht gerechnet. Was ist's denn, was uns rührt? Einfalt und Wahrheit. Hier tönt die Sprache eines allgemeinen Bekenntnisses, eines Herzens und Glaubens. Die meisten sind eingerichtet, daß sie alle Tage gesungen werden können und sollen, oder sie sind an Feste der Jahreszeiten gebunden. Wie diese wiederkommen, kommt in ewiger Umwälzung auch ihr christliches Bekenntniß wieder. Zu fein ist in den Hymnen keine Empfindung, keine Pflicht, kein Trost gegriffen; es herrscht in ihnen allen ein allgemeiner populärer Inhalt in großen Accenten. Wer in einem Te Deum oder Salve regina neue Gedanken sucht, sucht sie an unrechtem Orte; eben das täglich und ewig Bekannte soll hier das Gepräge der Wahrheit sein. Der Gesang soll ein ambrosisches Opfer der Natur werden, unsterblich und wiederkehrend wie diese.
Es ergiebt sich hieraus, daß, da man bei christlichen Hymnen auf die Schönheit eines classischen Ausdrucks, auf die Anmuth der Empfindung im gegenwärtigen Moment, kurz, auf die Wirkung eines eigentlichen Kunstwerks gar nicht rechnete, diese Gesänge, sobald sie eingeführt waren, die sonderbarsten Folgen haben mußten. Wie nämlich die Hand der Christen Bildsäulen und Tempel der Götter dem unsichtbaren Gott zu Ehren zerstörte, so hielten diese Hymnen auch einen Keim in sich, der den heidnischen Gesängen den Tod bringen sollte. Nicht nur wurden von den Christen jene Hymnen an Götter und Göttinnen, an Heroen und Genien als Werke der Ungläubigen oder der Abergläubigen angesehen, sondern und vorzüglich ward auch der Keim, der sie hervorgebracht hatte, die dichtende oder spielende Einbildungskraft, die Lust und Fröhlichkeit des Volks an Nationalfesten, alsVor »als« stand im ersten Drucke noch irrig »und«. – D. eine Schule böser Dämonen verdammt, ja der Nationalruhm selbst, auf welchen jene Gesänge wirkten, als eine gefährlich glänzende Sünde verachtet. Die alte Religion hatte sich überlebt; die neue Religion hatte gewonnen, wenn die Thorheit des heidnischen Götzendienstes und Aberglaubens, die Unordnungen und Gräuel, die an den Festen des Bacchus, der Cybele, der Aphrodite vorgingen, ins Licht kamen. Also auch, was von der Poesie dahin gehörte, war ein Werk des Teufels. Es begann eine neue Zeit für Poesie, Musik, Sprache, Wissenschaften, selbst für die ganze Richtung der menschlichen Denkart.
Denn 1. Fortan war die Poesie keinem Volk, keinem Lande eigen, weil dieser Geist christlicher Hymnen mit Zerstörung aller Nationalheiligthümer die Völker insgesammt umfaßte und glauben lehrte. An die Stelle jener längst verlebten Heroen und Nationalwohlthäter traten jetzt neue Heroen, die Märtyrer, die auf der Erde ihre Festtage, Kirchen und Patrimonien bekamen, wie sie als Schutzpatronen und Fürbitter bei Gott angesehene Plätze droben besaßen. Himmel und Erde war also den Heiligen gegeben, die christliche Welt war unter sie vertheilt. Statt einzelner irdischer Wohlthaten sang man eine große Wohlthat, die Erlösung der Welt vom Aberglauben und den Dämonen. Statt eingeschränkter irdischer Hoffnungen sang man eine große Hoffnung, die Erwartung der Ankunft des Richters über Lebendige und Todte, mit welcher die Gesammtherrschaft in seinem Reiche wesentlich verknüpft war. Jahrhunderte lang hielt man diese Ankunft für nah; alle traurige Zeichen der Zeit, an denen man großenteils selbst Schuld war, wurden auf sie gedeutet, und ungeheure Dinge, Verfolgungen, Schenkungen,Die »Schenkungen« stehen doch hier sonderbar zwischen Verfolgungen und Kriegen unter den »ungeheuren« Dingen. Ebenso steht in den »Ideen« (Werke, XII. S. 119. Z. 24) auffallend »Zinsen«. Das ungehörige Wort ist wol dort wie hier als aus Versehen hereingekommen zu streichen. – D. Kriege, wurden durch sie befördert. Hymnen an die Märtyrer, Hoffnungen der Auferstehung und der Wiederkunft Christi machen also einen großen Theil der Dichtkunst dieser Zeiten aus; sie waren auch eine mächtige Triebfeder. Von heidnischer Poesie mochte untergehen, was untergehen wollte; was man rettete, ward etwa der Sprache, der Silbenmaaße, der späteren Platonischen Philosophie oder zufällig eines dem Christenthum zuträglichen Umstandes wegen erhalten. Selbst die jüdischen Psalmen wurden jetzt blos und allein christlich verstanden und gegen Ketzer, ja gegen die Juden selbst zeitmäßig gedeutet; es ward mit ihnen gebetet, geflucht, verbannt, exorcisirt. Was irgend man in der Literatur fand und anwenden wollte, verlor seinen alten Zweck und ward christlich.
2. Die Musik bekam durch die christlichen Hymnen mit der Zeit eine ganz andre Art und Weise. Da der Inhalt dieser Gesänge gleichsam ein Chor der Völker und so allgemein war, daß sich die Töne dem einzelnen Ausdruck einer individuellen Empfindung weder anschließen konnten noch sollten, so ging dabei der Strom der Musik allumfassend in seinem großen Gange desto ungehinderter und prächtiger fort. Wenig achtete er auf Füße des Silbenmaaßes, auf den Inhalt einzelner Strophen, auf einzelne Worte; mit der Strophe, welches Inhalts sie auch war, kehrte der Gesang wieder; das Feierliche verbarg jede Verschiedenheit in seinen weiten Mantel. Bei den Griechen war dies anders gewesen; bei ihnen war die Poesie herrschend, die Musik dienend. Jetzt ward die Musik herrschend, die im Silbenmaaß gebrechliche Poesie diente. Ein einziger Umstand, der schon einen völligen Unterschied zwischen der alten und neuen Poesie, der alten und neuen Musik gründet. Die jetzt herrschende Musik, die gleichsam von einem unermeßlichen Chor in den Wolken getragen ward, mußte nothwendig, später oder früher, für sich selbst ein Gebäude der Harmonie ausbilden, da bei den Hymnen des Christenthums auf Melodie wenig, auf einzelne Glieder des Versbaues und der Empfindungen noch weniger und auf ein daraus entspringendes momentanes Kunstvergnügen gar nicht gerechnet war. Der Tonkünstler dagegen war Zauberer in den Wolken, der mit seinen Schritten im großen Gange der Harmonie desto gebietender den Inhalt des Ganzen verfolgte und auf andächtige Gemüther in diesem vollstimmigen Gange desto stärker wirkte. Durch den christlichen Gesang war also die Harmonie der Stimmen im Concert der Völker gleichsam gegeben.
3. Auch die Sprache ward durch diese neue Einrichtung der Dinge sehr verändert. Wenn bei Griechen und Römern jener alte ächte Rhythmus, nach welchem jede Silbe ihr bestimmtes Zeitmaaß an Länge und Kürze, an Tiefe und Höhe hatte, nicht schon verloren gegangen war, so ging er jetzt, wie die christlichen Hymnen zeigen, bald verloren. Man achtete auf ihn wenig und folgte dagegen, weil auf Popularität Alles gerechnet war, der gemeinen Aussprache, ihren Perioden und Cadenzen, kurz, dem Wohlklange des plebejen Ohrs. Ohne Quantität der Silben brachte man also Reime und Assonanzen ins Spiel; man formte einen gewissen Numerus der Strophe, der dem alltäglichen Gehör gemäß war, den aber die Griechen und Römer nur in den sogenannten politischen oder gemeinen Volksversen erträglich gefunden hatten. Im Innern konnte die Sprache ebenso wenig rein bleiben, da jetzt in Poesie und Rede der Genius fast aller Völker mit einander vermischt ward. Ausdrücke der Ebräer und andrer Asiaten, der Griechen und Römer in den verschiedensten Provinzen, endlich der Barbaren, die Sieger waren und Christen wurden, flossen zusammen; so ward dann nach Ort und Zeit das Griechische und das Latein der mittleren Zeiten gebildet, das man mit Recht die Mönchssprache nennt. Sie bildete sich einen Reichthum neuer Ausdrücke nach ihren Bedürfnissen und Umständen, der alte Römergenius aber war verschwunden.
4. Wie manche Wissenschaften das damalige Christenthum entbehrlich glaubte, erweist die Geschichte der mittleren Zeiten. Gesänge, Predigten und Ordensregeln, die vom Untergange der Welt (seculi hujus), von der Eitelkeit aller irdischen Dinge, von der Trüglichkeit des menschlichen Geistes, von der Nähe eines Reichs sprechen, in welchem Alles anders sein wird und sein muß, fachen nicht eben die Lust an, den gegenwärtigen Zustand der Welt, wie er ist, zu beleben. Im Himmel war das Vaterland der Christen; dahinauf strebten ihre Gesänge; das Schema der gegenwärtigen Welt war ihnen vergänglich, ob sie es übrigens gleich für sich sehr gut, und ein Theil mit Bedrückung eines größeren andern Theils der Menschheit, zu gebrauchen wußten.
5. Dagegen ward bald hie und da jene mystische Empfindungs-Theologie ausgesponnen, die, ihrer stillen Gestalt ungeachtet, vielleicht die wirksamste Theologie in der Welt gewesen. Im Christenthum schlang sie sich dem jüngeren Platonismus an, der ihr viel Zweige der Vereinigung darbot; aber auch ohne Platonismus war sie bei allen Völkern, die empfindend dachten und denkend empfanden, in jeder Religion, die beseligen wollte, am Ende das Ziel der Betrachtung. Sinnliche Völker selbst haben zuweilen auf die sonderbarste Weise einen Mysticismus gesucht und sich in ihm berauscht; vernünftelnde Völker suchten ihn auf ihre Weise. Der Grund dazu liegt in der Natur des Menschen. Er will Ruhe und Thätigkeit, Genuß und Beschauung auf die kostenfreieste, dauerhafteste, zugleich auch auf die untrüglichste, auf eine gleichsam unendliche Weise. So gern möchte er mit Ideen leben und selbst Idee sein. Die träge Zeit, den leeren Raum, die lahme Bewegung um sich her möchte er gern überspringen und vernichten, dagegen Alles an sich ziehn, sich Allem zueignen und zuletzt in einem Ideal zerfließen, das jeden Genuß in sich faßt, wohin seine Vorstellung reicht. Viele Umstände der damaligen und folgenden Zeit kamen zusammen, diesen Mysticismus zu nähren und ihn dem Christenthum, zu welchem er ursprünglich nicht gehörte, einzuverleiben. Ein speculirender Geist, dem es an Materie zur Speculation fehlt, ein liebendes Herz ohne Gegenstand der Liebe geräth immer auf den Mysticismus. Einsame Gegenden, Klosterzellen, ein Krankenlager, Gefängniß und Kerker, endlich auch auffallende Begebenheiten, die Bekanntschaft mit sonderbar liebreichen und bedeutenden Personen, Worte, die man von ihnen gehört, Zeichen der Zeit, die man erlebt hat u. s. w., alle diese Dinge brüten den Mysticismus, dies Lieblingskind unsrer geistigen Wirksamkeit und Trägheit, in einer groben oder seidenen Umhüllung aus und geben ihm zuletzt die bunten Flügel des himmlischen Amor's. Man liebt und weiß nicht, wen; man begehrt und weiß nicht, was. Etwas Unendliches, das Höchste, Schönste, Beste.
So unentbehrlich dem Menschen diese Tendenz nach dem Vortrefflichsten und Vollkommensten ist, ohne welche er wie eine Raupe umherkröche und vermoderte, so leer bleibt dennoch die Seele, wenn sie, blos auf Flügeln der Imagination im Taumel der Begeisterung fortgetragen, in ungeheuren Wüsten umherschweift. Das Unendliche giebt kein Bild; denn es hat keinen Umriß; selten haben diesen auch die Poesien, die das Unermeßliche singen. Sie schwingen sich entweder in ein Empyreum des Urlichts voll gestaltloser Seraphim auf, oder wenn sie von da in die Tiefen des menschlichen Herzens zurückkehren, kann die erhöhte Speculation dennoch nur aus ihm jene Urbilder himmlischer Schönheit holen, die sie über den Wolken begrüßt und in ein Paradies der Liebe und Seligkeit hinaufzaubert. Die Hymnen der mittleren Zeiten sind voll von diesen goldnen Bildern, in die unermeßliche Bläue des Himmels gemalt. Ich glaube nicht, daß es Ausdrücke süßerer Empfindungen gebe als die bei der Geburt, dem Leiden und Tode Christi, bei dem Schmerz der Maria, bei ihrem Abschiede aus der Sichtbarkeit oder bei ihrer Aufnahme in den Himmel und bei dem freudigen Hingange so manches Märtyrers, bei der sehnenden Geduld so mancher leidenden Seele, meistens in den einfachsten Silbenmaaßen, oft in Idiotismen und Solöcismen des Affects geäußert wurden. Wer sich davon überzeugen will, lese die frommen Liebesgesänge des heiligen Bernhard's und Thomas', des Cardinals Bona, der heiligen Therese, des Juan de la Cruz und Ihresgleichen, oder vielmehr er höre sie mit Musik begleitet. Das Stabat Mater dolorosa (Jacobus de Benedictis ist sein Verfasser)Auch Jacoponus genannt. Er starb 1306. Seine geistlichen Dichtungen gab zuerst Frisati 1558 zu Rom heraus. – D. ist in Pergolesi's Composition sehr bekannt; dergleichen süße Schmerzen- und Liebesgesänge giebt's in der Mönchssprache viele, die ganz dazu geschaffen scheint. Wilder Silbenmaaße bediente man sich dabei nicht, vielmehr äußerst anständiger und sanfter. Selbst das verzückte Metrum des sogenannten Pervigilii: »Cras amet, qui numquam amavit«, das in den Hymnen oft gebraucht ist, erhält in ihnen einen Triumphton und eine Würde, die uns gleichsam aus uns selbst hinaussetzt und unser ganzes Wesen erweitert. Wie konnte dies auch anders sein, da, wo man die Bibel nur aufschlägt, im Hohenliede, Propheten, Psalmen, in den Evangelien, Briefen und der Offenbarung, man Ausdrücke bald der erhabensten Einfalt, bald der innigsten Zärtlichkeit und Liebe findet? Wer Händel's »Messias«, einige Psalmen von Marcello, und Allegri's, Leo's, Palestrina's Compositionen der simpelsten biblischen Worte gehört hat und dann die lateinische Bibel, christliche Epitaphien, Passions-, Grab-, Auferstehungslieder liest, der wird sich, trotz aller Solöcismen und Idiotismen, in dieser christlichen wie in einer neuen Welt fühlen.
