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VIII

Zwei Tage hatte Joseph Otten sein Haus in der Rheingasse nicht verlassen. Eine wohlige Abspannung war über ihn gekommen, hatte Körper und Geist gleichermaßen ergriffen und jenen Zustand feinsten Genießens heraufbeschworen, den der Rekonvaleszent lächelnd in sich aufnimmt, wenn er in der augenblicklichen Schwäche die Kräfte zurückfluten und neu sich sammeln sieht. Das erste Wiedersehen mit Carmen war für ihn eine kleine Überraschung gewesen. Daß es für ihn eine Enttäuschung bedeutet hatte, wollte er sich nicht gern eingestehen. Der Freudenausbruch des Mädchens, der ihn zuerst entzückt hatte, war allzu rasch dem Interesse an allerlei Tagesfragen gewichen, der Vater spielte die Rolle des Besuchs, auf den nicht zu rechnen ist, die Tochter nickte ihm freundlich zu, fand aber wenig Veranlassung, sich mit ihren Wünschen an ihn zu wenden, und es war offensichtlich, daß sie verlernt hatte, seine Zufriedenheit oder Unzufriedenheit in Rechnung zu stellen.

»Racker,« dachte Otten, »ich werde dich schon wieder einfangen.« Und er begnügte sich zunächst, mit wachsendem Wohlgefallen die Grazie des Mädchens und den bunten Wechsel ihres Temperaments zu beobachten. »Ich habe sie doch richtig getauft,« sagte er sich mit heimlichem Behagen. »Carmen! Das Lied! In jedem Gewande ist sie es. Bald ein naives Volksliedlein, bald ein fortstürmender Triumphgesang, bald – wer weiß, wie bald – ein heißes Liebeslied ... Nun, der Meister wird sich finden, der ihren Sinn auf die richtige Harmonie stellt. Nur Geduld wird er haben müssen, denn das Material ist so spröde wie kostbar.«

Am Abend des zweiten Tages saß Otten allein im dämmerigen Zimmer, als Carmen von einem Ausgang zurückkehrte und ins Zimmer trat.

»Hallo, Kleine.«

»Gott, wie du mich erschreckt hast! Bist du es, Vater?«

»Du hast wohl ein schlechtes Gewissen? Komm doch mal näher.«

»Du kannst mich ja doch kaum sehen. Es ist ja beinah' dunkel.«

»So, damit rechnest du also. Aber ich werde es machen wie der alte König, der eine junge Frau genommen hatte und dem verliebten Pagen nachlief, den er vor ihrer Tür betraf.«

»Das ist lustig.«

»Das ist sehr traurig, aber ich will es dir doch erzählen, damit du einsiehst, daß es ein Vertuschen nicht gibt. Als der verliebte Junge vor seinem Verfolger in den Schlafsaal entwischt war und sich zwischen den anderen Pagen schlafend stellte, ging der alte, weise König von einem zum andern und legte jedem die Hand aufs Herz. Und siehe da, ein Herz schlug ganz ungestüm. `Hab' ich dich?´ sagte der alte, weise König und nahm das Herzchen beim Ohr.«

»Au, Vater.«

»Au, mein Herzchen, laß es dir eine Lehre sein. Die alten, weisen Könige leben noch.« Sie faßte seine Hand, die ihren Ohrzipfel hielt. »Der alte König war nur so weise, weil er früher auch mal Page war.«

»Daß dich das Mäuschen beißt! Solche Logik verbitt' ich mir.«

»Und du warst auch mal Page. Sonst wüßtest du das alles nicht.«

»Aber man schämt sich hinterher seiner Pagenstreiche. Und das vermisse ich doch sehr bei dir.«

»Vater,« lachte sie leise und drückte ihren Kopf gegen seinen Ärmel, »ich möcht' dir auch mal die Hand aufs Herz legen.«

»Willst du schweigen! Es ist doch ein Glück, daß es dunkel ist ... Mädel, ich glaub' fast, du wärest besser ein Junge geworden.«

»Dann hätte ich dein Kamerad werden können.«

Er nahm sie fester in den Arm. »Hätte dir das Freude gemacht? Mit deinem Vater durch die Welt zu ziehen?«

»Du mit der Mandoline, Vater, und ich mit dem Tamburin. Und kein Mensch, der uns was zu sagen hätte.«

»Und Abends im Städtlein,
Da kehr' ich durstig ein –«

summte Otten. »Die Sterne stehen am Himmel und winken zu neuen, unbekannten Fernen, und wir flüstern noch im Schlaf: morgen – morgen kommen wir zu euch!«

»Ach, Vater –«

»Hast du mich lieb. Töchterchen?«

»Jetzt wieder. Nun behandelst du mich nicht als kleines Mädchen. Das geht doch nicht gut.«

»Und weshalb soll das nicht gehen?« fragte er erstaunt.

