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Joseph Otten hatte Rom ohne Abschied verlassen. Nur Heinrich Koch hatte er durch ein lakonisches Billett, das nichts als die Worte enthielt: »Ich werde doch wieder einmal nach Köln gehen,« lebewohl gesagt. Als er sich um neun Uhr Abends in seiner Schlafwagenkabine zur Ruhe ausstreckte, tat er es mit dem Gefühl eines Mannes, der nichts sehnlicher wünscht, als zehn Stunden lang einen solid bürgerlichen Schlaf zu tun. Der Wunsch ging ihm in Erfüllung. Traumlos schlief er wie in der Knabenzeit nach einer langen Fußwanderung. Beim Erwachen fand er sich nicht gleich zurecht. Er machte Toilette, trat auf den Gang hinaus und öffnete ein Fenster. Der Zug fuhr durch eine Station. Otten erhaschte den Namen. Es ging auf Mailand zu. Und auf einmal überkam es den Mann wie eine Schulbubenfreude, heimzureisen, während sich die Zurückgebliebenen den Kopf zerbrachen.
Die Freude währte noch an, als der Zug Mailand verlassen hatte und den Como- und Luganosee passierte. Die Vorfrühlingssonne lag in glänzenden Streifen auf dem Gewässer. Dann umfing den Eilzug die Alpenregion. Ohne Übergang fast war es wieder Winter geworden.
Unruhig sah Joseph Otten zum Fenster hinaus. Vor ihm baute sich die majestätische Scheidewand des Gotthard auf. Schneebedeckt lagen die Joche, unheimlich glitzernd die Eisfelder. Und unaufhaltsam, immer tiefer ging es hinein in die totenstille Winterwelt. Eisige Kälte drang dem unruhigen Beobachter ins Blut, und doch war es warm im Speisewagen, in dem er sich zum Mittagessen niedergelassen hatte, und der rote Neufchâteler, der vor ihm im Glase funkelte, feuriger Art. Aber ein unerklärliches Angstgefühl war nicht zu bannen. »Was, Teufel,« dachte der Mann, »treibt dich vom Frühling hinweg in den grauen deutschen Winter? War es bisher nicht immer umgekehrt der Fall? Wenn man achtundvierzig Jahre zählt, ändert man nicht ungestraft seine Gewohnheiten.«
Als der Zug in Airolo hielt, dachte er einen Moment daran, auszusteigen. Der Bergriese schien sich höhnisch vor ihm aufzurecken, der Eingang zum Tunnel schien ihm der Höllenschlund, und von der Steinwand flimmerte es ihm entgegen, ein Hexensabbat feuriger Buchstaben, die er mühselig in eine geordnete Reihe zu bringen trachtete, bis er den Schreckensspruch aus Dantes Göttlicher Komödie entzifferte: Laßt jede Hoffnung hinter euch, die ihr eintretet ...
»Ich hätte nicht reisen sollen,« murmelte er. »Man verläßt Rom nicht um einer Laune willen, wenn man nicht weiß, wann und wie man es wiederfindet.«
Der Zug fuhr langsam durch den Bauch des Berges, der zwei Welten trennt und verbindet. Und wieder wurde es Licht. Göschenen ruhte friedlich im Winterkleid.