Nachschrift
Da ich es nicht voraussetzen kann, daß Jedem von Ihnen eine Menge der Hymnen bekannt sei, von denen das Fragment redet, so lasse ich von einigen der angeführten nur Strophen abschreiben, die ich etwa mit einer Anmerkung begleite. Die Solöcismen und Idiotismen darin gehören zur Sprache der Zeit; überhaupt sind diese Verse nicht zu lesen, sondern mit der ihnen gebührenden Musik zu hören.
3. | |
Lauda, Sion, Salvatorem, Lauda Ducem et Pastorem In hymnis et canticis! Quantum potes, tantum aude, Quia major omni laude, Nec laudare sufficis. – Sit laus plena, sit sonora, |
5. | |
Ave, maris stella, Dei mater alma Atque semper virgo, felix coeli porta! – Virgo singularis, inter omnes mitis, Nos culpis solutos mites fac et castos etc. |
6.Uebersetzt von Wieland im »Deutschen Mercur«, Februar 1781. – H. | |
Stabat mater dolorosa Juxta crucem lacrimosa, Dum pendebat filius, Cujus animam gementem, Contristatam et dolentem Pertransivit gladius. O quam tristis et afflicta Fac me cruce custodiri, |
Mit Ihrem »Dies irae, dies illa« haben Sie mir eine schöne Welt zu Grabe geläutet, die Welt der Erscheinungen des Alterthums in ihren bestimmten, lieblichen Formen, in ihren bedeutenden Geberden, in ihren gleichsam organisirten Tönen. Sie wird nicht wiederkommen auf unsrer Erde, so wenig uns unsre Jugend zurückkommt.
Jene ersten Versuche der Menschen, sich das Unsichtbare sichtbar, das Vergangene und Entfernte gegenwärtig zu machen, eine Welt von Gegenständen, von Bildern und Empfindungen durch Worte und Töne darzustellen, und zwar also darzustellen, daß auch ihre Folge sprechend, daß ihre Veränderung in Licht und Farben bis zum Kleinsten empfunden oder bemerkt werde; diese Versuche, in einer gegebnen langen Zeit zu Meisterwerken der poetischen Kunst erhöht, von einer Nation, der die Kunst Natur, der Geschmack am Schönen Charakter gewesen zu sein scheint, werden ihresgleichen schwerlich in Zeiten finden, die Ihre angeführten Hymnen eingeläutet haben.
Nichts ist von zarterem Wesen als der ächte Natur- und Kunstgeschmack. Durch Frömmigkeit und Andacht, selbst durch Gelehrsamkeit und Fleiß läßt er sich nicht erlangen; er ist eine himmlische Grazie, die auf unsrer Erde nur hie und da, dann und wann erscheint. Sie kann ebenso leicht weggebetet als wegstudirt werden; einmal vertrieben, kommt sie selten oder spät wieder.
Und doch ist mit diesem Natur- und Kunstgeschmack selbst der richtige Sinn, die wahre Vernunft des Menschen so innig verbunden. Schwerlich werde ich in Ihrem Athanasius und Ambrosius so schlicht und rein zu lesen bekommen, was mich Cicero's »Pflichten«, Horaz' Briefe und Sermonen lehren. Die Litaneien und Legenden der Heiligen, ja das ganze Breviarium dieser Sittenlehre und Weisheit wird das ächte Richtmaaß menschlicher Moralität kaum so strenge an mich legen, als es die festen Lehren des Alterthums, seine mit sichrer Hand, im bestimmtesten Umriß gezeichneten Charaktere zu thun vermochten. Ist einmal der Gesichtskreis und das Ziel der Bestimmung verrückt, zu welchem die Menschen auf Erden leben, so erscheinen durch katoptrische Spiegel zurückgeworfene seltsame Bilder und Vorbilder des Lebens. Eine Zauberlaterne bringt Gestalten hervor, die in Schrecken und Verwunderung setzen können, denen man aber nicht ohne Gefahr folgt.
Ihr Fragment meldete uns an, daß sich fortan die Musik von der Poesie scheiden und in eignen Regionen ihr Kunstwerk treiben werde; fürs unbewehrte menschliche Geschlecht eine gefährliche Scheidung. Musik ohne Worte setzt uns in ein Reich dunkler Ideen; sie weckt Gefühle auf, Jedem nach seiner Weise, Gefühle, wie sie im Herzen schlummern, die im Strom oder in der Fluth künstlicher Töne ohne Worte keinen Wegweiser und Leiter finden. Eine Musik, die über Worte gebietet, ist nicht viel anders; sie herrscht despotisch. Erinnern Sie Sich in Dryden's Ode am Cäcilientage, wohin die Gewalt der Musik den Alexander reißt? Der Halbgott sinkt der Buhlerin in den Arm, er schwingt die Fackel zu Persepolis' Brande. Auf gleiche Weise kann durch eine geistliche und, wenn man will, eine himmlische Musik die Seele dergestalt aus sich gesetzt werden, daß sie sich, unbrauchbar und stumpf gemacht für dies irdische Leben, in gestaltlosen Worten und Tönen selbst verliert.
Unsre zarte, fehlbare und fein empfängliche Natur hat aller Sinne nöthig, die ihr Gott gegeben; sie kann keinen seines Dienstes entlassen, um sich einem andern allein anzuvertrauen; denn eben im Gesammtgebrauch aller Sinne und Organe zündet und leuchtet allein die Fackel des Lebens. Das Auge ist, wenn man will, der kälteste, der äußerlichste und oberflächlichste Sinn unter allen; er ist aber auch der schnellste, der umfassendste, der hellste Sinn; er umschreibt, theilt, bezirkt und übt die Meßkunst für alle seine Brüder. Das Ohr dagegen ist ein zwar tief dringender, mächtig erschütternder, aber auch ein sehr abergläubiger Sinn. In seinen Schwingungen ist etwas Unabzählbares, Unermeßliches, das die Seele in eine süße Verrückung setzt, in welcher sie kein Ende findet. Behüte uns also die Muse vor einer bloßen Poesie des Ohrs ohne Berichtigung der Gestalten und ihres Maaßes durchs Auge!
Nochmals gehe ich Ihr Fragment durch und frage: »Wie, wenn aus dieser heiligen Mönchspoesie eine Volksdichtung hervorgehen sollte, wie wird sie werden? Gewiß anders, als die Poesie der Griechen war, nicht nur im Inhalt des Gesanges, sondern auch in desselben ganzer Art und Weise.«
1. Von Mythologie wird in ihr nicht die Rede sein können, da man diese als eine Dämonensage ansah. Wenn eine derselben gebildet werden sollte, wird sie aus dem Glauben der Kirche, aus Sagen des gemeinen Volks, aus Nationalmeinungen und Abenteuern hervorgehn. Jede solcher Gestalten wird die Kirche weihen und ordnen.
2. Reine Umrisse der Phantasie und des Natursinnes nach Art der Griechen wird diese Dichtkunst schwerlich enthalten, da diese Welt ihr nur ein vorübergehender Schatte zur künftigen Welt ist. Zwischen beide wird sich der Blick theilen, mithin jene sich in eine Art Dämmerung verlieren. Höchstens also werden Allegorien auftreten, statt reiner und bestimmter Begriffe; auch wirkliche Personen werden gern als Allegorien und Larven oder als heilige Nebelgestalten erscheinen, die sich in der Ferne verlieren.
3. Das Interesse, das diese Poesie giebt, wird selten ein Nationalinteresse sein, wie bei Griechen und Römern, vielleicht aber ein allgemeineres Interesse christlicher Völker, die alle das heilige Bad besprengt hat, die, als Begünstigte des Himmels mit dem Kreuz bezeichnet, eine eigne christliche Providenz über sich erkennen, Engel zu ihrer Seite haben und von der Erde gen Himmel wandern. In der Erzählung wird dies den Ton der Geschichte und Dichtung ganz ändern.
4. Allen Handlungen und Leidenschaften der Menschen, ihren Tugenden und Lastern wird hiemit eine eigne religiose Farbe, ein Anzug gegeben werden, den die alte Welt nicht kannte. In die Liebe wird sich Andacht mischen und die Ueppigkeit dagegen vielleicht desto sinnlicher ihr Werk treiben. Statt des Verdienstes der Vorfahren um ein enges Vaterland wird ein andächtiger Ruhm, eine Ehre hervorgehn, die Stand ist und nach Ständen wirkt. Auf diesem Wege wird eine Sentimentalität zum Vorschein kommen, von der die Poesie der Alten nicht wußte, eine anerzogne Sentimentalität der Stände.
5. Endlich, da der Rhythmus der Griechen verloren ist und sich der poetische Genius hier ungebildeten, mit dem römischen Volksdialekt vermischten Sprachen mittheilen soll, so werden in dieser Verwirrung ohne Silbenmaaße der Alten sich ohne Zweifel rohere Volksgesänge nach dem Modell der Mönchspoesie formen. Was das innere Maaß und Gewicht der Silben nicht thun kann, wird der Reim ersetzen sollen, mit dem von jeher das Ohr und die Zunge des Volks spielte. Poesie wird also eine gereimte Prose in Versperioden werden, deren Abwechselung und Ründung etwa auch ein unwissendes Ohr verfolgen kann; dagegen die Musik, vom Bau der Silben getrennt, in ihrer eignen Region ihr Werk treibt. Lassen Sie uns bald einige Glocken- und Posaunen- und Orgeltöne, aber wenn ich bitten darf, auch einige Töne der Harfe aus diesem neuen christlichen Odeum aller europäischen Nationen hören!
Drittes Fragment.
Bildung eines neuen Geschmacks in Europa und dessen erste Verfeinerung.
Alle deutsche Nationen, die das römische Reich unter sich theilten, kamen mit Heldenliedern von Thaten ihrer Vorfahren in die ihnen neue Welt; es sind auch Zeugnisse vorhanden, daß diese Gesänge unter ihnen sich lange erhalten haben. Wie auch anders? Diese Gesänge waren ja die ganze Wissenschaft und Geistesergetzung solcher barbarischen Völker, das Archiv ihres Ruhmes und Nachruhms. Was zu den Zeiten der griechischen Sänger (ἀοιδῶν) der Fall gewesen, kam jetzt auf eine rohere Weise wieder. Völker, die das Schreiben nicht viel kannten und noch weniger liebten, erhielten durch Lieder das Andenken ihrer Vorfahren, und jedes Volk hatte dabei seine eignen Lieblingshelden, seine eignen Lieblingstöne.
Sehr nützlich wäre es, wenn wir diese alten Wurzeln des Stammes der Denkart und Sprache unsrer Vorfahren noch besäßen; wenn wir die Lieder von Mann und Hermann,Vgl. Herder's Werke, 1. S. 281, 285. – D. Dietrich von Bern, Alboin, Hildebrand, Rüdiger, Siegfried, die Engländer ihr Horn-Child, Hervart, Grym, Hanelock, und so jedes deutsche Volk die seinigen noch hätte. Es gilt aber von allen diesen, was Horaz von jenen uralten griechischen Helden sagt, die vor Homer lebten:
»Sie liegen Alle, weil sie der heiligen
Gesänge darben, unbejammert.
Ruhmlos in ewiger Nacht begraben.«Oden, IV. 9. 26–28. Vgl. Herder's Werke, VIII. S. 35. – D.
Die Veränderung und Mischung der Sprachen, bei den wandernden Völkern die Verschiedenheit des nördlichen und südlichen Klima, wol aber am Meisten der Fortgang der Sitten selbst hat uns dieser wahrscheinlich in rauhen Tönen besungenen Heldengestalten beraubt.
Wie verschieden nämlich die Mundarten der deutschen Sprache nach den verschiednen Volksstämmen, Zeiten und Gegenden waren, dergestalt, daß man die Gothen am Schwarzen Meer, in Italien und Spanien, die Vandalen in Pommern und Africa, die Angeln zu Hengst' und zu Wilhelm des Eroberers Zeiten nicht für eins nehmen darf, so ist doch in Allem, was wir von ihren Sprachen wissen, ihr nordisches Gewand unverkennbar. Die deutsche Sprache nämlich, zumal in rauhen Gegenden, liebt einsilbige Töne. Hart wird der Schall angestoßen, stark angeklungen, damit, so viel möglich, Alles auf einmal gesagt werde. Eine Silbe soll Alles fassen; die folgenden werden zusammengezogen und gleichsam verschlungen, so daß sie selten aushallen und kaum zwischen den Lippen als erstickte Geister schweben. Die ganze Bildung unsrer Sprache, am Meisten die aus dem Latein bei uns aufgenommenen Worte und Namen beweisen dies; es sind hart zusammengedrängte Laute, und was noch sonderbarer ist, mit dem Verfolg der Jahrhunderte hat sich dies Zusammendrängen der Buchstaben nicht vermindert, sondern vermehrt. Ulfila's und Otfried's Sprache sind ungleich tönender, als wie man z. B. im vorigen Jahrhundert oder noch jetzt aus dem Munde des Volks die Worte schreibt. Das Angelsächsische schlich mit viel stummen e in mehreren Silben langsam fort; das Englische, das sich unter den Normännern bildete, warf Buchstaben weg, drängte sie zusammen, schnitt vorn und hinten ab die Silben; so entstand ein ganz neuer Gang und Rhythmus der Sprache.
