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Auch die griechische Kunst ist eine Schule der Humanität; unglücklich ist, wer sie anders betrachtet.
Als die Natur, die sich in allen ihren Hervorbringungen einwohnend und lebendig offenbart, auf unsrer Erde zur höchsten Höhe ihrer Wirkung stieg, erfand sie das Geschöpf, das Mensch heißt, in dessen Gliederbau sie alle Regeln der Vollkommenheit, nach denen sie in ihren andern Werken, theilweise und zerstreut, mit ungeheurer Kraft und unübersehlichem Reichthum gearbeitet hatte, im kleinsten Raum, im wirksamsten Leben zusammendrängte. Kräfte, die sie in andern Elementen, dem Wasser, der Luft, oder auch auf der Erde in großen Organen auszubilden sich Zeit und Raum nahm, deutete sie im Menschen oft nur an, ordnete aber alle diese Millionen Kräfte und Gefühlsarten in ihm so künstlich, so harmonisch zusammen, daß er nicht nur als ein Inbegriff aller dieser Fühlbarkeiten unsrer Erde, wenn mir der Ausdruck erlaubt ist, sondern auch als ein Gott dasteht, der diese in ihr zusammengedrängten, in seiner Natur begriffenen Gefühle selbst zusammenstellt, schätzt und ordnet. Die ganze Natur erkennt sich in ihm wie in einem lebendigen Spiegel; sie sieht durch sein Auge, denkt hinter seiner Stirn, fühlt in seiner Brust und wirkt und schafft mit seinen Händen. Das höchstästhetische Geschöpf der Erde mußte also auch ein nachahmendes, ordnendes, darstellendes, ein poetisches und politisches Geschöpf werden. Denn da seine Natur selbst gleichsam die höchste Kunst der großen Natur ist, die in ihm nach der höchsten Wirkung strebt, so mußte diese sich in der Menschheit offenbaren. Der Bildner unsrer Gedanken, unsrer Sitten, unsrer Verfassung ist ein Künstler; sollte also, da Kunst der Inbegriff und Zweck unsrer Natur ist, die Kunst, die sich mit dem Gebilde des Menschen und allen ihm einwohnenden Kräften darstellend beschäftigt, für die Menschheit von keinem Werth sein?
Von einem sehr hohen Werthe! Sie hat nicht nur Gedanken, sondern Gedankenformen, ewige Charaktere sichtbar gemacht, die mit solcher Energie weder Sprache, noch Musik, noch irgend eine andre Bemühung der Menschen ausdrücken konnte. Diese Formen ordnete, reinigte sie und stellte sie selbst in deutlichen, ewigen Begriffen dem Auge jedes Sehenden für alle Zeiten dar, in welchen sich Menschheit in diesen Formen genießt und fühlt, in welchen Menschheit nach diesen Formen wirkt. Sie giebt uns also nicht nur eine sichtbare Logik und Metaphysik unsers Geschlechts in seinen vornehmsten Gestalten, nach Altern, Sinnesarten, Neigungen und Trieben, sondern indem sie diese mit Sinn und Wahl darstellt, ruft sie als eine zweite Schöpferin uns schweigend zu: »Blicke in diesen Spiegel, o Mensch! Das soll und kann Dein Geschlecht sein. So hat sich die Natur in ihm mit Würde und Einfalt, mit Sinn und Liebe geoffenbart. Also erscheint das Göttliche in Deinem Gebilde; anders kann es nicht erscheinen.«
Auf diesem Wege gingen die Griechen; zu dieser Idee arbeiteten sie hin. Ohne ihre Kunst würden wir manche Gedanken ihrer Dichter und Weisen nicht verstehen; als öde Worte schwebten sie vor uns vorüber. Nun hat sie die Kunst sichtbar gemacht und damit auch den ganzen Geist der Composition ihrer Schriften, den Zweck ihrer Sittenformung, und was sie sonst unterscheidet, in anschaulichen Bildern dem menschlichen Verstande vorgestellt, kurz, anschauliche Kategorien der Menschheit gegründet. Davon verstanden nun freilich jene Barbaren nichts, die in einem Basaltkopfe Jupiter's nichts als den schwarzen Kopf eines Satans, im schönen Apollo einen wahrsagenden bösen Geist und in der himmlischen Aphrodite eine unzüchtige Dirne zerstörten. Der einzige Begriff, daß alle diese Kunstwerke Gegenstände der Abgötterei, Behausungen orakelgebender, lustverführender, böser Dämonen seien, hing wie ein schwarzer Nebel vor ihren Augen, daß sie den wahren Dämon, das Ideal der Menschenbildung in ihren reinsten Formen, nicht zu erkennen vermochten. Auch Keinem von Denen wird er sichtbar, die in der Statue nur die Statue, in der Gemme den Edelstein und in Allem nur Pracht, Zierrath, herkömmlichen Geschmack oder Alterthums- und mechanische Kunstkenntnisse suchen. Am Weitsten entfernt davon eine falsche und enge Theorie, die sich gegen jede Aeußerung und Offenbarung des menschenfreundlichen, wahrheitdarstellenden Gottes hinter Wortlarven mit einem kalten Stolze brüstet. Zu uns wird der Dämon der Menschennatur aus den Werken der Griechen rein und verständlich sprechen können; denn wir werden ihn mitfühlend, sympathetisch hören. Schwärmerei und Begeisterung können uns hier nicht helfen, wo es auf helle Begriffe über die Frage ankommt: »Wie zeigt sich der Genius der Menschheit? auf wie verschiedene Art in Hauptformen? welches sind unter diesen die höchsten Punkte, gleichsam die consonen Stellen der gespannten Saite, in welchen Harmonie tönt?« Hätten Sie Lust, mit mir unter diesen Himmel glänzender Sternbilder zu treten? Nur aus einem tiefen Thale kann ich von fern auf sie weisen; dennoch aber wird sich Ihr Geist beflügeln, daß Sie ausrufen: »Siehe da den hellen Zodiakus der sichtbar gewordenen bedeutenden Menschheit!«
Die erste Kindheit, als ein noch unreifes Gewächs der Natur, haben die Griechen seltner gebildet. Hercules an der Brust der hohen Juno ist die einzige mir erinnerliche Darstellung eines Säuglinges, obgleich mehrere Kinder in Armen zart getragen werden. Sei es, daß sie diese süße Pflicht der Mutter zu den Geheimnissen der häuslichen Kammer rechneten, die nicht jedem Blick offen stehen müßte, oder daß sie solchen Geheimnissen lieber das Gebiet der Malerei anwiesen, indem diese eine Mutter und ihr Kind durch Blick und Liebe so viel sanfter in Eins zu verschmelzen weiß: gnug, das bloße Bedürfniß eines bedürftigen Wesens gaben sie bildend weniger dem Auge preis. Die schönen Kinder, die die griechische Kunst schuf, waren schon in Spielen begriffen, in Neckereien mancher Art, am Liebsten mit einem sanften Thier, einem Vogel, mit einem Neste von Vögeln oder mit Früchten. Diese Vorstellung setzt uns jedesmal in das Leben der Kinder, in die unschuldigen Vergnügungen der Kindesjahre. Ihre Natur athmet die volle Gesundheit, die offne Fröhlichkeit, die uns Kinder so lieb macht.
Die höchste Idee aller Kinder – was konnte sie also sein? Im Himmel und auf Erden nichts anders als Eros, Amor, Unschuld und Liebe. Sind Kinder nicht sichtbar gewordene Darstellungen eines Moments der Liebe, in dem sie ihr Wesen empfingen? Und in welche Gestalt konnten die mancherlei Spiele und Neckereien, die Vergnügen und Unbesonnenheiten, die uns die Liebe spielt, die wir ihr unschuldig spielen, besser gekleidet werden als in die Gestalt des Kindes oder Knaben Amor's? Bei den Dichtern, insonderheit des Idylls oder der Fröhlichkeit und Freude, hatte er so viele Scherze begonnen; er begann sie auch in der Kunst, und aus manchen Vorstellungen derselben wäre noch viel Niedliches zu dichten. Seine Geschichte mit der Psyche ist der vielseitigste, zarteste Roman, der je gedacht ward, über den schwerlich etwas Höheres auszudenken sein möchte; auch seine Tändeleien mit der Mutter und mit andern Göttern sind voll Grazie und Schönheit. Setzt man nun hinzu, daß die meisten dieser Spiele Amor's und seiner Gesellen, die man Liebesgötter oder kindliche Genien zu nennen pflegt, nur zur Verzierung, auf schmalen Basreliefs, wo ihnen der Ort ihre Kleinheit erlaubte, ja solche nöthig machte, oder auf geschnittenen Steinen, Siegelringen und sonst an Plätzen oder Plätzchen vorkommen, an denen diese Tändeleien ein angenehmes Mehr als nichts waren, so tritt Amor mit seinen Brüdern gerade in das Licht, in welchem er auf der Tafel der Menschheit zu stehen verdient. Der kleine Gott der Götter wird ein Amulet der Brust oder ein angenehmes Nebenwerk, das sich hie und da einschleicht, das man immer gerne sieht, und den man zum verschwiegenen Boten lieber als den Boten der Götter selbst braucht. Außerdem aber war Amor nicht ein Kind; ein schöner Genius war er, und Hymen sein Bruder.
Hiemit komme ich zu Euch, Ihr Genien der Jünglingschaft, schönste Blüthe des menschlichen Lebens. Was Winckelmann von Euch in seinen schönen Träumen gedichtet hat, ist kein Traum; auch der Name Genius, den man Euch gegeben, ist ein treffender Name; denn welcher holderen Idee könnte man am Geburtstage seines Daseins opfern? So dachte sich die Natur ihre schönsten Kinder, Engel in Menschengestalt, oder vielmehr Menschen, aus deren Gestalt man den Engel abzog. Süße Ruhe, holde Einfalt, ein nüchternes Insichgekehrtsein, dem das Leben selbst noch wie ein Traum der Morgenröthe vorschwebt, die unbefleckte Rose der Jugend, die noch von keinem Sturm gebrochen, von keiner Mittagssonne versengt ist, o wie liebe ich Euch, Ihr zarten Sprossen der Menschheit, und ehre mich, daß ich Euch liebe! Ein Blick auf Dich, Du Vatikanischer oder Borghesischer Genius, vernichtigt die Verleumdungen, die man über die Liebe zu Jünglingen den edelsten Griechen gewacht hat; wie rein war die Idee, in welcher diese Geschöpfe, die Blüthe der Menschheit, gedacht und gebildet wurden!
Es haben Einige ein Trauriges, einen düstern Zug an diesen Genien bemerken wollen; sie haben aber, wie mich dünkt, Zeiten und Gattungen verwirrt. Die Antinous haben freilich einen düstern Zug, wie sie auch ihrem Urbilde nach haben sollten; so wie überhaupt die Kunst zu Hadrian's Zeiten schon sehr repräsentirt und aus sich selbst heraustritt. Aber jene Genien einer ächten Gattung sind in sich gesenkt, als ob keine Welt um sie wäre, und fühlen sich im leisesten Selbstgenusse zufrieden. Die Idee der Traurigkeit, die wir in sie legen, kommt wahrscheinlich von uns selbst her; wir empfinden ihre Blüthe nämlich auf so zarter Sprosse, daß uns, mitten im Genuß, der Unbestand derselben zu schmerzen anfängt. Wir, zumal fremde Nordländer, fühlen, der zarte Ton verhalle, die Rosenknospe entwickle sich und ersterbe. Das sollten wir indeß nicht fühlen, vielmehr dem Schöpfer der Natur danken, daß er uns eine solche Blüthe menschlichen Daseins zeigte. Was Anakreon und die Anthologen,Die Dichter der Anthologie. – D. was Sappho, Platon und, wenn er noch vorhanden wäre, Ibykus von schönen Jünglingen gedichtet und gesungen haben, bliebe uns ohne diese sichtbar gewordenen Ideen vielleicht ein leerer Hall, an den wir kein Bild heften könnten; jetzt überzeugt uns das Auge von der Wesenheit jener lieblichen Träume und bestimmt sie uns in Bildern.
Das männliche Geschlecht ging in der Kunst der Griechen dem weiblichen vor; doch ward auch diesem sein reicher Antheil an der Kunst nicht versagt. Nymphen, Grazien, Horen, ja die Parzen, Furien und Medusa selbst empfingen ihr Antheil an dieser Blüthe jungfräulicher Jugendschönheit. Warum bist Du von Hercules' Knieen entrückt, Du Göttin mit der Schale ewiger Jugend, blühende Hebe? Ihr Horen um Jupiter's Haupt, Ihr Schwester-Grazien, die Ihr, in untrennbarer Liebe verschlungen, am Cephisusstrom Eure ewigen Tänze feiert, warum erscheint Ihr uns in Nachbildern, die uns nur Eure Idee gewähren? Indessen haben wir Figuren des Alterthums gnug, um den Begriff der weiblichen Jugendschöne aus ihnen zu schöpfen.
Und Ihr heiligen Musen, vor Allen Du, hochaufsteigende Melpomene, mit Deinem Antlitz voll edlen Unmuths und hoher Würde, so oft ich bei Euch (ungleich an Kunst, wie Ihr dastehet) im Vaticanischen Tempel war, dünkte ich mich, zwar nicht auf dem Parnaß zu sein und Eures begeisterten Führers Apollo Stimme zu hören; aber in der Gesellschaft reiner Wesen fand ich mich, deren Jede uns mit ihrer Bildung, mit ihrem Anstande, ihrer Aufmerksamkeit und Geberde mehr sagt, was Dichtkunst, Musik, Wissenschaft und Muse des Lebens sei, als eine Encyklopädie uns sagen könnte. Ihr kehrt den Blick gewaltig in uns und macht uns scheu, Euren Namen nur auszusprechen oder den Saum Eures Gewandes zu berühren. Im Capitolium rupft die Muse der Sirene mit Schmerz den Flügel, und in mehreren Darstellungen wird Marsyas dem Apoll ein gräßliches Opfer.
Wenn die griechische Kunst der weiblichen Jugend Grazientanz, fröhlichen Leichtsinn oder Schüchternheit, Spröde, endlich jenen noch ungebändigten Stolz zum Charakter gab, den mehrere griechische Dichter in Worten charakterisirt haben, so sei es erlaubt, mich von ihnen zu einer unglücklichen Familie zu wenden, die für mich in ihrem heiligen Stil die hohe Tragödie der Kunst ist, Niobe mit ihren Kindern. Ich will sie mit Worten nicht entweihen; aber einige Töchter und einige Söhne machen einen so reinen und tiefen Eindruck, daß jeder Vater, jede Mutter wünschen müßte, Kinder ihrer Art zu erzeugen, jede Braut und jeder Bräutigam, sich in diesem Geschlecht zu verloben. In dem Zimmer zu Florenz, wo ich mich mit den Eingekerkerten einschloß, kamen mir alle Unglücksfälle vor Augen, die je auf Erden eine schuldlose schöne Familie betroffen haben möchten; statt aller stand sie mir da, im Mutter- und Jugendschmerz eine heilige Krone.Vgl. Herder's Werke, I. S. 237 f. – D.
Soll ich nach ihr alle Scenen durchgehn, wo Empfindungen der Bruder- und Schwester-, der Freundes- und Gattenliebe in stummen Bildern rührend dastehn? Nie bin ich, Ihr schönen Jünglinge, die man Orest und Pylades nennt, nie von Euch, Ihr stillen Vertrauten, die man als Hippolytus und Phädra fälschlich anklagt, nie von so mancher andern Gruppe, da sich auf dem Grabsteine noch, das Kind in ihrer Mitte, liebende Hände den Bund der ewigen Treue schwören, weggegangen, ohne daß mein Herz durch die Innigkeit der Gefühle, die aus diesen Gebilden sprachen, innig erweicht war.Vgl. Herder's Brief an seinen Sohn August in den »Erinnerungen«, III. 291 ff. – D. Ich war in einer andern Welt gewesen und sprach zu mir: »Könntest Du mit ihnen leben und wärest Einer derselben! Der ganze Habitus der Menschheit, wäre er in Unschuld, Liebe und Einfalt noch nach diesem Bilde gebildet!« Solche Gefühle hatten mir zur Aufmerksamkeit auf Alles, was diese meine geliebten Menschen anging, auf die Verhältnisse ihrer Glieder, ihren Stand, ihre Geberde und Sitte, den Grad der Leidenschaft, dessen sie fähig schienen, auf ihre Kleidung und ihren Wink das Auge geschärft. Soll ich Ihnen aus dieser stummen Schule der Humanität Einiges noch erzählen?Ich darf voraussetzen, daß den Lesern dieser Briefe die in ihnen angeführten Denkmale der Kunst, wenn nicht in den Urbildern, so doch in Abgüssen, Abdrücken, Zeichnungen, Kupfern oder aus Beschreibungen, z. B. in Winckelmann's »Geschichte der Kunst«, Stolberg's »Reisen« u. A., endlich wenigstens aus der Mythologie bekannt sind, ihnen also eine Classification nach der reinsten und höchsten Bedeutung nicht unangenehm sein werde. – H.
Von Menschen komme ich zu Helden- und Göttergestalten, ob ich deren gleich auch schon einige vorübergehend berührt habe; wir betrachten sie hier, wie sie es auch waren, als reine Formen der Menschheit.
Jeder Held erscheint in seinem Charakter. Der schöne Kopf, den man den Achilles nennt, sowie Ulysses, Ajax u. s. w., sie zeigen, in welcher hohen Idee die Griechen sich jene Helden Homer's gedacht haben. Und hierin sind sie im gehörigen Maaß des Abstandes von so vielen Köpfen der Dichter, der Dichterinnen und Weisen nicht verschieden; die meisten davon sind idealisch gebildet, nicht weniger als Apollo und die Musen. Eben aber durch diese idealische Formerfindung werden sie lehrreich. Man sieht, wenn das Bild alt und ächt ist, wie die Kunst sich aus dem Inbegriff der Gesänge und Sagen einen Homer, wie sie sich einen Pythagoras und Plato dachte.
Der Held der Helden ist Hercules; er ist es auch in der Kunst, sofern diese ihr Ideal nicht höher hinauftreibt, als daß sie unbezwingbare Stärke, unerschöpfliche Kräfte in einem Menschenkörper darzustellen zum Zweck hat. Mittelst solcher Glieder hat er seine Thaten gethan und den Olymp ersiegt; die Fabeln hievon hat die Kunst mit großer Energie ausgebildet. Hercules in mehreren seiner Gefahren, insonderheit wie er den Höllenhund bezwingt, gab eine schöne Gruppe, und sein Torso, in welchem er von seinen Mühseligkeiten ausruht, ist durch Michael Angelo der neuern Kunst ein großes Vorbild worden. Köpfe vom jungen Hercules sind von unbeschreiblicher Schönheit, und seine Jole, Omphale Dejanira sind von der Kunst und Dichtkunst sehr wohl gebraucht worden. Da indessen die bloße Uebermacht körperlicher Stärke in der menschlichen Natur noch kein höchstes Ideal giebt, eine wohlthätige Güte aber in Hercules' Thaten schwerlich sichtbar gemacht werden könnte, so ging seine Idee gleichsam mit der Zeit nicht mit; er blieb ein Kolossus der alten Fabel. Uns zumal dünken seine riesenhaften Schenkel auch in Glykon's Kunstgebilde ungeheuer und geistlos.
Lieber verweilen wir z. B. an Laokoon's Bilde. Der heilige Mann, der durch seinen verständigen Rath ein Retter des Vaterlandes werden wollte und dadurch die feindliche Göttin erzürnte, wird mit seinen geliebten Kindern, die am Altar neben ihm dienen, von ungeheuren Schlangen ergriffen und mit Jenen zu einer Todesgruppe verschlungen. Sein Arm, seine Brust, seine Seele hat ausgekämpft; das Gesicht gen Himmel gekehrt, athmet er sie aus in einem unermeßlich tiefen, langen Seufzer. Fürchterlich schöne Gruppe; ein Ideal der Kunst auch für das Gefühl der Menschheit. Reiner kann schwerlich ein Märtyrer gedacht, rührender und zugleich bedeutend schöner im Kreise der Kunst schwerlich vorgestellt werden. Die Schlangen verunzieren nichts, und in ihren Banden macht der stumme Seufzer des Leidenden eine Wirkung, die St. Sebastian, Lorenz und Bartholomäus nicht gewähren mögen. Hercules auf dem Berge Oeta war zu solchem Zweck nicht bildsam. Zu welcher schrecklichen Sprache könnte der Seufzer Laokoon's lautbar gemacht werden, wenn wir ihn wie den Philoktetes auf Lemnus jammern hörten!Vgl. Herder's Werke. I. S. 236 f. – D.