»Sieh da,« sagte Otten zu sich und rieb sich die Augen, »hinter dem Berge wohnen auch Leute. Und es fährt sich genau so leicht von Göschenen nach Airolo wie von Airolo nach Göschenen. Diesen Beweis gedenke ich anzutreten. Freute sich nicht schon Till Eulenspiegel deshalb so unbändig, wenn er einen unangenehmen Berg heraufkraxelte, weil ihm nachher der liebliche Rückweg winkte? Till, heute fühle ich mich dir geistesverwandt. In diesem Sinne sei's gewagt!«
Aber in Basel beredete er sich dennoch, eine Fahrtunterbrechung eintreten zu lassen. »Zwei Nächte im Schlafwagen sind nicht unbedingt notwendig, wenn man an keine Zeit gebunden ist. Morgen mit dem Frühzug reise ich frischer.«
Die Grenze hatte aufs neue ernüchternd auf ihn gewirkt,
»Ich komme als Gatte und Vater,« ironisierte er, als er im Hotelbett den Morgen erwartete. »Noch dazu als Vater einer Tochter, die mit ihren fast vierzehn Jahren Anforderungen an das erzieherisch wirkende väterliche Beispiel zu stellen berechtigt ist. Ist das wirklich schon der Zeitpunkt, an dem eine Etappe – und nicht die häßlichste des Lebens – wiederum als abgeschlossen zu betrachten ist? Während man sie noch bis ins Unendliche verlängern möchte? Während man Blut und Mark noch ganz anders spürt als in den grünen, unkundigen Jünglingstagen? Während man jetzt erst – jetzt erst so recht – verstehen gelernt hat, was es heißt: Und setzest du nicht dein Leben ein, nie wird dir das Leben gewonnen sein? – –! Joseph, du stehst am Scheidewege. Unvorbereitet wie immer, und wie du es früher liebtest. Ihr guten Götter, helft! – ›Das Schlimmste und das Dümmste, das trag' ich geheim in der Brust!‹« – –
Die Beklemmung, die ihn befallen hatte, war nicht gewichen, als er sich am Morgen erhob. »Wenn ich erst den Rhein sehe, wird's besser werden,« tröstete er sich.
Wieder schaute er zum Wagenfenster hinaus, Stunde für Stunde, und wieder eilten seine Gedanken rückwärts statt vorwärts. Dann zwang er sich, an Maria zu denken, an ihre stillen, vor Freude glänzenden Augen, an den Jubel des Kindes. Heiß stieg es in ihm auf. Er hatte ihr eine andere Stimmung ins Haus zu tragen. Resignation war daheim zur Genüge aufgespeichert. Lachen sollte durchs Haus schallen, das Lachen von drei Menschen, jungen, jung gebliebenen. Selbst der Brummbaß des alten Klaus erhielt eine veredelnde Note. So mußte es sein, so sollte es werden. Eine fröhliche Stunde in Köln – und der Bann war gebrochen. Ja, das war's. Noch einen freien, fröhlichen Abend der Vorbereitung, der Akklimatisierung. Und dann – ins alte Geschlechterhaus, in die Rheingasse.
Vom Mainzer Bahnhof gab er eine Depesche auf. »Medardus Terbroich, Köln, Ringstraße. Ankomme sieben Uhr mit Basler Schnellzug. Hole mich Bahnhof ab. Joseph Otten.«
Mit einem Schlage war die verlorene Stimmung zurückgekehrt. Nun zog er doch nicht als Lebensinvalide in die alte Vaterstadt. –
Der Zug lief auf der Deutzer Seite ein. Mit alter Elastizität sprang Otten aus dem Wagenabteil, beorderte einen Dienstmann, sein Gepäck in die Aufbewahrungshalle zu tragen, und wandte sich Terbroich zu, der diesen ersten Anordnungen des Heimkehrenden mit vielsagendem Lächeln folgte.
»Nur heute abend. Ich fühl' mich noch nicht widerstandsfähig nach so langer Abwesenheit.«
»Verstehe. Ich und was folgt, wir sollen sozusagen die ersten Stationen zum Kalvarienberge bilden. Was befiehlt der große Maëstro, das zunächst geschehen soll?«
»Irgendwohin. Wo unverfälschte Kölner Luft weht. Damit hab' ich's eilig.«
»Das Hänneschen-Theater ist leider geschlossen.«
»Bring mich in eine Kölner Kneipe, Hanswurst. Ich trag' noch den Wein aus der römischen Campagna auf der Zunge. Entwöhne mich. Gib mir den Kölner Biersäuerling. Das schafft kühlere Gedanken.«
»Hast du so heiße zurückgelassen?«
»Du wirst deine Neugier zügeln müssen. Aber gottlob, du wenigstens hast dich nicht geändert.«
»Ich hatte schon kommen wollen. Besonders, als ich gestern eine Depesche in der Kölnischen' las, daß du auf dem Feste beim Botschafter der Gegenstand großer Ovationen gewesen seiest. Das muß famos sein. Deine Ovationen sind Herzenssache. Und so ein römisches Herz – Hand drauf, Joseph, das nächste Mal!«
»Du bist ein Geck,« sagte Otten lachend. »Klär dir dein Terrain selber auf.«
»Ich habe so viele Rücksichten zu nehmen. Ich bekleide so viele Ehrenpöstchen. Da darf man sich nicht zu sehr exponieren. Aber auch im Schatten läßt sich's tafeln. Es muß eben einer die Rolle der spanischen Wand übernehmen. Na, Joseph, das sollen jetzt schöne Tage werden, und der Karneval steht auch vor der Tür.«
»Da meldet er sich schon.«
Auf dem blauen Postbriefkasten, der an einem der Häuser hing, thronte ein kleiner Junge, klapperte mit seinen Holzpantinen gegen die Hauswand und sang aus vollem Halse. Ein paar andere, die kaum in den ersten Holzpantinen zu Hause waren, sprangen wie Stehaufmännchen um den Briefkasten herum und jauchzten das Lied mit.