Aus dieser beliebten Einsilbigkeit der nordischen Mundarten, bei der man aus Trägheit oder wie in böser Luft die Lippen kaum zu öffnen wagt und immer nur hm! hm! sprechen möchte, war es natürlich, daß, wenn man Worte gegen einander künstlich stellen wollte, dies insonderheit im Anklange bemerkt werden mußte, indem der Ausgang der Worte gern im Dunkeln blieb. Dies ist nun jenes berühmte System nordischer Alliterationen (Annominationen),Nähere Kenntniß von diesem sonderbaren System der nordischen Prosodie findet man in Olaus Wormius' Literatura Danica, Hickes' Thesaurus linguarum septentrionalium, und ähnlichen Werken. Wer ihrer entbehrt, ziehe die »Briefe über Merkwürdigkeiten der Literatur« (Schleswig 1767), I. S. 150, zu Rath; eine Sammlung Briefe, die weit mehr Aufmerksamkeit verdient, als sie erlangt. Das System der Alliterationen, daß gewisse Worte im Anfange und in der Mitte des Verses von einem Buchstaben anfangen und einen ähnlichen Vocal haben, ist, wie mich dünkt, mehr angestaunt als erklärt worden; sein natürlicher Grund ist der Bau der Sprache selbst, der Genius des Volks, das sie sprach, und die Art, wie man die Worte antönte. – H. [Diese Erklärung beruht doch auf einer unerwiesenen Voraussetzung. – D.] das um kein Haar unnatürlicher als der Reim ist, indem man hier nur in der Mitte oder vorn reimt. Den Alten, d. i. Griechen und Römern, waren beide Arten eines solchen Wohlklanges Uebelklänge; ähnliche Anklänge der Worte suchten sie wie den Reim zu vermeiden. Auch für die Gegenden eines besseren Klima war dieser nordische rauhe Silbentritt nicht; die spanischen Romanzen, die vielleicht nach gothischen Volksliedern geformt sind, haben jenen wilden, männlichen Jambus, der ursprünglich in Wäldern zum Jagd- und Kriegshorn tönte, fahren lassen und statt dessen langsame Trochäen in weiblichen Ausgängen mit dem zuletzt prächtig verhallenden ar gewählt. In Italiens Luft zerfloß gleichfalls der gothische und longobardische Silbenanklang in weiche und immer weichere Töne. Kein Wunder also, daß jene alten Heldenmelodien in dieser sanfteren Luft den Tönen nach allmählig verhallten.
Dabei aber gingen nicht sofort auch die Erzählungen selbst, jene Heldensagen zu Grunde, die gleichsam die Seele dieser Völker, ihr Trank und ihre geistige Speise waren. Sie konnten nicht zu Grunde gehen, weil diese Völker, wenn mir der Ausdruck erlaubt ist, abenteuerlich dachten und entweder gar nicht oder im Abenteuer lebten. Ein Volk, von wenigen, aber starken Begriffen und Leidenschaften geregt und getrieben, hat wenig Lust zu ordnungsmäßigen, gewöhnlichen, ruhigen Geschäften; es bleibt gegen sie kalt und träge. Dagegen flammt's auf, wenn ein Abenteuer ruft, wenn wie ein Jagd- und Kriegshorn die Abenteuersage ertönt. In eingepflanzten Trieben, in angebornen Begriffen und Neigungen ging diese Liebe zum Abenteuer auf Geschlechter hinab; der geistliche Stand, in dessen Händen die Bildung der Menschen nach Begriffen der Zeit war, bemächtigte sich dieses Triebes; er fabelte, dichtete, erzählte. Von Erzählungen fängt alle Cultur roher Völker an; sie lesen nicht, sie vernünfteln nicht gern, aber sie hören und lassen sich erzählen. So Kinder, so alle Stände, die insonderheit unter freiem Himmel ein halb müssiges Leben führen. Wo sie auch leben, Norweger und Araber, Perser und Mongolen, der Gothe, Sachse, Frank und Katte des Mittelalters, noch jetzt alle halb müssige Abenteurer, Krieger, Jäger, Reisende, Pilger haben hierin einerlei Geschmack, einerlei Zeitkürzung. Unwissenheit ist die Mutter des Wunderbaren, unternehmende Kühnheit seine Ernährerin, unzählige Sagen seine Nachkommenschaft und ihr großer Mentor der Glaube. Wenn Mönche dergleichen Erzählungen in ihre Chroniken aufnahmen und ihre Legenden selbst darnach schrieben, so thaten sie es nicht immer aus Lust zu betrügen. Es war Geschmack und sogar Kreis des Wissens, Denkart der Zeit; eine ächte Mönchschronik mußte vom Anfange der Welt anfangen und in bestimmten Zeiträumen durch Fabel und Geschichte der Griechen und Römer (Geschichte und Dichtung auf einem Grunde betrachtet) bis zum Ende der Welt fortgehn; das war der gegebene Umriß. Eben nach den Begebenheiten der Zeit, die allesammt geistliche und weltliche Abenteuer waren, formte sich der Umriß der Erzählung, bildete sich der Ton des Ganzen. Mehr als eine Chronik der mittleren Zeiten ist wie ein cyklisches Gedicht zu lesen.
Wann aber und wie wird aus diesen vermischten Sagen und Abenteuermärchen so verschiedner Völker in so verschiednen Gegenden und Umständen eine Ilias, eine Odyssee erwachsen, die Allem gleichsam den Kranz raubte und jetzt als Sage der Sagen gelte?
Dazu gehört viel, insonderheit aber, daß die Sprache und der Witz der europäischen Völker einigermaßen verfeinert werde, daß Völker mit einander in Verbindung oder in Wettkampf gerathen, dadurch sie einander verstehen lernen, endlich daß, wenn's sein kann, hier oder da ein Homer aufkomme, dem Alle horchen. Aeußerst schwer und langsam konnte diese Aufgabe aufgelöst werden, da einestheils die Völker durch Stammesvorurtheile und Leidenschaften blind getrennt, anderseits die Sitten so grob oder verderbt waren, daß schwerlich ein Lorbeerbaum für ganz Europa sprossen konnte. Tapferkeit und Witz sind nicht immer beisammen; ebenso selten sind es Witz und Klosterandacht, wie die Esels- und Narrenfeste, das Hez, Sir Ane, Hez, und andre Anstalten zeigen. Wenn in die Sprachen Europa's Bildung, in seine Sitten Geschmack, in seine Poesie Unterhaltung kommen sollte, so mußten diese anderswoher kommen als vom Waffenplatz und aus dem Kloster. Sie mußten aus einer Gegend kommen, wo ein fremder Umgang etwas anders als den bloßen Mönchs- und Klostergeist zeigte. Kurz –
Spanien war die glückliche Gegend, wo für Europa der erste Funke einer wiederkommenden Cultur schlug, die sich denn auch nach dem Ort und der Zeit gestalten mußte, in denen sie auflebte. Die Geschichte davon lautet wie ein angenehmes Märchen.
Spanien nämlich, so sagt die Geschichte, hatte unter der Herrschaft der Mauren eine sehr blühende Gestalt gewonnen; mit dem Ackerbau, dem Fleiß, dem Handel waren in ihm mehrere Wissenschaften und Künste, unter diesen auch die Dichtkunst, cultivirt worden. Die maurische Galanterie hatte sich unter dem schönen Himmel von Granada, Murcia, Andalusien veredelt; glänzende Ritterspiele waren im Gebrauch, an denen als Preisaustheilerinnen auch die Damen Theil nahmen. Ohne Zweifel war die Nachbarschaft dieses gebildeten Volks mit andern eine Ursache, daß unter dem gleich schönen Himmel von Valencia, Catalonien, Aragonien und den südlichen Provinzen Frankreichs sich die sogenannte provençal- oder limousinische Sprache auch aus der Barbarei riß und eine frische Blüthe, die provençalische Dichtkunst, hervorbrachte. Von Valencia an über die Inseln Majorca, Minorca, Iviza, über Aragonien und Catalonien, jenseit der Alpen über die Provence, Languedoc, Guyenne, das Delphinat, bis nach Poitou hinein erstreckte sich diese Sprache, die nach damaligen Zeitumständen allgemach die gebildetste in Europa ward.In Crescimbeni's Istoria della volgar Poesia, in Velazquez-Diez' »Geschichte der spanischen Dichtkunst« und den daselbst angeführten Schriften, in mehreren Abhandlungen des um die Provençalen sehr verdienten Curne de St. Palaye in der »Akademie der Aufschriften« [Académie des Insciptions], Millot's Histoire des Troubadours, Abt Andrès' Storia d'ogni letteratura, T. I., II. kann man sich über diese merkwürdige Erscheinung weiter belehren. Sie ist die Morgenröthe der neueren europäischen Cultur und Dichtkunst. – H. [Vgl. Mary-Lason »Tableau historique et littéraire de la Langue Provençale« und Fauriel, »Histoire de la Poesie provençale (1819). – D.] Regierende Fürsten und Grafen, Ritter und Edle von jedem Range sahen es als eine Ehre an, sie an ihren Höfen und in ihren Schlössern, die kleine Höfe waren, zierlich zu sprechen. Die Damen nahmen daran Theil, nicht nur als Richterinnen und als der vielfältige Gegenstand der Gedichte, sondern zuweilen auch als Dichterinnen selbst. Die Provençalpoesie ward das Organ des galanten Rittergeistes in allen Zweigen seiner Denkart. Man besang die Liebe und warf Fragen der Liebe auf, die in sogenannten Corte d'amore verhandelt wurden; man nannte ihre Versart Tenzonen.Tensons, Wettkämpfe – D. Kleine und große Abenteuer, Begebenheiten des Lebens und der Geschichte, auch geistliche Dinge wurden in Canzonen, Villanescas und andern Gedichtarten besungen, unter welchen man die Satiren Sirventes nannte.Doch erst später; ursprünglich waren diese Dienstgedichte geistliche Loblieder auf die Heiligen, besonders die Mutter Gottes. – D. Auch Lehre und Unterricht trug man in mancherlei Einkleidungen vor; ja, es ereigneten sich keine Händel der damaligen Zeit, die an großen Ereignissen und Verwirrungen sehr reich war, an denen hie und dort nicht irgend ein Provençal Antheil genommen hätte. Kreuzzüge und andre Kriege, Vererbungen der Reiche und Schlösser, Sitten der Fürsten, der Damen, der Geistlichkeit, der Päpste selbst, Alles berührte diese Dichtkunst, oft mit einer kühnen Freiheit. Finder, Trobadoren nannten sich die Dichter, die vorher in der bäurischen Römersprache Fatisten (Macher, faiseurs) geheißen hatten. Ihre Kunst hatte den Namen der fröhlichen Wissenschaft (gay saber, gaya ciencia), so wie auch ihr entschiedener Zweck fröhliche, angenehme Unterhaltung war.Eichhorn schrieb am 9. October 1796 an Herder: »Ihre Ableitung der Troubadours aus Spanien ist der Lage der Dinge so angemessen und natürlich, daß ich sie der meinigen vorziehen möchte. Eine ähnliche Deduction hatte ich selbst nach Massien berührt; nur die Spuren von den spanischen Troubadours, welche die Geschichte zeigt, fingen später an. Dies allein hat mich abgehalten, der andern Vorstellung zu folgen. Aber wie Vieles muß die historische Combination wieder herstellen, was die geschriebene Geschichte hat untergehen lassen!« – D.
Der erste Garten, wo diese Blume aufsproßte, war vielleicht der Hof zu Barcelona; sehr bald aber müssen andre gefolgt sein; denn der älteste Provençaldichter, den wir haben, Wilhelm IX., Graf von Poitou, Herzog von Aquitanien, am Ende des elften und im Anfange des zwölften Jahrhunderts, sang schon in einer zur Poesie völlig gebildeten Sprache. Auch in Galicien, Castilien, Portugal finden sich zu eben dieser Zeit ähnliche Uebungen der Verskunst ohngefähr in demselben Gedankenkreise. Die sogenannten Jeux floraux aber, eine Blumengesellschaft, wo der Preis der Dichtkunst ein goldnes Veilchen war, ist von weit späterem Datum (1324). Ihre Stifterin war Clemencia Isaura, Gräfin von Toulouse.
