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»Carmen – –! Carmen!«
Frau Maria, im weichen Morgenrock, rüttelte lachend das Kind.
»Siebenschläfer, willst du denn heute gar nicht aufstehen? Es eilt nicht mit der Schule? Und der Vater? Willst du auch nicht den Vater begrüßen? Der wird aber einen schönen Begriff von seiner Tochter bekommen.«
Das Mädchen saß aufrecht im Bett. »Der – Vater?« Verwundert rieb es sich die Augen, besann sich, warf die Decke zurück und sprang aus dem Bett. »Der Vater ist da?« jubilierte es. »Schnell, Mutter, bring mich zu ihm!«
»Erst den Schlaf aus den Augen waschen. Frisieren und fix und fertig anziehen. Der Vater soll doch sehen, was für ein Fräulein seine Tochter geworden ist.«
»Mutter, das dauert so lange. Gelt, du hilfst mir schnell.«
Das zwitscherte und lachte in der Giebelstube in einem Wettstreit, als wäre Frau Maria über Nacht auch zum Kinde geworden. Eine Viertelstunde später standen sie in der Türe zum Wohnzimmer, beide in kaum verhaltener Erregung. Joseph Otten saß im Sofa, die Morgenzeitung in der Hand. Der Frühstückstisch war gedeckt, und die Blumen auf dem Tisch schufen ein farbenfrohes Bild.
»Vater ...,« sagte die Kleine zag. Und dann ein Ruf in ausbrechender Freude: »Vater!«
Sie stürmte das Sofa, mit einem Schwung war sie auf seinem Schoß, zerknitterte die Zeitung, küßte sein Gesicht, wohin sie traf, schrie ihm in die Ohren und kuschelte sich aus einem Arm in den anderen. Und er hob sie hoch und wiegte sie in der Luft, daß die langen, schwarzbestrümpften Kinderbeine Halbkreise beschrieben. »Wildfang, Wildfang! Ja, du lebst, das spür' ich.« Frau Maria aber war in der Tür stehen geblieben und rief Worte in den Tumult, die keiner verstand. Dann reichte er ihr das Kind und ließ sich mit einem Seufzer des Behagens in die Sofaecke fallen. »Nun alle heran, jetzt wollen wir uns stärken.«
Das Mädchen verlangte neben dem Vater zu sitzen. »Das ist der Platz der Mutter,« verteidigte der Vater das Recht der Hausfrau. Aber Frau Maria ergriff für die Tochter Partei. »Heute ist Carmen an der Reihe.« Und sie zog sich schnell zurück, um den Kaffee aus der Küche zu holen.
»Weshalb bist du nicht schon gestern morgen gekommen, Vater? Heute muß ich den ganzen Tag in die Schule.«
»Ich bitte sehr um Verzeihung, mein Fräulein, daß ich das versäumte. Dafür bleibe ich jetzt aber recht lange bei dir. Wenn die Mutter mich behalten will.«
»Ach, die Mutter!« plauderte das Mädchen und warf Frau Maria einen raschen Blick zu. »Der könntest du gar keinen größeren Gefallen tun. Sie braucht dann doch nicht immer allein zu sein, wenn ich in der Schule bin.«
»Weshalb geht sie denn nicht spazieren?«
»Ohne seinen Mann kann man doch nicht spazieren gehen.«
»Jetzt wird aber Kaffee getrunken, Carmen,« sagte Frau Maria energisch. »In fünf Minuten mußt du auf dem Schulweg sein. Heute mittag kannst du mehr erzählen.«
Das Mädchen blickte von der Seite den Vater an, streichelte ihm heimlich den Ärmel und aß in Hast das Frühstück. In Mantel und Pelzmütze, die Schultasche am Arm schlingernd, fiel sie noch einmal über die Eltern her. »Ruhig, Carmen, ruhig,« mahnte Frau Maria. »Gott,« sagte die Kleine, »ich hab' doch fast nie was von euch.« Dann stürmte sie davon. Otten war ans Fenster getreten, öffnete es und beugte sich hinaus. Er verfolgte sein Kind mit den Blicken, bis es in die Nebengasse eingebogen war. Als er das Fenster wieder geschlossen hatte und an den Tisch zurückkehrte, lag ein nachdenklicher Ernst auf seinem Gesicht.
Eine Zeitlang saß er ruhig in seiner Sofaecke, faltete und glättete an dem Zeitungsblatt, zog die Augenbrauen hoch und summte vor sich hin.
»Die Kleine ist groß geworden,« sagte er plötzlich.
Frau Maria nickte ihm zu.