»Fastelowend kütt eran ...!«
»In vierzehn Tagen,« sagte Medardus Terbroich und strich sich schmunzelnd Schnurr- und Spitzbart. »Komm, wir gehen über die Schiffsbrücke.«
Es war ein abendliches Gewimmel. Fabriken und Kontore hatten Feierabend gemacht, und über die Schiffsbrücke zog es wie eine lange, schwarze Prozession. Am Zahlhäuschen staute sich ein Knäuel. Die Hintenstehenden drängten. In der Ferne hatte ein Dampfer gepfiffen, und das Mittelstück der Brücke sollte ausgefahren werden. Die schon auf der Brücke standen, setzten sich in Trab, um trotz des Geschimpfes der Brückenbediensteten noch hinüberzukommen. Am Zahlschalter, an dem das Brückengeld in Empfang genommen wurde, wetterte ein Handlungskommis über die langsame Abfertigung. »Ärgere dich nit, Mensch,« meinte das Billettmädchen gelassen, »et schadet deiner Schönheit.« Ein Schmunzeln ging durch die lange Reihe. »Dich möcht' ich lew hann,« sagte der Nächste am Zahlbrett. Und prompt kam die Antwort: »Ha, das glauben ich auch!«
In einer Seitengasse, die auf den Domplatz mündete, machten die Freunde halt. »Hier hinein?« fragte Terbroich, und Otten bejahte. Es war ein altes, unscheinbares Haus. Auf der Diele wurden Fässer gerollt, die leeren seitlich aufgetürmt, die vollen auf Bänke gehoben und eilig angezapft. Übertriebene Höflichkeit wurde nicht geübt. Wirtsleute und Bedienung verließen sich auf die werbende Kraft ihres Stoffes.
Das lange, schlauchartige Lokal war dicht gefüllt. Im Hintergrund hatten die Seßhaften Platz genommen, Stammgäste, die einen Jahresnachweis führen konnten, eingeborene Bürger, Beamte jeder Rangklasse. Im Vorderlokal saßen die Passanten, die nur auf eine oder zwei Schoppenlängen vorsprachen und sich dazu durch ein Röggelchen mit Holländerkäse stärkten. Standesunterschiede wurden nicht beliebt. Der Dienstmann rückte seinen Stuhl neben eine Magistratsperson, der Mann in der Arbeitermütze trank neben dem Mann im Zylinder. Dicker Zigarrenrauch schwamm in wolkigen Schichten über den Köpfen. Die Schankburschen in blaugestricktem Kamisol, Schurz und Lederriemen drückten sich durch die Stuhlreihen, ersetzten die leeren Schoppen schleunigst durch gefüllte und ließen keine Stockung im Betrieb aufkommen. Und hinter dem kleinen Büfett thronte auf einer Estrade die dicke Wirtin mit einer Gemütsruhe, als pflege sie von ihrer Höhe aus Gnadenerlasse zu erteilen. »Der Herr möchten zahlen, Pitter.«
Otten und Terbroich hatten an einem Seitentischchen Platz gefunden. In durstigem Zuge leerte Otten sein Glas, schüttelte sich und ließ sich ein frisches reichen. »Ich glaub', das reinigt selbst die Kleider.«
»Weißt du noch,« meinte Terbroich, »wie wir das erste Bier getrunken haben? Als zahlende Gäste? Wir waren Sekundaner und hatten auf dem Eis ein paar Mädel aufgegabelt, denen unsere Mützen mächtig imponierten. Um als Kavaliere vor ihnen zu bestehen, luden wir die Damen zu einem Imbiß, als wenn wir gewohnt wären, täglich um diese Stunde unseren Schoppen zu uns zu nehmen. Dabei schlug uns das Herz bis in den Hals, als wir in der Altstadt das elendeste Kneipchen aussuchten. Ich ging voran.«
»Und verschwandst durch die Hoftür, während wir drei armen Seelen zitternd den Wirt erwarteten. O Medardus, du hast dich in dieser Sache nicht mit Ruhm bedeckt.«
»Ich wollte doch nur Geld von zu Hause holen,« verteidigte Terbroich sein erstes Abenteuer.