Man hat über den Ursprung des Reims viel gestritten und ihn bei Nordländern und Arabern, bei Mönchen, Griechen und Römern gesucht; mich dünkt, mit unnöthiger Mühe. Man könnte über ihn das bekannte Kinderspiel mit dem Motto: »Alles, was reimen kann, reimt« spielen. Mönche reimen, Otfried reimt, die Araber reimen, Mahomed im Koran, der Engel Gabriel reimt, der alte Lamech vor der Sündfluth reimte.Auch die Sinesen und Indier reimten in der ältesten Zeit. Der Reim ist wie Dichtung und Gesang allen gebildeten Völkern gemeinsam und keine zufällige Erfindung eines einzelnen Volkes. – D. Aber Griechen und Römer in ihren schönsten Zeiten vermieden die Reime und suchten einen fortgehenden, höheren Wohlklang.Vgl. indessen W. Grimm, »Zur Geschichte des Reimes« in den »Abhandlungen der Berliner Akademie«, 1851. S. 627–654. – D. Die Trobadoren, die in jedem Innern die Poesie der Araber nicht nachahmen konnten, sondern sich eine Poesie, wie sie ihnen ihr Zeitgeist, ihre Sprache und das nähere Vorbild der lateinischen Mönchspoesie gab, finden mußten, sie mußten reimen, ja sogar in die Mannichfaltigkeit gereimter Versarten einen großen Theil der Anmuth ihrer Poesie legen, weil sie ihrer Zeit und Sprache nach nichts anders thun konnten. Die limousinische Mundart, wie jedes andre Kind der lingua rustica Romana, wußte vom Rhythmus der alten Römerpoesie ganz und gar nichts; also konnten die Provençalen ihre Verse nicht nach der Grammatik der Alten scandiren; sie accentuirten sie, wie Spanier, Portugiesen, Italiener und Franzosen noch bis jetzt ihre Verse accentuiren, solche daher auch nicht nach einer eigentlichen Quantität der Silben, sondern zur artigen, verständigen Declamation einrichten.Dieser Unterschied zwischen der alten Prosodie, von dem Viele keinen deutlichen Begriff haben, und der doch zum Unterschiede der alten und neuen Poesie viel beiträgt, ist am Besten in Isaak Voß' bekannter Abhandlung De cantu veterum (übersetzt in der Sammlung vermischter Schriften, Th. I. Berl. 1759), in des Abt Du Bos Betrachtungen über Poesie und Malerei, in Muratori's Abhandlung De rhythmica Veterum poesi (Antiquitates Italiae medii aevi, III. p. 664 sqq.), sonst aber auch in Klopstock's u. A. grammatischen Schriften vorgetragen, wie er denn zur Prosodie jeder neueren Sprache gehört. – H. Diese accentuirte Declamation ward eine eigne Kunst, auf welche sich die Rhapsoden der damaligen Zeit, die auch Erzähler hießen (Conteours), legten. Mit den Gedichten der Trobadoren reisten sie an den Höfen umher und begleiteten sie theils mit einem Instrument, theils mit Geberden; daher man sie auch Jongleours (Joculatores), Musars, Comirs, Plaisantins nannte. Sie unterhielten die Gesellschaft mit Liedern und Erzählungen, den bekannten fabliaux vergangner und damaliger Zeiten, bis sie es zuletzt so arg machten, daß sie von mehreren Höfen verbannt wurden.
Die ursprüngliche fröhliche Wissenschaft (gaya ciencia) ging also von Artigkeiten des Gesprächs, von Fragen und Unterredungen, von einer angenehmen Unterhaltung aus; auch in Sonnetten der Liebe, im Lobe und im Tadel, ja bei jedem Inhalt blieb dieser Charakter den Provençalen; ein höherer poetischer Ton war ihnen ganz fremde. Also mußte das angenehme und mannichfaltige Spiel der Reime, an welche damals in geistlichen und Volksliedern das Ohr gewöhnt war, den Mangel des hohen lyrischen Wohlklanges und Rhythmus der Alten, von dem ihre Sprache und ihr Organ nicht wußte, ersetzen. Jede Versart bekam ihre Strophe, d. i. ihren abgemessenen Perioden der Declamation in einer angewiesenen Ordnung und Art der Reime; in welcher Wissenschaft eben die Kunst der Trobadoren bestand. Und so haben wir die Gestalt der neuern europäischen Dichtkunst, sofern sie sich von der Poesie der Alten unterscheidet, auf einmal vor uns. Sie war Spiel, eine amüsirende Hofverskunst in gereimten Formen, weil der damaligen Sprache der Rhythmus und der damaligen Denkart der Zweck der Poesie der Alten fehlte. Sie war ein Hofgarten, in dem hier ein Baum zum Sonnett, dort zur Tenzone, zum Madrigal u. s. w. künstlich ausgeschnitten ward; eine höhere Gartenkunst war dem Geschmack der damaligen Zeit fremde.
Glück also zum ersten Strahl der neueren poetischen Morgenröthe in Europa! Sie hat einen schönen Namen: die fröhliche Wissenschaft (gaya ciencia, gay saber); möchte sie dessen immer werth sein! Wir wollen uns nicht in den Streit einlassen, ob die spanische oder limousinische Sprache die ersten Dichter gehabt, ob in dieser dies- oder jenseit der Pyrenäen früher und glücklicher gedichtet worden.Ich rücke diese Briefe hier ein, weil der so lange geführte Streit über den Antheil, den die Römer, die Araber, die Normänner u. s. w. an der Bildung unsers Geschmacks und unsrer Literatur haben, noch nichts weniger als beigelegt ist. Warton z. B. in der »Geschichte der englischen Dichtkunst«, Thyrwitt in seinen Anmerkungen zu Chaucer, Arteaga in der »Geschichte der italienischen Oper«, Andrès in der »Storia d' ogni letteratura« u. A. sind noch weit aus einander; und doch liegt alles Material so nahe beisammen vor uns. – H. [Auch in dem Gedichte »Reim, Verstand und Dichtkunst« (Werke, I. S. 126 f.) bezeichnet Herder den Reim als einen Araber. Neuerdings nimmt man mit Recht allgemein an, daß der Reim aus der spätern lateinischen Dichtung in die romanische und auch in die altdeutsche gekommen. Vgl. F. Wolf, »Ueber die Laïs«, S. 161–166, und die in der 2. Note auf S. 388 angeführte Abhandlung von W. Grimm. – D.] Die Erscheinung selbst, daß an den Grenzen des arabischen Gebiets sowol in Spanien als in Sicilien für ganz Europa die erste Aufklärung begann, ist merkwürdig und auch für einen großen Theil ihrer Folgen entscheidend.
Unleugbar ist's nämlich, daß die Araber in ihrem weiten Reiche, das sich von China bis Fez, von Mozambique bis fast an die Pyrenäen erstreckte, Sprache und Wissenschaften, Handel und Künste sehr cultivirt hatten. Wie anders nun, als daß in Spanien, wo ein Hauptsitz dieser Cultur war, wo Jahrhunderte lang die Christen mit ihnen in Streit oder ihnen unterwürfig gelebt hatten, neben diesem hellen Licht nicht ewig und immer die Dunkelheit verharren konnte? Es mußten sich mit der Zeit die Schatten brechen; man mußte sich seiner schlechten Sprache und Sitten, der ungebildeten Rustica schämen lernen, und da die meisten Spanier Arabisch konnten, auch eine unsägliche Menge arabischer Bücher und Anstalten in Spanien Jedermann vor Augen war, so konnte es ja nicht fehlen, daß jeder kleine Schritt zur Vervollkommnung auch unvermerkt nach diesem Vorbilde geschah. Was sie nicht hatte, konnte die Mönchspoesie nicht geben; gegentheils konnte und wollte auch die Provençalpoesie nicht nachahmen, was bei den Arabern für sie nicht gehörte, Mahomed's Lehre, so wenig einst die Araber den Homer und die griechische Mythologie hatten aufnehmen mögen. Aber was sich aufnehmen ließ, der Genius des Werks, die arabische Denk- und Lebensweise, sie sind in den Versuchen der Provençalen, diese mögen schlecht oder gut sein, wie mir dünkt, unverkennbar.
Bei welch anderm Volk in Europa waren poetische Fragen und Antworten in Gebrauch als bei den Arabern? Es wurde Kunst und Lebensart darin gesetzt, auch unvorbereitet witzig in gereimten Versen zu antworten.Zahlreiche Proben und Nachrichten hierüber finden sich in Herbelot's Bibliothèque Orientale, W. Jones' Poeseoa Asiaticae commentarii, Richardson's Vorrede zu seinem Persischen Wörterbuch (übersetzt Leipz. 1779), Andrès' Storia d'ogni letteratura aus Casiri, ja in der Geschichte der Araber selbst. – H. Daher also die Fragen und Antworten der Liebe bei den Provençalen. Welch andres Volk in Europa hielt die Sprache für eins seiner edelsten Heiligthümer und feierte Wettkämpfe des schönsten poetischen Ausdrucks in ihr? Kein andres als die Araber. Die angrenzenden Christen, beschämt über ihre Rohheit, zuerst vielleicht auch nur aus Nachahmungssucht, folgten ihnen nach. Ihre Großen und Edlen thaten aus Mode, was die Araber seit Jahrhunderten aus Trieb und aus Nationalstolz gethan hatten, sich der Wissenschaften anzunehmen und in der Sprache der Dichter selbst zu glänzen. Welch andres Volk in Europa verband in seinen Vorstellungen Tapferkeit, Liebe und Andacht wie die Araber? Von den ältesten Zeiten an war es bei ihnen die gewöhnliche Regel eines Gedichts, von Gott und vom Propheten anzufangen, sodann der Liebe ihren Zoll zu entrichten und darauf gegen Freund oder Feind seine Tapferkeit zu bezeugen. Wie übel auch oft diese Stücke zusammenhingen, es war das angenommene poetische Gesetz, dem sich, wiefern es Religion und Sitte erlaubte, nun auch die Christen bequemten. Die festgesetzten Gattungen der Poesie der Araber, Preis und Tadel, Frohlocken und Klage, Liebe und Haß, Lehre und Beschreibung, wurden auch hier der Inhalt verschiedener Gesangesarten; selbst die Prosodie der Provençalen ward nach der blos accentuirten und declamirten arabischen Verskunst, in welcher der Reim unentbehrlich war, eingerichtet. Hören Sie darüber das Zeugniß des vielleicht gelehrtesten Arabers, den unsre Nation gehabt hat, Reiske:Neuer Büchersaal, X. S. 220 ff. – H.
»Die allerältesten Schriften der Araber, sowol in gebundner als freier Rede, sind in Reimen abgefaßt. Die Art, ohne Reime zu reden und zu schreiben, ist neuer als jene. Noch heutiges Tages pflegen sie auch in ihren ungebundenen Schriften, wenn sie recht schön schreiben wollen, den Reim beizubehalten, so daß sie, wenn sie einen Reim drei-, vier- oder mehrmal wiederholt haben, alsdann einen andern vor die Hand nehmen und es mit diesem ebenso machen, und dann wiederum einen andern. Auf diese Weise ist der ganze Harîrî geschrieben, der für den Cicero der Araber gehalten wird; imgleichen des Tamerlan's arabische Lebensbeschreibung.
»In der Poesie sind ihre ältesten Stücke gereimt. Die alten Araber übten sich, auch sogar ihre häuslichen und vertraulichen Gespräche in Reimen vorzutragen. So hat man ein noch vor dem Muhamed verfertigtes, etliche achtzig bis neunzig Verse langes Gedicht, das ein gewisser Haretsch Ben Helza ohn' einiges vorhergegangnes Bedenken, sich auf seinen Bogen lehnend, hergesagt hat. Die Uebung hierin muß bei ihnen sehr groß gewesen sein.
»Wie die erste Hälfte des Verses sich schließt, schließt sich auch die andre Hälfte ebendesselbigen Verses; und wie sich der erste Vers in der Mitte und am Ende endigt, so endigen sich auch alle andre folgende, wenn ihrer auch noch so viel wären, bis zwei-, dreihundert und noch mehr. Doch pflegen sie ihre Gedichte so lang nicht zu machen. Schon zu Christi Zeiten und kurz hernach müssen sich die Araber der Reime bedient haben, weil ihre Dichtkunst schon einige Jahrhunderte vor Muhamed vollkommen gewesen und nicht die geringste Spur von einem reimlosen Gedicht bei ihnen gefunden wird, es sei lang oder kurz, heroisch oder jambisch. Doch sind ihre jambischen Gedichte so beschaffen, daß sie den einmal gefaßten Reim nicht beständig beibehalten, welches sonst ein wesentliches Erforderniß der heroischen Gattung ist, sondern sie wechseln mit dem Rhythmus ab, beinahe wie wir. Haben sie einen Rhythmum drei-, viermal wiederholt, so fallen sie auf einen andern« u. s. w.
Ich glaube nicht, daß die Erbauung der Sonnette, Madrigale und andrer Versarten der Provençalen ihrem Ursprunge nach einer hellern Erklärung fähig sei oder bedürfe als dieser. Ursprünglich waren sie eine Art gereimter, oft aus dem Stegreif gereimter Prose; die meisten Poesien der Provençalen sind offenbar nichts anders.
Daß viele unsrer Poesien diesen arabischen Schmuck noch an sich tragen, wissen wir Alle; Wenige aber wissen den Ursprung dieser Fesseln, daß ein Volk nämlich sich dieselbe aus Uebermuth der Begeisterung sogar im gemeinen Leben angelegt und damit so leicht umzugehen gewußt habe, daß es lange Reden durch sogar einen und denselben Reim beibehalten konnte. Auch bei den Provençalen war es in mehreren Silbenmaaßen offenbar aufs öftere Wiederkommen desselben Reims angesehen, womit denn weder unser Ohr noch unsre Sprache sonderlich zufrieden sein dürfte. Wenige wissen es, daß die Poesie der Araber zwar leidenschaftlich und bildervoll, nicht aber im besten Geschmack abgefaßt war;Proben davon geben W. Jones, Poeseos Asiaticae commentarii, und alle von ihm und Andern bekannt gemachten Poesien der Araber. An Leidenschaft und Bildern sind sie reich; ihr Geschmack aber in Composition dieser Bilder ist von dem unsrigen ganz verschieden. – H. daher auch schon die Provençalen von diesem ganz und gar asiatischen Geschmack sehr abgehen mußten. Da ihnen nun mit der Leidenschaft und dem Scharfsinn dieses fremden Volks auch dessen ausgebildete Sprache fehlte, was Wunder, daß ihnen oft nur die Form des Gedichts, angenehm wiederkommende Schälle übrig blieben, in die sie das Wesen der Dichtkunst setzten? Diese sollte ja nur Unterhaltung in einer angenehm gereimten Prose sein und bleiben.