Nicht aber Laokoon, Ihr seid meine Helden der Kunst, Kastor und Pollux auf dem Quirinalischen Berge; in Euch lebt mein Pindar. Großes Werk, eines Phidias und Polyklet's nicht unwürdig, uns wenigstens außer Griechenland und nach dessen zerstörten Heiligthümern statt der Werke des Phidias und Polykletus.Ebendaselbst, S. 234. – D. »Lebten Menschen wie Ihr?« fragte mein emporklimmender, umwandelnder Blick. »Nein!« antwortete der Geist, der Euch umschwebt; »aber uns dachten, uns bildeten Menschen. Heldenjünglinge wie wir waren einst in der Seele vieler junger Männer und Helden. Auch den Dichtern sind wir erschienen, und das Vaterland hat auf uns gerechnet.« Lebt wohl, Idole der Menschheit! Das Wetter ziehe Euch vorüber, und eine freche Faust müsse Euch nie berühren!
Ehe wir höher hinaufsteigen, lassen Sie uns auf dieser Höhe des Heldenideals verweilen! Zu den Füßen dieser göttlichen Menschen sitzen wir nieder, die Idee des Weges zu sammeln, den wir zurückgelegt haben.
Die griechische Kunst kannte, ehrte und liebte die Menschheit im Menschen. Den reinen Begriff von ihr zu erfassen, hatte sie sich auf vielseitigen, mühsamen Wegen, über schroffen Felsen, durch tiefe Abgründe mit manchen Uebertreibungen und Härten unablässig bestrebt, bis dann selbst diese übertreibende Mühe, die die Wahrheit um so schärfer verfolgte, nicht anders als zum Gipfel der Kunst führte. In allen Menschenaltern und jeder ihrer merkwürdigsten Situationen in beiden Geschlechtern hatte sie die Blüthe des Lebens gewonnen, die auf solchem Stamme blüht; denn die Griechen besaßen noch Einfalt des Geistes, Reinheit des Blickes, Muth und Kraft gnug, diese als eine vollständige, durch sich bestehende Idee in ihren Werken darzustellen und zu vollenden. Im Kinde dachten und bildeten sie die Kindheit, im Jünglinge den Frühling des Lebens, im Manne den Göttersohn voll Selbstgenusses in Kraft und Würde. An dieser Heldenidee nahm auch das weibliche Geschlecht Theil, wie jene schönen Bilder der Amazonen zeigen, deren manche im Geist eine Schwester des Kastor und Pollux zu sein verdiente. Nachdem in allen diesen Formen die Kunst der reinen Idee Selbstständigkeit, Würde, eine in allen Theilen lebendig gewordene Bedeutung gegeben und sie von jedem Ungewissen, schwankenden oder fremden Beiwerk wie durchs Feuer gereinigt hatte, so war von diesen Gebilden nothwendig auch jene Kraft, die ausfüllend zum Verstande und zum Herzen in höchster Einfalt spricht, unabtrennlich. Der Zwang der Materie war überwunden; Geschlecht, Alter, Charaktere waren in ihrer Verschiedenheit und leisen Angrenzung aufs Sicherste bemerkt; und mit gegebenen großen Vorbildern in jeder Art und Gattung waren dauerhafte Kategorien der edelsten und schönsten Menschenexistenz geordnet. Auf wie wenige Hauptformen tritt die formreiche menschliche Natur in Gesinnungen, Leidenschaften und Situationen zurück, wenn wir sie mit dem weisen und nüchternen Auge der Griechen ansehn! Der biegsame, kraft- und schönheitreiche Gliederbau der Menschheit, in wie wenige Hauptbedeutungen löst er sich auf, sobald die Seele Kraft hat, diese in jedem Theil, in jeder Stellung ganz zu behaupten! Unvergeßlich und ewig lehrreich sind mir die Stunden, da ich vor den Kunstgebilden der Alten, wenn mir der Ausdruck erlaubt ist, die Mechanik und Statik menschlicher Seelenkräfte im menschlichen Gliederbau ruhig betrachtete und abwog. Welche Freuden schöpfte ich in Erwägung der Symmetrie und Eurhythmie, noch mehr aber der schönen Gegenstellung, die in Ruhe und Bewegung nach verschiedener Art der Charaktere diesen göttlichen Körpern mitgetheilt ist, also daß sich die Seele liebreich strenge, bis im Wurf des Gewandes und in seinen Falten, wie ein wehender Geist offenbart! Ihr habt unsre Natur gekannt und geadelt, Ihr Griechen; Ihr wußtet, was das menschliche Leben in seinen vorübergehenden Scenen sei, das Ihr auf so manchen Sarkophagen ebenso richtig und wahr als einfältig und rührend vorgestellt habt. Da erfaßtet Ihr die Blüthe jeder flüchtigen Scene und heiligtet sie in einem nie verwelkenden Kranz der Mutter des Menschengeschlechtes. Wenn unsre Art je so entartet werden sollte, daß wir diese innere Kraft und Anmuth der Menschheit, das hohe Siegel unserer Existenz, gar nicht mehr erkennten, dann zerbrich, o Natur, die Form Deines ausgearteten edelsten Geschöpfes! oder vielmehr sie zerbräche von selbst und zerfiele in Staub und Scherben.
Und wodurch kamen die Griechen zu diesem Allen? Nur durch ein Mittel: durch Menschengefühl, durch Einfalt der Gedanken und durch ein lebhaftes Studium des wahrsten, völligsten Genusses, kurz, durch Cultur der Menschheit. Hierin müssen wir Alle Griechen werden, oder wir bleiben Barbaren.
Mit heiligem Ernst treten wir zu Olymp hinauf und sehen Götterformen im Menschengebilde. Jede Religion cultivirter Völker, die christliche nicht ausgenommen, hat ihren Gott oder ihre Götter mehr oder minder humanisirt; die Griechen allein wagten es, humanisirte Gottheiten, ihrer und der Menschheit würdig, in Kunst, d. i. auf eine dem Gedanken rein und völlig entsprechende Weise darzustellen. Oder vielmehr sie läuterten alles Schöne, Vortreffliche, Würdige im Menschen zu seiner höchsten Bedeutung, zur obersten Stufe seiner Vollkommenheit, zur Gottheit hinauf und theificirten die Menschheit. Andre Nationen erniedrigten die Idee Gottes zu Ungeheuern; sie huben das Göttliche im Menschen zum Gott empor.
Unten sahen wir einen Reiz der Jugend, dessen flüchtige Blüthe wir bedauerten; unter den Göttern ist er verewigt, eben dadurch, daß er aufs Höchste geläutert ward. Als das himmlische Sinnbild aller Jünglingsgenien auf Erden steht Dionysos hier, dessen zarte Idee die niedern Sterblichen so mißkennen, daß ich seinen Namen Bacchus kaum zu nennen wage. Er ist die sichtbar gewordene ewige Fröhlichkeit, im Genusse sein selbst, ohne Anstrengung und dennoch mit der leichtesten Elasticität ein süßer Beglücker der Götter und Menschen. Im schönen Charakter dieses thätigen süßen far niente rettete er einst den Olymp und cultivirte die Welt durch Gaben und Geschenke. Sein Dasein ist ein ewiger Triumph unter Trauben, mit denen er die Sterblichen erquickt und getröstet hat, unter dem ewigen Freudenliede jauchzender Mänaden.
Und an seiner Seite senkt den liebetrunknen Blick auf ihn die durch ihn gerettete selige Ariadne. Von ewigem Dank und innigem Ergehen strömt der gerührte Blick, den keine Mänas, keine Baccha mit ihr theilt. Ohne Kinder, in seligem Anschaun des Genusses feiern die Zwei ihr unzerstörbares Triumphleben, in welchem Bacchus selbst die Blüthe der Weiblichkeit in seiner Natur genießt. Lebt wohl, Ihr glücklichen Beiden, Du Gerettete und Du ihr Retter! habt viel Nachfolger auf der Erde, die unter Scherz und Freude die Menschheit beseligen, die retten und wohlthun, ohne daß sie es Zwang kostet! Den Triumphwagen solcher Gemüther umjauchzen dankende Chöre. Schöne Statuen sind vom Bacchus da, und das Capitolinische Haupt der Ariadne ist ganz ihr Charakter.
Neben Bacchus steht Apollo, das höchste Symbol aller Heldenjünglinge der Menschheit. Ueber Kastor und Pollux erhaben ist seine Gestalt, ein sichtbar gewordener Heldengedanke. Seine Thätigkeit ist Blick, Gang, Dasein, Sieg mit der Schnelle des Pfeiles. Und dieser kühne, rasche, selbst zornige Jüngling rührt in andern Gestalten die Leyer, der alle Musen horchen. Ihr horcht der Schwan oder Greif zu seinen Füßen, ihr horcht die Natur. Aller Musen Künste sind diesem Heldenjünglinge eigen, der ein Ideal griechischer Cultur ist zur thätigen und musenhaften Heldenjugend. In seinen drei Hauptstellungen, als Sieger, Sänger und ruhender Jüngling, ist er immer Apollo, auch wenn er sanft angelehnt nur die Eidechse tödtet.
Und neben ihm seine unermüdliche Schwester Diana. Sie, die Jungfräulichkeit, daher auch die Keuschheit und immer muntre Thätigkeit selbst, ohne welche jene nicht bestehn konnten. In der grünenden Natur, mit Nymphen umgeben, eine Göttin unter den Nymphen, eilt sie dahin wie ein jugendlicher Hirsch, unbewußt ihrer Schönheit; ihr Blick ist in der Ferne. Und wenn in ihrem Herzen der Funke der Liebe zündet und sie den Endymion belauscht, wie rein und stille verschwiegen ist dieser Anblick! wie rührend stellte ihn auf Grabmalen die griechische Kunst vor! Jünglinge und Mädchen sangen das Lob des Apoll's und der Diana in Wechselchören; denn beide Gottheiten waren das Abstractum ihrer Tugend. Erst nur wenn Hymen den Gürtel der Jungfrau löste, trat die Verlobte aus dem Dienste der strengen Diana ins Gebiet der schamhaften Aphrodite. In Apoll's schönen Darstellungen ist also eine der höchsten Zierden menschlicher Tugend erhalten; und wenn die Bildnisse der Schwester dem Ideal des Bruders nicht gleich sein möchten, so verleugnet dennoch keine Vorstellung den Charakter einer Artemis oder der sanfteren Luna.
Eine dritte Jünglingsart steht dort an der Pforte des Olympus; es ist Mercur, der Gott schlauer Beredsamkeit, der behendesten Betriebsamkeit in allen Geschäften. Er hat den Apoll überlistet, hat mancherlei Anschläge erfunden und trägt den Beutel. Auch trägt er Botschaften und geleitet die Seelen selbst zum Orcus, geflügelt an Füßen und Haupte. Es ist ein geschäftiger, munterer Gott, das Haupt einer großen Gemeinschaft, die in ihm personificirt ist, ein unentbehrlicher Gott im Himmel und auf der Erde. Fabel und Kunst haben ihn so vollkommen ausgebildet als den Jupiter oder die Minerva; er ist aber ein Erdgeborner, der Maja Sohn, subaltern an Dienst und Charakter. Wir wollen den schönen Gott, schön an Haupt, an Füßen und Händen, nicht ohne Betrachtung vorbeigehn. Bemerken Sie, wie er lauscht, wie er mit sich selbst und seinem Schlangenstabe und seinem Hahn und Beutel so ganz Eins ist, ein vortrefflicher Gott an der Pforte.
Dir nahen wir uns, himmlische Aphrodite, unübertroffenes Ideal des weiblichen Liebreizes, einer sittlichen Schönheit. Aus der Welle des unruhigen Meeres stiegst Du hervor, vom lauen Zephyr getragen; da legten sich die Wellen, Deine sittsame Gegenwart machte sie zum Spiegel der Lüste. Bescheiden trocknetest Du Dein Haar, und jeder fallende Tropfe Deines irdischen Ursprunges ward ein Geschenk, eine Perle der Muschel, die Dich wollüstig in ihrem Schooß wiegte. Du stiegst zum Olymp, und die Götter empfingen Dich in Deiner Gestalt; denn sie selbst war Deine Hülle; die Grazie, mit der Du Dich, durch und durch sichtbar, dem Auge unsichtbar zu machen weißt, diese in sich gehüllte Scham und Bescheidenheit ist Dein Charakter. Auch auf dem häuslichen Altar der Griechen standst Du nicht anders als unter diesem Bilde; denn nur Scham kann Liebe erwecken und zeugen. Es ist ein verfehlter Charakter, wenn Aphrodite zurückblickt oder sich mit Wohlgefälligkeit zeigt; ihre Schönheit ist die, daß sie, sich vor ihr selbst gleichsam und vor Allem verbergend, Himmel und Erde entzückt, dem wegschlüpfenden Thautropfen einer jungen Rose ähnlich, in dem sich die anbrechende Morgenröthe spiegelt. Das bedeutet ihr Apfel, das ihre Taube; dahin hat sie der Sinn der Griechen, selbst mit ihrem zu kleinen Köpfchen und was man sonst an ihr tadelte, gedichtet. Bescheidenheit und eine kunstlose Scham, die selbst die höchste Kunst ist, sind und wecken den Liebreiz. Es giebt keine feinere Zunge dieser Wage.
Neben ihr stehe die verschleierte Vesta. Als die große Mutter der Natur kennen wir sie nur auf Gemmen oder in der Flamme ihres Altars; aber ihre Vestalen, die Dienerinnen ihres heiligen Herdes, sind uns ehrwürdige Jungfrau-Matronen. Aus jeder Falte ihres Gewandes hätten Nonnen und Heilige lernen können, was zu beobachten sei, um in einer reinen Menschheit also ehrwürdig zu erscheinen, daß man bei einer kaum sichtbar gewordnen Hand und dem engelreinen Antlitz den großen dichten Schleier heiliger Gelübde verehrt.
Wieder lasse ich mich am Kuß dieser Vestale nieder und frage: »Was helfen uns diese Bilder? diese so groß und rein und richtig bestimmten Menschenideale?« – und antworte mir selber: »Viel! sehr viel!«
Dort nahm Pallas dem Diomed die Wolke vom Auge hinweg, daß er einen Gott und einen Sterblichen unterscheiden konnte; eben diese Wohlthat wird uns durch dies Studium der griechischen Kunst gewährt. Leibhaft wandeln unter uns keine Apollos und Dianen umher; jene Anlagen des Charakters aber, die eine Diane oder Vestale, eine Ariadne oder Anadyomene, einen Mercur, Bacchus, Apollo, im höchsten Ideal gaben, sind in zerstreuten, oft sehr verworrenen Zügen vor uns. Diese Anlagen nur zu erkennen, ist eine Charakteristik menschlicher Denkarten und Seelenformen nöthig, die sich auf wilden Wegen schwerlich erlangen läßt. Sind Linneus' genera plantarum das Inventarium der Botanik worden, schätzt man seine nach Naturkennzeichen gegebnen Thierclassen hoch: sollte es nicht auch Menschenclassen nach Natureigenschaften geben? und wären diese, auf die reinsten Begriffe gebracht und in unzerstörbaren Formen dargestellt, nicht aller Betrachtung werth? Daß die Griechen den Menschen mit einem unbefangeneren, schärfern Blick angesehen haben als wir, wird Niemand leugnen; daß unsre Temperaments- und physiognomischen Einteilungen zu nichts Sicherm führen, muß Jedermann klar einsehn: warum liegen uns denn jene von Meistern erfundenen scharfen und großen Formen der Unterscheidung so weit ab? Warum sonst, als weil wir sie nicht verstehen oder zu gebrauchen nicht vermögen? Wir fühlen, daß der edelste Same, unter uns aufkeimend, kein Klima zum Aufkommen, geschweige einen Olymp zur Gottesgestalt findet, und tappen also fort im Nebel. Wenn aber die liebliche Scham, die seelenverhüllte Vestale oder Dianens keusche Tochter keinen Olymp verdienen, genießen sie nicht eines häuslichen Altars?
Eine reine Kritik dieser der erlesensten Menschenformen, die man Göttergestalten nennt, prüft und sichert unser Urtheil auch für alle sittlichen Compositionen. Von wie manchem Nebenbegriff bin ich frei geworden, wie manche Meinung habe ich vergessen lernen, seitdem die Kunst der Griechen, gestützt auf ihre Weisheit und Sittenlehre, meine Führerin ward! Demüthig wie ein Fragender zu Delphi frage ich mich: »Hat diese Composition, hat dies Urtheil, hat dies Werk einen Werth? haben sie einen sittlichen Charakter? Von welcher Art ist dieser? hoch oder niedrig? und ist er sich selbst treu, in sich beständig?« Durch diese ernsten Fragen, wie Manches lernt man vergessen und wegthun! Dies Urtheil über eine Composition z. B. kann nur auf zwiefache Weise, subjectiv und objectiv, ein Gewicht haben. Subjectiv, indem der Urtheilende den ganzen Sinn des Werkes, das er beurtheilt, treu erfaßt, ihn in allen Theilen festhält und dessen Bestandheit oder Unbestandheit wie in einem Kunstwerk zeigt. Objectiv, indem er uns das reine Richtmaaß vorhält, nach welchem und nach keinem andern es gebildet werden konnte und sollte. Thut der Urtheiler Keins von Beiden, oder verwirrt er beide Arten mit einander; ist er so schwach, daß er den Sinn des Gedankenwerks oder der Handlung weder zu begreifen noch darzustellen vermag, oder so anmaßend, daß er eine ungeprüfte mangelhafte, falsche Regel aus Unkunde oder Vermessenheit uns als ein Gesetz vorhält: wer wird darüber ein Wort verlieren? Seitdem ich über den Vaticanischen Apollo, über Laokoon und die tragische Muse, über das Ideal der Alten u. s. w. gehört und gelesen habe, was ich darüber gehört und gelesen, kümmern mich wenige Urtheile mehr, aber das Urtheil der Wenigen, die eine vollständige Idee des Werks als eines griechischen Kunstwerks haben, gehen mir auf Leib und Leben.
Was endlich die Anwendung dieser großen Gedanken betrifft, wozu sind die Bilder meiner Götter und Helden nicht angewendet worden? Das muß den Meister eines Werks nicht kümmern; gnug, sie stehen da und leben. Wenn ihr inwohnender Genius sie nicht schützt und aus ihnen spricht, so ist alle Wache und Fürsprache verloren.
Die Idee des Kriegesgottes unter dem Bilde des Mars (Ares) war den Griechen seit dem Homer nicht so geehrt, als sie es den Römern ward, die von diesem Gott ihr Geschlecht ableiteten. Seine Statue ist selten, und wo man sie dafür hält, wird sein Ansehn durch Ruhe oder durch Amor und Venus gemildert. Die nackte Idee eines Kriegers kann als ein unbestimmter Begriff kein hohes Ideal geben. Eben also Vulcan. Der Gott aller Künstler, der nur als ein Werkmeister bei seiner Arbeit vorgestellt werden konnte, war eines hohen Ideals unfähig. Prometheus selbst gab mit seiner Menschenbildung zu schöneren Ideen Anlaß, insonderheit unter dem Beistande der Minerva.
Feierlicher erscheint jene große und zärtliche Mutter, die Hausmutter der Erde, Ceres, Demeter. Ruhig und hausmütterlich ist ihr Anstand; wie erschreckt und eilig aber schwingt sie die Fackeln, wenn sie ihre verlorne Tochter Proserpina sucht! Diese Geschichte, eine der sinnreichsten und bedeutendsten des Alterthums, ist in ihren schönen Vorstellungen auf Grabmälern der Menschheit so lieb als die Geschichte Endymion's, der Psyche oder die Scenen des menschlichen Lebens von Prometheus an bis zum schüchternen Eintritt der Seele ins Reich des Aïdes. Traurig und milde thront Proserpina da, sie selbst eine geraubte Königin des Orcus.
Noch drei Göttercharaktere sind vor uns, Pallas, Jupiter und Juno.