»Dumm scheint der Racker auch nicht zu sein,« fuhr er fort. »Sie kommt jetzt in das grüblerische Alter, in dem sich Kinder über Sein und Nichtsein des Storches unterhalten. Wer weiß? Vielleicht ist sie schon weiter.« Er wartete. »Maria.« Sie sah ihn an. »Was meinst du dazu, Maria?«
»Hm. Also es ist so ... Und eines Tages wird sie mit Fragen kommen, die die Mutter gern beantworten möchte und nicht kann. Das würde der Mutter, wie ich sie kenne, schwere Stunden bereiten, und dem Kind ungesundes Kopfzerbrechen.«
Durch die Stille des Zimmers gingen die Atemzüge der Frau – –.
»Ja, Maria, ich bin doch nun schon im Schwabenalter. Vor mir selber kann ich den Fünfundvierziger nicht mehr verleugnen, höchstens vor der Welt.« Er spielte mit den Tischtuchfransen. »Wie denkst du darüber?«
»Über – was?« sagte sie gepreßt. Das Herz schlug ihr bis in die Kehle.
Er zupfte an den Faden. Eine Pause nur von Sekunden, und doch wollten sie nicht verrinnen. »Ich gehöre zwar eigentlich unter Kuratel,« versuchte er zu scherzen, »aber dann ist es schon besser, ich geb' mich von vornherein in sichere Hände. Du würdest es mich nicht fühlen lassen, Maria.«
Er prüfte noch immer das Gewebe der Decke, und er gewahrte nicht, wie ihre Hände in ihrem Schoße zitterten.
»Ein Kind hat ein Recht auf Schutz. Es darf keinen Unterschied verspüren zwischen sich und den anderen, oder es kriegt eine wunde Stelle fürs Leben mit. Wenn man selber jung ist und seine Leidenschaft über Kirche und Rathaus springen läßt, bedenkt man das nicht. Man freut sich, daß man den Sprung über die Philisternasen mit Grazie vollzog. Kindern ist solche Elastizität aber versagt. Sie haben eines Tages die Kosten zu bezahlen. Wenn ich annehme, daß ein Mensch es wagen könnte, unsere Carmen über die Achsel – Oho! Gibt's nicht. Wird's nicht geben. Wollen wir unsere Angelegenheit formell in Ordnung bringen?«
Nun schaute er auf, und die tastende Verlegenheit wandelte sich jäh in Überraschung. »Maria!«
Sie saß aufrecht neben ihm im Sofa. Die Hände in ihrem Schoß waren ruhiger geworden. Wortlos sah sie zu ihm hin. Aber dieser tränenschwere Frauenblick sagte: »Sieh, Joseph, ich bin immer stolz auf dich gewesen, wenn es zuweilen auch etwas in mir zu bekämpfen gab. Aber heute weiß ich, daß mein Stolz auf dich recht hatte. Das ist das Glück –«
»Du – weinst?«
Und sie konnte noch immer keine Worte finden.
Da kam ein Begreifen über den Mann. Ein Begreifen alles dessen, was die Liebe einer Frau zu verschenken vermag, und daß die größte Liebe ist, die unter stummen Schmerzen verschenkt und immer wieder verschenkt. »Ich habe noch nie an einer Frau den Madonnenschein gesehen,« sagte er leise und legte ihr die Hand aufs Haar. »Also den gibt es. Meine Frau hat ihn. Da darf ein Mensch wie ich getrost auf Vergangenheit und Zukunft blicken.«
»Joseph – –« erwiderte sie nur. Aber der Klang griff ihm ans Herz. Mit ganz zarten Händen streichelte er ihr Gesicht, zog es an sich heran und küßte ihr die Tränentropfen von den Wangen.
»Nun wollen wir sorgen, daß wir aus der Elegie wieder herauskommen. Mein Talent gravitiert mehr nach der anakreontischen Seite. Achtung: sind deine Papiere in Ordnung? Ja oder nein?«
»Ja.«
»Und dein Herz?«
»Auch.«
»Na, dann wickle mir mal beides in die Kölnische Zeitung, damit ich's aufs Standesamt tragen kann. Wird der Beamte eine Freude haben! Ja, ja, die bürgerliche Moral – –!«
Jetzt strömte das Leben in sie zurück. Das Blut pulste ihr in den Wangen, die Worte überhasteten sich vor Freude. Altes und Neues mischte sie durcheinander.