Ganz anders wird die Sache für uns, die wir einen artigen Umgang in häuslichen und vertraulichen Gesprächen nicht eben in Reime setzen, uns auch von Jugend auf nicht geübt haben, sinnreich ex tempore zu reimen. Einzig in der Poesie haben wir diese alte arabische Höflichkeit beibehalten, das Ohr unsrer Freunde mit Reimen zu vergnügen.»Rhythmi cum alliteratione avidissimae sunt aures Arabum. In florilegio hoc (Elnawabig vel Ennawawig, quod vocabulum designat scaturientes partim poëtas, partim versus vel rythmos nobiliore quadam vene se commendantes) linguae Arabicae genius egregie relucet, nativum que illum cernere licet characterem, qui per rhythmos et alliterationes mera vibrat acuminia.« Schultens in der Vorrede zu Erpenius' Grammatica Arabica [1730]. Mich dünkt, weder unsre Sprache noch unsre Nation habe diesen angebornen witzsprudelnden Reimcharakter. – H. Und dennoch würde auch das reimsüchtigste Ohr es sich verbitten, wenn wir wie die Araber denselben Klang oder Endbuchstaben einige hundert Mal wiederkommen ließen und in heroischen Gedichten unsern Helden durch einen Reim zehntausendmal wiederkommend priesen.
Füge ich nun zu dieser Reimgalanterie der Araber noch das andre Geschenk hinzu, damit sie, andre Nationen nicht ausgeschlossen, die Poesie der Europäer beschenkt haben, jene Phantome asiatischer Einbildungskraft nämlich, die vom Berge Kaf über Africa und Spanien, über Palästina und die Tatarei zu uns gekommen sind,Die morgenländischen Märchen, in der durch Galland 1704 in Europa verbreiteten Sammlung »Tausend und eine Nacht«. – D. gewiß, so sind wir ihnen, wie in der Chemie und Arzneikunst, so auch in der Dichtung viele gebrannte Wasser schuldig.Gegen den Reim hatte sich auf das Schärfste Klopstock erklärt in der 1786 im »Musenalmanach von Voß« erschienenen Ode: »An Johann Heinrich Voß«. – D.
Den Reim lasse ich unsrer Poesie nicht nehmen; vielmehr zeigt der bemerkte Ursprung desselben zugleich auch seine glücklichste Anwendung. Er gehört:
1. Für Kirchen- und andre Volkslieder. Umsonst führten ihn nicht die heiligen Väter von Ambrosius an in ihre Chöre und Hymnen ein. Der gute Prudentius ging ihm noch aus dem Wege; Sedulius, Fortunatus u. s. w. gebrauchen ihn schon häufig, ohne ihn von den Arabern gelernt zu haben. Sie wußten, was fürs Volk gehöre. Zuletzt ward er insonderheit in den lateinischen Liebesgesängen so überfließend gebraucht, als ihn wol kein Araber gebraucht hat.
2. Denksprüche fürs Volk klingen in Reimen prächtig! Daher die Macht unsrer gereimten Sprichwörter, unsrer alten Oden und Alexandriner. Ein berühmter Dichter hat von einem ungezwungenen Reim gesagt:
»Er stützt und hebt die Harmonie und leimt
Die Rede ins Gedächtniß.«
Dies ist wahr. Wohlgereimte Sentenzen sind Machtsprüche; sie tragen im Reim das Siegel der ewigen Wahrheit. Von Anfange der Welt an hat man Räthsel und Denksprüche gereimt.
3. Lebhafte Antworten sind für den Reim, nicht nur in Arabien, sondern bei allen Völkern. Vom französischen Theater werden Sie Sich solcher unerwarteten Ausgänge gnug erinnern, aus Epigrammen, wohin sie eigentlicher gehören, noch mehrerer. Es ist ein Fehler des Versificators, wenn er, um einen glücklichen Reim zu erhaschen, fünf unglückliche vorhergehn oder folgen läßt;But those that write in rhyme still make
The one verse for the other's sake;
For one for sense and one for rhyme
I think sufficient for a time.
Butler's »Hudibras«, P. II. C. I. – H. ein solcher ist kein Haretsch Ben Helza, der auch im Staatsrath seines Königes sein Votum für den Krieg in donnernden Reimen hinstellte.
4. Es giebt mehrere Gattungen angenehmer Conversationspoesie, die ohne Reimen nichts sind. Der gesuchte sowie der ungesuchte, der versteckte sowie der klingende Reim sind in ihnen kunstmäßig geordnet. Man sollte sie Arabesken nennen; denn eben auch den Arabern galt der Reim für ein Siegel des vollendetsten Ausdrucks.
5. Endlich müssen Sie der Gewohnheit nachgeben und Sprachen sowol als Dichtern erlauben, sich auf ihre Art zu vergnügen. Diesem Dichter ist der Reim ein Steuer, jenem ein Ruder der Rede; ohne ihn litte jenes poetische Fahrzeug Schiffbruch, dieses strandete auf dem niedrigsten Sande.For Rhyme the rudder is of verses,
With which, like ships, they steer their courses.
Butler. – H. Einem andern Versificator ist er noch etwas Wertheres, ein Erwerbmittel der Gedanken; wollten Sie ihm also mit dem Reim seine hyperusischeUeberirdische, übernatürliche; ein späterer, besonders von Kirchenschriftstellern gebrauchter Ausdruck. – D. Nahrung nehmen? Einem Dritten ist der Reim eine Werbtrommel, Bilder zu versammeln; zwar kommen die Geworbenen oft etwas bunt zusammen, aber was schadet's? Desto stärker fallen sie ins Auge. Nehmen Sie Pope, Cowley und ihren fünf BrüdernDryden, Gay, Prior, Waller, Thomson? – D. den Reim, so haben Sie ihnen Moses und die Propheten genommen; wen sollen sie fürder hören? Nehmen Sie der französischen Sprache den Reim – hören Sie, was darüber ihre eignen Autoren sagen:
»Nos Vers affranchis de la rime ne paroissent différer en rien de la Prose.«
Prévost.Prévost d' Exiles, »Pour et contre. Ouvrage périodique«, von 1733 an. – D.
»Je n'ai garde de vouloir abolir les rimes; sans elles notre versification tomberoit.«
Fénélon.Lettre sur l'éloquence. – D.
»Les Italiens et les Anglois peuvent se passer de rime, parceque leur langue a des inversions et leur poésie mille libertés qui nous manquent. Chaque langue a son génie; le génie de notre langue est la clarté et l'élégance: nous ne permettons nulle licence à notre Poésie, qui doit marcher comme notre Prose dans l'ordre précis de nos Idées. Nous avons donc un besoin essentiel du retour des mêmes sons pour que notre Poésie ne soit pas confondu avec la Prose. –
»Nos sillabes ne peuvent produire une harmonie sensible par leurs mésures longues ou brèves; la rime est donc nécessaire aux vers François.«
Voltaire.Préface de l'Oedipe (1729). Discours sur la Tragédie de Brutus (1730). – D.
Hier sind klare Bekenntnisse; schonen Sie also in mehr als einer Sprache der Reime, dieser unschuldigen Kinder! Auch bei uns gehören rime und raison zusammen wie bei den Arabern. Ungereimt ist uns, was – sich nicht reimt.
Nachschrift.
Ernsthaft gesprochen, läßt sich an diesem Ursprungs der europäischen Cultur in Vergleich mit der Poesie der Alten noch Manches bemerken.
1. Bei den Griechen war Poesie mit der Sprache entstanden; jene hatte diese gleichsam von innen heraus gebildet; ehe schriftstellerische Prose entstand, war Gesang und Poesie – gewesen. In der limousinischen Sprache sowie in allen ihren Schwestern hatte man nicht nur längst Prose gesprochen, ehe man durch Versarten mit abgezählten Silben und Reimen diese gemeine Sprache (lingua volgare) zu veredeln suchte, sondern die Vulgarpoesie selbst sollte eine gereimte, cadenzirte, schönere Prose sein und bleiben. Die Silbenmaaße der Alten fanden in ihr nicht Platz, weil sie eigentlich blos von der Conversation ausging und auf diese hinführte.
2. Die Poesie der Alten hatte in ihrem Ursprunge viel mehr Wichtigkeit, Zweck und Anlage in sich, als diese neuere haben konnte. Vor Erfindung der Schreibekunst vertrat jene die Stelle aller Wissenschaft; sie war die Sprache der Götter, der Gesetzgeber und Weisen; was der Nachwelt würdig geachtet war, ward in sie gelegt, daher auch von ihr fast jede Wissenschaft ausging. In Europa war Alles anders. Die Sprache des Heiligthums war und blieb die lateinische, in welcher sich denn auch lange Zeit hin die Wissenschaften fortgebildet haben; die Vulgarpoesie wollte weder gelehrt noch andächtig, sondern unterhaltend sein. In allen Sprachen, denen die Provençalpoesie den Ton gab, ist dies ihr Hauptcharakter geblieben.
3. Dagegen aber ward Etwas, worauf die Poesie der Alten ihre Segel nicht hatte richten dürfen, dieser Poesie Ziel und Zweck, nämlich Freiheit der Gedanken. Durch die Provençalpoesie und durch das, was sie hervorbrachte, so viel oder wenig es war, ward zuerst das Joch zerbrochen, das alle Völker Europa's unter dem Despotismus der lateinischen Sprache festhielt; und damit war viel geschehen. Sollten Europa's Völker denken lernen, so mußten ihre Landessprachen gebildet werden; sie mußten in ihrer Volkssprache witzige, sinnreiche, anmuthige Dinge hören, an denen sich ihr Verstand schärfte. Wenn dieses zuerst auch nur in den obern Ständen und auf eine sehr unvollkommene Weise geschah, so gelangte es doch bald weiter. Mit Fragen der Liebe fing man an, zu weit wichtigern schritt man fort; die mittleren Zeiten haben manche Dinge sehr scharf und rein erörtert. Mit Erzählungen fing man an und wußte in sie einzukleiden, was man nackt nicht sagen durfte; ja, was die Erzählung nicht sagte, gesticulirte das rohe Schauspiel. Den besten Erweis, daß durch die Ausbildung der Provençalsprache für ganz Europa Freiheit der Gedanken bewirkt worden, zeigt die in ihr entstandene erste Reformation, die sich von den Pyrenäen und Alpen nachher in alle Länder verbreitete. In dieser Sprache nämlich wurde die edle Unterweisung (la noble leyçon), der erste Volks- und Sittenkatechismus geschrieben; in sie wurde zuerst die Bibel übersetzt,An den schon 1665 herausgegebenen Ulfilas erinnerte sich Herder hier nicht. – D in ihr das apostolische Christenthum erneuert. Mit großem Muth ging sie den Aergernissen der Klerisei entgegen und hat, wie den poetischen Lorbeerkranz, so auch unsäglicher Verfolgungen wegen die Märtyrerkrone der Wahrheit für ganz Europa verdient. Sind wir den Provençalen und ihren Erweckern, den Arabern, nicht viel schuldig?Mehrere Nachrichten hierüber giebt die Geschichte der sogenannten Waldenser, Albigenser, bons hommes u. s. w., deren verschiedne Namen sowol als erlittene grausame Verfolgungen bekannt sind. In Leger's »Geschichte der Waldenser« [Historie générale des églisas évangéliques des Vallées de Piémont, (Leyden 1699), deutsch von H. F. von Schweinitz. 1750. – D.] sind ihre in der Provençalsprache geschriebenen Schriften angeführt; ausführlichere Nachricht giebt die Historie générale de Languedoc, T. III. Des Wiclef, mithin auch Huß' und Luther's Reformation hangen mit dieser ersten Insurrection gegen den herrschenden Klerus zusammen wie die feinere Cultur in Europa mit den ersten Versuchen der provençalischen Dichtkunst. – H.
Viertes Fragment.
Einfluß der Povençalen in die europäische Kultur und Dichtkunst.
Die Verskunst der Provençalen ging auf alle benachbarte Nationen über, ja, sie ist das Vorbild der Poesie aller südlichen Völker Europa's, in Manchem sogar der Engländer und Deutschen worden; denn mit den Kaisern aus dem schwäbischen Hause kam die provençalische Dichtkunst auch nach Deutschland. Die Minnesinger sind unsre Provençalen.
Zu Dante's Zeiten waren schon sieben Gattungen dieser Verskunst in der italienischen Sprache: Sonnett, Ballade, Canzone, Rodondilla, Madrigal, Servente, Stanze; sie haben sich seitdem zahlreich vermehrt, vielfach verändert, immer aber ist die italienische Sprache jenem Richtmaaß treu geblieben, das zu Dante's, Boccaz' und Petrarca's Zeiten die Provençalpoesie ihr anwies. Die Silbenmaaße der Griechen und Römer, so oft sie versucht worden, haben in Italien, Spanien und Frankreich ihr Glück nie machen mögen.
Nun müßte es wol ein sehr barbarisches Ohr sein, das nicht, zumal unter jenem Himmel, die Musik dieser Versarten fühlte. Der weit verhallende Wohlklang einer regelmäßigen italienischen oder spanischen Stanze, die schön verschlungene Harmonie eines vollkommenen Sonnetts, Madrigals oder einer vortrefflichen Canzone, die abwechselnde leichte Melodie einer schönen Canzonette, Rodondilla oder Seguidilla tönt so anmuthig, der Tanz ihrer Silben ist so ätherisch, daß ihn unsre deutsche Sprache, die ein ganz andrer Genius belebt, vielleicht auch nicht nachahmen sollte. Die Poesien so vieler lyrischen und epischen Dichter in Italien und Spanien sind gleichsam so viel Hesperische Zaubergärten, wo die Bäume singen und an jedem Zweige des singenden Baums ein Glöckchen tönt. Die Poesie der Alten singt nicht also; aber das Rauschen des Baumes selbst, das Wehen seiner Zweige im zartesten Sprößling ist begeisternd, ist heilig.