Das Bild der Pallas, die zuerst eine fürchterliche Kriegesgöttin war, ist viel bedeutender und edler als Mavors ausgebildet worden; denn eine mächtige Städtebeschützerin war sie, keine tobende Wilde. Sie vereinigte Muth mit Verstand und war dadurch von jeher dem roh angreifenden Mars überlegen. Vor ihrer Brust das Haupt der Medusa und jenen Schild, den Homer lebendig beschrieben, in ihrer Hand den mächtigen Speer, den schrecklichen Helm auf ihrem Haupte, war und blieb sie selbst die heilige Jungfrau, die, aus dem Haupte Jupiter's entsprossen, gleichsam sein sichtbar gewordener mächtiger Schreckgedanke und in der Folge die Göttin aller Weisheit, insonderheit des häuslichen ruhigen Fleißes war. In beiden Eigenschaften ward sie gebildet; bald als jene furchtbare Göttin, deren plötzliche Gegenwart Verwirrung und Flucht bringt, bald als die friedliche Städtebeschützerin, die Mutter aller nützlichen Künste. In beiden Vorstellungen ist ihre dämonische, mächtig stille Gegenwart wirksam. Wie vor einem hinabgeschwebten olympischen Wesen steht man vor der Minerva Giustiniani; man wagt ihr kaum zu nahen, und doch ist ihr Dasein so in sich geschlossen und friedlich. Keine andre Göttin führt diese Gattung heiliger Majestät bei sich, die eine Pallas auch nicht verläßt, wenn sie in häuslichen Künsten arbeitet. Dank dem glorreichen Athen, das seine Göttin so schön ausgebildet! Es weihte ihr alle Kränze, die aus seinem Flor entsproßten, indem das Fest der Gedankentochter Jupiter's sein großes Fest war. Mit Andacht opferte ihr Mutter und Kind, der Krieger wie der Weise.
Das verschlossene Bild der Juno Ludovisi stellt die Königin des Himmels dar, des höchsten Gottes Schwester und Gemahlin. Alle weibliche Majestät, Pracht und Größe ist in dies ruhige Antlitz gesenkt. Sie hat nicht Ihresgleichen; Ihresgleichen kann sie nicht haben, die göttliche, königliche Juno. Besäßen wir vom Jupiter selbst ein Bild wie dieses!
Dennoch aber, ob uns gleich ein Phidiasbild vom höchsten Gott fehlt, ist sein Charakter in allen Vorstellungen merkbar, Macht, Weisheit und Güte in ein unsterbliches Haupt versammelt. Was sein Weib in stolzem Anstande zeigt, das ist er in ruhiger Würde, Vater der Götter, König des Himmels und mit seinem Stabe ein Hirt der Völker. Der Blitz in seiner Hand hat die Riesen zerschmettert und die Lüfte gereinigt, sein Blick hat den Elementen Frieden geboten; darum feiern um seinen Thron Grazien und Horen unzertrennbare Reigentänze. Sein Haupthaar, dessen Wallen den Olymp erschüttert, fällt in ruhigen Locken nieder; sein Mund ist gütig, und der Wink seines Augenbrans verheißt dem Flehenden, der sein Knie berührt, väterlichen Beistand. Heil dem Gott der Götter! Er gebe seinen erdgebornen Söhnen, was er hat und ist, mächtige Güte, gnädige Weisheit!
Nach Jupiter darf ich von seinen beiden Brüdern nicht reden; sie tragen seinen Charakter, nur in niedrigern Reichen. Neptun in den Wellen des Meers zeigt den Sturm desselben, aber nur in seinem Haar; sein Anblick glättet das Meer und gebietet Stürmen und Wellen Friede. Pluto's (Jupiter-Serapis) Antlitz mit seinem düster gütigen Blick eröffnete mir jedesmal die dunkle Unterwelt, wenn ich ihn ansah. In düstern Gegenden ist dieser traurig ernste und doch milde Jupiter König. So charakterisirten die Griechen Leben und Tod, Himmel und Orcus. O wären uns von so manchen Gottheiten, die im Pausanias genannt sind, Abbildungen übrig! wir hätten eine Charakteristik selbst aller Leidenschaften der Seele.
Wenn dieser mein Brief öffentlich bekannt würde, so könnte es schwerlich anders sein, als daß er Manchem enthusiastisch vorkäme. Diesem aber hätte ich nur Eins zu sagen: »Gehe hin, sieh und betrachte! Je kälter, desto besser; um so mehr wirst Du, was ich andeutete, finden. Nur habe kein vorgefaßtes System!«
Alle wissen wir, daß die Götter der Griechen, in verschiedenen Gegenden entsprossen, hie und dort anders gedacht, mit Nebenumständen oft verkleidet, von Dichtern äußerst verschieden behandelt, von Philosophen endlich mit Allegorien dergestalt überladen worden sind, daß man in jedem Gott einen ganzen Olymp von Göttern finden könnte. Aus diesem Allen folgt aber nichts, was meiner in Denkmalen vorliegenden Wahrheit zuwider wäre. Der Mytholog zähle jede örtliche Gottheit mit ihren Attributen und Namen her: eine sehr lehrreiche Tempelreise. Der Ausleger bemerke jede Verschiedenheit der Götterfabel nach Zeitaltern, Dichtungsarten und einzelnen Dichtern: eine sehr lehrreiche Reise, wenn sie mit Aristoteles' Scharfsinn angestellt wird. Unter andern guten Folgen würde sie uns auch vor der unseligen Uebertragung des Bildes einer Dichtungsart in eine von ihr verschiedene, ja vor hundert andern unnützen Anführungen bewahren. Der Kunstliebhaber reise die Kunstwerke durch, sowol die noch vorhanden sind, als auch von denen die Alten reden. Er untersuche das Spiel der Künstlerideen nach Zeiten, Gelegenheiten, am Meisten nach dem Ort und Zweck ihrer Anwendung; denn unmöglich können doch Statuen, Basreliefs, Gemmen und Münzen auf einen Fuß genommen, Zeiten und Länder verwirrt und Alles wie auf einer Tafel betrachtet werden. Hierüber ist noch wenig geleistet worden, zumal so viele schöne Basreliefs noch nicht bekannt und wenige Kunstliebhaber in dem glücklichen Fall sind, alles Bekanntgewordene zu kennen oder mit Muße zu gebrauchen. Endlich vergleiche dieser Kunstliebhaber Künstler und Dichter – von allen vorigen das schwerste Werk, das nicht nur Gelehrsamkeit, sondern auch Verstand und einen wirklichen Kunst- und Dichtersinn fordert. Hier brach Lessing eine große Bahn, auf welcher aber noch nicht weite Schritte gemacht sind. Eine feste Kritik hierüber würde uns vor mancher unglücklichen Anwendung der Kunst auf die Dichter, die in theuren Werken vor uns liegen und doch bloße Barbarei sind, bewahren. Alle diese und noch mehrere Erwägungen aber verrücken den Gesichtspunkt nicht, den ich verfolgte, nämlich: »Welche reine Idee lag der Kunst, und zwar in ihren heiligsten Werken vor, die öffentlich dargestellt und für die Ewigkeit geschaffen wurden? Wie kam die Kunst zu ihr? wie hat sie solche ausgeführt?« Dies dünkt mich gleichsam das letzte, innigste Resultat beim Ueberschauen ihrer Werke, in denen der Künstler nicht eigenmächtig spielen, sondern den Charakter seines Gegenstandes als eine bleibende, ja gar als eine höchste Idee angeben wollte. Würde mir also Jemand gegen meinen Jupiter die Vase zeigen, auf der er als Maske die Rolle des Amphitruo spielt, oder gegen meine Juno ihren Zank im Homer anführen, so könnte ich ihm nichts sagen als: »Für Dich habe ich nicht geschrieben.« Ich schrieb von den Idealen der Humanität in der griechischen Kunst, und diese bleiben fest, wenn auch bei Dichtern und Künstlern tausend Inhumanitäten vorkämen; von diesen möge ein Andrer schreiben.
»Aber, mein Freund, die Faunen, die Satyren, Pan, Silen, der indische Bacchus, die Mänaden, die Centauren, an mehrere Ungeheuer nicht zu denken – wie bestehen diese mit Ihrem Ideal der Humanität in griechischen Kunstwerken?
»Zweitens. Und hätten die Griechen uns denn Alles vorweggenommen? wären außer diesen und hinter ihnen nicht noch andre, feinere sittliche Ideale möglich? Ja, wären diese von mehreren Künstlern nicht wirklich gegeben?
»Endlich, was hilft uns diese Humanität der Griechen, da wir nicht Griechen sind? Unser Himmel, unsre Einrichtungen, unsre Lebensweise legen uns andre Bedürfnisse auf und fordern von uns andre Pflichten. Wir lüsten also, wenn wir jene, soll ich sagen feinere oder gröbere Sinnlichkeit alter Zeiten, jugendlicher Völker der Welt begehren, nach einer uns versagten, dazu gefährlichen Traube. Unsre Humanität blüht in philosophischen Begriffen ohne sinnliche Darstellung. Die Blüthenzeit ist vorüber; wir kosten Früchte.
»Wollten Sie uns wohl einige dieser Zweifel lösen?«
Die Satyren der Griechen sind ebensowol Denkmale ihrer humanen Weisheit als die erhabensten Götterbilder. Nicht Alles läßt sich in der Menschheit zum Helden und Gott idealisiren; deshalb aber ist dieser Theil unsers Geschlechts so ganz und gar nicht verwerflich. Es giebt eine geringere, eine Faunen- und Satyrennatur in der menschlichen Bildung, die wir nicht verleugnen können; sie ist behend, aufgeweckt, lustig, munter in Einfällen, in ländlichen Scherzen und Spielen, dabei lüstern, üppig, übrigens einem Theil nach (denn es giebt auch grobe, böse Faunen) gutartig, dienstfertig, wohlgefällig, freundlich. Warum sollte man diesen Geschöpfen, die einst die Besitzer der jungen Welt waren, ihre Freuden und Spiele stören? Warum sollte man diesem Satyrus, der mit so unendlichem Appetit die süße Traube kostet, jenem Faunchen, das die Nymphe belauscht oder hascht, jenem andern, der mit kindischer Freude die Flöte bläst oder gaukelnd aufhüpft, ihre jugendliche Freude, ihre unerfahrne Lüsternheit und Neugier rauben? Vergnügungen oder Lustkeime dieser Art machen ja einen so großen Theil der Jugendfreuden aus, die man unschuldige Freuden zu nennen gewohnt ist; und manche Charaktere haften daran zeitlebens. Also bemächtige sich auch die Kunst dieser Classe der Menschheit; nur sie sondre sie ab und charakterisire sie also, daß man sogleich ihre Natur wahrnimmt. Dies hat die Kunst gethan, und zwar (ich gehe Alles vorüber, was für lüsterne Augen, in Wollustkammern oder Gärten gemacht wurde) auf eine dem Genius dieser Gattung ganz gemäße Weise. Diesem jungen Satyr sprießt ein Hörnchen, jenem ein Schweifchen; sein spitzes Ohr lauscht, sein Blick, seine Zunge lüstet: also ist er schon seiner Art nach zum gaukelnden Sprunge, zur lüsternen Fröhlichkeit gemacht; in dieser Art hat die Kunst ihn ergriffen und charakterisirt. Es giebt Satyren von großer Schönheit; nur sobald sie Satyren sind, zeichnete sie die Kunst aus, als der reinen Menschheit nicht ganz würdig. War es Grobheit oder zartes Gefühl, das diesen Unterschied machte? Unser Auge würde vielleicht nicht beleidigt, wenn ein ganz menschlicher Jüngling mit einer Nymphe scherzt; das Auge der Griechen ward es. Die Gestalt eines Jünglinges war heilig; aber ein Satyr durfte so scherzen und tändeln. Diese charakteristische Unterscheidung, die Begierden solcher Art gleichsam an die Grenze der menschlichen Natur rückte, war also höchst sittlich gedacht, und die reine menschliche Natur, insonderheit der menschliche Jüngling ward durch sie sehr geehrt.
Ueberhaupt machen wir uns von dieser ganzen Gattung Geschöpfe zu grobe Begriffe, weil unserm Klima die ländlichen Spiele und Feste, die dazu Gelegenheit gaben, fremde sind. Wir denken uns allenthalben grobe Waldfaunen und Waldteufel, von denen dort nicht die Rede war; es waren bekannte fröhliche Masken. Die Griechen hatten sogar eine eigne Gattung Schauspiele, wo nur Satyren sprachen und hüpften: Schauspiele, die unmittelbar hinter den größten Stücken Aeschylus' und Sophokles' gespielt wurden, und deren sich die größten Meister nicht schämten. Diese Stücke waren Denkmale der Freiheit und Fröhlichkeit alter Zeiten; ein Satyr durfte sprechen, was der ehrsame Mann nicht sprach, und man durfte es hören; denn es sprach's aus den Kindeszeiten der Welt ein Satyr. Neuere Künstler haben dies sittliche Costume, was einem Menschen und einem Satyr zieme, nicht eben so genau unterschieden.
Damit habe ich zugleich dem Silen, dem sogenannten indischen Bacchus, den Centauren, Sirenen, noch mehr aber jenen Ungeheuern, die sich ganz von der menschlichen Natur absondern, das Wort geredet. Bei uns laufen alle diese Dinge durch einander; der Silen heißt ein ehrlicher Mann, der gerne trinkt; Jahrhunderte lang waren unsre TrimalcionsVgl. Brief 47 (S. 212). – D. Leute von der großen Welt; ihre Sitte hieß Hofsitte und Kunst zu leben. Bei den Griechen nicht also: Silen und Trimalcion waren Masken ausgezeichnet niedriger Charaktere.
Haben Sie in dieser Rücksicht überdacht, welchen Vortheil solche Masken der griechischen Kunst, welchen Adel sie der menschlichen Bildung gaben? Durch sie ward von unsrer Natur abgesondert, was sie verzerrt, was ihr nicht ziemt. Alle Carricatur nämlich war in Masken verlegt, classificirt und geordnet. Damit blieb sie vom edlen menschlichen Körper getrennt; kein Hogarth durfte Prometheus sein und Menschen bilden; wohl aber konnte das Kind, der Knabe mit Masken spielen, selbst Jupiter und Mercur konnten in Masken agiren, wenn sie's gut fanden. Sie waren jetzt nicht Götter, sondern Mißgestalten; denn wer eine solche Maske trägt, bezeugt eben damit, daß er jetzt kein Mensch oder Gott, sondern das Thier, der Thor sei, in dessen Gestalt er erscheint; der edeln Menschengestalt, die bei den Griechen über Alles galt, hat er entsagt. Selbst an die griechische Classification und Ordnung dieser der Menschheit unwürdigen Formen hat kaum ein neuer Begriff gereicht.
Die Centauren der Griechen, insonderheit Chiron, der den Achilles unterweist, haben mich immer lehrreich vergnügt. Ich kann den Gedanken, daß eine verständige, zärtliche, tapfere und keusche Thierheit die Erzieherin und Wiederherstellerin des Menschengeschlechts sei, nicht zarter ausdrücken, als er hier ausgedrückt ist; denn Swift's edle, verständige und keusche Huynhms, im Contrast seiner Yahoos,Vgl. Herder's Werke, II. S. 291. – D. sind gegen die Dichtung der Griechen barbarische, in sich selbst nicht bestehende Gedanken. Chiron unterweiset den Achill nicht etwa in der Jagd allein, sondern in allen Künsten der Musen, sorgsam, strenge und zärtlich. Die Leyer in der Hand eines Centaurs, eine mit ihren menschlichen Mutterbrüsten nährende Centaure, auf deren Rücken Amor sitzt, würde den Stoff zu einer äußerst sittlichen Unterhaltung geben, auf welche die Deutungen der Fabel, daß dergestalt die Helden der Vorwelt cultivirt worden, selbst weisen.
So auch Ihr, Ihr schönen Medusen, Gorgonen, Sirenen, Scylla und Charybdis, Ihr Bacchen, Mänaden, Titanen und Cyklopen, wo und wie Ihr in der Kunst der Griechen erscheint, seid Ihr an Eure Plätze geordnet. Unter uns lauft Ihr umher; ein Titane läßt sich als Held, eine Meduse als Charis, eine Baccha als die Königin des Himmels anschauen und physiognomisch malen. Wären wir den Griechen nicht Dank schuldig, daß, was wir nicht können, sie gethan und nach unveränderlichen Regeln und Kennzeichen Classen geordnet, Abarten ausgezeichnet und die reine Form von der Unform getrennt haben? Auch die Barbaren und den sogenannten Trimalcion haben sie treffend bezeichnet.
Ihre zweite Frage: »Haben die Griechen uns Alles vorweggenommen, und sind nicht nach und hinter ihnen andre, feinere und sittlichere Ideale möglich? Ja, sind diese nicht vielleicht schon längst in der neueren Kunst gegeben?« – diese Frage wird sich, wie mir es scheint, aus dem Vorigen von selbst beantworten. Die Griechen nämlich haben, indem sie Alles ordneten, als Räuber nichts vorweggenommen; sie haben der Erfindung keines sterblichen Menschen geschadet, sondern dieser Raum gemacht und sie geleitet.
Im Anbeginn der Dinge, sagen die Dichter, schwebte Alles in wüster Unordnung, und es war zu nichts Raum. Da begann eine Welt; Jedes ordnete sich zu Seinesgleichen; es wurden Planeten und Sonnen. Elemente sonderten sich; es entstanden Kunstgeschöpfe. Nun ward Raum; denn die harmonischen Töne der Weltleyer waren erklungen, und Alles gesellt sich seitdem zu seinem Geschlecht, zu seiner Ordnung. Noch jetzt erhalten sich alle Classen der Lebendigen also; so reihen noch jetzt sich Sonnen an Sonnen, Nebelsterne ziehen sich zu Systemen zusammen und gewähren Raum; so ward und so wird die Schöpfung.
Auch die Kunst, die Schöpfung der Menschen, nicht anders. Die Griechen erfanden und vollendeten Ideale; sie schufen Classen der Menschheit und trennten ab, was nicht zu ihr gehört. Damit bildeten sie den reinen göttlichen Begriff unsers Geschlechts zart und vielseitig aus; wem haben sie hiemit geschadet? Wer sich edler als Kastor und Pollux, schöner als Dionysos oder Apollo, jungfräulicher als Diana, dämonischer als Minerva fühlt, der trete her, und die Kunst wird ihm opfern. Ein König, der über Jupiter, eine Königin, die über Juno herrlich, eine Geliebte, die zärtlicher ist als Psyche, trete her, und die Kunst wird ihr opfern. Die hohen Sternbilder, die geordneten Sonnensysteme stehen da, und zwischen ihnen ist Raum zu andern Systemen.
Jede reine Idee, die ein vollendetes Bild giebt, theilt nachbarlichen Ideen Klarheit mit; dies zeigt die griechische Kunst in hohem Grade. Aus jener bescheidenen Aphrodite ward mit einer kleinen Veränderung eine Nemesis; aus ihr und aus allen ursprünglich wenigen Götterformen, wie viel Ideen sind erwachsen! Parzen und Eumeniden, Grazien und Horen, Nymphen allerlei Art, Schutzgöttinnen der Länder und Personen, personificirte Tugenden und Ideen. Eine Genealogie dieser Gestalten würde zeigen, von wie wenigen Hauptformen sie entsprossen sind, und wie sich der einmal festgestellten Ordnung nach immer Gleiches zu Gleichem gesellte. Bis auf die Münzen der Römer in ziemlich späten Zeiten erstreckte sich diese Fruchtbarkeit jener kleinen Anzahl griechischer Ideen; auf ihnen erhielten sich Bilder sittlicher Humanität selbst in Zeiten, da Alles dem Gesetz und Kriege, dem Zwange und der Noth diente.