»Du bist doch nie zu Hause gewesen. Vor der Mutter brauch' ich mich nicht zu genieren. Ich kann dir das nicht so sagen, aber ich weiß nun mal nicht anders, als daß sie immer zu mir gehört hat. Verstehst du?«

»Närrchen,« sagte er, hob ihr Kinn und küßte sie. »Ich gehöre auch dazu.«

Sie erwiderte nichts. Aber sie schlang die Arme um seinen Nacken und schwang sich auf sein Knie.

»Was? Doch noch ein Schoßkindchen? Solch ein großes Frauenzimmer!«

»Es sieht ja keiner. Ich freue mich, daß du da bist.«

»Mit einem Male? Ich hatte schon die Hoffnung verloren.«

»Ach du! Du verlierst nie die Hoffnung. Ein so berühmter Mann wie du hat ein Zauberstäbchen.«

»Das möchtest du wohl auch haben?«

»Ich bin furchtbar stolz auf dich. Ich höre immer zu, wenn die Leute von dir sprechen. Und sie sprechen immer so Interessantes von dir.«

»Na, na,« machte er zweifelnd.

»Du kannst es mir glauben. Und ich weiß, daß mich alle meine Freundinnen um dich beneiden.«

»Schmeichlerin,« knurrte Otten. »Du schmeichelst wohl nur so schön, weil du dir schmeichelst.«

»Hast du auch Prinzessinnen kennen gelernt? Oder interessieren sich die nicht für uns?«

»Mein liebes Kind,« sagte Otten, »jeder Mensch sehnt sich in seinem Unverstand am meisten nach dem, was nicht für ihn ist. Wenn wir uns ein Märchen ausdenken, muß es eine Prinzessin sein, und wenn eine Prinzessin ein Märchen spinnt, muß es ein Gänsejunge sein. Aber bald schon, und wir bekommen die Prinzessin und die Prinzessin bekommt uns über.«

»Wann soll das kommen?«

»Wenn der holde Unverstand schwindet. Wenn wir sehend werden und der schadenfrohe Tag uns das Spielzeug aus den Händen schlägt. Wer dann noch nicht klug ist, rennt hinter neuen Märchen her. Es gibt eben so viele Prinzessinnen und so viele Gänsejungen.«

»Erzähl doch.«

»Kind, nach so etwas fragt man nicht. Kleine Mädchen haben hübsch Fastenspeise zu essen.«

»Ich bin kein kleines Mädchen.«

»Verzeihung, mein Fräulein, aber ich wußte nicht, wie ich Sie als junge Dame anders behandeln sollte.«

Plötzlich lachte sie in sich hinein.

»Was hast du, großer Racker?«

»Mir fiel nur eine Geschichte ein, weil du von Fastenspeise sprachst. Der alte Klaus hat sie mir erzählt.«

»So, so. Eine Geschichte vom alten Klaus. Ist sie auch fromm?«

»Sie ist von einem Mönch aus einem Kloster im Siebengebirge. Wie heißt er doch?«

»Cäsarius von Heisterbach.«

»So heißt er. Soll ich sie dir erzählen?«

»Du fieberst ja darauf. Und tugendhaft ist sie? Nun, ich werde sehen, ob ich mich daraufhin beruhigen kann.«

»Hör zu, Vater. Beim Dechanten von Sankt Andreas kehrten einmal an einem Fasttag einige Mönche ein, die er zu Tisch lud. Da aber keine Fische im Hause vorhanden waren, sprach er zu seinem Koch: `Wir haben heute keine Fische, aber es sind einfache Klosterbrüder, und sie haben Hunger; da wird es ein Fleischgericht auch tun. Du mußt aber die Knochen sauber herausnehmen und es so kneten und klopfen, daß es aussieht wie ein Fisch. Dann tust du brav Pfeffer daran, bringst die Schüssel auf den Tisch und sagst dazu: Gesegne der Herr euch diesen Butt allesamt!´«