»Daß du mir das nachfühlen konntest! Gestern nacht – weißt du noch – fragtest du mich, ob ich einen Wunsch hätte. Ich hatte einen Wunsch. Aber ich hätte ihn nicht über die Lippen gebracht. Es gibt Dinge, die man nur denken kann, und der andere muß sie aussprechen. Sonst haben sie ihren Segen verloren. Verstehst du das, Joseph? Ich hätte sonst doch immer glauben müssen: Ich – ich hab' ihn dazu gezwungen. Das hätte mir ja die Freude an der Erfüllung geraubt. Und es war hohe Zeit, Joseph, jetzt kann ich's dir schon sagen. Das Kind war aufmerksam gemacht worden, und es hat mehr Phantasie, als ich wünschte. Das Kind! Unsere Carmen! Zwölf Jahre sind es, daß du nach Koblenz kamst. Ich weiß Datum und Stunde. Ein Jahr waren die Eltern tot, und ich wußte nicht aus noch ein. Nachdem wir ein paar Tage überlegt hatten – ach nein, wir haben nicht überlegt, wir haben von der Kunst gesprochen und dem Leben, von Sonne, Mond und Sternen – da nahmst du mich mit auf Reisen, mit in die blühende Welt. An deiner Seite! Du, wie ich dir das heute noch danke. Da habe ich mehr eingesammelt, als ich im Leben aufzehren kann. Und als zwei Jahre darauf unsere Carmen kam, da brachtest du mich hierher, ins alte Ottensche Familienhaus, von dem meine Eltern mir schon als Kind Sagen erzählt hatten. Mit jedem Stück könnt' ich von dir sprechen, jedes Stück sprach mir von dir. Und ich hab' alles gehegt und gepflegt, daß es blieb, wie es war und am alten Orte, wo du es schon als Knabe gewußt hattest, damit du einmal deine Schaffnerin loben könntest. Und nun kommt die Krönung.«
Mit lächelndem Erstaunen war Otten dem Wortstrom der Erregten, deren gleichmäßige Ruhe er so oft bewundert hatte, gefolgt.
»Liebste, Liebste, du tust ja, als setzte ich dich auf einen Königsthron.«
»Das tust du auch.«
»Mit dieser schriftlichen und gestempelten Erklärung? O, du moderne Frau. Mehr als ein Jahrzehnt rührt sie mit keiner Silbe daran, und ich wähne, ich besitze in dir die Reinkultur des neuen Weibes, und mehr als ein Jahrzehnt – ich bin jetzt sicher, daß es nicht einen Tag weniger ist – trägt sie in ihrem innersten Herzen das richtige, altmodische Sehnen mit sich herum, wie –«
»Wie es jede, auch die modernste Frau, insgeheim mit sich herumträgt. Davon kommt ja keine Frau ganz los. Selbst die Freidenkendste hofft im stillen, und wenn es nach Jahren ist. Und wenn wir Verzicht leisten, tun wir es, um nicht zu verlieren.«
»Man kann so alt werden, wie man will, und die Frauen in Nord und Süd studieren: ihr gebt einem immer Rätsel auf.«
»Weil ihr immer Rätsel lösen wollt.«
»Hast du mir sonst noch ein Rätsel aufzugeben?«
»Nein, Joseph, es war das einzige.«
»Dann also in Gottes Namen, du liebe, offene Seele, hol die Papiere. Du wirst nicht lange zu suchen brauchen.«
Sie kam zurück, mit geröteter Stirn. Kopfschüttelnd betrachtete Otten sie. »Solch eine stattliche Frau, und doch, solch ein Kind, solch ein liebes, kleines – –«
Da fiel sie ihm um den Hals. – – –
Eine Stunde später verließ Otten das Haus. Vor der Haustür traf er auf den alten Klaus, der im gestrickten Wams nach der Wintersonne äugte und zu dieser Beschäftigung seine langstielige Tonpfeife schmauchte.