Sollten also jene Denkbilder reiner Formen der Menschheit je einem Sterblichen den Weg zu Ideen verschließen oder verschlossen haben? Niemals; nur lange Jahrhunderte waren in so dunklem Nebel, daß auch der Umriß solcher Formen nicht erkannt werden mochte. Endlich zerfloß der Nebel; der menschliche Geist gelangte wieder zu einigermaßen hellen Begriffen; Andacht und Liebe verkürzten den Weg dahin, und so sind jene Bildnisse erschienen, die wie Morgensterne aus der weichenden Nacht hervorschimmern. Man humanisirte seine Religionsbegriffe, und so trat vor allen andern die gebenedeite Jungfrau, die Mutter des Weltheilandes, in einer eignen Idee hervor, zu der ihr die griechischen Musen nicht halfen. Der Gruß des Engels half ihr dazu, der sie die Holdselige, die Gottesgeliebte, ihre eigne Demuth half ihr dazu, in der sie sich die Magd des Herren nannte. Aus diesen beiden Zügen floß ihr liebliches Wesen zusammen, das sich dem menschlichen Herzen sehr vertraut machte. Dichter hatten sie mit der Stimme des Engels in zarten Worten oft gegrüßt, zutrauliche Gebete sie liebreich angeredet: jetzt trat die Kunst hinzu, sie auch sichtbar zu machen, sie und das Kind in ihren Armen, die selige Mutter und die heilige Jungfrau. Keuschheit also und mütterliche Liebe, Unschuld des Herzens und jene Demuth, die in der größten Hoheit sich selbst nicht kennt, die in tiefer Armuth die Seligste ihres Geschlechts ist, diese neue Form der Menschheit ward vom Himmel gerufen – ein Mariencharakter. Sein unterscheidender Zug ist, wenn ich so sagen darf, jene christliche Unbefangenheit, in der die Mutter von ihr selbst, von ihrer Herrlichkeit, kaum von ihrem Kinde zu wissen scheint, das sie dennoch, das dennoch sie liebreich umfängt und den Menschen hold ist. Eine humane Gruppe, die Kind und Knabe, Mädchen und Jungfrau, Braut und Mutter, Mann und Greis, der Sterbende selbst zutrauend sanft, gleichfalls mit christlicher Unbefangenheit gern ansehn; da übrigens Raphael's Marien, gewiß die höchsten und reinsten ihrer Art, alle Landmädchen sind, nur sehr innig gedacht und rein idealisirt. Jene Glorreiche selbst, die, das Kind im Arm, über den Wolken schwebt, kennt sich selbst nicht und ist in einer sanften Verwunderung über die Hoheit, die ihr zu Theil wird. Außer Raphael haben Wenige diese Idee erreicht; die gebeugte Schmerzensmutter gelang ihnen viel mehr.
Den Sohn Gottes in Menschengestalt haben außer Raphael, da Vinci, del Sarto Wenige würdig gedacht und empfunden, also nämlich, daß die göttliche Menschheit des Erlösers der Menschen nicht zugleich Niedrigkeit würde. Das Bild des ewigen Vaters fand noch mehrere Schwierigkeiten, die Idee des gefallenen mächtigen Engels nicht minder. In Allem aber, was der nähere Kreis unsrer Menschengestalten einschließt, welchen Reichthum schöner Compositionen haben in Neueren eben die Alten erweckt und befördert! Wer hat je Raphael's Schule zu Athen und seine andern Vaticanischen Gemälde gesehen, ohne zu empfinden: »In ihm war eine griechische Seele.« Engelsangesichte sind in seinen Gemälden; seine Muse war ein schaffender Geist, der Gestalten hervorruft und jedem Charakter mit Grazienhand das Seinige anweist. Was Angelo und so viel Andere den Alten schuldig sind, haben sie selbst bekannt; in glücklichen Zeiten der Kunst werden Andere kommen und neu erfinden. Der ideenbildende Geist ist nicht ausgestorben und kann nicht aussterben; in den griechischen Kunstwerken ist ein ewiger Same zu seiner Neubelebung.
»Was in unserm Klima, in unsrer Verfassung uns die griechische Kunst solle,« fragen Sie? und ich antworte kurz: »Wir wollen nicht sie, sondern sie soll uns besitzen;« gerade das Gegentheil, was jener GriecheAristipp sagte von der Laïs: »Ich besitze sie, nicht werde ich von ihr besessen.« – D. von sich in Ansehung der Laïs rühmte. Diese Laïs verführt nur schlechte Gemüther; die besseren wird sie als eine Aspasia bilden.
Wir wollen, meine ich, die griechische Kunst nicht besitzen, da so wenige nordische Seelen sie kaum fühlen. Die griechischen Kunstwerke selbst sind ja unserm unfreundlichen Klima fremde, und es dauerte mich stets, wenn ich Schätze dieser Art nach Britannien hinübergeschifft sah. Ein Raub der Proserpina! Wer wird sie in jenen Plutonischen Hainen, wo sie unverstanden, zerstreut und verschlossen dastehn, suchen und von ihnen lernen? Lasset, Ihr Weltüberwinder, den Raub Griechenlandes und Aegyptens ihrer alten Beherrscherin, dem milden und ewigen Rom, wo Jedermann, dem das Glück den Weg dahin nicht versagte, um ein Nichts zu ihnen Zutritt findet! Sendet Eure Künstler dahin, oder gewährt Euch selbst ihren mildernden Anblick; nur macht sie nicht zu Boten unter den Völkern oder zu Hermessäulen auf Euren glorreichen Wegen!Vgl. Schiller's Gedicht: »Die Antiken zu Paris« (Werke, I. S. 197). – D.
Die griechische Kunst, meine ich, soll uns besitzen, und zwar an Seele und Körper. Allenthalben z. B. gingen die Völker bekleidet umher und schämten sich des Gottgebildes, das sie verhüllten; die Griechen wagten es, den Menschen in der Herrlichkeit zu zeigen, die ihm Gott anschuf. Welcher Vater, welche Mutter wünscht sich nicht gesunde, wohlgestaltete Kinder? wer erfreut sich nicht an ihrem Anblick und fühlt seine Brust erweitert, wenn er einen schamhaften Jüngling, eine züchtige Jungfrau sieht? In dieser Jugendkraft, die, von einer glücklichen Natur erzeugt, durch Mäßigkeit und Uebung allein gedeiht, fühlt Jedermann die Anlage zu einem thätigen, heitern Leben und bedauert die Gelegenheit, die ihm zu Ausbildung dieser Gestalt und Kräfte versagt ward. Wenn nun ein unfreundlicher Dämon uns die Brust zusammendrückte, sollten wir künftigen Geschlechtern nicht einen glücklichern Dämon gönnen? Und da vom Menschenschicksal viel, sehr viel in der Hand der Menschen, in ihrem Willen, in ihrer Verfassung und Einrichtung liegt, könnte uns zu Beförderung solcher Anstalten wol ein Grönländer, der aus seiner Höhle gezogen ward, oder nicht vielmehr ein Grieche, der ein Mensch wie wir war und als ein Gottesbild dasteht, erwecken und reizen?
An den Körpern betrachte man der Griechen Kleidung. Die unsre hat Penia, die Dürftigkeit, selbst erfunden und eine Megära des Luxus und der Unvernunft vollendet. Die Kleidung unsrer Weiber entsprang aus der armen Schürze, die man noch bei Negern und Wilden sieht. Als sie endlich rings die Lenden umgab, ward sie zu einem Rock, der aus drückender Armuth kaum über den Nabel den Unterleib zusammenschnürt. Jahrtausende hin haben diese schnürenden Lendenschürzen fortgedauert, und um ihren Reichthum zu zeigen, legten manche nordische Volkstrachten sogar sieben dergleichen Lendenschürzen dick über einander, daß das abenteuerliche Geschöpf dem Ansehen nach auf einer Tonne ruhen möchte. Man wagte es oft nicht, diese Schürze bis zu den Füßen hinab zu verlängern, geschweige, daß man sie zu einem Gewande zu erheben sich getraut hätte, und zeigte lieber seine ungestalten Glieder. Die Bekleidung des nordischen Weibes an der Brust entsprang aus einem Mieder, das man nach und nach mit mehreren Theilen zusammensetzte, woraus dann jener unselige Seiten- und Brustharnisch entstand, der tausend Müttern und Kindern ihre Wohlgestalt, ihr Leben, ihre Gesundheit, ihre Freuden an Muttergeschäften gekostet hat und dennoch fortdauert. Da man einmal auf dem Wege der Mißgestalt war, so wurden mancherlei Kleidungen erdacht, um diese oder jene einzelne Mißgestalt zu verbergen, denen sodann unter dem Gesetz der Mode auch die blühendste Gestalt nachahmen mußte. Bei jeder unsinnigen Tracht nämlich kann man zeigen, welchem körperlichen Fehler zu gut sie entstanden sei, so daß man fast auch keinen körperlichen Fehler gedenken kann, den unsre weibliche Tracht nicht verbergen möchte. »Bist Du das Alles?« sagte jene Griechin zu einem europäischen Reifrock; und was der Reifrock hätte antworten können, hat Lady Montague frei gesagt. Die männliche Kleidung der Europäer hat einen ebenso barbarischen Ursprung. Zum Reiten sind wir da; das zeigt die Bekleidung unsrer Beine. Die übrigen Fetzen haben wir uns nach und nach, insonderheit der Taschen wegen, zugelegt, und als ob wir uns des Stranges unaufhörlich bewußt sein sollten, insonderheit unsern Hals jämmerlich zugeschnürt; eine Kleidung, in der wir allen Nationen der Erde lächerlich werden.
Da blicke man eine Muse, eine Juno, ja nur irgend eine bekleidete griechische Nymphe an und erröthe. Man betrachte einen griechischen Mann, er sei Jüngling, Held oder Weiser, in seinem Gewände und sehe beschämt auf sich selber. Fühlten beide Geschlechter die Würde ihrer Körpergestalt und hielten ihre Zwecke für Pflicht, hätten sie sich diesen Fesseln barbarischer Dürftigkeit nicht längst entwunden?
Ohne Zweifel müssen Sie in Statuen sowol als auf allen griechischen Denkmalenden bescheidenen und festen Stand, die ruhige Stellung der Personen beiderlei Geschlechts, die nicht Fechter oder Faunen sind, bemerkt haben; Winckelmann hat darüber seine für die Schönheit sehr empfindliche Seele reich ausgeschüttet und den zarten Gemüthscharakter, den diese Ruhe verräth, unübertrefflich geschildert. Vergleichen Sie damit unsre alten Gemälde in spanischer Tracht mit ihrem Ritter- und Heldentritte, oder alle jene gewohnten Geberden, die uns das Etikett der Gesellschaft auflegt. Beide Geschlechter haben in ihrer Kleidung fast keine natürliche Stellung mehr; Hände und Füße sind uns zur Last, und jene ruhige Innigkeit, die von keiner Repräsentation weiß, die auch in der Bewegung ganz für sich da ist, wir sehen sie kaum noch an einigen glücklichen Ausnahmen, in denen wir sie Unerzogenheit oder Naivetät zu nennen gewohnt sind. Und doch ist diese nüchterne Innigkeit die Grundlage aller wahren und ruhigen Besinnung im Menschen, so wie sie das Kennzeichen einer reinen Unbefangenheit, eines richtigen Gefühls, eines tieferen Mitgefühls, kurz, der einzigen und ächten Humanität ist. Wer in seinen Bewegungen zeigt, daß er nicht Zeit habe, zwei Augenblicke in sich selbst zu verweilen und ohne Rücksicht der Dinge, die außer ihm sind, sein Geschäft zu treiben, ist ein unreifes Geschöpf der Menschheit. Nur Antriebe von außen, Sturm und Zwang können ihm gebieten; er fühlt nichts von jener innern Seelenruhe, die auch im Gegengewicht und Kampf lebendiger Kräfte vermöge der Symmetrie und Eurhythmie des Körpers und der in ihr sanft ergossenen Seele auf sich selbst haftet.
Aber wie soll ich das freundliche Beisammensein der griechischen Körper und Seelen unter und mit einander bezeichnen? jene Ruhe, mit der sie einander anschaun und hören? Die Ueberredung wohnt auf ihrer Lippe, ob man gleich kein Wort vernimmt; es ist ein gegenwärtiger Geist, der den Hörenden und Sprechenden bindet. Und wenn ihre Hände einander berühren, wenn dieser sanfte Arm auf der Schulter oder nur das Auge auf dem Anblick des Andern ruht, welche süße Harmonie, welche liebende Anhänglichkeit offenbart sich zwischen Beiden! Nie habe ich eine griechische Gruppe, man nenne sie Orest und Pylades, oder Orest und Elektra, Byblis und Kaunus, Pätus und Arria, Amor und Psyche, oder wie man wolle, bemerkt, ohne diese liebliche Zusammenstimmung zu fühlen, die Beide zu Einem vereint. Nie habe ich in den wenigen Gemälden, die von ihnen übrig sind, oder in ihren zahlreichern Basreliefs eine griechische häusliche Gesellschaft gesehen, in welche nicht jener Geist der Ruhe ergossen war, der unsern tumultvollen Compositionen so oft fehlt. Raphael hatte von diesem Geist empfangen; Mengs hat ihn, wenn das antikeVorgeblich Herculanische, von Winckelmann bekannt gemachte. – D. Gemälde, in welchem sich Ganymedes dem Jupiter naht, sein ist, sowol in dem Annahen selbst als auf dem Munde des Vaters der Götter in dem ewig freundlichen Kuß ausgedrückt, mit dem er ihn aufnimmt. In allen Compositionen der AngelicaAngelica Kauffmann, mit welcher Herder in Italien in innigste Verbindung getreten war. Vgl. Herder's Reise nach Italien etc. Herausgegeben von H. Düntzer und F. G. v. Herder, S. 195, 266 f., 280, 294, 301 f., 322 f., 333 f. – D. ist diese ihr eingeborne moralische Grazie der Charakter ihrer Menschen. Selbst der Wilde wird durch ihre Hand milde; ihre Jünglinge schweben wie Genien auf der Erde; nie war ihr Pinsel eine freche Geberde zu schildern vermögend. Wie etwa ein schuldloser Geist sich menschliche Charaktere denken mag, so hat sie solche aus ihren Hüllen gezogen und mit einem schönen Verstande, der das Ganze aufs Leiseste umfaßt und jeden Theil wie eine Blume entsprießen läßt, harmonisch sanft geordnet. Ein Engel gab ihr ihren Namen, und die Muse der Humanität ward ihre Schwester.
Meinen Sie noch, daß die Kunst der Griechen ihrem Geiste nach nicht für uns gehöre? Dem Worte selbst nach hätten Sie uns damit zu einer ewigen Barbarei verdammt.
Denn, um aller Musen willen, wozu lesen wir die Griechen? Ist's nicht, daß wir eben diesen zarten Keim der Humanität, der in ihren Schriften wie in ihrer Kunst liegt, nicht etwa nur gelehrt entfalten, sondern in uns, in das Herz unserer Jünglinge pflanzen? Wer in Homer, ja in allen Schriftstellern von ächt griechischem Geist bis zu Plutarch und Longin hinab, blos Griechisch lernt oder irgend eine Wissenschaft in ihnen blos und allein mit nordischem Fleiße verfolgt, ohne den Geist ihrer Composition, diese feine Blüthe, mit innerer Zustimmung seines Herzens zu bemerken, der könnte, dünkt mich, an ihrer Statt Sinesen und Mongolen lesen.
Der Schluß Ihres letzten Briefes scheint auf den alten Satz hinauszukommen, »daß für uns Menschen das Wahre, Gute und Schöne nur Eins sei.« Sollte es nicht aber auch ein Wahres und Gutes ohne schöne Form geben? ja, müßte sich nicht eben das höchste Wahre und Gute von aller Form entkleiden?
Die Griechen lebten im Jünglingsalter der Menschheit; bei ihnen lief oft die Einbildungskraft mit dem Verstande davon, oder wenigstens lief sie ihm voran und kleidete sinnlich ein, was doch allein für den Verstand gehört. Schonend haben Sie die Mißbräuche verschwiegen, die von den Künsten des Schönen gemacht wurden und täglich noch gemacht werden. Ist's also nicht eine wohlthätige Hand, die diese Dinge scheidet?
Wir Nordländer sind einmal nicht wie die Griechen organisirt; laßt Jenen statt der Wahrheit eine Aphrodite auf ihrem Altar! unsre Wahrheit ist ein unsichtbarer Geist, unsre Moral eine Gesetzgeberin für alle rein denkende Wesen, in welcher Körperform diese auch erscheinen mögen. Sinnlichkeit schadet dem Verstande; durch seine Liebe zum Schönen ging Griechenland unter.
Und wodurch gingen denn so viele Barbaren unter? Durch Unverstand und Tollkühnheit, durch eine erschlaffende Ueppigkeit, die ohne alle Empfindung des Schönen war, oder durch sclavische Trägheit. Also lassen Sie uns die Schicksale der Völker, die im Wurf der Zeiten von so mancherlei Umständen bestimmt werden, nicht in unsre Frage mischen. Mißbrauch bleibt überall Mißbrauch, Laster allenthalben Laster, unter welcher Larve es auch erscheine.
Auch reden wir nicht von einer Sinnlichkeit, die dem Verstande entgegengesetzt wäre. Eine solche sollten wir nicht kennen, so wenig uns ein Verstand ohne Sinnlichkeit und eine Moral völlig reiner Geister bekannt ist.
Nach meiner Philosophie erweisen sich alle Naturkräfte, die wir kennen, in Organen; je edler die Kraft, desto feiner ist das Organ ihrer Wirkung. Körperlose Geister sind mir unbekannt. Außer der Menschheit kenne ich überhaupt keine vernünftige Wesen, deren Denkart ich erforschen könnte; ich schließe mich also in meinen engen Kreis, ich wickle mich in den armen Mantel meines irdischen Daseins.
Und in diesem finde ich durchaus keine formlose Güte und Wahrheit. Ich spreche nicht von Wortformen, die als bloße Mittel des Empfängnisses und Ausdrucks unsrer Gedanken ganz an ihrem Ort bleiben; ich rede nicht von Grundsätzen, die als Grundsätze freilich nicht dargestellt werden können, sondern von Gegenständen und Sachen, von der Natur unser selbst und der Dinge, die uns umgeben. Jede Wahrheit, die aus diesen abgezogen ward, muß auf sie zurückgeführt werden können, und eine Menschenmoral kann sich nicht anders als in menschlichen Gesinnungen, Neigungen, Handlungen äußern. Mithin hat Alles Form und Weise; eine Form, die erkannt, eine Weise, die sichtbar gemacht werden kann und muß.
Und diese Form des Wahren und Guten (verzeihen Sie meine Unphilosophie!) ist Schönheit. Je reiner sie erscheint, je lebendiger in ihr Erkenntniß und Güte ausgedrückt sind, desto mehr behauptet sie ihren Namen und übt ihre Kraft auf menschliche Gemüther und Organe. Wie das heilige Wort Güte und Schönheit (ϰαλὸν ϰἀγαϑόν) vom Pöbel gemißbraucht werde, darf und muß uns nicht irren; denn wer legte uns die verwirrte Sprache des Pöbels zum Gesetz auf? Es giebt aber keine häßliche Wahrheit, so wenig es ein häßlich Gutes geben kann: dem Erkennenden sowol als dem Ausübenden sind beide von der höchsten Schönheit.
Lassen Sie uns z. B. bei der Moral bleiben. Ihr Grund liegt im Verstande und Herzen des Menschen; im Wesentlichen ist er auch von allen Völkern anerkannt; die Griechen aber haben ihren höchsten Grundsatz der Sprache nach schön ausgebildet. So verschieden ihre Philosophen sich ausdrückten, so war ihnen allen Tugend das höchste Geziemende der Menschheit in Gesinnungen, Handlungen und der ganzen Lebensweise, kurz, das Sittlich-Schöne. Plato suchte es in ewigen Ideen, Aristoteles als die feinste Mitte zwischen zwei Extremen, die stoische Schule als das höchste Gesetz aller Vernünftigen in einer großen Stadt Gottes; Alle aber kamen darin überein, daß es ein καλόν, ein πρέπον, das höchste Anständige der menschlichen Natur sei.
Dies Anständige nun hat keinen Maaßstab von außen; durch politische Gesetze kann mir die reine Gemüthstugend nicht aufgelegt werden; auch die Meinungen Andrer erkennt sie als ihr Gesetz nicht. Noch weniger die Bequemlichkeit, den Nutzen, die Eitelkeit des Artigen von innen und außen; äußerst mißverstanden sind Griechen und Römer, wenn man ihr honestum, ihr pulcrum et decens dahin erniedrigt. In jedem zweifelhaften, schweren Fall setzten sie es dem Nutzen, der Bequemlichkeit, der äußerlichen Ehre und Schande gerade entgegen; Arbeiten und Mühe, Marter und Tod wählten sie für diese schöne Braut, den höchsten Kampfpreis des Lebens, das rectissimum, optimum, die Tugend.