»Carmen, Carmen – –!«

»Der Koch tat genau nach Auftrag, und sobald er gesagt hatte: `Gott gesegne euch diesen Butt´, begaben sich die Mönche ans Essen, und es mundete ihnen vortrefflich. Der fromme Betrug blieb ihnen verborgen, und obgleich der Butt seltsam schmeckte, so war der Geschmack doch nicht unangenehm. Fragen wollten sie nicht, ob er vielleicht aus der See herkomme, weil sie den Wirt keiner Unwahrheit zeihen mochten. Wie aber der Grund der Schüssel schon sichtbar war, fischte einer der Mönche mit dem Löffel ein Schweinsöhrchen, und der andere zog ein Schnüßchen hervor. Lächelnd sahen sich die beiden an und zeigten ihren Fund. Der Dechant aber sagte scheinbar erzürnt: `Esset doch in Gottes Namen weiter! Mönche sollen nicht vorwitzig sein. Butte haben doch auch Ohren und Schnüßchen!´«

»Nun? Nun?« Otten lachte, daß ihm die Tränen kamen.

»Also aßen sie die Ohren und Schnüßchen ohne Gewissensbedrängnis,« schloß das junge Mädchen, und ihr klingendes Lachen mischte sich mit dem des Vaters.

»Und die Nutzanwendung für mich? Denn das hast du doch bezweckt?!«

»Mönche und junge Mädchen sollen nicht vorwitzig sein.«

»Das stimmt! Nun also? Das stimmt doch?«

»Und deshalb kannst du mir ruhig erzählen, was du willst. Ich werde es –«

»Nun, was wirst du –«

»Ich werde es für einen Butt nehmen.«

»Mädel!« rief Otten und nahm sie beim Kopf. »Durchtriebenes Frauenzimmer. Ist das deine Tochter, Joseph Otten?«

Er wiegte sie auf dem Schoß hin und her. Und summte dazu, als gälte es ein Wiegenlied.

»Ich hatt' einen Kameraden,
Einen beßren findst du nit..,«

Frau Maria trat mit der Lampe ins Zimmer. Überrascht schaute sie, vom rötlichen Lichtschein umflutet, von der Schwelle auf das Bild.

»Was treibt ihr beide denn im Dunkeln?«

»Wir erteilen uns Unterricht, Frau. Kannst dran teilnehmen.«

Frau Maria trug die Lampe auf den Tisch und zupfte den Schirm herunter. »Daran teilnehmen? An eurem Unterricht? Ich habe meinen Kopf für euch Feuerköpfe nüchtern zu halten.«

»Wird auch anerkannt, Hausengel. Aber ich muß doch auch meinerseits etwas für die Erziehung meiner Tochter tun.«

Sie suchte im Zimmer ihre Handarbeit und strich im Vorübergehen über sein Haar. Mit der stillen, liebkosenden Gebärde, wie sie Mütter haben. – –

Am nächsten Tag stellte sich, unerwartet, Moritz Lachner ein. Er war aufgeregt und hatte leuchtende Augen.

»Ich wollte gern Herrn und Frau Doktor begrüßen.«

»Erfuhrst du denn schon meine Rückkehr?« meinte Otten verwundert,

»Gestern abend. Durch Herrn Gülich.«

»Durch Herrn Gülich? Wer ist das doch gleich? Ah so, der Klaus, natürlich. Nimm Platz, mein Junge, es ist hübsch von dir, daß du an mich denkst. Aber brauchst du denn heute nachmittag nicht zur Schule?«

»Ich habe heute morgen – mein Abiturientenexamen bestanden. Vom mündlichen dispensiert.«

»Alle Wetter! Hand her! Meinen Glückwunsch, Moritz. Heute morgen? Und kommst gleich hergelaufen? Anhängliche Seele du, nimm Platz.«

Auch Frau Maria gratulierte herzlich. »Und wohin soll es nun gehen, Moritz?«

»Nach Bonn, Frau Doktor.«

»Nach Bonn – – ,« wiederholte Otten. Und noch einmal leiser: »nach Bonn – –. Junge, Junge, wie sich das ausspricht. Was das für musikalische Worte sind. Die ganze Stube ist plötzlich wie mit Maienluft gefüllt. Ich seh' den Alten Zoll, und ich selber lehne oben an der Mauer, ein Dutzend bunte Mützen um mich her, und wir singen den Vater Rhein an und das Siebengebirge in seiner versunkenen Romantik, und kein Mensch wüßte zu sagen, sind wir voll der süßen Jugend oder des süßen Weines. Das ist ja eins, das ist ja einerlei! Wichtiger ist, daß noch immer die Linden duften `beim Ännchen´ zu Godesberg, Lindenwirtin du junge! Moritz, das ist mir im Leben noch nicht vorgekommen: heute beneide ich einen Menschen.«