So im Aeußern. Ist's aber auch anders, wenn man die Poesie der Italiener mit den Alten im Innern vergleicht? Nehmet z. B. ein Sonnett, ein Madrigal, eine Canzone, eine Stanze, und führt sie auf Formen der Griechen und Römer zurück. Hier, findet man oft, mußte der Ausdruck des Gedankens gedehnt, dort die Empfindung gelängt und geweitert werden. Einschiebsel und fremde Zusätze mußten zu Hilfe kommen, um ein regelmäßiges Sonnett, ein klingendes Madrigal zu werden; als ein Epigramm, als ein Bild (εἶδος) und Skolion der Alten würde Alles in natürlichem Maaß einfacher und reiner dastehn. Eine Canzone oder Ode der Italiener, mit Pindar oder Horaz verglichen, hat, wie es uns Deutschen scheint, viel Declamation, viel prosaische, rednerische Schönheit. Wie anders? Auf diese schöne gereimte Declamation war die Canzone angelegt. Die Stanzen (ottave rime) sind hallende Kammern,Anspielung auf das Wort Stanza, das ein Zimmer, eine Kammer bedeutet. – H. jede Abtheilung in ihnen, zuletzt der Schluß jeder Stanze (il clave), hält uns melodisch an, damit er uns weiter fortführe. Vortrefflich! Aber der Hexameter der Alten ist ein langer unermeßlicher Gang, wo nichts uns aufhält; wir wandern ungestört fort und haben den Blick immer am Ziele. So könnte man mehr vergleichen; wozu aber die Vergleichung, wenn sie den Genuß stört? Die Poesie der Italiener ist, was sie ihrem Ursprunge nach sein wollte, Unterhaltung, accentuirte Conversation; das ist ihr Standpunkt. Ein Sonnett, ein Madrigal wird adressirt; eine Canzone wird abgesandt und bekommt am Schluß eigne Verse als ein Creditiv mit, ein Siegel der Sendung (il commiato della Canzone). Ariost schrieb seinen unsterblichen Orlando, daß er in Gesellschaften gelesen werden, daß er als ein Fabelbuch angenehm unterhalten sollte. Dazu schrieben Bernardo Tasso, Fortinguerra, Tassoni, Marino und jene unzählbare Schaar italienischer lustiger Dichter. Wenn Torquato nebst wenigen Andern sich höher erhob, so erhebt ihn der Inhalt seines Gedichtes; im Ganzen aber verfolgt er den Zweck aller seiner Brüder.
Ob diesen Zweck jede dieser Poesien erreicht habe, darüber kann kein Ausländer entscheiden; indessen scheint's. In Italien sind die Sonnette eigentlich nichts als feinere Anreden in einem gegebnen Ton der Gesellschaft; beinahe jeder gebildete Mensch macht ein Sonnett, ohne daß er deshalb ein Dichter zu sein sich einbildet. Die Werke ihrer großen Dichter sind jedem Gebildeten bekannt; ihre Sprache ist ins Ohr der Nation übergegangen, und man hört Stellen aus Dichtern oft von Personen, von denen man sie am Wenigsten erwartet. Der gemeine Mann, das Kind sogar gebraucht Ausdrücke, die man diesseit der Alpen in viel andern Kreisen weder sucht noch hört.
Die ganze Dichtkunst Italiens hat etwas sich Anneigendes, Freundliches und Holdes, dem die vielen weiblichen Reime angenehm zu Hilfe kommen und es der Seele sanft einschmeicheln. Dagegen freilich steht die Poesie der Alten für sich selbst da, in schweigender Würde, in natürlicher Schönheit. Sie spricht und läßt sich sprechen; die italienische Poesie buhlt zwar nicht, aber sie declamirt angenehm vor, sie conversirt.
Ungerecht wäre es also, wenn man selbst bei der eigentlichen Empfindungspoesie dieser Sprache, z. B. den Schäfergedichten, einen Maaßstab gebrauchen wollte, der ihr nicht geziemt. Wie viel Unzeitiges z. B. ist über den Aminta des Tasso, über den Pastor fido des Guarini und über ähnliche Gedichte gesagt worden! Unsre Schäfer freilich, unsre Liebhaber räsonniren so nicht von Liebe oder mit der Liebe; nimmt man indessen das Local der Italiener, die Zeit, in welcher diese Dichter lebten, die einmal getroffene arabisch-provençalische Convention, über die Liebe in Reimen zu conversiren, auch viele kleine Umstände der damaligen Lebensweise zusammen, so werden uns diese musikalischen Liebesconversationen nicht nur erklärlich, sondern beinahe natürlich erscheinen. Das ganze lyrische Drama der Italiener beruht auf dieser Conversation; Nationen, denen sie fremde ist, wird die ernsthafte sowol als die komische Oper der Italiener dem eigentlichen Motiv nach immer fremde bleiben.
So kommen wir denn auf das poetische Meisterwerk dieser Nation, die Oper, das lyrische Drama. Wol nirgend anders als in Italien konnte es entsprießen und zugleich zu der Blüthe gelangen, zu welcher es zuletzt in Metastasio gelangt ist. Er, ein Schüler des philosophischen Kenners der Alten, des Gravina, er, dem das Glück ward, hinter den Verdiensten des Apostolo Zeno und so viel andrer großen Männer in Italien und Frankreich dies Drama in einer Sprache zu bearbeiten, die zum Gesange geschaffen ist, brauchte seines Glücks und erhob aus ihr alles Singbare (cantabile) in jeder Art des Affects, in jedem Perioden des Recitativs, der Arien und Chöre zur Blume des Gesanges und Vortrags. Zeige man ein singbares Wort, das er nicht, und zwar aus der besten Stelle, gebraucht, eine unsingbare Wendung, die er nicht gemildert oder vermieden hätte! Auch aus der menschlichen Seele, aus Fabel und Geschichte zog er jeden singbaren Gegenstand, jede melodische Gesinnung und Empfindung auf die zierlichste Weise hervor und wußte sie zu einem musikalischen Sentiment im zartesten und vollsten Ausdruck zu bilden. Jede Arie des Metastasio ist gleichsam ein poetisch-musikalischer Kanon worden.
Um hieher zu gelangen, welchen langen Weg hatte das Melodrama zurückgelegt, seit es in rauhen provençalischen Canzonen nach Italien gekommen und von umherziehenden Minstrels, mit einer Art theatralischen Vorstellung verbunden, hie und da gespielt war! Durch Maitänze (Maggiolate), Carnevalesken, Chöre mit Zwischenspielen u. s. w. hatte es einen beschwerlichen Weg nehmen müssen, bis es unter der Beihilfe vieler fremden Künstler, Franzosen, Spanier, Niederländer, Deutscher, nur zu einiger Regelmäßigkeit gelangte. Italienische Fürsten, die Pracht und Vergnügen liebten, hatten ihm dazu Raum und Kosten verschafft; der Geschmack der Nation in beiden Geschlechtern hatte es mit Freude empfangen; Florenz insonderheit hatte ihm zuerst seine glänzende Gestalt gegeben. Unwissend hatten, von Dante und Petrarca an, alle Dichter dazu gearbeitet; Tasso und Guarini mit ihren Schäferpoesien hatten dazu näher den Ton gegeben, hundert Componisten geistlicher und weltlicher Melodien die Pforten geöffnet: Metastasio kam und setzte der ganzen Gattung den Kranz auf.
Indessen auch bei Metastasio denke man nicht an die Griechen; vielmehr hat vielleicht er aufs Weiteste von ihnen verführt und steht wie auf einem andern Hemisphär da. Bei Jenen sprach die Poesie, die Musik begleitete ihre Worte in jeder Wendung des Ganges der Rede zwanglos. Hier malt die Musik, und die Worte dienen. Gesetzt, daß es ihr auch gefiele, sie zehnmal dienen zu lassen, sie umher zu kreisen und wie im Spott zu wiederholen: sie tanzt ihren Tanz, und unter ihrer Herrschaft durfte der Dichter nichts als das ihr Wohlgefällige wählen. Keiner Leidenschaft durfte er tiefer nachgehn, als es die Musik ertrug, und mußte sich daher überall an das Weichste, das Zarteste, die Liebe halten. Mit Verletzung jedes Costüme der Zeiten und Orte sind Metastasio's Helden Schäfer, seine Prinzessinnen Schäferinnen; erhabne Frescogestalten der Geschichte werden durch ihn Miniaturgemälde des lyrischen Theaters; denn auf diese und auf keine andre Darstellung hat er gerechnet. Wenn also Metastasio in jedem seiner Stücke einen zierlichen Porzellanthurm mit klingenden Silberglöckchen erbauen wollte, so sollte und konnte dieser kein griechisches Odeum werden.
Indessen hat auch diese Poesie ihre Zwecke erreicht. Sie ward, was sie sein wollte, ein Vergnügen feinerer Seelen, die auf die angenehmste Weise in süßen Tönen sich schöne Gesinnungen einflößen lassen und sich singend belehren. Wer sich durch eine übermäßige Liebe dieses Dichters und dieser Kunst den Geschmack verwöhnt und ihn zum Unmännlichen erweicht, der hat daran selbst die Schuld; gewiß aber wird durch Metastasio's Gesänge Niemandes Herz verderbt, vielmehr kann seine moralische Empfindung, wenn er sie aufwecken lassen will, erweckt und zart geläutert werden. Kurz, in allen italienischen Dichtern ist Conversation und Gesang herrschend; sie conversiren singend, sie singen dichtend.
Der Zweig der provençalischen Dichtkunst, der sich in Frankreich verbreitete, trug andere Früchte. Die französische Sprache, die lange nicht so sangbar war als die italienische, hatte desto mehrere Lust zu erzählen und zu repräsentiren. Sie nahm also von ihren Provençalen einerseits vorzüglich die Contes und Fabliaux auf, die bald zu großen Romanen ausgebildet wurden; andererseits gefielen der Nation die Geberdenspiele der Musars, Comirs, Plaisantins so sehr, daß sie mit der Zeit auch Spiele der Nation wurden, aus welchen zuletzt das französische Theater hervorging. Wir wollen von beiden Charakterzügen dieser Nation, vom Erzählen und Repräsentiren, den großen Erweis der Zeiten bemerken.
Muntre Erzähler sind die Franzosen von jeher gewesen; das ganze Gebilde ihrer Sprache trägt davon den Charakter. Schon unter Philipp August reimte man Märchen; unter Philipp dem Kühnen fanden die Fabelerzähler allenthalben Zutritt; zahlreiche Romane von Artus und seinen Rittern, von Karl dem Großen und seinen Pairs, vom Amadis und so vielen andern Helden der Tapferkeit und Liebe wurden in Frankreich zwar nicht erfunden, aber ausgebildet, als die Normänner diesen Zweig der Dichtkunst blühend machten. Sie verbreiteten sich nach England, Spanien, Italien, zuletzt nach Deutschland.
In der Periode des neueren französischen Geschmacks, wer waren ihre ersten Meister? Villon und Rabelais, Marot und Seinesgleichen, die durch muntre Einfälle und Erzählungen bleibenden Eindruck machten; die ernsthaften Dichter gingen in die Vergessenheit über. Frankreichs Philosoph war Montaigne, der so Vieles von sich selbst und von Andern zu erzählen wußte. Im goldnen Zeitalter Ludwig's endlich war ein Erzähler, La Fontaine, wol das eigenthümlichste Genie, dessen Grazie nicht veralten wird, so lange die französische Sprache dauert. Eine zahlreiche Menge von Erzählern in jeder Gattung des Stils, prosaisch, poetisch, burlesk, komisch, war vorhergegangen und folgte. Bei Voltaire ist lustige Erzählung vielleicht sein glücklichstes Talent; die Prophetin von Orléans»La Pucelle«. Jeanne d'Arc weissagt dem König den Sieg über die Engländer und seine Krönung. – D. und Guillaume VadéSeine eigenen muthwilligen Erzählungen hatte Voltaire als »Contes de Guillaume Vadé« erscheinen lassen. – D. gelangen ihm besser als die Henriade. Dies Talent, das in Marmontel, Diderot, Cazotte und so vielen Andern immer neue Früchte gebracht hat, solche wahrscheinlich auch bringen wird, so lange ein Franzose oder eine Französin die Lippen bewegt, hat ihrer Sprache in Allem, selbst in den ernsthaftesten Wissenschaften, jene Klarheit und Nettigkeit, jene muntre Präcision gegeben, die beinah ganz Europa zur Nachahmung erweckt hat. Discours heißt der Genius ihrer Schreibart. Alles ist ihnen klar; was sie wissen und nicht wissen, können und dürfen sie erzählen.