Und mich dünkt, dies höchste Anständige der Menschheit enthalte sowol die schärfste Bestimmung als den innigsten Reiz der Tugend. In ihr befolge ich nämlich nicht sowol ein Gesetz, das ich mir selbst aufgelegt habe oder als Gesetzgeber allen vernünftigen Wesen auflege. In der stolzen Monarchie mein selbst verwechseln sich oft Gebieter und Sclave; Einer betrügt den Andern; Dieser sträubt sich, Jener brüstet sich; und überhaupt ist ein Gesetz als Gesetz ohne Reiz und inneres Leben. Das mir selbst, das der Menschheit Anständige reizt; es reizt unaufhörlich als ein nie ganz zu erringender Kampfpreis, als meiner innern und äußern Natur, als meines ganzen Geschlechts höchste Blüthe. Wer dafür keinen Sinn hätte, der würde sich zwar selbst nicht verachten; er bliebe aber eben dadurch ein Unmensch, weil ihm dies Anständige, diese innere Wohlgestalt, das Gefühl und Bestreben des honesti fehlte. Er ist, in der Sprache der Griechen zu reden, ein Thier oder Halbthier, ein Centaur, ein Satyr.
In der Menschheit hat dies Ideal des moralischen Anstandes so viele Stufen der Annäherung, daß es nicht etwa nur Gesinnungen für sich und die Seinen, sondern Vaterland und zuletzt die ganze Menschheit unter sich begreift. Der wäre der Edelste und Schönste, der mit den größten Gefahren, der schwersten Mühe, der langsamsten Aufopferung sein selbst nicht Freunde, nicht Kinder, nicht das Vaterland allein, sondern die gesammte Menschheit zu dieser innern süßen Würde, dem lebendigsten Gefühl des honesti jeder Art, mithin zum endlosen Bestreben nach der reinsten Menschenform heben könnte. Hier hört Despot und Sclave völlig auf; auch wenn ich mir gebiete, bin ich unter dem Evangelium, in einem Wettkampf liberaler Uebung. Wenn ich das Schwerste und Größte gethan hätte, habe ich nichts gethan; ich weiß nicht, daß ich es gethan habe; aber dem Ziel fühle ich mich näher, ein Retter, ein Erhöher der Menschheit in mir und Andern zu werden aus innerer Lust und Neigung. Sie sehen, in welchen unendlichen Plan diese Idee des Moralisch-Schönen (καλὸν κἀγαϑόν) gehört.
»Die Erziehung der Alten,« sagt Winckelmann,Allegorie, S. 13. – H. »war der unsrigen sehr entgegengesetzt. Bei ihnen in ihren besten Zeiten wurden nur heroische Tugenden geschätzt, diejenigen nämlich, welche die menschliche Würdigkeit erheben, da andere hingegen, durch welche unsre Begriffe sinken und sich erniedrigen, nicht gelehrt noch gesucht, viel weniger auf öffentlichen Denkmalen vorgestellt wurden. Jene Erziehung war bedacht, das Herz und den Geist empfindlich zu machen für die wahre Ehre, die Jugend zu einer männlichen großmüthigen Tugend zu gewöhnen, welche alle kleinen Absichten, ja das Leben selbst verachtete, wenn eine Unternehmung der Größe ihrer Denkungsart nicht gemäß ausfiel. Bei uns wird die edle Ehrbegierde erstickt und der dumme Stolz genährt.«
Wie wäre es, wenn ich Ihren Gang in Arkadien unter den Kunstgebilden der Griechen mit einigen Stimmen der griechischen Muse begleitete? Sie zeigen wenigstens, daß das Menschengefühl, das Werke der Kunst schuf, sie auch ansah, daß man den milden Sinn des Künstlers zu erfassen und auszudrücken strebte.
Die griechische Anthologie giebt uns hiezu mehr als einen Wink, und Heyne hat in ein paar Vorlesungen diese gesammelt.Priscae artis opera ex epigrammatibus graecis partim eruta partim illustrata. Comment. I., II. (Commentationes Societatis Gottingensis historicae et philologicae, T. X.) – H.
Der stolzen Juno hat wahrscheinlich ein griechisches Epigramm ihren Todfeind, den Hercules, an die Brust gelegt.Brunck, Analect., III. 202. – H. [Anthol., IX. 589. – D.] Der Dichter fand, daß die marmorne Brust, dem Kinde die Milch versagend, die Brust einer Stiefmutter, einer Juno sein müßte – nicht ohne Grund. Diese zarte Pflicht mütterlicher Liebe gehört wirklich mehr für den Pinsel des Malers als für den harten Marmor.
Kräftiger drückten die Griechen die mütterliche Liebe im Kampf der Leidenschaft aus. Wie jene Henne, die, von Schnee und Kälte erstarrt, auch im Tode noch das Nest ihrer Geliebten deckt und es vor dem Tode beschirmt,Herder's Werke, VII. S. 87. – H. [Wir haben die Anführungen Herder's aus den »Zerstreuten Blättern« nach unserer Ausgabe bestimmt. – D.] so steht in der Kunst die für alle ihre Kinder leidende Niobe da, und die Stimme der Musen bezeichnet das Ideal der mütterlichen Heroide:Von Julianus; Anthol. Plan., 130. – D.
»Schau das lebendige Bild der unglückseligen Mutter!
Noch im Tode beweint ihre Geliebtesten sie
Mit unhörbarer Klage; sie steht erstarret. Der Künstler
Bildete sie, wie im Schmerz lebend zum Felsen sie ward.«
Und da die Bildsäule der Mutter mit den um sie getödteten Kindern einen entfernten Anblick forderte, so sprach der Dichter:Theodoridas. Plan., 132. Das griechische Epigramm besteht aus vier Distichen. – D.
»Stehe von fern und wein', anschauender Wanderer! Tausend
Schmerzen zeigen sich hier, die ein unglückliches Wort
Dieser Mutter gebracht. Zwölf Kinder, Brüder und Schwestern,
Liegen von Artemis' Pfeil, liegen von Cynthius' Pfeil
Schon danieder; die andern ereilt ihr Köcher. Es ächzet
Sipylus dort auf der Höh. Schaue, die Mutter erstarrt!«
In einem andern EpigrammDes Antipater. Daselbst, 133. – D. hebt sie die Hände empor; es löst sich ihr Haar; seufzend schaut sie umher; dieser Tochter schlägt das Herz in der Angst des Todes, jene schmiegt sich sterbend an sie, eine andre ist schon erblaßt. So ihre Söhne. Gram folgt der Mutter ins Todtenreich nach. Eine andre Stimme bringt der Erstarrenden die Nachricht vom Tode ihrer Kinder.Anthol. Stephani, IV. 9. – H. [Nach der Reiske'schen Ausgabe, Plan., 134. Das Epigramm ist von Meleager. – D.] Kurz, Niobe steht im Namen aller Unglücklichen da, die je ein blühendes Geschlecht beweinten. Wie manche Töne der Vater- und Mutterliebe kommen uns hierüber aus der Anthologie wieder, wenn wir, wie z. B. dort auf der Mnasylla Grabe, die Tochter im Arm der Mutter verscheiden sehenBrunck, Analecta, III. 4. – H. [Anthol. VII. 730. Von Herder übersetzt: Werke, VII. S. 154. – D.] und sonst in mancherlei Art Denkmale der Liebe auf den Grüften der Gestorbenen erblicken. So oft mir das bekannte Bild erscheint, da Mercur eine schüchterne Seele dem gütigen Pluto und der Proserpina darstellt, höre ich jene fragende Stimme:
»Du, der Proserpina Bote, wer ist es, den Du, o Hermes,
Schon so frühe dem Reich dunkeler Schatten gesellst?
»Jener Ariston ist's von sieben Jahren. Du siehest
Zwischen den Eltern ihn dort stehen im traurigen Mal.«
Thränenliebender Pluto, Dir reift ja Alles, was athmet;
Und Du mähest die Frucht früh in der Blume Dir schon?«Vgl. Werke, VII. S. 101, wo das zweite Distichon anders lautet. – D.
Um den Schmerz der Mutterliebe zu hören, lesen Sie der Hekuba, Prokne, der Andromache Klagen; hören Sie, wie von den Stürmen des Meeres umhergetrieben die Danaë ruft:Brunck, T. I. 121. – H. [Aus einem Threnos des Simonides (Bergk, Poëtae lyrici Graeci, 1129–1132). – D.]
»Als um die kunstgezimmerte Kiste
Brauste der Wind und das wogige Meer,
Da sank erstarret vor Schrecken
Der Mutter das Herz. Mit thränenbedeckter Wange
Schlang sie um Perseus ihren liebenden Arm und sprach:
›O Kind, was leid' ich um Dich!
Und Du schlummerst mit Deinem unschuldigen Herzen
In dieser grausen, erzumklammerten, nächtlichen Wohnung,
In schwarzer Finsterniß so sanft.
Der Welle, die um Dein weiches Haupthaar schlägt,
Und der Winde Sausen achtest Du nicht,
Da im Purpurkleide verhüllet
Dein schönes Antlitz ruht.
Gewiß, wenn dieses Erschreckliche
Dir schrecklich wäre, Du vernähmst
Von meinen Klagen ein kleines Wort.
Doch schlafe sanft, mein Kind!
Schlaf' auch das Meer, mein unermeßliches Unglück schlafe!
Vereitle, Vater Zeus, der strafenden Eltern Rath,
Und sprach ich jetzt ein zu verwegnes Wort,
Verzeih, um dieses Deines Kindes willen verzeih!‹«
Sie erinnern Sich jenes stürzenden Gipfels, der ein schlafendes Kind nicht trifft, weil auch der harte Stein den Schmerz der Mutter fühlte.Werke, VII. S. 54. – H. Sie erinnern Sich der Mutter, die ihr Kind vom Rande des Abgrundes mit ihrer Mutterbrust hinweglockt und ihm zum zweiten Mal das Leben schenkt.Daselbst, S. 85. – H. Diese und so manche andre Stimmen der Mutterliebe erklären uns die heilige Innigkeit, die um alle Gebilde des Alterthums in dieser Gattung schwebt.
Der höchste Triumph der Kunst im Ausdruck dieser Empfindung erscheint endlich im Bilde der Medea, der Kindesmörderin selbst. Den Streit der wüthenden Eifersucht mit der mütterlichen Liebe wußte Timomachus so sichtbar zu machen, daß man sah, sie wolle tödten und retten. Im drohenden Auge hing eine Thräne, in ihr Erbarmen war Zorn gemischt; sie zögert, zur That zu schreiten: »Gnug,« sagte zum Künstler der Weise,
»Gnug die Zögerung, gnug! Der Kinder Blut zu vergießen,
Ziemet Medeens nur, nicht des Timomachus HandEpigramm des Antiphilus; Plan., 136. Eine Uebersetzung des Epigramms hatte Herder bereits im achten Buche seiner »Blumen« gegeben. Vgl. Werke, VII. S. 128 f. – D.
Was hier der Weise sprach, sagte das edlere Menschengefühl dem Künstler selbst. Eine Reihe von Sinngedichten preisen diese seine Schonung;Plan., 137–143. – H. [Vgl. Werke, VII. S. 129. – D.] Andre stellen das Bild der Medea als ein Schreckbild vor, an welchem auch die Schwalbe nicht nisten sollte.Werke, VII. S. 51. – H.
»Athamas zürnete selbst nicht seinem Sohne Learchus
Wie Medea; sie ward Mörderin ihres Geschlechts.
Eifersucht ist ärger als Wuth. Vermag eine Mutter
Kinder zu morden, o, wem sollen sich Kinder vertraun?«Von Leonidas aus Alexandrien; Anthol., IX. 345. – D.
Wer, wenn er dergleichen Anwendungen der griechischen Kunst liest, wird nicht mit Freude fühlen, daß Menschen sie für Menschen geübt haben?
Reizend wie die Kunst der Griechen, wenn sie die Kindesjahre darstellt, ist auch die Stimme der Musen, die sie erklärt. Gehen Sie alle Tändeleien durch, in welche Dichter und Künstler den kleinen Gott gesetzt haben, und nehmen ihm die Flügel, so sind es gewöhnliche Kinder- und Knabenspiele, womit er sich belustigt.
Was ist holdseliger als ein schlafendes Kind? Die Kunst und das Epigramm erfreute sich also sehr am schlummernden Amor. »Man solle ihm nicht nahen,« sprach diese; »auch im Schlafe traue man ihm nicht.« Oder er wird im Schlummer gefesselt, seine Pfeile werden ihm genommen; seine Fackel wird in eine Quelle getaucht, damit sie erlösche, und es erglüht die Welle, sie wird ein Lustbad der Liebe.
Was ist Kindern erfreulicher, als mit Pfeil und Bogen zu spielen, sich zu kränzen, Blumen zu brechen, Schmetterlinge zu verfolgen, wol auch zu quälen, mit dem Schwan, der Gans, der Taube zu tändeln, auf jedem Lebendigen zu reiten, sich in die Kleider, in den Waffenschmuck der Erwachsnen zu setzen, sich zu verstecken und finden zu lassen, einander zu erschrecken, sich zu maskiren! Lauter Spiele des Amor's, in Kunst und Dichtkunst, mit immer neuer Veränderung und Bedeutung. In Spielen der Kinder und einer Mutter mit Kindern ist Amor's ganzes Reich, seine Scherze und Unfälle, seine Begegnisse mit Paphia, mit der Psyche, mit Hercules, mit dem Löwen, der Biene, den Kränzen u. s. w. uns vor Augen; alle mit zartem Kindessinn gedacht und mit griechischer Lieblichkeit angewendet. Aus dem einzigen Wort Psyche, das den Schmetterling und die Seele bedeutet, sind hundert sinnreiche Anwendungen in Kunst und Dichtkunst entsprossen, deren eine die andre erklärt hat. Wenn Amor und Psyche beide als Kinder einander küssen, meint man nicht, in diesem Augenblick, im ersten Gefühl ihrer unschuldigen Liebe sproßten Beiden die Flügel? So wenn Psyche dem Amor fleht, wenn er sie peinigt oder tröstet. Glaube man doch nicht, daß Appulejus diese Fabel ersonnen habe; sie war lange vor ihm da in Denkmalen, die sein Zeitalter nicht bilden konnte, ja selbst in der Sprache. Er that nichts, als die einzelnen Auftritte zu einem Märchen dichten, und dazu auf eine sehr africanische, der Venus unanständige Weise. Selbst die Symbole beider Personen, den Schmetterling und die Fackel, hatte die Dichtkunst vielfach angewandt; Liebenden ließ sie die Fackel Amor's bis in die Unterwelt leuchten.
Die Schönheit der Jünglinge in der Kunst hat die griechische Poesie ebenso süß begleitet. Ich darf Sie nicht an die zwei Oden Anakreon's erinnern, die Franz Junius für die Kunst commentirt hat;Die siebzehnte und achtzehnte der Anakreontischen Sammlung. – D. in Dichtern und Weltweisen, von Plato bis zu Plutarch, von Homer bis zum letzten Romanschreiber der Griechen wird dieser Jugendblüthe der Schönheit wie auf einem Altar der Grazie geopfert. Der Kuß jenes jüngern Plato, in welchem seine Seele ihm auf den Lippen schwebte, haucht noch; sein geliebter Stern (ἀστήρ), den er mit tausend Augen anzusehen wünschte, glänzt noch unter den Sternen.Vgl. Werke, VII. S. 57 f. – D. So mehrere Gedichte Meleager's; und o wäre die Stimme der Lyra nicht verhallt, die diese Blume der Menschheit mit höchstem Wohlgefallen pries! Die griechische Sprache hat in Bezeichnung der Jugendgrazie einen anerkannten Reichthum an Ausdrücken, unter Andern auch deswegen, weil diese meistens auf die Kunst anspielen. Die Kunst machte ihre Begriffe klar und gab ihren Empfindungen die Gestalt der Worte. Unter Andern z. B. finde ich, daß die Jungfräulichkeit des Jünglinges, die holde Scham auf seinem Gesicht, in seinem Anstande und in seinen Sitten ebenso hoch von der Muse gepriesen ward, als die Kunst sie fein ausdrückte. Beide bemerkten die zarte Blüthe des Lebens, in der sich die Geschlechter gleichsam trennen wollen und doch noch zusammen wohnen (ein Punkt, der von den Neuern sehr mißverstanden ist, und den auch die spätere Kunst vielleicht zu üppig ausgebildet), als den wahren Reiz der Schönheit. Kein Jüngling, dünkt mich, kann einen dieser Jünglinge anschauen, ohne daß die heilige Scham sich sanft auf seine Stirn senke und jeden Frevel, jede Frechheit von ihm verscheuche.
Fügen wir hiezu die Stimme der Musen, die das Gefühl der Freundschaft, der Schwester- und Bruderliebe, der Pietät gegen Eltern, gegen Wohlthäter des Menschengeschlechts, gegen Götter und Helden singt; hören wir bei dem Dichter die Klagen Achill's um seinen Patroklus, der Elektra um ihren Orest, der Antigone um ihren Bruder Polynices; hören wir den Priamus um die Leiche seines Sohnes bitten, den Ajax sein nachbleibendes Kind segnen; begleiten wir bei Euripides die jungfräuliche Iphigenia zum Opferaltar, die Polyxena zu Achill's Grabe und sehen Jene den Orest wiedererkennen am Altar der Diana, und hören Hippolytus' Klagen über die Liebe seiner Mutter u. s. w., so schließt sich uns das Herz auf zu diesen edlen Gestalten, auch wenn sie in der Kunst erscheinen. Wir verstehen die Sprache, die um Orest' und Pylades', um Iphigeniens und Hippolytus' stumme Lippen schwebt; wir begreifen die seelenvolle Einfalt, die uns in jeder griechischen Gruppe, bei jedem friedlichen Zusammensein mehrerer Personen innig vergnügt. Wir verstehen die Trunkenheit des Danks im Haupt der Ariadne, die Scham in der Andromeda, die vom Felsen niedersteigt, im Antlitz der wiedererkennenden Iphigenia Wuth, Erbarmen und zärtliche Erinnerung wunderbar gemischt, und lesen, wie der Dichter sagt, den ganzen Trojanischen Krieg in der Polyxena Augen.Zur Erläuterung mögen dienen die aus der Anthologie übersetzten Epigramme: Werke, VII. S. 53 f. (»Der Schlaf« bis »Die Freundschaft«); 55–57 (»Anakreon's Grab« bis »Der neue Stern«); 58 f. (»Die sterbende Tochter« bis »Stimme eines Sohnes«); 62 (»Ein häuslicher Altar«. »Die Seele«); 63 f. (»Aristodice«. »Die Beweinenswerthen«); 66 (»Die sterbende Tochter«. »Grab der Schwester«); 68–70 (»Ein Wunsch« bis »Das Spiel«); 71 f. (»Sophokles' Grab«. »Die Rose«); 73 (»Erinna« bis »Anakreon's Grab«); 74 (»Die Insel der Liebe«); 75–79 (»Die Sängerin« bis »Das Grab der Ehegatten«); 84 (»Die Spartanerin«. »Aeneas«); 86 (»Das Grabmal der Ehegatten«); 88 (»Grab einer Tochter«. »Der Ausgang und Eingang des Lebens«); 91 (die beiden letzten Epigramme); 95–99 (»Der warme Quell« bis »Der brennende Strahl«); 104–107 (»Die Bienen« bis »Der trügende Spiegel«); 108 f. (»Die Grabesstätte« bis »Der Tod«); 116–119 (»Die Quelle« bis »Das Bild der Berenice«); 124 (»Die Echo« bis »Auf das Bild eines schlummernden Satyrs«); 127 (»Der Tempel Jupiter's«. »Die Pforte des Tempels«); 128 (»Auf das Bild der Polyxena«. »Auf die Bildsäule der Niobe«); 131 f. (»Ajax' Tod« bis »Hektor's Grab«). Die Stellen bei Homer, Sophokles und Euripides, auf welche sich der Brief bezieht, sind Jedermann bekannt. Die Epigramme, die Stolberg, Voß, Conz u. A. übersetzt haben, wünschte ich gesammelt zu finden. – H. [Das Epigramm auf Iphigenie hat Herder in den Werken, VII. S. 129 übersetzt, das auf Polyxena daselbst, S. 128. – D.] Ohne jene erklärende Stimme der Dichtkunst würden uns die Kunstgestalten der Griechen vielleicht Wundererscheinungen sein; jetzt werden sie unserm Herzen innig zusprechende Freunde.