»Kütt Ihr ooch ens noh Hus, Ihr Grumdriewer?« begrüßte er den Hausherrn und schüttelte ihm die Hand. »Ich hann als en Seelemess' för Euch lese lasse wolle, äwwer der Här Pastor säht: diese Seele scheint mir nicht ganz reinlich zu sein.«
»Der Här Pastor hät domet ding Seel' gemeint, ahl' Grielächer. Na, un sons? Immer noch flöck zu Wege?«
»Ich kann nit mehr in et Wirtshus.«
»Oh! Es et schlemm? Gonn de Fööß nit mieh?«
»Die Fööß gonn schon. – Äwwer ich hann kein Geld.«
»Dat es ene bedenkliche Fall. Ich wörd' doch ens der Doktor froge.«
»Grad' donn ich der Herr Doktor froge.«
»Ach so,« lachte Otten, »un Ihr wollt et Rezept gleich sälwer in de Apothek trage?«
»Geweß dat, Herr Doktor. Un ene schöne Gruß vom Här Doktor, un et wörd' nach Bedarf erneuert werde. Ich hann Se doch richtig verstande?«
Otten griff in die Tasche. »Hier, Klaus, als Anzahlung. Und nun gebt mal acht. Ich hab' da einen Weg vor, und ich bin abergläubisch. Deshalb sollt Ihr den ganzen Morgen auf mein Wohl trinken. Und noch eins, im Vertrauen und Hand darauf: Wißt Ihr zufällig den nächsten Weg zum Standesamt?«
»Jupp,« sagte der alte Klaus ernsthaft, »ich gonn met. Du fändst dat allein in dingem Lewen nit.« –
Es war Mittag, als Joseph Otten von seinem Ausgang zurückkehrte. Er war heiter, aber still. Carmen blickte bei Tisch fragend vom Vater zur Mutter. Aber als sie die heiteren Mienen gewahrte, war sie zufrieden, daß sie allein das Wort führen durfte. Stolz berichtete sie von der Handarbeitsstunde, und daß die neue Lehrerin erzählt habe, daß sie gestern einen unvergeßlichen Abend im Konzert des Herrn Doktor Otten hätte verleben dürfen. Und es wäre eine »Offenbarung« gewesen – und dabei himmelte die Kleine zur Decke, wie die Lehrerin gehimmelt hätte – und dann hätte sie sie gefragt, ob sie verwandt mit dem Herrn Doktor Otten wäre. Und sie hätte geantwortet: verwandt nicht, aber er wär' ihr Vater. Da wäre die Lehrerin mit so komisch gravitätischen Schritten auf sie zugekommen, daß alle Mädchen in der Klasse ins Taschentuch gebissen hätten vor Lachen, und hätte ihr die Hand auf den Kopf gelegt und dabei gesagt: O du gesegnetes Kind –! – Und die Kleine wollte sich aufs neue ausschütten vor Lachen.
»Ja,« sagte Frau Maria und strich dem wilden Kind die Locken aus dem Gesicht, »da hat die Lehrerin recht gehabt. Du mußt dich nur danach betragen.«
»Laß sie,« bat Otten, den ihr übermütiges Wesen heimlich belustigte, mit einem Augenwinken Frau Maria.
»Der Moritz Lachner kam an der Schule vorbei. Er fragte mich, ob ich heute nachmittag mit in den Dom ging'. Wenn der Nachmittagsunterricht vorüber ist.«
»Der Moritz? Wie kommt Saul unter die Propheten?«
»Er will Historiker werden,« sagte Frau Maria, »und er erzählt dem Kind Geschichten. Er ist sehr anhänglich an Carmen, obwohl er schon Sekundaner ist.«
»Er drängt sich auf,« bemerkte die Kleine wegwerfend.
»Carmen!«
»Ja, darf ich denn mit ihm gehen? Nachher soll ich mit zu ihm in den Laden. Eine ganze Sendung neuer Maskenkostüme sei eingetroffen.«
»Es scheint mir das ein ziemlich starker Gegensatz,« meinte Otten. »Aber da es zu Studienzwecken geschieht, darfst du mit. Die Kunst ist so ernst wie der Dom und so heiter wie eine Maskerade. Als Hauptsache aber: heute ist ein Feiertag.«
»Ein Feiertag?« zweifelte die Kleine.
»Ein ganz neuer: Maria und Joseph! – Sag's keinem wieder.« – –
Carmen Otten war an diesem Nachmittag unaufmerksam in der Schule. Sie horchte verstohlen auf die Glockenschläge, die über die Dächer der Stadt hinhallten, und war die erste, die im Laufschritt die Schulpforte verließ. An der Ecke der Hohestraße traf sie auf Moritz Lachner. Ohne anzuhalten, machten sie sich auf den Weg, doch kaum, daß sie wenige Schritte getan hatten, wurden sie von Laurenz Terbroich angerufen.
»Wo wollt ihr hin?«
»In den Dom.«
»Der Moritz auch? Wenn der nur hereingelassen wird.«
»Geh mit,« sagte das Mädchen ängstlich, und er ließ sich bereit finden.
»In den Dom darf jeder, der sich anständig beträgt,« wies Moritz Lachner ihn finster zurück, »ich brauch' dich nicht.«
»Ich geh' in den Dom, meine Andacht verrichten. Du nicht.«
»Was weißt du von meiner Andacht?«
Auf der Hohestraße herrschte dichtes Gewühl. Aber es war ein gemütliches Tempo darin. Der Schwarm von Menschen, der sich auf dieser trotz ihrer Enge beliebtesten Verkehrsader Kölns dahinschob, war des Schauens wegen unterwegs, staute sich vor den glänzenden Auslagen und bog, ohne ärgerlich zu werden, anderen Trupps aus. Über den Straßendamm zog eine alte Frau einen Leierkasten. Ein Invalide schritt nebenher, drehte den Schwengel und entlockte dem Instrument das schöne Lied »Ich weiß nicht, was soll es bedeuten ...« Die Leute auf den Trottoirs pfiffen es mit. Eine Kleinstadtidylle im stärksten Verkehr der Großstadt.