»Dort, wohin du dich verschämt zurückzogst, war jedenfalls keins zu finden.«
»Ich kletterte über den Zaun –«
»Und grinstest dann durch das Fenster. Am nächsten Tage kassierte ich deine Schulden durch eine Tracht Prügel bei dir ein, da du die bare Genugtuung verweigertest.«
»Davon ist mir nichts bekannt,« lenkte Terbroich ab und prostete den Jugendfreund höflich an.
Am nächsten Tische war man aufmerksam auf die beiden Herren geworden. Man sandte respektvolle Blicke herüber und flüsterte sich in die Ohren. Das Stammtischgespräch verstummte auf einen Augenblick.
Terbroich bemerkte es geschmeichelt und gab sich eine vornehm-lässige Haltung. »Wir werden erkannt,« sagte er leise.
Otten schaute sich um. Sein lachender Blick flog über den Stammtisch, und als ein paar der Abendschöppler Miene machten, ihn zu grüßen, kam er ihnen zuvor.
»Guten Abend, meine Herren!«
»Guten Abend, Herr Doktor,« scholl es gemütlich zurück. Einer hob sein Glas. »Ihr Wohlsein, Herr Doktor!«
»Ist es erlaubt?« fragte Otten.
»Große Ehre, Herr Doktor. Wir rücken zusammen. Raum für alle hat die Erde.«
Otten wandte seinen Stuhl und rückte in den Kreis. »Das nenn' ich eine gemütliche Ecke. Sie haben es gut.«
»Ja, ja, so en echt Glas Kölsch, dat kann Ihne selvs der heilige Vater nit fürsetze.«
»Dafür ist dort aber Freizeche.«
»Wenn dat allens is: Pitter, ene Runde!«
Schallendes Gelächter lohnte dem Spender. »Nix für ungut, Herr Doktor, äwwer ich hann als esu en Freud', den Herrn Doktor Otten bei uns zu sehn. Da kütt et mr ratsch op enen Dahler nit an.«
Nun hatte auch Terbroich seinen Stuhl in den Kreis geschoben. »Der Herr Doktor ist deshalb expreß von Rom gekommen.«
»Hät hä ding arm Seel losbete müsse? Dann is die nächste Rund' beim Herrn Terbroich.«
Terbroich protestierte. Aber man hatte den Auftrag bereits erteilt.
»Jetzt wird mir wieder heimatlich,« sagte Otten. »Daß man das draußen vergessen kann.«
»Aber wir haben den Herrn Doktor Otten nicht vergessen.«
»Der Prophet gilt sonst nicht viel im Vaterland. Wer einen als dummen Jungen gekannt hat, hält es später für unter seiner Würde, sich von dem Bild loszureißen. Daher tragen so viele Künstler ein getrübtes Heimatserinnern mit sich herum.«
»Das mag anderwärts wahr sein, Herr Doktor. Aber wir Kölner sind immer noch stolz auf unsere Künstler gewesen. Und um Ihnen das zu beweisen, fordere ich die hier anwesenden Herren auf, ihr Glas zu erheben und mit mir einzustimmen in den Ruf: Uns' Jupp – der Herr Doktor Joseph Otten – soll leben: hoch!«
Der Hochruf brauste über den Tisch, wurde an anderen Tischen aufgefangen, weitergegeben, und ein paar Sekunden lang erhob sich selbst die phlegmatische Wirtin verwundert von ihrem Thron.