Da endlich die höchste Blüthe der schönen Gestalten Griechenlands eine Heldentugend in jeder Art und in beiderlei Geschlecht war, so wird hierüber die Stimme der Musen gleichsam ein fortgehender Hymnus. Von jener Vorstellung an, da die Nymphe den Jupiter als Kind tränkt, bis zur Erziehung Achill's bei seinem freundlichen Centaurus, vom Hercules, der in der Wiege die Schlangen erdrückt, durch alle Gefahren hin, bis er zum Olymp und zum Besitz der Hebe gelangt, stehen Helden und Heldinnen, Ringer, Kämpfer, Wetteiferer um den Ruhm eines großen Verdienstes für ihr Vaterland, für ihre Freunde und Gesellen in Stellungen vor uns, wie sie die Muse verkündigt und ihnen den Kranz der Unsterblichkeit darreicht. Ohne dieses Gefühl der Ehre wären keine schöne griechische Körper und Seelen, keine Helden und Götter, auch keine Kunst, die sie würdig darstellte, entstanden; denn auch die griechischen Götter und Göttinnen sind Helden der Tugend, d. i. einer Virtuosität, jeder in seiner Art. So preisen sie die Hymnen: den Zeus als den Mächtigsten und Besten, dem Themis zur Seite sitzt und mit ihm weise Gespräche pflegt; die Pallas, aus seinem Haupte geboren, als eine Beschützerin der Städte, die Meisterin des Krieges, die Erfinderin der schönsten Künste des Friedens; so den Hephästus, der den Sterblichen die nützlichsten Werkzeuge und Gaben geschenkt hat; Hermes und Vesta, die Wächter des Hauses; Bacchus und Apollo, die Ideale griechischer Heldenjugend in zwei verschiedenen Gestalten; sammt der Artemis, Demeter, Aphrodite, selbst Ares und Here. Alle sind Ideale der Werkthätigkeit und Vollkommenheit in einer gewissen Art und als solche Vorbilder der Menschen. Der Hymnus des Homeriden an Apollo ist der glorreichste Commentar des Gedankens, der den Künstler bei der Darstellung des Gottes belebte; so in verschiednen Stufen die andern Homerischen Hymnen. Die Weihgesänge des Orpheus und Proklus verdunkeln oft die Gestalt des Gottes und verhüllen sie in einen heiligen mystischen Nebel. Aber Homer und Pindar, die tragischen Chöre und jeder Laut einer ältern Stimme simplificirt die Gestalt und kommt der Kunst nahe. Alle zeigen, der höchste Kampfpreis der Griechen sei in den frühesten Zeiten Männlichkeit (Tugend), in den spätern Nutzbarkeit fürs gemeine Beste, schöner Wohlstand und die Blüthe eines unsterblichen Ruhmes gewesen. In solcher Rücksicht schaue man Götter und Helden an; sie ermuntern uns alle, unsre Tage nicht in üppiger Trägheit langsam zu verdauen, sondern, worin es sei, nach dem edelsten, höchsten Kranz in einem bestimmten und vollendeten Charakter zu streben. Kräftiger kann dies schwerlich gesagt werden, als es uns die Bildsäulen und Denkmale der Götter und Helden, der Dichter und Weisen von Theseus bis zu Antonin's Zeiten hinab, begleitet von der Stimme der Musen, sagen. Sei Deine äußre Gestalt dem Gott und Helden unähnlich, Dein Gemüth darf es im Besten ihres Charakters nicht sein; denn dies Beste ist in jedem ihrer edlen Geschäfte Virtuosität, Tugend.
Die bestimmte und schöne Art, wie die griechische Kunst in menschlichen Charakteren die Form von der Unform trennte und diese in Regeln einschloß, ist ein Meisterwerk ihres sondernden Verstandes. Daher, daß wir so wenig Porträte und so viel Ideale der ältern griechischen Kunst sehen; daher, daß auch in ihren Ungeheuern und verworfenen Gestalten so viel Bedeutung wohnt. Ihr Volk der Satyren hat mich nie erschreckt; Gestalten dieser Art gehörten dahin, wo sie standen, und zeigten an, daß auch unter dem ländlichen Volk Freude herrschen sollte. Wo diese verstummt, wo kein Pan und Satyr die Flöte bläst, keine Nymphen im Hain und auf den Wiesen ländliche Feste feiern, da stehen freilich sowol die Satyren als die Götter und Helden am unrechten Ort, sie sind bedeutungslose Götzenbilder.
Aber auch darin muß der schöne Verstand der Griechen gepriesen werden, wie sie die Denkmale der Götter gesellten. Oft standen die verschiedensten neben einander, und einer milderte des andern Bedeutung; die Ueberschrift bemerkte dieses. So fügte die Kunst nicht etwa nur den Mars und die Venus, Vulcan und Pallas, sondern auch Bacchus und Pallas, Bacchus und Hercules, die Hoffnung und die Nemesis, Vergessen und Erinnerung und so manche andre Dinge zusammen, die sich einander gleichsam beschränkten oder belehrten. Ein angenehmer Lustweg wäre es, den Pausanias und die griechischen Dichter in dieser Absicht zu durchwandeln; denn was die Allegorie der Griechen eben so schön macht, ist ihre holde, ich möchte sagen, wahre Einfalt. Nie wollte sie zu viel sagen; sie ward nur gebraucht, wohin sie gehörte, wo man durch sie sprechen mußte. Nach Gelehrsamkeit strebte sie nur in den schlechtern Zeiten; was sie aber sagte, deutete sie so an, daß, wenn man das Bild auch nicht verstand, man doch ein schönes Bild sah und von der Vorstellung selbst geneigt gemacht wurde, ihr einen Sinn anzudichten. Ein Vorzug, den wenige neue Allegorien erreichen.
Aber es kam die Zeit, da dieser schöne Kunstsinn untergehen und eine gedrückte, mystische Vorstellungsart die Gemüther der Menschen benebeln sollte. Lange barbarische Jahrhunderte hindurch waren dem Schmetterlinge die Flügel genommen; er kroch als Raupe daher oder lag eingesponnen in rauhen Windeln. Als er wieder erwachte, zeigte sich, wir wollen es nicht verhehlen, eine neue sittlichere Kunstgestalt, von welcher in manchem Betracht die Griechen nicht wußten. Das weibliche Geschlecht, das bei ihnen in Gynäceen eingeschlossen war und, wenige Fälle ausgenommen, nur in Gestalt der Göttinnen und Amazonen, der Musen und Nymphen der bildenden Kunst einverleibt werden konnte (von den griechischen Gemälden können wir nicht urtheilen), dies Geschlecht hatte durch das Zusammentreffen christlicher und nordischer Sitten gleichsam einen öffentlichen Charakter und mit diesem eine sittliche Bildung erhalten, von der vielleicht die Griechen nicht wußten. Ich möchte sie die christliche Grazie (Carità) nennen, die, nachdem sie in den Lobgesängen auf die heilige Jungfrau lange gepriesen war, auch auf ihre Nachbilder überging und in den Gesängen der Trobadoren zuerst jene züchtige Anmuth schuf, in der sich Religion, Liebe und häusliche Sittsamkeit wie drei Huldgöttinnen zusammengesellten. Diese christliche Grazie ist es, die zuerst in den Bildern der Maria erschien, aus ihnen sodann in die Gesänge der Dichter überging und von den Zeiten der wiederauflebenden Kunst die Compositionen der Neuern mit einem eignen Geist durchhauchte. Gewiß hatte die Welt während der barbarischen Jahrhunderte nicht geschlafen; Völker, Sitten, Ideen hatten sich mannichfaltig gemischt und geläutert. Von diesem vielleicht etwas dumpfen, aber nicht verwerflichen Geschmack zeugt schon die ältere Florentinische Schule. Raphael klärte ihn durch Formen der Alten, ganz in eigner Weise, auf; andre Glückliche folgten. Selbst die Uebertreibungen des Giulio Romano und Mehrerer seinesgleichen zeigen in ihrer Trunkenheit einen Reichthum neuer Begriffe, obwol ohne Maaß und Ziel; einige neu erfundene Gehilfskünste gaben ohnedies dem Ganzen eine andre Ansicht. Welch ein schöner, fast noch unberührter Kranz blüht für Den, der Raphael's Genius in seiner eignen holdseligen Gestalt durch alle seine Werke verfolgen und aufs Bestimmteste zeigen wird, was er gegen die Alten sei. Eben dieser Genius wird ihn nothwendig vor- und einige Schritte rückwärts führen. In Ansehung der Humanität taucht er damit in ein weites, hie und da kaum zu berührendes Meer.
Wo stehen wir jetzt mit unserm Kunstgeschmack? »Neulich,« sagt Petron,Sat., 2. 7–9. – D. »ist jene windige und enorme Schwatzhaftigkeit aus Asien nach Athen gewandert und hat die Gemüther der Jünglinge, die nach etwas Großem streben, mit dem Hauch der Pestilenz vergiftet. Das Richtmaaß der Beredsamkeit ist verfälscht, die wahre Beredsamkeit ist verstummt. Wer hat sich seitdem zur Höhe des Thucydides, wer zum Ruhm des Hyperides erhoben? Kein Gedicht sogar hat mit gesunder Farbe hervorgeglänzt; Alles ist von demselben Brei genährt und kann zu einem rühmlichen grauen Alter nicht gedeihen. Auch die Malerei hat keinen andern Ausgang haben können, seitdem die Keckheit der Aegypter ein Compendium dieser so großen Kunst erfand.« Petron ist ein Prophet für alle Zeitalter; die Compendienkunst unsrer Aegypter liegt vor uns. Ein andermal davon mehr!
Bei unsrer weitverbreiteten deutschen Sprache, die auch in fernen Ländern gesprochen und geschrieben wird, kommen nicht selten kleine Schriften zum Vorschein, die einer allgemeinen Aufmerksamkeit und Theilnehmung werth wären. Aus Dänemark, Preußen, Polen, Kur- und Livland, wol gar aus Amerika wären dergleichen zu nennen; jetzt werde ich Ihnen aus einer kleinen Schrift:
»Bonhommien, geschrieben bei Eröffnung der neu erbauten ‑ ‑ schen Stadtbibliothek«,
einige schöne Gedanken auszeichnen. Damit mich aber nicht eine Jugendliebe zu der Stadt, für die die Schrift zunächst geschrieben ist, angenehm täusche, will ich ihren Namen nur ans Ende versparen und blos das Allgemeinnützliche bemerken.
Der Verfasser fängt, wie es sein muß, von den Grundfesten seiner Stadt, den bürgerlichen Tugenden, an. »Ehrenbenennungen,« sagt er, »welche Betriebsamkeit, Mäßigung, Liebe zur Ordnung andeuten, die gebt dem Städter! Sie erinnern ihn an Tugenden, auf welche sein Wohlstand gegründet ist. Ein Gewerbe, das ohne diese Stadttugenden durch blindes Glück, durch träge Schlauigkeit getrieben werden könnte, ist nicht das unsrige. Sie glänzen nicht, diese Tugenden; aber sie wärmen. Sie erhalten die Gemüther ruhig; die Neigung zu städtischen Gewerben und Beschäftigungen wird dadurch gestärkt, so wie die Sucht nach äußern Vorzügen diese Gewerbe verleidet. In Städten ist eine Ehre, die Regierungen nicht geben, nicht nehmen können. Wohlstand ist das Wort für Städte. Man denkt sich dabei Mittel und Genuß häuslicher Glückseligkeit. Wohl erworben zu haben ist hier das gute Aequivalent von dem Wohlgeborensein des ersten Standes, dessen edelster Vorzug es ist, den zweiten zu beschützen. Jene heroische Zeit verlangte Aufopferungen; Armuth, Entbehrungen waren damals auch Bürgertugenden. Sie sind es nicht mehr. Die Anmuthungen an den Stadtbürger sind jetzt: er soll erwerben, soll das Erworbene genießen; aber zu einem festen Wohlstande ist nur durch Rechtschaffenheit und Betriebsamkeit zu gelangen. Zu diesen Bürgertugenden Anleitung geben, das ist in der Macht der Regierung, und es thut dem Herzen wohl, bei Eindringung in den Geist einer Verfassung auf Anleitungen und Antriebe zu ihnen zu treffen. Bei neuen Einrichtungen ist insonderheit daran gelegen, den Geist davon gleich richtig aufzufassen. Dieser erkannte Sinn der Gesetzgebung, in Blut und Saft verwandelt, geht sodann in gute Grundsätze über, die zu Aufrechthaltung der öffentlichen Glückseligkeit so kräftig mitwirken. Der gute Geist ist in einer Gemeine leicht zu erhalten, wo derselbe bereits lange gewaltet hat.«
Diese Grundsätze, denen der Verfasser viel Localinteresse einstreut, führen ihn bei seiner neu errichteten Bibliothek zum großen Hauptsatz: »Praktische sittliche Aufklärung ist gute Volkserziehung.«
»Die Bücher in der alten Stadtbibliothek,« sagt er, »waren größtentheils aus den aufgehobnen Klöstern gesammelt; und so standen nun hier, wie vormals in Zellen, dicke Mönchsgelehrsamkeit in Thierhäuten, seltene Bibelausgaben an Ketten, Alles ungelesen, in lichtscheuen Gemächern.
»Religion und Gelehrsamkeit wohnten unter einem friedlichen Dache; sie gingen aber nicht Hand in Hand, sondern eine jede dieser ernsten Bewohnerinnen ging für sich ihren einsamen dunkeln Pfad. Die Diener der Religion waren Sammler und Bewahrer der zu einer künftigen Anwendung modernden Schätze der Weisheit. Ueberhaupt hätte die Religion der Christen, deren praktische Lehren im Testament für diese so klar sind, den Aufwand von Gelehrsamkeit auch entbehren können. Sie behielt aber nicht lange ihre edle Einfalt; es entstand die Wissenschaft, Theologie genannt, die von gelehrten Zusätzen wie von frommen Täuschungen durch alle neue Kraft noch nicht hat gereinigt werden können. Diese Religion, welche geoffenbarte Vernunft und die reinste Moral ist, würde mit sittlicher Aufklärung zugleich hieher gekommen sein, wenn sie nicht bereits in Süden im Grunde verdorben gewesen wäre, wie sie von da nach dem treuherzigen Norden kam.« (Hier geht der Verfasser die nähern Umstände dieser Ankunft durch.) »Die Religion also, welche Schützerin der Menschheit sein sollte, trat diese mit herrschsüchtigen Füßen; sie predigte nicht mehr Würde der Menschen, die Quelle aller Moral, sondern Erniedrigung. Sie führte Leibeigenthum ein und hob jedes andre Eigenthum auf; sie herrschte, statt durch Beispiel gehorchen zu lernen.« Der Verfasser verfolgt das daher mehr noch im Frieden als im Kriege bewirkte Sittenverderbniß und fährt edel fort:
»Wir wollen diese Mißgeburten der Zeit nehmen, wie sie damals nach den Meinungen und der Denkungsart der Menschen darin geformt werden konnten. Wir würden in derselben Lage dasselbe Gepräge angenommen haben. Laßt uns aber auch mit derselben Billigkeit das gute, durch Religion nicht belehrte, sondern unterjochte Volk behandeln. Es war von Natur nicht unfähig zum Guten; denn es war schon auf dem letzten Grade der Cultur der bürgerlichen Gesellschaft; es trieb Ackerbau, es lebte in Dörfern. Als es aber durch seinen Unglauben Freiheit und Eigenthum verwirkt haben sollte, als Dörfer zu Hoffeldern gemacht wurden und der Sauerteig der Sclaverei Jahrhunderte lang in seinem Eingeweide gewüthet hatte, da – verlangte es selbst nichts mehr als – Brod und Ruthen von seiner Herrschaft. Es verlangte nicht Freiheit.
»Wie ist denn ein Volk zu zwingen, glücklicher zu sein, als es selbst sein will? Zwang und Furcht sind Polizeimittel. Das moralische Gute, wovon hier die Rede ist, kann nur durch Besserung des Willens bewirkt werden.
»Dazu gab man ja dem Volke Lehrbücher? Lehrbücher einem Volke, das nicht lesen konnte, nicht lernen wollte. Auch Lernen ist eine Arbeit, der es sich so unwillig unterzieht als jeder andern Arbeit, weil es dafür hält, daß nicht ihm, sondern seinem Herrn die Früchte aller Arbeit gebühren. Gebt dem Volke mehr als trocknen Unterricht, gebt ihm Erziehung! Gewöhnt es zu Begriffen von Eigenthum, und Ihr werdet es einer bürgerlichen Glückseligkeit empfänglich machen! Durch ein zugesichertes Eigenthum würde das Volk Zutrauen zu sich und zu seinem Herrn wieder erhalten.
»Gebt ihm Erziehung! macht den Menschen in ihm froh und empfindend! Jetzt muß es arbeiten; dann wird's arbeitsam werden.
»Gebt ihm Erziehung! Lehrt den Sclaven genießen! Schafft ihm mehr Bedürfnisse als Schlaf und Trunk! laßt ihm mehr von dem Ersten als von dem Letzten. Jener König gab den Befehl in seinem Lande, daß der Bauer nicht anders als in Stiefeln des Sonntags zur Kirche kommen sollte. Durch dies befohlne Bedürfniß vermehrte er die Cultur auf dem Lande und den Fleiß in den Städten. Wenn unser Landbauer seinen Fuß mit der Haut des für sich geschlachteten Viehes statt wie jetzt mit den Häuten der dazu ausgerotteten Bäume bekleiden wird, dann wird er sich achten und sowol sich als das Land besser cultiviren lernen.
»Diese Mittel, Eigenthum, Frohsein und Bedürfniß, sind Sach- und Lageerziehung, die zur Bildung wirksamer ist als Wortunterricht. Ein Gutsherr gab seinen Landbauern reinlichere Wohnungen und einen Spiegel darin, um sich ihre Gestalt vorhalten zu können. Diese Anleitung zur Selbstschätzung, zur Reinlichkeit ist auch gute Volkserziehung.
»Wozu aber alle diese Verfeinerungen? Die gegenwärtige grobe Anwendung unwilliger Kräfte schafft schon dem Lande Ueberfluß und zieht auswärtige Reichthümer dahin. Glaubt davon nichts! Ein Land ist arm, wo die Wenigsten genießen und die Mehrsten arbeiten müssen. Es ist alsdann nicht der Ueberfluß, der aus dem Lande geht, sondern der entzogene Genuß. Was dafür ins Land gezogen wird, ist nicht wahrer Reichthum, und wenn dieser in baarer Münze dahin käme. Reichthümer sind die, welche durch größere Cultur des Landes entstehen und im Lande genossen werden. Auch war bei den Mitteln zur Bildung des Volks nicht die directe Bereicherung der Herrschaft die Absicht, wenngleich die Vermehrung der Einkünfte eine Folge ihrer Auslagen bei dieser Bildung sein würde.
»Ein in sich erniedrigtes Volk kann, wie gesagt, nur durch langsame geduldige Leitungen auf den Weg, sich seiner Existenz zu freuen, wieder gebracht werden. Und es ist billig, daß Die, welche Güter erben, die darauf haftenden Schulden bezahlen.
»So sollte also wol ein jeder Gutsbesitzer der Erzieher seiner der Erde zugeschriebenen Arbeiter sein? Allerdings. Und der Regent ist aus angestammter Schuldpflicht der Erzieher des Landes.
»Die besoldeten Volkslehrer sind zu dieser Erziehung die zugeordneten Räthe der Landesbesitzer. Dieser ehrwürdige Stand denkt jetzt allgemein über seine Bestimmung nach und findet, daß dieselbe nur dadurch auf die künftige Glückseligkeit wirken kann, wenn er die gegenwärtige befördern hilft. Durch praktische Anweisungen aus der Natur- und Sittenlehre, durch Anleitungen in Gewerben und Wirthschaftsangelegenheiten, worin derselbe auf dem Lande ohnedies mit verflochten ist, werden diese Volkslehrer jetzt mehr ausrichten, als jemals durch unfruchtbare Dogmen zu bewirken ist. Warum gesellen sie sich nicht, diese unsre Volkslehrer, den Eingebornen des Landes zur Hilfe?
»Heil Dir, Gerechter auf A.**, der Du mit Deinen Erbmenschen wie mit Mitmenschen einen gesellschaftlichen Vertrag über gegenseitige Pflichten errichtetest! Leicht sei Dir dafür Deine Erde! Zu Deinem Grabe sollten die Söhne des Landes und der Stadt wallfahrten, um gemeinnützige Gesinnungen, richtige Einsichten über ihr gemeinschaftliches Interesse als Reliquien von da mitzubringen.«
Der Verfasser kehrt nach dieser menschenfreundlichen Umsicht zu seiner geliebten Vaterstadt zurück. »Die kleinere Menge in Städten,« sagt er, »ist eher zu beleuchten, insonderheit in einer Handelsstadt, wo Freiheit und Duldung bald nothwendig werden. Hier war anfangs der öffentliche Unterricht ein Monopol der Domherrn. Kaufleute, Feinde von allem Zwange, entzogen sich auch diesem Lehrzwange und schickten ihre Söhne nach einer auswärtigen Schule, die damals wegen einer bessern Lehrmethode berühmt wurde. Diese kamen mit ihrem dort verfolgten Lehrer zurück und zündeten hier das erste neue Licht an, das man damals nicht so bescheiden wie jetzt Aufklärung, sondern dreister Reformation nannte. Die Verbesserung kam also von daher, woher eine jede ausgehen muß, wenn sie Grund und Bestand haben soll: von der Jugend und vom Unterrichte.