Moritz Lachner zog das Mädchen, das neben der Orgel herlaufen wollte, eilig mit. »Das schickt sich nicht für dich, Carmen. Weil dein Papa eine so bekannte Persönlichkeit ist.« Über den Wallrafsplatz gelangten sie zum Dom. Sie staunten, wie sie es immer taten, zu der schwindelnden Höhe hinauf.
»Das sind Stein gewordene Gedanken,« sagte Moritz Lachner.
»Das sind Pfeilerbündel,« erklärte Laurenz Terbroich.
»Weißt du, wo der Dom herstammt?« fragte Moritz das Mädchen. »Aus dem Siebengebirge, aus dem Drachenfels. Aus dem Leib des Berges hat man die Steine gebrochen.« Und sie traten ein. Auf den Zehenspitzen schlichen sie durch die ragenden Gänge. Und sie erschauerten vor der Weihe des Ortes. »Daraus hatten die Franzosen,« flüsterte Moritz, »als sie zur Zeit der großen Revolution nach Köln kamen, ein Heumagazin gemacht.«
»Und das Blei haben sie von den Dächern gestohlen,« entrüstete sich Laurenz. Das Mädchen hörte nicht hin, es wies auf die farbensprühenden Glasmalereien der unzähligen Kirchenfenster. »Das sind Szenen aus der Bibel und der Heiligenlegende,« flüsterte ihr Moritz zu.
»Das brauchst du uns doch nicht zu sagen,« trumpfte Laurenz ihn ärgerlich ab. »Du bist doch nicht mal getauft.« Mit erschrockenen Augen starrte Carmen auf den ungetauften Freund. Sie hatte Angst, mit ihm weiterzugehen. Die Heiligenbilder schauten so sonderbar herüber. »Wer ist denn der da?« fragte sie scheu und deutete auf ein mächtiges Standbild.
Moritz wartete ab, bis Laurenz seine Unkenntnis eingestehen mußte. »Das ist der heilige Christoph,« sagte er, »das ist der Schutzpatron aller Handwerksburschen.« Laurenz Terbroich rümpfte die Nase. »Ich dacht's mir doch. Ein Heiliger für gewöhnliche Leute. Wir haben ganz andere.« Sie betrachteten die Standbilder der zwölf Apostel und kamen zum abgeschlossenen Chor. Carmen mühte sich, durch das Gitter zu blicken. »Wir können nicht hinein, es kostet zu viel Geld,« meinte Laurenz und ging weiter. »Was mag da alles drin sein, Moritz ...« – »Die Schatzkammer,« berichtete er geheimnisvoll. »Der goldene Dreikönigsschrein steht drin, ganz mit Edelsteinen überzogen, und der enthält die Gebeine der heiligen drei Könige aus dem Morgenland, die die Kaiserin Helena einst nach Konstantinopel gebracht hatte, und von dort sind sie nach Mailand gekommen, und nach der Zerstörung Mailands hat sie der Kaiser Friedrich der Erste dem Kölner Erzbischof geschenkt.« »Jesus, wie klug du bist,« sagte die Kleine und griff heimlich nach seiner Hand. Da freuten den Moritz seine christkatholischen Kenntnisse.
Zwei alte Nönnchen trippelten vorbei. Vor jedem Gegenstand machten sie halt, knicksten und sahen sich selig lächelnd in die Augen. Dann machte ein scharlachroter Domschweizer die Runde, spähte mit scharfem Blick nach den Liebespärchen, die sich, als Säulenheilige, hinter die Pfeiler drückten, streifte die Kinder und brummte etwas vor sich hin. Am Altar wurde eine Messe gelesen.
»Komm,« sagte Moritz Lachner kleinlaut, »jetzt müssen wir beten oder heraus.« Und sie schlichen zum Portal und kamen ins Freie. Laurenz Terbroich war bereits verschwunden. Er hatte Kaffeedurst verspürt.
»Gehen wir jetzt zu euch, Moritz?«
Der Knabe bejahte lebhaft. Er ließ ihre Hand nicht mehr aus der seinen, bis sie das windschiefe, vom Obergeschoß zusammengedrückte Häuschen in der Obenmarspforten erreicht hatten.