»Nun singen wir,« rief ein Begeisterter – –
Da winkte die Wirtin kühl ab.
»Wir müssen weiter,« flüsterte Terbroich dem Freunde zu, der Miene machte, seßhaft zu werden.
»Es fängt ja erst an.«
»Ich habe noch was in petto für dich.«
»Was Gescheites?«
»Mehr als gescheit. Du wirst dich wundern, wie klein du wirst.«
»Deine beleidigende Zuversicht könnte mich reizen. Ich bin in Stimmung, Terbroich.«
»Ich setze meine Seele gegen deine.«
»Da werden sich die Teufel freuen.«
»Also erheb dich. Guten Abend, meine Herren. Sie müssen entschuldigen, daß ich Ihnen den Herrn Doktor jetzt entführe. Wir haben noch wichtige Geschäfte.«
»Lüg du un der Düwel. Guten Abend, Herr Doktor. Aufs Wiederkommen.«
»Wohin?« fragte draußen Otten und schob sich den Schlapphut aus der Stirn. »Mensch, das hat gut getan. So eine spontane Huldigung geht einem ins Blut wie ein übermütiger Most. Bring mich, wohin du willst. Aber laß Freude bei der Sache sein.«
»Erinnerst du dich Lüttgens? Karl Lüttgens? Der mit uns auf der Schule war? Eisenwalzwerk. Großer Industrieller. Er spricht häufig von dir.«
»Lüttgen? – Natürlich! Prächtiger Kerl. Wenn ich nicht irre, starb ihm seine Frau.«
»Er ist wieder verheiratet. Mit einer Berlinerin. Vornehme Person, klug, daß man vor ihrem Blick verschwinden möchte. Dabei klein, fein, biegsam, spöttisch und –«
»Alterier dich nicht.«
»Ich kann mir nicht helfen, wenn ich sie ansehe, muß ich an die Versuchung des heiligen Antonius denken.«
»Du heißt aber Medardus, mein Sohn. Vergiß das nicht.«
»Wollen sehen, wessen Kopf am längsten oben bleibt.«
»Ist sie jung?«
» La femme de trente ans. Das gefährliche Alter.«
»Schneegänse waren nie mein Fall. Frauen unter dreißig sind keine Frauen. Gehen wir hin?«
»Wir sind auf dem Wege.«
»Unangemeldet?«
»Es ist Empfangsabend. Ich habe uns durch Laurenz ansagen lassen.«
»Durch deinen Jungen? Trägt der schon lange Hosen?«
»Der? Du wirst staunen, wie der sich entwickelt hat. Er ist sechzehn geworden, seit einem Jahre Lehrling auf meinem Kontor, ein bildhübscher Bengel und verdreht allen Mädels die Köpfe.«
»Es ist dein Sohn,« lächelte Otten. Sie nahmen einen Wagen und fuhren zum Hohenzollernring. Otten rauchte seine Zigarre zu Ende. »Hast du – zufällig einmal – meine Carmen gesehen?«
»Letzten Sonntag im Zoologischen Garten. Laurenz hatte sie abgeholt. Ich war auch da, des schönen Wetters wegen. Da sah ich sie promenieren.«
»Sind wohl gut Freund, die beiden?«
»Und einer eitel auf den andern. Ich sag' dir, alle Welt dreht sich nach ihnen um, wenn sie zusammen anmarschieren.«
»Bißchen vorzeitig,« murmelte Otten ... Der Name Marias schwebte ihm auf der Zunge. Da hielt der Wagen schon.