Repräsentation ist der zweite Zug ihres entschiedenen Charakters. Das Volk repräsentirt gern und liebte von jeher Repräsentationen. Schon unter den ersten barbarischen Königen spielten die Histrionen an allen Staatsfesten ihre Rollen, denen die Jongleurs und Jongleuresses, die Joueurs de Farces, Bateleurs u. s. w. folgten. In mehreren und wiederholten Reglements mußte Diesen bei Gefängniß- und Leibesstrafe verboten werden, nur nicht an Sonn- und Festtagen während des Gottesdienstes, in geistlichen Kleidern an öffentlichen Orten ärgerliche Farcen zu spielen. Zur Zeit der Kreuzzüge und der Wallfahrten nach dem heiligen Lande kamen die Pilgrime wieder, um in ihrem Vaterlande zu repräsentiren. In abenteuerlicher Kleidung erzählten und agirten sie ihre Geschichten von weither, Wunderdinge, Abenteuer, Visionen; man repräsentirte die Geschichte des Alten und Neuen Testaments, unter Andern La Passion de N. S. Jesus Christ en vers burlesques. Brüder der Passion (les Confrères de la Passion) entstanden; sie zogen die Privilegien des Narrenprinzen (Prince des sots) und des Narrenfestes (de la fête des foux) an sich; man räumte ihnen Hôtels ein; so ward das erste französische Theater, das bald darauf devant leurs Majestés dans la salle du Château Moralitäten spielte. Der Geschmack dieser »Moralitäten«, in denen sich das Heilige und Profane sonderbar mischte, ist bekannt; sie hießen Jeux des pois pilés, Spiele zerstoßener Erbsen, und blieben es so lange, bis aus ihnen die französische Komödie hervorging, in welcher denn, sowie auf dem französischen Theater überhaupt, Repräsentation von jeher der Hauptgesichtspunkt gewesen und geblieben ist, nach welchem sich Alles ordnet. Es ist zu erweisen, daß alles Gute und Mangelhafte des französischen Theaters offenbar aus Repräsentation, aus französischer Repräsentation erwachsen sei, als einem der Nation unableglichen Charakter. Jene Lebhaftigkeit und Natur des Spiels, mit Anstand und Gefälligkeit begleitet, jene Klarheit nicht nur in der Exposition, sondern auch in der ganzen Oekonomie des Stücks, insonderheit in der Folge und Bindung seiner Scenen, in der Oper das Feierliche der Chöre, die Pracht der Decoration u. s. w., kurz, was Repräsentation fordert und geben kann, ward dort gegeben und ausgebildet. Dagegen was Repräsentation nicht leistet, was manchmal, z. B. im Trauerspiele, sie sogar nicht wünscht und gern verbirgt, die tiefere Wahrheit und Natur der Leidenschaften dem französischen Theater, verglichen mit dem griechischen und englischen, oft fremd blieb. Sowol der Heroismus als die Liebe erscheinen in der französischen Theaterkunst (von vortrefflichen Ausnahmen ist hier nicht die Rede) nach dem Gesetz einer Nationalconvention repräsentirt; diese Convention herrscht in Allem, im Ton der Stimme, in der Kleidung und Geberde, in jedem Schritt und Tritt des Acteurs und der Actrice. Wenn Der oder Jener aus diesem Gleise des Anstandes glücklich herauszutreten wußten, so ward ihre Ausnahme bald selbst zur conventionellen Regel. Fast auf alle Werke des Geistes, selbst der Wissenschaft, erstreckt sich diese französische Repräsentationsgabe: auf ihre gerichtlichen und Kanzelreden, auf ihre Akademien und Elogien, selbst auf ihre Staatsverhandlungen und Staatsgrundsätze; in ihnen erscheint die Gerechtigkeit, die Andacht, die Gelehrsamkeit, das Lob, die Politik, die Wissenschaft repräsentirend. Es wird der Nation schwer, für sich allein zu sein; sie ist gern im Auge Andrer, am Liebsten im Auge des Universum sprechend, schreibend, agirend.
Die größte Repräsentantin ist die französische Sprache. Mit dem Schein, Alles aufs Genaueste, aufs Feinste zu sagen, umschreibt sie in geltenden Ausdrücken, die Jeder zu verstehen glaubt, und giebt, was sie in so großer Menge hat, ins Ohr fallende Worte, gemein gewordne Abstractionen. Unendlich reich an Ausdrücken der Höflichkeit, der guten Lebensart, der Kunstphilosophie u. s. w., hütet sie sich wohl, mit diesen Ausdrücken etwas mehr zu meinen, als zum conventionellen Alltagsverständniß derselben gehört. Wehe Dem, der sich auf ein französisches Modewort, auf eine Formel und Wendung des französischen Stils verließ; die Mode ändert sich, und das Wort bedeutet ganz etwas Andres.
Sollen den Franzosen jetzt die Spanier nachtreten, wie auch sie etwa von den Provençalen gelernt haben? Nein. Die Cultur der Spanier ist von den Provençalen nicht erborgt, sondern an ihrer Seite stolz und eigentümlich erwachsen.Und doch läßt Herder oben die Araber auf die äußere Form der spanischen Dichtung, ja auch auf den Inhalt einen bedeutenden Einfluß üben! – D. Jahrhunderte lang hatten die Araber ihr schönes Land besessen und in alle Provinzen desselben ihre Sprache und Sitten verbreitet. Jahrhunderte gingen hin, ehe es ihnen entrissen ward, und in diesem langen Kampf zwischen Rittern und Rittern hatten sie wohl Zeit, den Charakter zu erproben, der sich auch in Werken des Geschmacks als ihr Genius zeigt; es ist die Idee eines christlichen Ritterthums, den Heiden und Ungläubigen entgegen. Als alte, vom heiligen Jacobus bekehrte Christen waren sie in die Gebirge geflohen; als solche hielten sie sich in ihnen fest und eroberten ihr Land wieder. Als solche waren sie zu stolz, sich mit maurischem Blute zu vermischen, und entvölkerten dadurch ihr Land; als solche waren sie in fremden Welttheilen stolz und grausam. Ihr Vortreffliches und ihre Fehler kommen aus einer Quelle, aus welcher mit beiden, mit Fehlern und Tugenden, auch ihre Poesie und Sprache floß. Diese steht zwischen der italienischen und altrömischen in der Mitte, an Majestät und Würde der Mutter ähnlicher als eine ihrer Schwestern, voll Wohlklanges für die Musik, und in dieser fast eine heilige Kirchensprache. Nicht lief sie, wie die Provençalin, auswärts umher; sie war stolz und blieb zu Hause, brachte aber in ihrer schönen Wüste unter manchem Sonderbaren und Abenteuerlichen edle Früchte. Vielleicht giebt es keine scharfsinnigern Sprüche und Sprichwörter als in der spanischen Sprache; von Alphons dem Weisen an hat sie in allen Productionen diesen Charakter behauptet. Ihre Erzählungen, Theaterstücke und Romane sind voll Verwickelungen, voll Tiefsinnes und bei vielem Befremdenden voll feiner und großer Gedanken. Ihre Silbenmaaße sind sehr wohlklingend, und die Leidenschaft der Liebe steigt in ihnen oft bis zum schönen Wahnsinn. Sie sind veredelte Araber; auch ihre Thorheit hat etwas Andächtiges und Erhabnes.
Wie mir immer eine Furcht ankommt, wenn ich eine ganze Nation oder Zeitfolge durch einige Worte charakterisiren höre (denn welch eine ungeheure Menge von Verschiedenheiten faßt das Wort Nation, oder die mittleren Jahrhunderte, oder die alte und neue Zeit in sich!), ebenso verlegen werde ich, wenn ich von der Poesie einer Nation oder eines Zeitalters in allgemeinen Ausdrücken reden höre. Die Poesie der Italiener, der Spanier, der Franzosen, wie viel, wie mancherlei begreift sie in sich! und wie wenig denkt, ja, wie wenig kennt Der sie oft, der sie am Wortreichsten charakterisirt!
Wenn ich meinen Dante und Petrarca, Ariosto und Cervantes las und jeden dieser Dichter wie meinen Freund und Lehrer von Innen aus kennen lernen wollte, so war es mir angenehm, ihn als einen Einzigen zu betrachten. Zu diesem Zweck suchte ich Alles auf, was in ihm liegt, was rings um ihn zu seiner Bildung oder Mißbildung beigetragen. Die ganze Dichterwelt vor und nach ihm verschwand vor meinen Augen, ich sahe nur ihn. Und doch wurde ich bald an die ganze Reihe der Zeiten erinnert, die vor ihm war, die nach ihm folgte. Er hatte gelernt und lehrte; er folgte Andern, Andre ihm nach. Das Band der Sprache, der Denkart, der Leidenschaften, des Inhalts knüpfte ihn mit mehreren, ja zuletzt mit allen Dichtern: denn – er war ein Mensch, er dichtete für Menschen. Unvermerkt werden wir also darauf geleitet, zu untersuchen, was Jeder gegen jeden Aehnlichen in und außer seiner Nation, was seine Nation gegen andere vor- und rückwärts sei; und so zieht uns eine unsichtbare Kette ins Pandämonium, ins Reich der Geister.
Wenn Poesie die Blüthe des menschlichen Geistes, der menschlichen Sitten, ja, ich möchte sagen das Ideal unsrer Vorstellungsart, die Sprache des Gesammtwunsches und Sehnens der Menschheit ist, so dünkt mich, ist Der glücklich, dem diese Blüthe vom Gipfel des Stammes der aufgeklärtesten Nation zu brechen vergönnt ist. Es ist wol kein geringer Vorzug unseres inneren Lebens, außer den Morgenländern und Alten mit den edelsten Geistern Italiens, Spaniens, Frankreichs sprechen und bei Jedem bemerken zu können, wie er die Begriffe und Wünsche seines Herzens, die ihn am Meisten entflammten, auf die würdigste Art einzukleiden und für Welt und Nachwelt angenehm, ja hinreißend vorzutragen suchte. Hingerissen in Eure süßen und bittern Träumereien, Ihr Dichter, wandeln wir mit Euch in einer Zauberwelt und hören Eure Stimme, als ob Ihr lebtet. Andre erzählen von sich und Andern; Ihr versetzt uns in Euch selbst, in Eure Welt von Gedanken und Empfindungen des Leides und der Freuden.
Und ach, wie klein ist unsre Welt! wie oft wiederholen sich Empfindungen und Gedanken! Enge ist der Kreis des menschlichen Tichtens und Trachtens; in wenige, wenige Knoten ist alle unser Interesse geknüpft.
In dieser Rücksicht nun kann man freilich die Geschichte der Dichtkunst, d. i. die Geschichte menschlicher Einbildungen und Wünsche, und wenn ich so sagen darf, des süßen Wahns der Menschheit, der aufs Feurigste ausgedrückten Leidenschaften und Empfindungen unsers Geschlechts nicht allgemein und im Großen gnug nehmen. Wie ganzen Nationen eine Sprache eigen ist, so sind ihnen auch gewisse Lieblingsgänge der Phantasie, Wendungen und Objecte der Gedanken, kurz, ein Genius eigen, der sich, unbeschadet jeder einzelnen Verschiedenheit, in den beliebtesten Werken ihres Geistes und Herzens ausdrückt. Sie in diesem angenehmen Irrgarten zu belauschen, den Proteus zu fesseln und redend zu machen, den man gewöhnlich Nationalcharakter nennt, und der sich gewiß nicht weniger in Schriften als in Gebräuchen und Handlungen der Nation äußert: dies ist eine hohe und feine Philosophie. In den Werken der Dichtkunst, d. i. der Einbildungskraft und der Empfindungen, wird sie am Sichersten geübt, weil in diesen die ganze Seele der Nation sich am Freiesten zeigt.
So ist es auch mit dem Geist eines oder mehrerer Zeitalter, so viel dieser Name unter sich begreift; denn jedes Zeitalter hat seinen Ton, seine Farbe, und es giebt ein eignes Vergnügen, diese im Gegensatz mit andern Zeiten treffend zu charakterisiren. Mir sind z. B. die sogenannten mittleren Zeiten auch in ihren Märchen, in dem guten Glauben und Aberglauben, der sie beherrschte, in der ganzen Richtung, die die europäische Denkart damals nahm, sehr merkwürdig. Dieser Wahn liegt uns näher als die Mythologie der Griechen und Römer; manche Züge davon haben wir vielleicht in angebornen Neigungen und Vorstellungsarten, gewiß aber in Resten der Gewohnheit von unsern Vätern geerbt.
Fünftes Fragment.
Vom Werth der europäischen Dichtung mittlerer Zeiten.
Wir haben jetzt Umfang gnug gewonnen, die europäische Cultur durch die Poesie der mittleren Zeiten in dem weiten Raum, den sie durchging, unparteiisch zu schätzen und ihren Werth oder Unwerth zu zeigen.
Ein großer Nachtheil war für sie die allenthalben mit fremden Sprachen vermischte, in ihr selbst verfallene Römersprache. Mit Recht hieß diese rustica, eine Bauernsprache; die Dichtkunst, die in ihr aufkam, konnte mit Noth und Mühe auch nur eine vulgare Dichtkunst werden. Alles war hier durch einander gemischt und verdorben. Nordische Völker kamen mit einer harten, sclavische, in Feigheit versunkene Völker sprachen eine vernachlässigte Sprache. Unruhe und wiederkommende Verwüstung, Nacht und Aberglaube verheerten die Welt; was aus diesem Chaos über einander stürzender Völker und Sprachen hervortönte, konnte nicht oder sehr spät der Gesang jener Muse sein, die einst in Ionien, Athen und Tibur reingestimmte, harmonische Saiten beseelt hatte. Hier schrieb man Reime (coplas, rime).
Einen noch herbern Feind hatte die Bildnerin der Sitten, die Poesie, an den Sitten dieser Nationen selbst im mittleren Zeitalter. Kriegerischen Völkern ertönte nur die Tuba; unterjochte, bäurische Völker sangen rohe Volksgesänge, Kirchen und Klöster Hymnen. Wenn aus dieser Mischung ungleichartiger Dinge nach Jahrhunderten ein Klang hervorging, so war's ein dumpfer Klang, ein vielartiges Sausen. Schon der Charaktername des Inhalts der Zeiten sagt dies. Er heißt Abenteuer, Roman; ein Inbegriff des wunderbarsten, vermischtesten Stoffs, der ursprünglich nur ununterrichteten Ohren gefallen sollte und sich, fast ohne Kenntniß der Natur, Kunst und Geschichte, von der Vorwelt her über Meer und Länder in wilder Riesengestalt erstreckte. Von den Arabern her bestimmten drei Ingredienzien den Inhalt dieser Sagen, Liebe, Tapferkeit und Andacht; schöne Namen, wäre ihre Bedeutung nur immer auch in der Anwendung der Namen werth gewesen!
Liebe. Gewiß aber war's nicht immer jene zärtlich bewundernde Liebe, die man aus einem guten Vorurtheil den Erzählungen und Liedern des Mittelalters gemeiniglich als Charakter zuschreibt. Viele Gesänge und Geschichten zeigen ein Andres, das sich auch zu jenen gedankenlosen und dabei unternehmenden Zeiten besser schickt und fügt. In müssigen, reichen und üppigen Ständen, in Schlössern, an Höfen, deren es damals so viel gab, hatte man Zeit und Mittel, jene Galanterie, die gepriesene Blüthe der Ritterjahrhunderte, oft in einem Geschmack zu treiben, wie sie des Boccaz »Decamerone« oder Brantôme und so manches üppige Capitolo schildert. Man rühmte sich dessen, was man erfahren haben wollte, nicht immer auf die feinste und sittlichste Weise.