»Ich will Geschichte studieren, Herr Doktor.«

»Gut, daß du Vorsätze hast. Aber was du studierst, ist einstweilen schnuppe. Daß du studierst, daß du! Und daß du in Bonn studierst.«

»Nun freue ich mich erst wirklich, Herr Doktor. Mit Ihnen hätt' ich in Bonn studieren mögen.«

»Wünsch dir das nicht, mein Junge. Nur der winkende Tag hat seinen Wert. Du wärst heute höchstens wie ich – um ein Menschenalter unvernünftiger.«

»Nein, Herr Doktor, statt des winkenden Tags hätte ich die Fülle der Tage. Sie haben sie in Besitz genommen.«

»Komm ins Freie. Wir wollen einen Bummel machen. Es ist noch zu früh, um einen Trunk zu tun, aber wir werden irgendwo nachher den mulus begießen.«

»Wollen Sie Carmen von mir grüßen, Frau Doktor?«

»Gern, Moritz. Auf Wiedersehen.«

Das Straßenleben lenkte Otten ab. »Doch ein famoses Nest, unser Köln. Ich lieb' es, wenn die Gegensätze aufeinanderstoßen. Das hält das Blut in Fluß. Diese göttliche Lebensfreude und dazu diese ewige Himmelsbereitschaft. Da läuft schon wieder ein Trüppchen in die Kirche. Besser ist besser.«

»Jetzt ist doch keine Messe,« sagte Moritz Lachner und zog die Uhr.

»Keine Messe? Ist es noch nicht so weit? übrigens: seit wann interessierst du dich für den Katholizismus?«

»Ich interessiere mich für jedes Glaubensbekenntnis. Ich soll doch mit den anderen leben.«

»Hör mal, Moritz, das war ein gescheites Wort. Wer mit seinem Nächsten als Bruder leben will, sollte vor allem den Herrgott seines Bruders kennen lernen, und er hat den Faden zu seiner Seele. Aber in der Beziehung steckt unsere hochgepriesene moderne Zeit noch immer im dicksten Mittelalter, und die Schule hüllt sich in heimtückisches Schweigen. Ist das nicht ein klägliches Zeichen? Unsere gebildeten Schüler lernen den Kultus von Isis und Osiris und die Molochsgebräuche auswendig, daß sie sie des Nachts wie ihr eigen Vaterunser aufsagen können. Aber der junge Katholik weiß vom Protestanten nicht viel mehr, als daß er ein Ketzer ist, und Wesen und Gebräuche der katholischen Kirche bleiben dem jungen Protestanten unheimliche Rätsel. Mit den Jahren wird das Brett vor dem Kopf noch etwas dicker. Von der jüdischen Religion will ich gar nicht sprechen. Wenn nur der zehnte Teil von dem wahr wäre, was über euren armen Talmud gelogen wird, müßtet ihr wie die Katzen in den Rhein, Heilige Mystik! Den Menschen soll's gruseln, damit er bei der Stange bleibt. Und unser Griechenhimmel ist dennoch voll von Göttern!«

Moritz Lachner schritt, ein glückliches Leuchten in den Augen, neben dem Idol seiner Kindheit her. Daß es auch das Idol seiner Jünglingsjahre bleiben würde, das spürte er in dieser Stunde. So frei werden, so warmherzig in der Freiheit! Wie er ihn liebte! – – –

»Was spintisierst du, Moritz? Deine Gedanken flattern wohl um Bonn?«

Hastig wehrte der junge Mann ab. »Ich dachte nur daran, ob sich das, was Sie mir soeben erschlossen, nicht zur Grundlage einer – einer Kulturgeschichte machen ließe.«