Ein kleiner, graubärtiger Jude in speckigem Rock, ein rundes Seidenmützchen auf dem Kopf, kam eilig in den Laden, als die Türklingel bimmelte. »Ah,« sagte er strahlend, »unser Moritz. Und das kleine Fräulein Otten. Nein, es ist ein großes Fräuleinchen geworden!«
Das Mädchen gab ihm verschüchtert die Hand und blickte den Freund dabei an. »Wir waren im Dom, Vater, und jetzt will ich der Carmen die neuen Kostüme zeigen.«
»Im Dom!« verwunderte sich der Simon Lachner. »Ist der Moritz nicht ein gescheiter Mensch, Fräuleinchen? Alles weiß er, alles kennt er, die Steine sprechen zu ihm und die Vergangenheit, im Tempel und im Dom. Er ist der Gescheiteste auf der Schule und will ein studierter Herr werden. Er wird's, er wird's. Nein, nein, Fräuleinchen, wegen des Umgangs mit dem Moritz braucht sich nicht einmal das Kind vom Doktor Joseph Otten zu schämen.«
»Sie tut's ja auch nicht, Vater.«
Er tätschelte dem Jungen das Gesicht. »Geht, Moritzchen, unterhaltet euch. Ich bring' was für deinen Besuch.«
»Er ist so seltsam, dein Vater,« sagte die Kleine, als sie auf dem Kostümlager standen, und lachte nervös.
»Er arbeitet nur für mich,« erwiderte Moritz, »und er denkt nur an mich.«
»Ich glaube, mein Vater denkt draußen nie an mich.«
»Doch, doch. Nur anders. Unsere Väter vergessen uns nie. Einmal zeigt es sich immer.«
Dann tummelten sie sich in dem von einem Öllampchen spärlich erleuchteten Raum herum, und Carmen drückte sich ein Diadem ins Haar, ließ sich einen golddurchwirkten Purpurmantel über die Schultern legen und hielt Hof ab wie eine Königin. Ein Pagenwams mußte Moritz überziehen und wieder eine blecherne Ritterrüstung, in der er verschwand, und während sie auf einem Haufen alter Kleider thronte, ließ sie sich schwärmerische Gedichte von ihm aufsagen und Uhlandsche Balladen. Die Stimmen der Kinder drangen bis zum alten Simon, der an der Tür horchte und bei den pathetischen Deklamationen des Jungen heftig mit dem Kopfe nickte, sich dann während einer Pause schlurfend entfernte, um in der verräucherten Küche Feigen, Datteln und Apfelsinen auf einen Teller zu häufen, den er den Kindern mit Spendermiene brachte.
»Wer zu meinem Moritz kommt, findet, was er nur braucht,« erklärte er dem staunenden Mädchen.
Moritz Lachner brachte die kleine Freundin nach Hause. Ihm war ganz traumselig zu Mute, weil es seinem Gaste so sehr bei ihm gefallen hatte, und er drückte ihre schlanken Fingerchen.
»Da sind wir,« sagte er. »Gute Nacht, Carmen.«
»Gute Nacht, Moritz,« Sie überlegte. »Ich möcht' dir einen Kuß geben, aber wenn's der Laurenz erfährt –« Sie lief ins Haus, und Moritz Lachner war zufrieden, daß sie doch den Wunsch gehabt hatte, und trollte sich heim. – – –
Weihnachten ging vorüber. Täglich fegte der alte Klaus knurrend den Schnee vom Trottoir, um nicht von der Polizei in Strafe genommen zu werden. Und eines Tages zog er sich seinen altväterischen Bratenrock an. Ohne daß die Öffentlichkeit davon erfuhr, sollte er mit aufs Standesamt. Er und der Herr Professor Koch fungierten als Zeugen.
Es war am Abend des Tages. Joseph Otten saß im Zimmer seiner Frau. Sie hatte den Arm um ihn gelegt.
»Nun? Zufrieden, Maria?«
»Jetzt bin ich wunschlos.«
»Mein altes Mädchen, wer kann sich vor seinem Tode glücklich preisen?«
»Ich, Joseph. Das Leben hat mir sein Schönstes gegeben.«
»Bin ich das?«
»Ach du – nicht spotten jetzt ...«
»Carmen!« rief Otten. »Die heilige Familie muß doch beisammen sein.« Und er hob sie auf den Schoß und ließ das große Mädchen auf seinen Knien reiten. Aber trotz seines Spottes, er fühlte sich warm und wohl. Und täglich, wenn es dämmerig wurde und er die Bücher schloß, in denen er studiert hatte, wenn er am Klavier saß und in die Dämmerung hineinphantasierte, während draußen der Nordost an den Fensterläden rüttelte, wenn er zu Tisch gerufen wurde und er nachher, Frau Maria im Arm, im Sofa lehnte und oft auch von der abenteuerlichen Welt berichtete, wiederholte er es sich und der dankbaren Frau: »Das Beste ist, zu Nest geflogen zu kommen.« – – –
Zuweilen war er mit Heinrich Koch zusammen, der sich aufs neue einen langjährigen Urlaub von der Kirchenbehörde erwirkte, um in Rom, in den vatikanischen Archiven, an der Geschichte der katholischen Kirche weiter zu schreiben. »Wenn man Kirchenhistoriker ist,« pflegte der Gelehrte zu sagen, »gerät einem ein Schuß fröhlichen Heidentums ins Blut. Das macht für den geregelten Kirchendienst unbrauchbar. Die Geschichte erkennt kein Dogma an.« Selten traf er Terbroich. Das verkappte Jesuitentum war ihm widerlich.