Tapferkeit. Ein edles Wort; die damaligen Zeiten aber gebrauchten es nicht immer in der edelsten Anwendung. Der Ritter, der in die Welt zog, Ungläubige oder Ketzer zu vertilgen, und sich außer den Pflichten gegen Ebenbürtige, gegen Damen, gegen seinen Lehnsherren und die Kirche Alles erlaubt hielt, war eben nicht das reinste Ideal männlicher Tugend. Eine Poesie also, die solche Ritterzüge besang oder erzählte, mußte oft dumpf umherschwärmen und bis zum Ermüden singen und sagen, was Ritterthum und Ritterehre erfordert. Oder um diesem Einerlei zuvor zu kommen, mußte sie sich ins Ungeheure, ins Unmögliche verlieren, hier eine brutale Macht loben, dort Ahnenstolz, Räuberglück oder leeren Glanz preisen. Wider Willen mußte sie oft langweilig, oft geistlos und unmoralisch werden, weil sie geistlose Menschen in zwecklosen oder unmoralischen Thaten zu schildern hatte und auch bei großen und guten Zwecken sie mit zu viel falschem Glanz vergolden mußte.
Andacht endlich. Blos als Feierlichkeit behandelt, ermüdet sie und läßt die Seele bald leer; als eine Verbindung mit dem Unendlichen, als Anschauung des Unermeßlichen betrachtet, erhebt sie zwar die Seele, entzückt sie aber auch in einen Glanz, in welchem der Poesie zuletzt jede Form schwindet. Soll Andacht aber sogar Missethat versöhnen, es sei mit leeren Gebräuchen oder mit Geschenken und Vermächtnissen, ohne daß dem Unterdrückten Erstattung geschehe: o, da wird sie dem Menschensinn, dem moralischen Gefühl widrig und auch im schönsten poetischen Nachbilde verächtlich!
Alle diese Mängel und Laster entsprangen aus dem Verderben der Religion und Sitten damaliger Welt in obern und untern Ständen; eine fröhliche Wissenschaft, die an Höfen entstanden, von Großen genährt und nur zur Zeitkürzung gebraucht ward, konnte und wollte die Schwächen des Jahrhunderts weder abthun, noch versöhnen. Sie dachte an den Inhalt einer Erzählung nur sofern, als dieser Inhalt vergnügte, und es war Sitte der Zeit, sich bisweilen auch langweilig und gemein zu vergnügen. Das Ohr des Volks, vor welches zuletzt diese Divertissements auch kamen, nahm sie mit Freuden auf, weil sie bei Hofe erfunden waren, weil man sie in höheren Ständen belachte. Es war eine Hofart (cortesania), sie schön zu finden.
So gewiß ist's, daß nichts bleibend schön sein kann als das Wahre und Gute. Keine Kunst, kein Künstler vermag von einem falschen Schimmer der Macht und Hoheit, vom geschminkten Reiz der Wollust und Ueppigkeit oder von der Schwärmerei ein Ideal zu borgen, das bestehe und fortdaure. Was unrein dem menschlichen Gemüth ist, muß ihm früher oder später auch in der Poesie unrein erscheinen; denn nur fürs menschliche Gemüth wird gedichtet.
Jene Romane voll Langweiligkeiten des Ritterthums, voll falschen Glanzes der Hofsitten, oder gar jene Gemälde des Gartengottes und der Göttin Crapula,Rausch. – D. was sind sie unter dem Fuß der Zeit worden? Schlamm und Moder. Es ist Gesetz der Natur, daß auch in der Poesie und Kunst nur das Wahre und Gute bleibe.
Der Keim, der davon auch in der Dichtkunst der mittleren Zeiten lag, ist nicht verwest. Fruchtreich hat ihn die Zeit ausgebildet; denn in den drei großen Namen Liebe, Ehre und Andacht liegt Alles, was die Menschheit wecken, die Poesie beleben kann. Sie sind mehr als Patriotismus; ein weites und tiefes Meer der Seligkeit, aus dem die Schönheit entsprang, und in welchem sie sich spiegelt.
1. Andacht. Freilich ist's nicht jedem Geist in seiner sterblichen Hülle gegeben, sich formlos ins Flammenmeer der Gottheit zu versenken; aber auch nur im Abglanz diese Sonne, das höchste Ideal menschlicher Gedanken zu betrachten, erquickt und erheitert. Die Poesie der mittleren Zeiten hatte sich hiezu das Bild des ewigen Vaters, des Sohnes Gottes und seiner Mutter, der heiligen Jungfrau, ausgemalt und in das letzte insonderheit ein hohes Ideal weiblicher Tugend, alle Grazie ihres Geschlechts gelegt. Jungfräuliche Keuschheit, Huld und Anmuth, eine sich selbst unbewußte Hoheit und Würde, mütterliche Liebe, schweigende Geduld, Großmuth, Hoffnung, endlich ein stiller Dank- und Freudegenuß jenes überschwänglichen Lohns, dessen sich die Wohlthätige jetzt in Ewigkeit werth macht – Alles dies ward nach und nach von der dichtenden Andacht in sie gesenkt, in ihr besungen und gepriesen.
Der Werth der Heiligen, die Märtyrer waren, scheint von geringerer Art; die Tapferkeit der Seele aber, die um des Bekenntnisses der Wahrheit willen Leiden erträgt und Martern erduldet; jene stille Großmuth, die verkannt einhergeht, die Reichthum, Wollust und niedrigen Ruhm verschmäht, unbillige Verachtung, Schmach und Hohn für nichts achtet und dennoch wohlzuthun fortfährt; die Heiterkeit der Seele endlich, die, durch Einfalt, Unschuld, Zuversicht und Erfahrung bewährt, in der Wolke des Todes den offnen Himmel sieht und das Lied der Vorangegangenen hört: eine Andacht dieser Art ist mehr als eine Heldenwürde von außen. Und es sangen sie so viele Hymnen, so prächtige Canzonen.
2. Tapferkeit. Auch der Werth eines Mannes, der nach reinen Begriffen des Ritterthums um Ehre streitet, ist nicht von geringer Art. Schwache zu beschützen, die Unschuld zu vertheidigen, auch im heftigsten Streit sich nichts Unwürdiges zu erlauben, im Feinde noch den Mann zu erkennen, im Ueberwundenen den Tapfern zu ehren, endlich die wehrlose, die kranke Menschheit mit ritterlicher Hand zu pflegen, zu warten: dies Alles waren Pflichten des Ritterthums, die, freilich mit großen Ausnahmen, allesammt auch nur unter dem Mantel der Religion und noch nicht als reine Obliegenheiten des Menschen gesungen und eingeschärft wurden. Sie öffneten indeß einer allgemeinern, reineren und höheren Tugend die Schranken, als selbst in einem weit engeren Bezirk von der alten Heldensage der Griechen und Römer gepriesen werden konnte. Wenn Andacht, Liebe und Tapferkeit reiner Art sich ritterlich in einander verweben, erniedern sie den männlichen Charakter nicht.
3. Liebe. Hier findet wol kein Zweifel statt, daß die Hochachtung und zarte Behandlung des weiblichen Geschlechts, welche Araber und Normänner in Romane und Poesie brachten, die sich auch mit dem Dienst der heiligen Jungfrau und dem Christenthum überhaupt wohl vertrug, eine Blume sei, die Griechen und Römer eben nicht vorzüglich cultivirten. Größtentheils besangen diese im Weibe nur das Weib oder gar eine Buhlerin, eine Hetära. Da das nördliche Klima Lustbarkeiten, wie sie Horaz oder Petron schildern, keinen Raum gab, auch in diesen Gegenden die später entwickelte und desto länger dauernde Jugend des Weibes eine sittlichere, reifere Liebe fordert, so wandte sich jetzt allmählig die Poesie auf etwas, darauf jene Zeiten nicht ausgehen konnten, auf Cultur des Umganges beider Geschlechter mit einander, von welchem unsre nordische Wohlerzogenheit größtentheils abhängt. Das Weib war von der Religion geehrt; warum sollten sie nicht auch Menschen ehren? Sie gaben den Männern Rath, dem Leben Anmuth; sie bewegten das Herz des roheren Mannes und waren gleichsam Mittlerinnen im Himmel und auf Erden. Nach christlichen Begriffen schlang die Liebe nicht nur in dieser Sichtbarkeit einen unauflöslichen Knoten, sondern auch das Band der Freundschaft in einer ewigen Welt. Durchs Christenthum sahe man dort lichtere Gegenden vor sich als den traurigen Orcus; in ihnen besang Dante seine Beatrice, Petrarca eine himmlische Laura u. s. w.
Das unvollendete Fragment vom Werthe der Poesie mittlerer Zeiten möchte ich, gleichfalls für und wider, mit Vortheil und Nachtheil also ergänzen:
Erstens. Fügt man dem Vorigen hinzu, daß die Poesie der mittleren Zeiten nach und nach mit mehreren Wissenschaften bekannt ward, als jene Poesie der Jugendwelt je kennen lernen konnte, so war ihr hiemit, eben wie bei Andacht, Liebe und Ehre, ein großer, aber auch ein sehr gefährlicher Knäuel in die Hand gegeben. Sie konnte daraus Vieles entwickeln, aus jeder Wissenschaft sich zu eigen machen, was für sie diente; jede Erfindung, jedes neuentdeckte Land stand ihr zu Gebote. Sie konnte aber auch auf diesem Wege zu gelehrt, spitzfindig und scholastisch werden; und wäre sie es nicht hie und da reichlich geworden?
Der größere Boden von Wissenschaft indeß, den der menschliche Geist gewann, war ein beträchtliches Erwerbniß. Die neuere Poesie hat davon Nutzen gezogen und wird davon Vortheile ziehen, so lange Wissenschaften wachsen, Erfindungen sich mehren, so lange der menschliche Geist fortschreitet. Nicht vergebens hat der Vater der neueren Dichtkunst, Dante, mit einem Werk begonnen, das eine Art von Encyklopädie des menschlichen Wissens über Himmel und Erde enthält; er hat seinem von jeder Vorzeit unterrichteten Kinde hiemit den Weg eines immer fortschreitenden Verdienstes gewiesen.
Zweitens. Und da in der mittleren Zeit viele Nationen, die gesammten Völker des römisch-christlichen Europa, auf einem Kampfplatz des Ruhms standen und durch mehrere Verbindungen in einer Schule der Unterweisung lernten, so bekam, ungeachtet aller Nationalunterschiede von Sitten und Sprachen, die europäische Poesie und Lehre hiemit eine gemeinschaftliche Richtung. Mit so vielem Unreinen sie hie und da vermischt war, so trug sie allenthalben dazu bei, das Schwert der Barbaren, das noch nicht gestumpft war, einzuhalten, zu weihen, zu veredeln. Rittern und edlen Herren ward ein Kranz des Ruhms und der Verdienste vorgehalten, ohne welchen sie, wie die Geschichte mehrerer Länder zeigt, harte Herren, Trunkenbolde, räuberische stolze Barbaren blieben. Selbst die Griechen des östlichen Kaiserthums, die an den Rittergesetzen der Westwelt keinen Antheil nahmen, erlaubten sich Niederträchtigkeiten gegen Feinde und Ueberwundene, die in Spanien, Italien und Frankreich kein Ritter sich jemals erlaubt haben würde. Als üppige Treulose gingen sie unter.
Alles also, was Menschen, Stände und Völker mit einander verband, was die Geschlechter einander freundlich, Gemüther einander geneigt machte, was zu einem gemeinschaftlich anerkannten Zweck und gleichsam zu der Lehrform beitrug, nach welcher man von Jugend auf, wenngleich auf rohe Weise, der Tapferkeit, Liebe und Andacht huldigen lernte, offenbar bahnte dies der Menschenliebe oder zuvörderst jener christlichen Herzensgüte den Weg, die als Carità die Grazie der Grazien ist und jede Huldigung verdient. Die Poesie des Mittelalters wirkte zu diesem Zweck unverkennbar.
Aus den Händen der Araber hatten die Europäer Andacht, Liebe und Tapferkeit als einen Kranz der Ritterwürde empfangen; sie verschönten ihn nach christlicher Weise.
Und da gerade diese Poesie es war, die auch das Volk nicht verachtete, die sich auf öffentlichen Plätzen und Märkten hören ließ und durch Geist, Witz und Spott eigene Gedanken und ein freies Urtheil auch über Zeithändel, über die Sitten geistlicher und weltlicher Stände, über das Verhältniß derselben gegen einander weckte: so ward, wie die Geschichte zeigt, Poesie der erste Reformator. Immerhin wird dies auch die fröhliche Wissenschaft (gaya ciencia, gay saber) sein und bleiben.Ich weiß es sehr wohl, daß zum innern Verständniß dieser Fragmente und Briefe eine Kenntniß nicht nur der Geschichte, sondern auch der Dichtungen aller mittleren Jahrhunderte gehört, und ich stand lange bei mir an, ob ich nicht hie und da, so wie von christlichen Hymnen, so auch von Arabern, Provençalen, Italienern, Franzosen und Spaniern Proben einrücken sollte. Das Buch hätte sich vergrößert, ich fürchte aber, nicht der innere Verstand dessen, was hier vorgetragen ist; denn die Producte des Geistes, worauf sich das Vorgetragene bezieht, müssen im Zusammenhange erwogen und nach so vielen National- und Zeitumständen unterschieden werden, daß der Commentar hierüber ein neues, siebenfach größeres Buch geworden wäre. Entweder muß der Leser also den Verfassern dieser Fragmente und Briefe glauben, oder er muß die Früchte genannter Zeiten selbst kosten, zu denen ihm J. A. Fabricius in seiner Bibliotheca Latina medii aevi, Hamberger im dritten und vierten Theil seiner »Zuverlässigen Nachrichten von den vornehmsten Schriftstellern«, und die Geschichte jeder Nationaldichtkunst dieser Völker das Verzeichniß liefert. Beides, sowol Briefe als Fragmente, sind Resultate von so mancherlei Untersuchungen und Zusammenstellungen, daß nur Der ein Urtheil darüber haben kann, der denselben weiten Weg gegangen, den die Verfasser dieser Aufsätze genommen zu haben scheinen. – H.