Im Vorraum nahm ein Diener den Herren Hut und Mantel ab. Otten warf einen Blick in den facettierten Wandspiegel. »Geht das an? Ohne hochzeitliches Gewand? Ach was. Qui vivra, verra.«
Im großen Salon und im angrenzenden Musikzimmer saßen die Gäste und horchten aus das Spiel einer Pianistin. Das braune Haar in tiefer Frisur von der Wange zurückgestrichen und im Nacken zu einem schweren Knoten genommen, die mädchenhafte Figur in einem weißen, goldbordierten Phantasiegewand, das oberhalb der weiten Ärmel die Schultern freigab, spielte die Dame eine virtuose Variation, ohne sich durch den Eintritt der neuen Gäste im geringsten ablenken zu lassen. Erst, als sie an der leisen Bewegung, die durch das Auditorium ging, fühlte, daß ihre Zuhörer nicht mehr bei der Sache waren, schloß sie mit einem Lauf, den sie auf hoher Note abbrach. Die Hände auf den Tasten, blieb sie sitzen und wandte nur langsam den Kopf.
»Liebe Amely,« hörte sie über sich die Stimme ihres Mannes, »da hab' ich aber mal eine Überraschung für dich. Es ist nur ein Schulkamerad, aber nebenher ist es auch der Doktor Joseph Otten.«
Der korpulente Mann, dessen gerötetem Gesicht man die Freude an dem unerwarteten Besuch ansah, klopfte dabei dem Gast kräftig auf die Schulter. Frau Amely zuckte ein wenig. Da ließ der Gatte verlegen von den Freundschaftsbezeigungen ab. »Meine Frau,« stellte er vor.
Joseph Otten verbeugte sich tief. Als er den Kopf hob, gewahrte er einen verwundert forschenden Ausdruck in den Augen der Dame des Hauses. Der Blick lief an ihm hinab.
»Ich habe Ihre Entschuldigung nachzusuchen, gnädige Frau. Ich weiß, das ist keine Besuchstoilette.«
»Die gnädige Frau wird mir sicher nicht zürnen, daß ich den Herrn Doktor direkt von der Bahn hierher brachte,« warf Terbroich ein. »Berühmte Männer fallen unter das Ausnahmegesetz.«
»Sie kommen direkt von der Bahn?«
»Nicht ganz direkt. Ich habe erst meine Kölner begrüßt.«
»Meine Kölner –? Ach, ich vergaß. Es soll der Sänger mit dem König gehen.«
»Meine Gnädige,« beeilte sich Terbroich, »es war eine Ovation. Kaum, daß wir das Lokal betreten hatten.«
»Machen Sie doch Ihren Freund nicht schlecht,« verwies sie ihn mit spielender Ironie. »Er wird den Wert einer Kneipenovation richtig zu taxieren wissen.«
»Ich weiß den Wert einer jeden wahren Gefühlsäußerung richtig zu taxieren, gnädige Frau.«
»Sie leben nur selten in Köln?«
»Ich lebe in der Welt.«
»Ah – und Köln zählt für Sie zu den Außenposten.«
»Ich komme von Zeit zu Zeit, um Studien zu machen.«
Musikalische?«
»Menschenstudien, gnädige Frau. Köln ist ein Hauptstapelplatz für Typen jeglicher Art.«
Sie sah mit einem mokanten Zug um den Mund zu ihm auf. »Ich werde mich also fürchten müssen.«
»Ich habe nicht den Vorzug, Sie so genau kennen zu dürfen.«
Einen Augenblick sah sie zur Seite, als suchte sie etwas. »Graue Augen hat die Katze,« dachte Otten, »sie will mit mir spielen. Ein graues Auge – ein schlaues Auge – –.«
»Mein Mann,« begann die Dame des Hauses nach kurzer Pause, »wird bereits ungeduldig, daß ich ihm Ihre Gesellschaft so lange entziehe. Ihre Freundschaft muß eine sehr bewährte sein, daß Sie so schnell schon zu ihm eilen. Mein Mann ist darin rührend alte Schule. Freundschaft, Liebe, Freiligrath und Rüdesheimer. Sie haben sich den Anspruch darauf verdient. Ich beurlaube Sie einstweilen, Herr Doktor.«