Frau Maria ging nach wie vor den Erfordernissen des Hausstandes nach. Sie genoß die Stunden und Tage, die ihr die Gegenwart des geliebten Mannes schenkte, wie Feste, die kommen, damit man lange an ihnen zehrt. – – –
Der Rhein führte Hochwasser, und die Kinder liefen ans Bollwerk, um die Eisschollen schwimmen zu sehen. Ein paar warme Tage lösten die Regenzeit ab. Die Wasser beruhigten sich, und die Schiffahrt wurde wieder eröffnet. Mit vollen weißen Segeln zogen die Schiffe zu Tal, vorüber an Kölns altersgrauen Mauern und Türmen. Unter Volldampf brachten kleine, muntere Dampfer die langen Schlepperzüge zu Berg und grüßten die Stadt mit einem gellenden Pfiff.
Joseph Otten stand oft am Kai und blickte ihnen nach. Wenn Segel und Rauch verschwunden waren, fuhr er auf, als hätte er hinter ihnen hergeträumt. Dann ging er schnell nach Hause, scherzte mit Maria oder übte stundenlang mit seinem Töchterchen am Klavier, wenn sie aus der Schule heimgekehrt war.
Aber immer öfter stand er am Kai, immer länger schaute er hinter den Schiffen her, und wenn er sich endlich mit Gewalt losriß, war sein Schritt müde und sein Auge ohne Glanz.
Abends, in den heimlichen Stunden mit Maria, begann er plötzlich aufgeregt zu erzählen. »Jetzt ist es im Süden Frühling. Der Ätna hat einen saftiggrünen Gürtel umgelegt. Auf Capri blühen die Rosen. Das Meer ist wie ein Türkis, und der Seewind trägt berauschende Blumendüfte von der Küste. Ja – davon weiß man in Köln nichts – – –.«
Frau Maria hatte die Veränderungen von ihren ersten, flüchtigen Spuren an bemerkt. Sie hatte es erwartet, und deshalb schmerzte es nicht. Wenn sie Schmerz verspürte, so war es, weil sie den Mann sich quälen sah, über sein Blut Herr zu werden. Und sie sah, daß er unterlag und sich dennoch wehrte.
Er las ihr einen Brief vor, den er von Heinrich Koch aus Rom erhalten hatte, »Sonnentage in der Campagna. Das blüht und schwelgt, als wäre die Welt noch nie so schön gewesen.«
»Als wäre die Welt noch nie so schön gewesen –,« wiederholte er und blickte über den Brief weg in die Ferne.
Frau Maria fühlte mit einem Male ihr Herz rasend pochen. Jetzt mußte es geschehen. Und sie zwang sich mit aller Gewalt, ruhig zu erscheinen.
»Das darfst du aber nicht versäumen, Joseph.«
Es war heraus, und sie konnte lächeln, als er sie wie ein Nichtverstehender anblickte.
»Du machst dich lustig,« kam es stockend bei ihm heraus.
»Aber es hält dich doch keine dringende Arbeit? Die Konzertverpflichtungen für den Rest der Saison hast du auch gelöst. Ich wüßte wirklich nicht, was dich hindern könnte.«
»Wahrhaftig – das wüßt' ich auch nicht.«
»Du schreibst an Koch, er könnte dich in einigen Tagen erwarten.«
»Der wird Augen machen.«
»Oder möchtest du ihn lieber überraschen?«
»Ach, wenn ich die Wahl hätte – Rom bleibt Rom, aber auf Sizilien müßte es sich jetzt herrlich streifen lassen.«
»Dann würde ich aber auch Sizilien vorziehen. Wenigstens zunächst.«
»Und von Palermo hinüber nach Tunis, wie Scipio auf den Trümmern Karthagos zu sitzen.«
»Da will ich doch gleich deine Koffer nachsehen. Du nimmst wohl morgen den Nachtzug. Der hat Schlafwagen.«
»Sag mal, Maria – –,« und er saß rotübergossen am Tisch, »das ist ja gerade, als ob du mich fortschicktest.«
»..Tu' ich auch, Joseph.«
»Du selber – schickst mich fort? Weshalb denn das? Ich hab' doch nichts gesagt?«
»Ich schick' dich fort, damit du mir nicht fortläufst, Joseph.« Sie mußte an sich halten, um ihm ein heiteres Gesicht zu zeigen. »Du hast eine kluge Frau.«
»Aber ich denke ja nicht daran, dir fortzulaufen.«
»Innerlich, Joseph. Und wenn du nicht selber läufst, so nimmt dich was mit. Die Vorboten des Frühlings, die alte Wanderlust, der Zug nach der Romantik des Lebens –«
»Sag nur nach Abenteuern. Herr Gott, ich bin ein Vagabund!«
»Du kannst doch nichts für dein Blut, Joseph. Vielleicht lieb' ich dich deshalb noch mehr. Die Sorgenkinder liebt man am meisten. Und du machst ja auch kein Hehl aus deinem Blut. Du hast den Mut – du zu sein.«
»Landstreichermut,« sagte er, aber er lachte bereits.