»Mir scheint es wirklich,« meinte Otten, »als ob ein Jude noch am ehesten berufen wäre, eine europäische Kulturgeschichte objektiv zu schreiben. Er ist an den Kämpfen der herrschenden Parteien am wenigsten beteiligt gewesen, ihm konnte es zuletzt gleich sein, ob Doktor Luther oder Doktor Eck recht behalten würde, ihm kann es – die Vornehmheit seiner Gesinnung vorausgesetzt – nur darauf ankommen, zu bestimmen: welche Aufgaben sind gelöst, welche Lösungen sind verhindert worden? Das Resultat aber zeigt den Weg, den wir gehen müssen.«

»Dann müßte die geistliche Verfolgungssucht zuerst aus der Kultur ausgeschaltet werden.«

»Verfolgungssucht in religiösen Dingen schafft immer Unfreiheit, niedere Instinkte. Ein Glaube, der jeden anderen wütend ausschließt, muß in sich selbst zum Aberglauben werden, genau wie ein Geschlecht, das immer nur unter sich heiratet, entartet.«

»Das werde ich bei meinen Arbeiten nicht vergessen, Herr Doktor.«

»Schau dir Köln an, wie es vor hundert Jahren, wie es zu Ende des achtzehnten Jahrhunderts aussah. Das ist ein Schulbeispiel. Nur durch die Unduldsamkeit seiner geistlichen Behörden war es zu einem schmutzigen, finsteren Nest herabgesunken, das kaum vierzigtausend Menschen beherbergte. Und was für Menschen! Das ist der springende Punkt. Die Hälfte, an die zwanzigtausend, Pöbel, die Miliz der Orden. Und als Gardetruppe darunter fünftausend Bettler, fünftausend Tagediebe, eine Bedrohung jeder Intelligenz, als Gilde anerkannt, nur auf Müßiggang verpflichtet und Drangsalierung anständiger Bürger, denen sie zum Mittagessen in die Häuser rückten `von Gottes wegen´! Und diese vertierte Gesellschaft durfte selbst ihre Plätze an den Kirchentüren erblich hinterlassen oder als Heiratsgut ihrer Töchter in Anrechnung bringen! Erst als die französische Revolution den dumpfen Aberglauben aus den Gassen hinausfegte, als auch die Vernunft als ein göttliches Teil anerkannt wurde und Ehrfurcht forderte, schien die Sonne aufs neue über Köln, und es kam ein Frühlingsdrängen, ein Frühlingswunder über die Stadt, daß sie binnen kurzem eine Größe, Schönheit und Bedeutung erlangte, wie es ihr in solchem Maße selbst in ihren geschichtlichen Glanztagen nicht beschieden gewesen war. Der Bürger gab dem Bürger die Hand aus gemeinsamem Bürgersinn! Aus gemeinsamem Kulturinteresse! Und diese Art Religionsübung ist dem Herrgott immer die wohlgefälligste. Wir sehen's am Segen.«

»Ich danke Ihnen, Herr Doktor!«

»Keine Ursache. Aber wir wollen von was anderm reden.«

»Ich könnte noch lange zuhören.«

»Lieber Moritz, ich will deinem Professor in Bonn nicht vorgreifen. Der Mann wird für seine Leistung bezahlt.«

»Dann werde ich Sie als meinen Gläubiger eintragen, Herr Doktor.«

Sie waren aus der Stadt herausgekommen und spazierten im Bayental das Rheinufer entlang. Die graugrünen Wasser zogen fast lautlos an ihnen vorbei.

»Weißt du, weshalb sie so still sind, Moritz? Weil sie von Bonn kommen.«

»O nein, Herr Doktor.«

»Bau auf die Erfahrung. Bonn ist die letzte Etappe ihrer ungeteilten Jugendseligkeit. Von dort dienen sie nur noch dem Alltag, und in Holland verrinnen sie im Sande.«

»Auch der Niederrhein hat jedes Jahr seinen Frühling, Herr Doktor. Und man empfindet ihn noch viel stärker als in gesegneteren Ländern.«

»Ich bin hier, um es abzuwarten. Wenn's nur kein Altweibersommer wird.«

»Schauen Sie,« sagte Moritz Lachner, »dort hinaus liegt Bonn.«

Otten klopfte dem jungen Begleiter die Schulter. »Hast recht. Dort liegt Bonn. Für dich. Aber die Wasser, die einmal ins Strömen gekommen sind, stießen nicht mehr den Berg hinauf. Und es ist doch ein ganz verdammtes Gefühl, zu denken, sie stießen in die Niederlande, um alldort im Sande zu verrinnen.«

»Aber die Straße bleibt, die sie durchzogen haben. Von der Quelle bis zur Mündung. Und alle die Stationen.«