»Bücher trugen damals noch wenig zur Aufklärung bei. Was auf einheimischen Gymnasien und Akademien damals geschrieben und gelehrt wurde, mag wol Gelehrsamkeit gewesen sein, beförderte aber nach Materie, Form und Sprache, in der sie verschlossen war, keine Art der Aufklärung. Und so verschließt immerhin fruchtleere Gelehrsamkeit, abstracte politische Speculationen, aber gute praktische Wahrheiten behaltet nicht in verschlossener Hand! Sittliche ruhige Aufklärung vollendet, was das schnelle Licht der Erleuchtung nur beginnen konnte. Sie hat vollendet, wenn die tiefe Einsicht in die Natur der moralischen Dinge allgemein geworden ist: »daß alles öffentliche und Privat-Böse Unsinn und Thorheit sind, daß Rechtschaffenheit Stadtweisheit und Staatsklugheit ist.«
»Zwar ist Vollendung nicht das Loos von hienieden, aber eine jede vermehrte sittliche Aufklärung erleichtert den bürgerlichen Regierungen die Sorge für die öffentliche Glückseligkeit.«
Werden Sie nicht geneigt, nach einem solchen Eingange unsern Oberbibliothekar weiter zu hören? »Dann gedeiht,« sagt er, »Aufklärung, wenn auf die untere Masse Licht von oben herabfällt.«
Als Geschenke der Gutmütigkeit stehen vor dem Eingange seiner Bibliothek zwei Köpfe: Homer und Montesquieu.
»Der Erste mit dem Stempel der noch nicht verschliffenen Natur flößt Ehrfurcht ein; man findet sich, auf seinem Angesicht verweilend, so behaglich und mit sich selbst zufrieden. Der Zweite drückt bei aller Offenheit seiner edlen Züge die höchste gesellschaftliche Cultur ab; ihm gegenüber wird man aufmerksam auf sich und empfindet Unruhen. Guter Alter, wie würdest Du in einer Unterredung mit dem Präsidenten bei seiner Darstellung der neuern politischen Einrichtung in der Welt staunen! Der Ariadnische Faden dieses Staatsweisen würde Dir kaum aus dem anscheinenden Gewirre heraushelfen. Zu Deiner Zeit, welch einfacher Gang der Dinge! die Tugenden, wie einförmig! die Sitten, wie schlicht! Die Männer waren alle tapfer, die Weiber alle häuslich. Jetzt Stände, deren jeder verschiedne Pflichten, verschiedne Tugenden, verschiedne Ehre hat. Welche Federn sind bei Vervollkommnung der bürgerlichen Gesellschaft in die vergrößerten Staatsgebäude gelegt, daß Alles, ohne sich zu hindern, zu einem Zweck wirke! Sie sind: geordnete bürgerliche Freiheit, eine gesetzliche ausübende Gewalt und Ehrfurcht für beide.«
Der Verfasser führt uns über China, das treffend geschätzt wird, zu seinem Grundsatz: Sitten unterstützen die Verfassungen. »Städtische Gebräuche,« sagt er, »belacht von dem Hofmann, dem nur Etikette wichtig ist, ehrwürdig dem Staatsmann, der einsieht, wie sie an Tugenden hangen und zusammen das bilden, was wir Sitten nannten. Wenn vordem laute Hausandachten gehört wurden, so war dies nicht größere Frömmigkeit (die wohnt nur im Herzen), es war gute Sitte, welche Ehrerbietung gegen Hausväter, Ordnung im Hauswesen, Regelmäßigkeit in Geschäften und Gewerbe vermehrte. Hat doch die einzige gute Manufactur, die bei uns Bestand gehabt hat, der Gebrauch eingeführt. Die Töchter der Stadt sind wie die Lilien auf dem Felde: sie spinnen nicht, aber – sie stricken. Alles, von der arbeitsamsten Hand bis zur schönsten, strickt, auch bei freundschaftlichen Besuchen und bei größern Zusammenkünften. Bringt diese gesellschaftliche Handarbeit, die hier in Ehren ist, in Verachtung (dies ist das Mittel, Gebräuche abzuschaffen): wie viel Tugend und Wohlstand gingen zugleich verloren!«
Der Verfasser geht mehrere gute Gebräuche seiner Stadt mit feinen Bemerkungen durch und kommt zu einem andern Satze: Arbeit und Geduld führen zum Wohlstande. »Die neuen Erzieher,« sagt er, »suchen den Schulweg ebner zu machen; sie dürften ihn nur für die Jugend zu ihrer praktischen Bestimmung gerade ziehen. In Lehranstalten würde alsdann die Bildung des künftigen Bürgers so anfangen, wie sie in Dienstjahren fortgesetzt wird. So leicht in den Gewerben des bürgerlichen Lebens die Theorien sein mögen, so erfordern sie doch in der Anwendung anhaltende Uebungen, um die in Geschäften nothwendige Fertigkeit, Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit sich eigen zu machen. Die in Städten von bedächtigen Vorfahren angeordneten längeren Dienst- und Lehrjahre waren wol gut, den brauchbaren Mann in der bürgerlichen Gesellschaft zu bilden. Der Ritter wie der Kaufmann, der Kaufmann wie der Handwerker mußten durch die Grade von Knappen, Burschen und Gesellen gehn, ehe sie ein Meisterrecht erhielten. Der ungeduldige Genius unsers Zeitalters bricht lieber herbe Früchte, als daß er ihre Reife abwarte. Es gehört nunmehr auch schon dazu ein Hercules, um auf dem Scheidewege der Tauglichkeit oder Untauglichkeit im Staat, jener Verführerin, die mit Seifblasen zum unzeitigen Genusse lockt, nicht zu folgen, sondern mit langsamen Schritten die Höhe zu ersteigen, wo der grünende Kranz des Wohlstandes aufgesteckt ist.«
Auf dieser Höhe spricht der Verfasser vom Gemeingeist, der Alles in Rücksicht des Ganzen betrachtet, dem wahren Schutzgeist der Städte.
»Das Alterthum,« sagt er, »hatte so viel öffentliche Gebäude, prächtig durch ihre Größe: Akademien, Coliseen, Theater u. s. w., die wie die Luft zum freien Gebrauch waren. Die neuere Zeit hat lauter eingeschränkte Besitzungen, öffentliche Gebäude, wo der Eintritt vor der Thür bezahlt wird. Sind in unsern engen Kreisen Herz und Geist beschränkter wie in jenem uns romantischen Alter, so streben wir jetzt desto sicherer nach einem nicht zu hoch gesteckten Ziele.
»Gemeingeist (public spirit), diese Benennung stammt von der britischen Insel; wir verehrten ihn aber lange vorher unter dem ehrbaren Namen: der Stadt Bestes. Dieses Wort hatten unsre Voralten oft im Munde. Ihre Errichtungen und Verwaltungen, von welchen wir noch die Vortheile genießen, bezeugen, daß sie die Sorge für das Beste der Stadt auch im Herzen getragen haben. Die Stadt ist ebenso glücklich auf die Vorstellung: »Wir arbeiten zusammen für uns und unsre Kinder,« als auf ihre Lage gegründet.
»An der tödtenden Gleichgiltigkeit für ein örtliches allgemeines Beste waren Regierungen weniger Schuld als Theologen, Staatsbeamte, Philosophen. Die Theologen zuerst sagten: »die Erde sei ein Gasthaus für Durchreisende, die nur im Himmel Bürger wären;« als wenn Der dort ein guter Bürger werden könnte, der hier ein schlechter war. Die niedern Staatsbeamten redeten nur von einem Kronsinteresse; ein Wort, worin kein Sinn ist, wenn dieses Interesse mit dem allgemeinen Wohl in Widerspruch genommen wird. Und nun die Philosophen mit ihrer Alleweltsbürgerschaft, die nirgend zu Hause ist! Ich bin ein Bürger der Stadt, und nichts, was meinen Mitbürger darin angeht, ist mir fremd. Diese Gesinnung ist beschränkter, hat aber mehr Energie als der Terenzische Ausspruch vom Theater gesagt: »Homo sum« etc. »Da bist Du was Rechts!« antwortete Lessing von der neuern Bühne. Und was ist auch in einer bestimmten bürgerlichen Gesellschaft der Mensch in abstracto und ein Bürger in concreto der ganzen Welt?«
Der Verfasser verfolgt den Gemeingeist seiner Stadt auch in die öffentlichen Gesellschaften; denn »wo nistet,« würde der Späher Montaigne sagen, »die Tugend sich nicht zuweilen hin?« Andringend und local zeigt er, daß praktische Gelehrte seiner Stadt unentbehrlich sind, und wie sie ihr nützlich werden; er kommt endlich auf die Geschichte der Lectüre. »Bücher,« sagt er, »die Einfuhr fremder Gedanken, ist hier zollfrei. Eine Censur wäre nützlich: nur Werke von wahrem innern Werth sollten eingeführt und gelesen werden können.
»Zu uns schießen von Messe zu Messe so unendlich viele einander durchkreuzende, auf die veredelten Lumpen Deutschlands geworfene Lichtstrahlen, daß vor zu vielem Licht der Tag oft nicht zu sehen ist. Durch welchen Wust von Schriftchen mußten wir uns durcharbeiten, ehe wir auf die wenigen Bogen: »Etwas, das Lessing gesagt hat«,Etwas, das Lessing gesagt hat. Ein Commentar zu den Reisen der Päpste nebst Betrachtungen von einem Dritten. 1781. Der Verfasser war Johannes Müller. – D. geriethen, worin so stark die Wahrheit gesagt wird, daß das Gute in der bürgerlichen Gesellschaft nicht befohlen, sondern nur aus freiem, aufgeklärtem Willen entstehen kann. Wie viel große Bände mußten wir durchblättern, ehe wir auf die »Ueber die Einsamkeit«Von J. G. Zimmermann. Vier Bände. 1784–1785. – D. kamen. Diese flößen Geschmack an häuslichen Freuden ein, erregen Widerwillen gegen geist- und zeitverderbende Zerstreuungen, gegen müssige Beschäftigungen u. s. w.
»Wirkungen vom Bücherlesen waren nicht so selten, wie noch weniger gedrucktes Papier zu uns kam. Damals waren hier von Zeit zu Zeit herrschende Werke. »Pamela«, »Clarissa«, »Grandison« folgten sich in der Regierung und theilten diese mit keinen andern Romanen. Auch wurden sie nicht für Romane gehalten, sondern täuschten lehrreich das noch treuherzige Publicum. Dieser gute Glaube an die Existenz vollkommener Muster ist, zum Schaden der Nacheiferung, durch die nachherigen vielen Carricaturen verloren gegangen, so daß sich ein Romanheld in dem zur Wirkung nöthigen Credit seiner Existenz kaum noch erhalten mag. Als unsre Hausväter nur noch den alten Sirach vorzulesen hatten, leiteten seine weisen Lehren Jugend und Alter. Als unsre Töchter nur noch den frommen Gellert lasen, wußten sie seine Moral auswendig. Eine Geschichte der Lectüre hängt mit der Geschichte der Sitten sehr zusammen.«
Gern möchte ich auszeichnen, was der Verfasser über die Naturgeschichte sagt, wenn es nicht zu local wäre. Er reclamirt alle Naturmerkwürdigkeiten aus Privatsammlungen in die öffentliche Sammlung; »diese hieher zu liefernden Stücke blieben einem Jeden und würden zugleich ein allgemeines Gut.«
»Es giebt also noch,« fährt er fort, »auf dieser mit Maaß und Gewicht zugetheilten Erde Güter, die gemeinschaftlich besessen werden müssen. Müssen: denn aus den drei Reichen der Natur haben die einzelnen Stücke erst einen Werth, sind zu Betrachtungen und zum Unterricht erst geschickt, wenn sie in ein jedem Lernbegierigen offenes Behältniß gebracht sind. In geizenden Privatbewahrungen werden sie der Aufmerksamkeit ebenso entzogen, als wie sie in der weiten Welt zerstreut lagen.« Mit edlem Enthusiasmus zeigt er die praktische Nutzbarkeit dieser Wissenschaft für seine Stadt. »Gewiß,« sagt er, »hängt von einem veredelten Geschmack eine veredelte Thätigkeit ab. Der Geschmack an Naturkenntnissen verleidet das Gefallen an aller Frivolität und giebt seinen Liebhabern den Drang zu mancherlei nutzbaren Ausführungen. Alles, was die Vegetation befördert und der Natur die Eier unterlegt, worauf sie brütet, aller Wegwurf, sogar todte Nachbleibsel von Allem, was Othem und Wachsthum gehabt hat, von Naturkenntnissen begleitet wird es mit Interesse angesehen werden.
»In diesem Cabinet, wie vormals in den Tempeln, sind die inländischen Naturbeobachtungen niederzulegen. Diese Wetter- und Krankheitsjournale, mit der jährlichen Ernte und den Mortalitätslisten in Vergleichung gebracht, würden zu einer allmähligen Kalenderverbesserung Stoff geben; mit einer plötzlichen Verbesserung hat es nirgend glücken wollen. Der Mensch, der einmal vom Denken abgebracht ist, befindet sich bei seinen Zeichen und Wundern so behaglich wie der Philosoph bei seinem einmal angenommenen System. Naturkenntnisse bringen auf den Weg der Wahrheit zurück und lehren Aberglauben kennen und verachten.«
Leicht werden Sie denken, mit welcher Gemüthsstimmung der Verfasser in den großen Büchersaal der vier Facultäten eintritt. Er läßt einen Peripatetiker funfzig Denkschritte in die Länge machen und ihn fragen:
»Alle die ungeheuren Packete, Theologie, Jurisprudenz bezeichnet, müßt Ihr studiren, jene, um Gott verehren zu lernen, diese, um mit Euren Mitbürgern in Friede zu leben? So ist es wol bei Euch eine gelehrte, schwer zu erlernende Kunst, wie fromme Gesinnung zu erregen und darnach zu handeln ist? Ihr habt besondre Gelehrte, die die Gesetze wissen, die alle Andern doch auch befolgen sollen? Wenn Eure Gelehrten diese Wissenschaften für die übrige Menge lernen und anwenden, so ist es bequem für diese Menge, wenn dies fremde Wissen im Leben und im Sterben ihr zugut kommt.
»Welch ein Schatz da in dem anstoßenden Schrank für die Heilkunde! Ihr werdet wol seit Hippokrates, der nur noch den Gang der Krankheiten beobachtete, die Mittel gefunden haben, sie alle zu heben? Zu seiner Zeit war das Leben kurz, die Kunst lang; jetzt ist's wol im umgekehrten Verhältniß?
»Aber die angelegentlichste Frage des Mannes im Mantel würde gewesen sein, wie viel speculative Wahrheiten von den neuern Philosophen gefunden worden und im philosophischen Schrank aufbewahrt ständen.« »Eine einzige,« antwortet der Verfasser, »von meinem Freunde Kant, diese: daß wir noch keine Philosophie, keine reine hatten. Eine Wahrheit, die er bewiesen hat, und die Sokrates vor ihm, ohne Beweis, so ausdrückte: »Wir wissen nichts.« Durch schwelgerische Speculationen über übersinnliche Dinge abgeleitet, ließen wir das uns zum Bearbeiten angewiesene Feld mit dem eingestreuten Samen in uns verwachsen daliegen. Nachdem der Schutt des angemaßten Wissens, wodurch die Vernunft mit sich selbst in Widerspruch kam, vom Herzen geräumt ward, konnte dasselbe für das Sittlich-Gute frei schlagen.
»Wir erfahren nämlich durch unsern innern Sinn die unbedingte Forderung: recht zu thun. Wir erfahren in uns die Freiheit, nach dieser Forderung zu handeln. Von diesen beiden Thatsachen können wir sicher ausgehn und sicher schließen: »Wir sind moralischen Ursprungs.« Ein höchstes moralisches Wesen hat dies Gesetz und diese Freiheit in uns gelegt; unsre Bestimmung ist moralisch, selbstverdiente Glückseligkeit. »Wer mir in meinen letzten Augenblicken noch eine gute Handlung vorzuschlagen hat, dem will ich danken,« sagte Kant zu seinem ihn besuchenden Freunde.««
Unnennbar schön und nützlich wäre es gewesen, wenn diese reine Absicht Kant's von allen seinen Schülern (von den bessern und besten ist's geschehen) erkannt und angewandt worden wäre. Das Salz, womit er unsern Verstand und unsre Vernunft abreibend geschärft und geläutert hat, die Macht, mit der er das moralische Gesetz der Freiheit in uns aufruft, können nicht anders als gute Früchte erzeugen. Und Niemand wäre es eingefallen, seiner Absicht gerade zuwider das Dorngebüsch, womit er die verirrte Speculation eben verzäunen wollte und mußte, zu einem Gartengewächs auf jeden nutzbaren Acker, in jede populäre Kunst und Wissenschaft zu verpflanzen. Und Niemand wäre es eingefallen, die Arznei, die er zur Reinigung vorschrieb, als einziges und ewiges Nahrungsmittel nicht anzuempfehlen, sondern durch gute und böse Künste aufzudringen und anzubefehlen. Jedoch ging es dem griechischen Sokrates in seinen Schulen anders?
Ich habe das Glück genossen, einen Philosophen zu kennen, der mein Lehrer war. Er, in seinen blühendsten Jahren, hatte die fröhliche Munterkeit eines Jünglinges, die, wie ich glaube, ihn auch in sein greisestes Alter begleitet. Seine offne, zum Denken gebaute Stirn war ein Sitz unzerstörbarer Heiterkeit und Freude; die gedankenreichste Rede floß von seinen Lippen; Scherz und Witz und Laune standen ihm zu Gebot, und sein lehrender Vortrag war der unterhaltendste Umgang. Mit eben dem Geist, mit dem er Leibniz, Wolff, Baumgarten, Crusius, Hume prüfte und die Naturgesetze Keppler's, Newton's, der Physiker verfolgte, nahm er auch die damals erscheinenden Schriften Rousseau's, seinen »Emil« und seine »Heloise«, sowie jede ihm bekannt gewordene Naturentdeckung auf, würdigte sie und kam immer zurück auf unbefangene Kenntniß der Natur und auf moralischen Werth des Menschen. Menschen-, Völker-, Naturgeschichte, Naturlehre, Mathematik und Erfahrung waren die Quellen, aus denen er seinen Vortrag und Umgang belebte; nichts Wissenswürdiges war ihm gleichgiltig; keine Cabale, keine Secte, kein Vortheil, kein Namenehrgeiz hatte je für ihn den mindesten Reiz gegen die Erweiterung und Aufhellung der Wahrheit. Er munterte auf und zwang angenehm zum Selbstdenken; Despotismus war seinem Gemüth fremde. Dieser Mann, den ich mit größter Dankbarkeit und Hochachtung nenne, ist Immanuel Kant; sein Bild steht angenehm vor mir. Ich will ihm nicht die barbarische Inschrift setzen, die einst ein sehr unwürdiger Philosoph empfing:
»Noster Aristoteles, Logicis, quicunque fuerunt,
Aut par aut melior, studiorum cognitus orbi
Princeps, ingenio varius, subtilis et acer,
Omnia vi superans rationis« etc.,
sondern mit dem Verfasser der »Bonhommien« ihn seiner Absicht nach Sokrates nennen und seiner Philosophie den Fortgang dieser seiner Absicht wünschen, daß nämlich nach ausgereuteten Dornen der Sophisterei die Saat des Verstandes, der Vernunft, der moralischen Gesetzgebung reiner und fröhlicher sprosse, nicht durch Zwang, sondern durch innere Freiheit.
Verzeihen Sie diese mir angenehme Erinnerung; ich komme zurück zu meinem Autor. Eine Hilfswissenschaft für seine Stadt, die bürgerliche und Wasserbaukunst, ist ihm in der Ordnung die nächste. Seine Urtheile darüber sind scharfsinnig, seine Wünsche wohlgemeint. Der Mann im Mantel geht die Stadt durch und um; endlich kommt er an sein geliebtes Thor zurück, das die Inschrift hat:
»Ungestörte Betriebsamkeit, Pax,
Theilnehmung an einander, Concordia,
Und am Ganzen, Pietas.