»Wie lange hab' ich dich nicht so lachen sehen. Schon deshalb.«
»Die schlechtesten Ehemänner haben die besten Frauen, Es muß wohl des Ausgleichs wegen sein, denn die Welt ist harmonisch.« Er erhob sich, und auch sie hatte sich erhoben. »Ernsthaft, Maria, du rätst mir selbst – mal wieder eine kleine Fahrt zu wagen?«
»Groß oder klein, ich rat' es dir.«
»Frau, Frau! Was für ein Prachtgeschöpf hab' ich an dir gefangen!«
Er preßte sie in seine Arme, und sie hielt sich an seinen Schultern. »Nur eins, Joseph –«
»Frag mich.«
»Nicht wahr, Joseph, – es war doch – ein schöner Winter zu Haus?«
»Schön? Schön? Was ist das für ein armselig Wort. Im Paradies war ich, Maria! Und wenn ich daran denk' – nein, weißt du, nicht morgen schon. Ich warte noch ein paar Tage.«
Sie machte sich von ihm los. »Nein, morgen. Es bleibt dabei. Wir wollen uns doch nicht quälen – –.« Und sie lief zur Tür hinaus. Ihre Kraft war zu Ende. –
Bevor Otten abreiste, ging er zum alten Klaus hinab. »Heute abend geht's fort, Klaus.«
»Domet verzälle Sie mr kein Neuigkeit.«
»Hast du es gewußt?«
»Seit die erste Schwalw retour is, hann ich et gewoß'.«
»Adieu, Klaus. Und wenn ich länger bleiben sollt' – gib acht auf die Frau.«
»Dat brauchen Se mr nit extra zu sage. Adjüs, Jupp. Un komm klöger no Hus.« –
Frau Maria kam vom Bahnhof zurück. Der alte Klaus saß bei Carmen am Tisch und bastelte Segelschiffchen aus Walnußschalen. Als er die Frau eintreten sah, wünschte er gute Nacht und verließ das Zimmer.
»Nun ist der Vater fort,« sagte Frau Maria und setzte sich still zu dem Kinde. In Hut und Mantel.
»Du, Mutter?«
»Was denn, Carmen?«
»Der Laurenz Terbroich sagt, der Vater hielt's in Köln nicht aus, weil er hier nichts erleben könnt'.«
»Nein, Kind. Aber Köln ist zu eng für ihn. Er muß die weite Welt um sich haben, weil er so groß ist.«
»Und der Laurenz sagte: weil draußen so viel schöne Frauen waren.«
Frau Maria nahm ihr Kind in den Arm. »Hör mich an, Carmen. Du wirst größer und klüger. Ich kann schon manches mit dir besprechen. Dein Vater – siehst du, dein Vater ist ein Mann, wie es ihn nicht zum zweiten Male gibt. Ich, deine Mutter, sage dir das. Und wenn man dir einmal etwas anderes erzählen will, glaube es nicht. Das ist gar nicht dein Vater, von dem man etwas anderes spricht. Das ist nur ein Doppelgänger.«
»Ein Doppelgänger?«
»Das ist ein Mann, der gerade so aussieht, gerade so sonnig und groß, und der – zuweilen – auf Kosten des anderen – Fehler begeht.«
»Und kennt der Vater den Mann nicht?«
»Nein,« erwiderte sie trübe lächelnd, »er kennt ihn noch immer nicht. Aber wenn er ihn erst findet, dann – ja, dann ist es vorbei mit dem anderen – für immer.« Und plötzlich zog sie das Kind an sich und küßte es heiß, küßte es, als ob sie den Kuß fortsetzen müßte, den sie dem Manne zum Abschied gegeben hatte ...
»Komm, Kind, wir wollen zu Bett gehen. Ich bin heute müde.«
Als sie das Mädchen zu Bett gebracht hatte, ging sie in ihr Schlafzimmer. Sie blickte sich um. Allein – – –.
»Es war ein Märchen,« dachte sie, »aber ich hab' es doch erlebt.«
Und sie löschte das Licht.– – –