Joseph Otten blieb stehen. »Das hat dir ein guter Geist eingegeben. Mich faßt in diesem grauen Heimatland, über dem schon die holländischen Nebel liegen, immer diese seltsame Melancholie, die nichts ist als Sehnsucht nach der Farbe. Und ich brauch' mich doch nur umzuschauen und sehe die Spur meiner Erdentage in allen Regenbogenfarben schimmern. Das ist sehr lehrsam. Denn man merkt, daß es auch Regentage geben muß, um am Regenbogen zu erkennen, wieviel Sonne dahinter liegt. Es mag undankbar erscheinen, aber am liebsten pfiff' ich auf diese Erkenntnis und stände dahinten, wo die Sonne scheint. Auf die Gefahr hin, ewig unwissend zu bleiben. Na, werden wir klug!«

»Dort kommt ein Nachen.«

»Und junge Menschen darin. Jung sein heißt mit der Welt Fangball spielen wie mit dem eigenen Kindskopf. Einmal sitzt einem die Welt auf den Schultern, hupla, gleich wieder der Kindskopf. Komm, Moritz, es ist nach diesem philosophischen Nachmittag höchste Zeit, daß wir das auch wieder üben. Nu bist mir überhaupt für deine Jahre viel zu alt, und ich fühle zu meinem Schrecken, daß das ansteckend wirkt. Apage, Satana, wir wollen auf Bonn anstoßen.«

Er faßte den jungen Mann freundschaftlich unter den Arm. »In die nächste Herberge.«

»Herr Doktor, ich glaube –«

»Laß mich endlich mit deinem Glaubensbekenntnis zufrieden. Wenn ich zum Weine gehe, verlangt mein irdisches Teil sein Recht. Fangball, Moritz, die Übung beginnt.«

»Und es ist doch Carmen, Herr Doktor!«

»Wer – –?«

»Carmen und Laurenz Terbroich. Dort legen sie an.«

»In – der – Tat. Wollen hier in der Wildnis spazierengehen. Das Fräulein mit der Schulmappe, und der Herr Lehrling mit dem Schreibärmel. Fern der mißgünstigen Welt. Das ist rührend fürsorglich.«

Die beiden Ankömmlinge hatten unterdes den Nachen an einem Pflock befestigt und wandten sich der Landstraße zu.

»Heda, Carmen, auf ein Wort!«

Das Mädchen fuhr zusammen. Einen Moment nur. Dann reckte es sich in den Schultern und winkte dem Vater zu.

»Da bist du ja, Vater!«

»Bitte näherzutreten. Herr Terbroich darf sich anschließen. So, so ... Guten Tag. Wie ich aus deinem Anruf entnehme, habt ihr mich ganz gewiß gesucht?«

»Laurenz traf mich, als ich aus der Schule kam. Er war gerade zur Post gewesen. Und am Hafen –«

»Liegt der auf dem Nachhauseweg?«

»Nein, aber am Hafen trafen wir doch den alten Klaus, der uns sagte, du wärst mit Moritz spazieren.«

»Eiserne Logik. Sei's drum. Und nun drängte euch euer kindliches Empfinden, dem Klaus den Nachen abzubetteln und auf gut Glück hierher zu rudern, weil ihr mich in der Einöde am ehesten vermutetet.«

»Jawohl, Herr Doktor.«

»Herr Terbroich,« meinte Otten ironisch, »ich hätte an Ihrer Stelle einen besseren Zeitpunkt zur Antwort abgewartet. Schön lügen ist eine Kunst. Ich lass' sie gelten. Aber plump lügen ist eine Beleidigung.«

»Laurenz lügt nie, Vater.«

»Umso schlimmer, wenn er es dir überläßt. Still! Tapferkeit ist lobenswert, Tollkühnheit eine Dummheit. Und gestern erst schienst du mir ein ganz kluges Mädel zu sein.«

»Ach, Vater,« schmeichelte sie, »war das gestern abend schön.«

»Da hört doch die Weltgeschichte auf. Du wärest im stande, hier eine Wiederholung zu befürworten.«

»Du, Vater, sei doch nicht böse. Um solch eine Kleinigkeit brauchst du doch nicht gleich den alten König zu spielen, der einem die Hand aufs Herz legt. Da gibt's doch ganz andere Sachen.«