Diese, nicht Wall, nicht Festung, erhalten die Stadt.«
Jetzt treten wir zum encyklopädischen Schranke. »Der gelehrte Thurm, von Diderot und d'Alembert sammt ihren Mitarbeitern aufgeführt, sollte den Schatz aller göttlichen und menschlichen Kenntnisse enthalten. Diesem gallischen Ton hat die bürgerliche Gesellschaft Verbindlichkeit. Er schaffte schüchternen Gelehrten und ihren Schriften da Eingang, wo sie ihn nie gehabt hätten. Es entstand in Büchern eine Berathschlagungsstimme, gegeben von dem freidenkenden Verstande, vernommen in Cabinetten, gehört bei Verwaltungen, wo bisher die stupide Göttin Routine ihr Wesen getrieben hatte. Wahrheiten kamen in lebhaftern Umlauf, und gelehrte Kenntnisse wurden ein gemeines Gut für jede Wißbegierde.« Wie wahr! Die französische Encyklopädie, so unvollkommen sie war, hat selbst durch die Verfolgungen, die sie erlitt, eine Wirkung hervorgebracht, die ihr so leicht keine vollkommnere Encyklopädie wird abgewinnen können und mögen.
Jetzt die classische alte und neue Literatur, die schönen Künste der Handelschaft, wo der Verfasser im Scherz eine neue Muse, die Kochkunst, den ältern, vornehmeren Musen beifügt. »Schöne Kunst oder Wissenschaft,« sagt er; »die Erziehung eines jeden Volks fängt elementarisch mit dem Essen an. Wo dieses noch nicht mit Ordnung, Reinlichkeit und Geschmack geschieht, da ist die Cultur noch nicht beim Anfange. Dieser Tafelgenuß, der in einer Handelstadt, wo man auf innere Güte achtet, zuerst den guten Grad der Vollkommenheit erreicht, hilft bilden. Unsre Töchter, unter der Anführung ihrer Mütter, mögen also immer die Ehre des Hauses beim hellen Herde behaupten, wofür die Männer jetzt arbeiten und vordem stritten. Nehmt sie, ehe sie zu den schönen Wissenschaften übergeht, in Eure Mitte, Ihr neun Schwestern, diese keusche Muse mit der reinlichen Schürze, mit der kostenden Zunge und Salz in der verständigen Hand. Sie läßt ihren geistreichern Schwestern gern ihren unbestrittenen Rang.«
Der Verfasser geht die andern schönen Künste, den Blick auf seine Stadt geheftet, durch und endet mit dem wahren Spruche: »Der für das Schöne gebildete Sinn leitet den guten Aufwand. Dem verderblichen Aufwande des Bürgers setzt nichts Schranken als die Bildung eines festen Sinnes für Gerechtigkeit und Pflicht. Häusliche Weisheit im Nationalgeiste sucht zu pflanzen durch jede Kraft der Religion, der Beispiele und Staatskunst! Dieser moralische Sinn streitet nicht mit dem Sinne für Schönheit; beide sind vielmehr nahe mit einander verwandt, beide führen auf des Menschen letzten Zweck, seine Veredlung.«
Ich übergehe den Abschnitt, der von einer uns ziemlich fremden Literatur und von der dem Verfasser vaterländischen Geschichte redet, so manche patriotische und feine Bemerkung, z. B. über das Verhältniß der Stände gegen einander, jetzt und in andern Zeiten, er enthält. Vor der historischen Wand endlich, wo die Reisen zu Wasser und zu Lande, die Welt- und Völkergeschichten vorkommen, fügt der Verfasser hinzu: »Möchten zu allen diesen, mit historischer Kritik aufgestellten Thatsachen, die dem gemeinen Auge so bunt durch einander laufen, die »Ideen« unsres CompatriotenNicht leicht ist mir ein Andenken unerwartet erfreulicher gewesen als das in dieser Schrift; denn von den »Ideen zu einer Philosophie der Geschichte der Menschheit« ist hier die Rede. Dankbar gebe ich's zurück, ob es gleich, was das Buch betrifft, in die Wolke eines leisen Zweifels gehüllt scheint. Gebe mir das gute Glück Raum und Zeitumstände, jene »Ideen«, zu denen diese Briefe vorbereitend mit gehören, zu vollenden! Ohne ein Newton zu sein wußte ich den Charakter unsers Geschlechts, seine Anlagen und Kräfte, seine offenbare Tendenz, mithin auch den Zweck, wozu es hienieden bestimmt ist, in kein simpleres Wort zu fassen als: Humanität, Menschheit. Andre vortreffliche Denker sind mir seitdem hierin gefolgt (wobei es einem Jeden überlassen bleibt, sich den Begriff der Humanität enger zu denken), unter denen ich nur eine neuere gedankenreiche Schrift anführe: »Ueber Humanität«, Leipzig 1793, deren Verfasser ich nicht kenne. Im folgenden Theil dieser Briefe werden einige Blätter über die Kräfte der menschlichen Intelligenz eingerückt werden, die der bezweifelten Aufgabe ein großes Licht geben. – H. [Dieses Versprechen erfüllte Herder nicht. – D.] – der öffnende Schlüssel sein! So wäre denn trotz aller unschuldigen Leiden in und außer der bürgerlichen Gesellschaft, trotz der beständigen Fort- und Rückschritte in derselben und des immer wechselnden Zerstörens und Aufbauens, trotz aller Wirrungen und anscheinenden Zwecklosigkeit in der Geschichte des Menschen, doch darin ein immer stärkeres Aufblicken der Humanität dem philosophisch forschenden Auge sichtbarer Zweck. Vernunft und Billigkeit nähme in der Gesellschaft zu, der Mensch würde darin immer menschlicher. Ein Altar, dem Schutzgeist der Erde errichtet!
»Es gehört für die Newtone, in dem Sturz eines Apfels die Ordnung des Weltsystems zu finden. Wir Andern, deren Theodicee sich damit behilft, die moralische Ordnung der Dinge sei durch einen Apfelbiß gestört worden, drehen uns ohne tieferes Nachdenken ruhig um unsre Achse, ohne zu wissen, wie wir bei den großen Umwälzungen ins Ganze eingreifen, und lassen die Vorsehung darüber bei unsrer Betriebsamkeit walten.«
Wider Willen muß ich den Artikel der Handelsbibliothek mit allen seinen schönen Vorschlägen übergehen, um zu einem Briefe zu kommen, in dem sich die Seele des Verfassers der »Bonhommien« ganz zeigt. Er hatte einen Schrank für Publicität bestimmt; »in ihm hätten alle öffentlichen Verhandlungen, die das gemeine Stadtwesen betreffen, Berathschlagungen, Vorschläge, Vorstellungen, abgelegte Verwaltungsrechnungen zur Belehrung und zur Rechtfertigung niedergelegt werden können«; das Wort ging nicht durch. Auch statt der Materialien zur vaterländischen Geschichte aus dem Archiv hatte der Bibliothekar eine schöne Sammlung von Kirchenvätern unterzubringen, u. s. w. Da dieser Brief auf einer Reise in Deutschland geschrieben ist und auf allen Seiten Blicke des feinen Staatsmannes, gemildert mit der Bonhommie des Bürgers, verräth, so zeichne ich einige Bemerkungen mit dem Andenken einiger Personen aus, die auch uns werth sind, z. B. über die preußische Staatsverfassung.
»Ist mehr Freiheit im Handel und weniger Freiheit im Denken dem preußischen Staat ersprießlich? Der Handel kann nicht ohne Freiheit, der preußische Staat aber wohl ohne großen auswärtigen Handel blühen. Der wahre Handelsvortheil eines Landes ist immer in dem lebhafteren inneren Verkehr. Weniger als die Freiheit im Handel leidet die Geistesfreiheit Einschränkung zum Besten der preußischen Staaten. Diese Staatsmaschine ist ganz das Werk der Freiheit des Geistes, die, durch die karge Natur des Bodens aufgefordert, so viel vermochte, daß sie ein Land, welches nur einer geringen Macht fähig zu sein schien, weit über das Mittelmäßige erhoben hat, durch Beleuchtung der Grundsätze, die daher desto standhafter befolgt wurden. Die preußische Kriegsmacht ist zur Beschützung des Landes fürchterlich; aber ohne seine, unabhängig von derselben frei wirkenden Geschäftsmänner würde Friederich selbst dies Werk der Regierungskunst nicht zu der Vollkommenheit gebracht haben.
»Ich fühle mich glücklicher, unter einer Regierung geboren zu sein, welche die bürgerliche Freiheit weniger einschränkt; glücklicher in einem Lande, dessen Natur reicher ist, als daß es nöthig wäre, dem Unterthan die Staatssparbüchse beständig vorzuhalten; Geist und Herz des Bürgers haben hier mehr Spielraum. Aber in der benachbarten Monarchie ist es doch nicht Kleinheit in der Staatskunst, diese Einschränkung wie eine aus Kenntniß der Sache nothwendige Diät vorzuschreiben und zu beobachten.« Der Verfasser nimmt dabei die preußische Regierung gegen den Vorwurf, daß sie militarisch sei, in Schutz: »Was würde auch aus dem Staat werden,« sagte ein Hauptmann, »wenn Die, welche Gewalt in Händen haben, deswegen auch Alles thun dürften?«
»In Berlin,« fährt er fort, »suchte ich nicht Sparta, sondern Athen, wozu die Stadt mehr als das Thor hat. Für wissenschaftliche Unterhaltung, worin Cicero die Belustigung der Alten setzt, ist hier gesorgt. Gelehrte in und außerhalb Geschäften versammeln sich; wider gelehrten und politischen Betrug, für Wahrheit waren alle eingenommen; außer dieser Uebereinstimmung für gute Aufklärung fand ich übrigens die Meinungen über Personen und Sachen so verschieden, daß der Berlinismus hier wenigstens seinen Sitz nicht hat, wenn überhaupt das Wort Sinn haben mag und nicht vielmehr Freimüthigkeit bedeuten soll. Diese Freimüthigkeit ist hier rechtskräftig. Vor die höchste Instanz des Denkens werden sowol öffentliche Anordnungen als richterliche Aussprüche gezogen. Nur die Kanzelvorträge wurden privilegirt.«
Hier ein Opfer der Achtung »dem liebenswürdigen Greise, der die Lehren des Christenthums mit Sokratischer Weisheit vortrug und auch in seiner Abschiedspredigt nicht Stachel zum Andenken seiner ehrwürdigen Person, sondern an seine, mit wahrer Salbung vorgetragenen Lehren nachlassen wollte.«Spalding. – D.
Und ein reicheres Andenken »dem schlichten großen Mann, der da sagte: »Wenn ich das Gesetzwerk endige, habe ich gnug gelebt.« Auf dieser nun aufgeführten Pyramide lebt der Name Carmer.«
Der Methode zu Errichtung dieses Werks, der deshalb fortwährenden Commission, auch dem Verfasser der »Annalen der preußischen Gesetzgebung«, der sich gegen den Satz: »daß Gerechtigkeit der Fürsten wol nur Gnade sein möchte«, freimüthig erklärte, wird bescheiden ihr Lob ertheilt.
Auf einer Reise in Kursachsen kommt zwischen den Reisenden die Frage vor: »ob in diesem betriebsamen Lande ein Perikles bei der Verwaltung gemeinnütziger sein würde als jetzt ein Aristides?« Und in Leipzig wird das Lob des Mannes sehr edel bemerkt, der »bei Allem, was in dieser eleganten Bürgerstadt der Verfasser Schönes sah, Kirche, Bibliothek, Concertsaal, Promenade u. s. w., immer als Der genannt wurde, der Alles dies angelegt oder verschönert habe.«Karl Wilhelm Müller, geb. den 15. September 1728 zu Knauthain bei Leipzig, seit 1778 Bürgermeister von Leipzig. Er starb, nachdem er, ohne die Steuern zu erhöhen, ungemein viel für den Neu- und Umbau öffentlicher Gebäude und für nützliche Einrichtungen gethan hatte, erst am 27. Februar 1801. – D. Die Einfachheit und Eleganz in seinem Hause (Oeser'sDieser für Leipzig höchst bedeutende Künstler, der mit Weimar in näherer Verbindung stand, starb erst 1799 in höherm Alter. – D. dabei unvergessen) wird anständig beschrieben, mit dem Geschmack und der Würde eines andern Mannes von diesem Stande, den der Verfasser in Königsberg wiederfand, parallelisirt und hinzugefügt: »Ich weiß nicht, oder vielmehr ich weiß es, warum ich mich durch das, was ich so unempfindsam beschreibe, so gerührt fühle. Wahrlich, es ist nicht Neid, es ist Freude über die glückliche Lage dieser würdigen Männer. Sollte denn ein geschmackvoller bescheidner Lebensgenuß, sollte ein sorgenfreies Alter eine zu große Belohnung der Wachen für den Wohlstand und selbst für die Annehmlichkeiten des Lebens seiner Mitbürger sein?«
Auf seiner Rückreise durch Pommern und das vormalige polnische Gebiet, in Preußen, war es dem Verfasser erfreulich, zu erfahren, wie auch hier Humanität seit seiner ersten Reise vor vierzig Jahren zugenommen hatte: »denn,« sagt er, »für Bezahlung freundliche Begegnung und Sicherheit erhalten, ist der Wohlgeruch der blühenden europäischen Humanität. Wenn nur in dieser beruhigenden Hypothese des beständigen Fortschreitens die wilden Auftritte bei einem durch Klima und Künste humanisirten Volke jetzt nicht einen so schrecklichen Knoten schürzten.« Auch dieser Knote wird sich lösen, guter Wandrer, und gewiß, wenn auch nur warnend und belehrend, zum Fortschritt des Ganzen; denn ein so großer, so unterstützter Versuch ist in unsrer bekannten Völkergeschichte noch nie gemacht worden. Ueberdem ist das Ziel, wornach wir zu streben haben, nicht bloße Behaglichkeit auf Wegen oder daheim, wie sehr diese auch wohlthut; das Ziel liegt weiter, höher hinauf. Der Strom der Dinge fließt auch hier nicht gerade; er reißt ab, setzt an, dringt aber doch weiter.
»Näher der ungekünstelten Humanität in unserm Norden, wo sie nicht in Treibhäusern aufblüht,« nahm der Verfasser noch einen Umweg, den er mit einem »Friede mit dem Manne!« schließt.
Und auch Friede von mir dem Manne! Denn zu lange habe ich die Theilnehmung verborgen, die ich beim Auszuge dieser »Bonhommien« am Verfasser sowol als an seiner Stadt und mehreren dabei bemerkten Personen herzlich genommen habe. So an den Letzten, denen er Friede im Grabe oder in ihrer Ruhe wünscht; so an ihm selbst, der in seiner geliebten Dunkelheit endigen wollte. »Dieser schlichte Denkstein,« sagt er, »sei dem vormaligen Rathsstande am Wege gesetzt!« und ich muß dabei die hohe Gerechtigkeit, Güte und Sanftmuth bemerken, mit welcher der Verfasser den neuen Rath sowol als jedes Kind seiner Vaterstadt zur Pflicht und Würde derselben hinweist. Unter dem unscheinbaren Titel einer neu errichteten Bibliothek und eines Reisebriefes ist ein Bürgerkatechismus seiner blühenden Vaterstadt enthalten, der er damit gleichsam sein Herz vermacht hat. Lesen Sie, was sein und mein Freund, der mir die »Bonhommien« zusandte,Bürgermeister Wilpert? – D. von ihm schrieb: »Das Buch in Ihre Hände zu wünschen, habe ich keinen andern Beruf als die Liebe gegen unsern Freund, den ich allgemein geliebt, geschätzt und geehrt gesehen habe, aber von Wenigen nach seinem ganzen Werth und als Schriftsteller von sehr Wenigen verstanden glaube. Diesem seinem Buch also, dem eigensten Eigenthum seines Geistes und Herzens, dem reifsten Nachlaß der Gedanken und Empfindungen, in denen und mit denen er lebenslang lebte und wirkte, den er krank, schwächlich und oft niedergeschlagenen Gemüths auf den Altar des Vaterlandes als ein Andenken der Liebe gutmüthig niederlegte und gleich darauf mit seinem Tode besiegelte, diesem möchte ich bei Ihnen auch eine gute Stätte wünschen.
»So liebenswürdig unser Freund im Umgange, so allgemein anerkannt seine Güte war, so sehr ich ihn in seinem Collegium geehrt und Männer wie *. *. an der Rede seines Mundes hangen gesehen habe, so glücklich er Wissenschaft und Liebe zur Kunst zu Bildung seines Geistes und zu Verschönerung seines Lebens anzuwenden wußte: so ist oder war doch Patriotismus die Seite, von der er mir vorzüglich unaussprechlich ehrwürdig war und lebenslang bleiben wird.
»In einem Leben, wo oft in seinen Aemtern und vielfachen Bestrebungen Arbeiten von heterogener Natur, im Grunde seiner Neigung so fremde, seinen Geist niederschlagen und das Herz in die Enge ziehen mußten, hat er doch immer seine Stellen geliebt, sie mit Kräften und Redlichkeit ausgefüllt; und zuletzt noch, nachdem sein Leben ganz seiner Stadt gehört hatte und nur der letzte Rest desselben durch die Umstände der Wirksamkeit entzogen war, suchte er ihr durch seine Schrift noch nützlich zu werden. Hielt es Filangieri für gut, daß Männer, die in öffentlichen Aemtern gelebt, nach ihrer Weise Unterricht geben, mich dünkt, so darf man auch bei seiner freimüthigen Redlichkeit seinem Herzen folgen; denn er schrieb, wie er redete, redete und lebte, wie er dachte, und starb, wie er gelebt hatte.
»In seinem letzten Sommer begegnete er mir, da er eben im Begriff war, für den Ueberrest der Jahrszeit die Stadt zu verlassen, um seine Gesundheit auf dem Lande herzustellen; er sagte mir, daß er im Begriff sei, etwas drucken zu lassen. »Meine Absicht ist,« sagte er, »bei manchen unserer guten Bürger der Indifferenz entgegen zu wirken, womit man sich allen öffentlichen Geschäften jetzt zu entziehen anfängt, auf gleichviel welchen Wegen, und immer damit sich entschuldigt: ›es hätte doch jetzt Alles aufgehört! die vorigen Zeiten des Patriotismus seien nicht mehr‹ – und was dann so der Zeitgeist spricht.« Hier wollte er zeigen, wie der gutdenkende Bürger sich an die neue Stadtordnung anschließen könne. Dies Nämliche hat er noch in den letzten Tagen an seinen Arzt wiederholt und bat ihn, seinen Freunden zu sagen, daß der Gegenstand seines Buchs seine Stadtmoral sei.«
So sein Freund. Die Stadt, für welche dieser edle Bürger und Senator schrieb, ist Riga; sein Name ist: Johann Christoph Berens;Vgl. Herder's Lebensbild, vor dem ersten Bande S. XLI. Der Raths- und Weltherr J. Chr. Berens war am 19. November 1792 gestorben. 1787 war von demselben zu Mitau erschienen: »Die Bombe Peter's des Großen in der Stadtbibliothek zu Riga, eine Denkschrift. Statt einer Beschreibung der wieder zu eröffnenden Stadtbibliothek; von einem vormaligen Mitgliede des alten Magistrats«. – D. und der gleichfalls treffliche Mann, an welchen auf seiner Reise in Deutschland der angeführte Brief geschrieben war, Johann Christoph Schwarz, Bürgermeister des alten Rathes derselben. Empfindlich wird meine Seele gerührt, wenn ich an die Zeiten, in denen ich in ihrem Kreise lebte, an so manche vortreffliche Charaktere ihrer edlen Geschlechter, an meine Freunde in denselben, und unter ihnen an den Verfasser der »Bonhommien« zurück gedenke. Wollte ich, was meine Erfahrung von ihm kennen lernte, in wenig Worten sagen, so wäre es jene Inschrift alten Gehalts, die Kleist seinem Freunde setzte:
»Witz, Einsicht, Wissenschaft, Geschmack, Bescheidenheit
Und Menschenlieb' und Redlichkeit,
Des Bürgers Tugenden, des feinsten Mannes Gaben,
Besaß er, den man hier begraben.
Er lebte seiner Stadt, er starb mit stillem Muth
Ihr Winde, wehet sanft, wo seine Asche ruht!«
Lebe wohl, geliebte, gutmüthige Seele!