»Das wird ja immer hübscher. Darf ich ergebenst fragen, was das für Sachen sind?«

»Ja,« sagte sie, warf den Kopf zurück und blinzelte den Vater an, »das kann ich doch noch nicht wissen. Mönche und kleine Mädchen sollen nicht vorwitzig sein.«

Joseph Otten strich sich mit der Hand über das Gesicht, um seine Würde zu bewahren. »Mir scheint, mir soll da ein Butt mit Ohren und Schnüßchen serviert werden.«

»Ein Butt, nur ein Butt!« rief Carmen lachend und hängte sich an des Vaters Hals. Mit Mühe erwehrte er sich ihrer stürmischen Liebkosungen. Aber die ernste Miene war unrettbar dahin. »Viel Talent zum Kindererziehen ist nach dieser Probe nicht zu konstatieren,« sagte er sich seufzend.

»Nimmst du mich mit, Vater? Wohin geht ihr?«

»Herr Doktor,« bat Moritz Lachner.

»Hast du Vorschläge zu machen? Ich höre.«

»Mein Vater würde sich sehr freuen, Herr Doktor, wenn Sie – meines Examens wegen –« Er stockte.

»Ein Glas Wein bei euch? Abgemacht. Du hast es verdient.«

»Und Laurenz?« fragte das Mädchen schnell.

»Ich verzichte auf die Simon Lachnersche Gastfreundschaft,« warf der junge Kaufmann hochmütig hin.

Joseph Otten runzelte die Brauen. Aber er ging über die Ungezogenheit hinweg. »Der junge Herr Terbroich,« meinte er gelassen, »kann leider an unserem festlichen Symposion nicht teilnehmen, da er sich des ehrenvollen Auftrags zu entledigen hat, den Nachen zurückzubringen. Da er nur einer schönen Regung folgte, als er der Tochter den Vater suchen half, so wollen wir seine Uneigennützigkeit einen ganzen Sieg erstreiten lassen. Adieu, Herr Terbroich.«

»Lauf,« rief Carmen und gab ihm einen lustigen Schlag, »du hast dich blamiert.« Ohne weiteres hängte sie sich in des Vaters Arm. »Nehmen wir am Severinstor eine Droschke?«

»Ich werde einen Einzug unter Trompetengeschmetter mit dir veranstalten. Wünschest du nicht auch noch eine öffentliche Belobigung?«

Carmen hängte sich fester in seinen Arm, hielt mit ihm Schritt und summte vor sich hin. Otten betrachtete sie verstohlen. Und am Severinstor winkte er einer offenen Droschke. »Obenmarspforten. Lachner.«

»Zum Jud Simon, ich verstonn, Här.«

Carmen tirilierte vor Vergnügen, und Moritz stieg mit rotem Kopf in den Wagen.

Der Doktor wurde in vielen Straßen erkannt und begrüßt. Oft kreuzte eine Equipage den Weg ihrer Droschke. Dann sah Carmen ihren Vater an, ihren schönen, stolzen Vater, der jeden Gruß mit der gleichen Liebenswürdigkeit, der gleichen Ritterlichkeit entgegennahm, und sie lehnte sich graziöser noch in ihre Wagenecke, mit heißen Wangen und dunkel leuchtenden Augen. Und wieder zwang es Otten, verstohlen sein Kind zu betrachten. Trotz allem: sie machte ihm Freude ...

Moritz Lachner hockte ihnen auf dem Sitzbrettchen beklommen gegenüber. Er kam sich vor, als ob er sich in die vielen Grüße heimlich mit eingeschlichen hätte. Den Eindruck aber mochte er am wenigsten erwecken, und so starrte er krampfhaft auf seine Knie.

»Na, Moritz? Junger Musensohn! Kopf hoch! Dir gehört die Welt!«

Da blickte er auf, mit großen, dankbaren Augen. Und von nun an ließ er ruhig die Blicke wandern, erwiderte die Grüße, die Otten galten, durch ruhiges Hutabnehmen und fühlte sich zugehörig. So kamen sie in die Obenmarspforte.

Der kleine, graubärtige Simon Lachner wischte wieder und wieder mit den Händen an seinem speckigen Rock, bevor er sie den Gästen zur Begrüßung reichte. »Große Ehre, Herr Doktor, große Ehre. Ich weiß, daß sie meinem Sohn gilt. Aber lassen Sie mir die Vaterfreude.«

»Verehrter Herr Lachner, Ihr Sohn ist ein ganz prächtiger Kerl. Das mußte ich Ihnen sagen. Deshalb komm' ich.«

»Auch wenn der Herr Doktor nicht sich herbemüht hätte, wär' für mich der Moritz ein prächtiger Sohn gewesen. Aber daß der Herr Doktor es besonders betont, das tut mir sehr gut, Herr Doktor. Und nun ist das Fräulein schon eine Dame und doch noch die Freundin meines Moritz. Bitte, diese Stiege hinauf. Sie ist eng, aber das Glück sieht nicht auf enge oder breite Stiegen. Heute kommt's in mein Haus. Bitte, die Tür rechts. Da wären wir. Seien Sie willkommen in meinem Haus.«

Sie saßen sich am Tische gegenüber. Der Alte hatte sein Mützchen vom Scheitel genommen, drehte es in den Händen und sah einen nach dem andern strahlend an.

»Herr Lachner, ich hätte Ihnen einen Vorschlag zu machen.«

»Die Vorschläge des Herrn Doktor sind immer gut.«

»Wie wäre es, wenn wir auf den glorreichen Abiturienten ein Trankopfer –«

»Ist das Ihr Ernst? Sie würden ein bescheidenes Glas Wein mit uns teilen?«

»Sagen wir eine Flasche. Und auf die Bescheidenheit lege ich weniger Wert.«

»Ich habe einen Italiener, ein Festweinchen, Herr Doktor. Durch einen Geschäftsfreund in Toskana, Extra für den heutigen Tag bezogen, an dem der Moritz mir die Freude mit dem feinen Examen bereiten würde. Der Herr Doktor sind ja Kenner. Nein, ich hole ihn, Moritz. Du bist heute der Gefeierte, mit Ihrer Erlaubnis, Herr Doktor, und der Erlaubnis von Fräulein Carmen. Ohne der Gastfreundschaft Abbruch zu tun.«

Er stieg eilig in den Keller und kehrte mit einer großen, strohumwundenen Flasche zurück. Aus einem alten Kredenzschrank suchte er Gläser hervor. »Es ist seltenes Kristall. Venezianer Arbeit. Aber auch der Tag ist selten, der solche Gäste bringt, und selten –« Er schenkte ein und murmelte das letzte in den Bart.

»Sie dürfen es laut sagen, Herr Lachner. Und selten ein wackerer Sohn. Aber die Väter geben die Beispiele. Und deshalb bringen wir das erste Glas auf den Vater unseres jungen Freundes Moritz. Herr Simon Lachner lebe hoch!«

»Gott, Herr Doktor, Gott, Herr Doktor – –«

»Und nun schenke ich selber ein. Her mit dem Kristall aus Venedig. In kristallklarer Schale edles Traubenblut. Das sei das Wahrzeichen für den, der auszieht, ein Mann zu werden. Und wenn die Schale einmal anläuft, der Wein darf's nicht entgelten. Der Schale können wir den alten Glanz geben, einem getrübten Wein nie wieder sein göttliches Feuer. Und wenn es um dich her Schloßen hagelt, laß dir kein Wasser in den Wein deiner Begeisterung gießen, mein Junge. Die Begeisterung ist das halbe Leben, und die andere Hälfte ist die Kraft, die sie erhält. Beides wünsche ich dir. Bewahr es dir als dein unantastbares Reservatrecht, und die Jugend höret nimmer auf. Prost, Student!«

Moritz Lachner stand und atmete schwer. Dann leerte er sein Glas bis auf die Nagelprobe.

In kleinen Zügen trank der Alte seinen Wein. Das Schlucken wollte nicht recht.

Carmen schmiegte sich an den Vater. »Du!« stieß sie hervor und preßte seinen Arm.

»Wilde,« und er lachte dem heißblütigen Geschöpf vaterstolz in die Augen, »such dir ein ander Vorbild.«

»Nie!« – –

»Es ist italienisch Blut in den Kölnern, Herr Historiker,« sagte Otten, »das muß ertragen werden.«

Draußen senkte sich der Abend. Feuchte Nebel aus den Niederlanden schwebten über der Stadt. Die Väter und ihre Kinder merkten das nicht. Den vier fröhlichen Menschen, die die Gläser klingen ließen, war es, als zöge eine der lauen, gestirnten Nächte Hesperiens auf, die so jung machen, weil ihre Sterne froh machen.



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