»Mein lieber Joseph,« sagte Lüttgen, nahm seines Gastes Arm und drückte ihn herzhaft. Über den Korridor führte er ihn ins Rauchzimmer, um dem Schwarm der Gäste zu entgehen. »Du erlaubst doch, Joseph, daß ich dich noch du nenne? Trotz der Ironie meiner Frau. Ich kann keine schönen Worte machen, ich bin Fabrikant und basta. Aber das hindert nicht, dir zu sagen, daß ich mich bärenmäßig freue, endlich einmal einen vernünftigen Menschen in meinem Hause zu sehen. Sag schnell, was du trinken willst: Rhein? Mosel? Bordeaux? Rheinwein, das ist schön! Mosel ist Modesache, aber Rheinwein – na, wir beide brauchen uns nichts zu sagen. Prosit, Joseph! Auf neue alte Freundschaft!«
»Prosit, Lüttgens Karl! Du imponierst mir!«
»Ach du –!« Der Fabrikant stieß seinen Gast in die Seite. »Du willst dich wohl auch lustig machen. Aber wenn du wüßtest, wie ich schon auf der Schule an dir gehangen habe. Nur zu schwerfällig war ich, so recht an dich heranzukommen. Und nun – nun gehört man schon zum alten Eisen.« »Oho! Pereat! Das sagt ein junger Ehemann?«
»Nein, mein lieber Joseph, das sagt eine junge Ehefrau.«
»Du scherzest. Ein Mann wie du. Erste Nummer in der Welt des Eisens. Aber nicht des alten.«
»Ich kann mich in den neumodischen Kram nicht hineinleben. Trink mal. Gelt, ein Tröpfchen? Ja, was ich sagen wollte: oft frag' ich mich, leide ich seit meiner neuen Ehe an Gehirnerweichung? Hab' ich plötzlich jedes eigene Urteil verloren? Bin ich wirklich mit dem Dämelsack geschlagen? Wir lesen einen Roman zusammen. Meine Frau fiebert vor Entzücken. Und mir ist zum Übelwerden langweilig zu Mute. Ich halte den Kerl, den Romanschreiber, für einen Idioten, für einen schlappen Hund. Meine Frau hält ihn für einen Halbgott, für einen feinnervigen Kulturmenschen. Weiter. Wir genießen Musik. Wir Kölner sind alle musikalisch – na, wem sag' ich das, Meisterseele. Und nun fegt etwas daher, duckt sich, springt mir an den Kopf, wirbelt mir das Gehirn zuunterst, zuoberst, entläßt mich mit einem Schlag auf den Magen, und meine Frau schluchzt vor Entzückung: Das ist Musik, das ist Gedankenvertonung, Geistesextrakt! – Ich bin wahrhaftig ein moderner Mensch. Sieh dir meine Fabrik an. Lüttgen to the front! Darauf kannst du ruhig das Sakrament nehmen. Ich habe die modernste Fabrik. Aber modern – zum Teufel, das ist doch nicht hysterisch! Prost, Joseph! Eine Flasche mit Verständnis trinken, das ist nämlich gemein.«
»Ihr versteht euch nicht?«
»Meine tausend Arbeiter verstehen mich aufs Wort. Für meine Frau rede ich kalmückisch.«
»Das wird wieder anders werden.«
»Was? Du denkst wohl, ich lamentiere? Jeder liegt, wie er sich bettet. Und nun freu' ich mich, daß ich dich hier habe. Du mußt häufig kommen. Wir verstehen uns.«
Eine Anzahl Herren traten ein. »Nicht zu sagen! Wir genießen mit den Ohren, und hier genießt man mit der Zunge. So eine Hinterhältigkeit.«
»Wenn ihr Kunstkenner sein wollt, müßt ihr der Kunst ein Opfer bringen können. Beeilt euch! Drinnen gibt's jetzt ein Violinkonzert.«
»Lüttgen, sei barmherzig. Ein Glas Wein und eine Zigarre. Frau Amely sieht's nicht.«
Vor Otten stand ein junger, hübscher Mensch. Dunkles weiches Haar fiel ihm über die Stirn, und die großen, dunklen Augen kokettierten mit ihrer Schönheit, »Herr Doktor,« sagte er schmeichelnd, »Sie kennen mich ganz gewiß nicht mehr.«
»Ganz gewiß nicht.«
»Laurenz Terbroich.«
»Ach – Sprößling meines Freundes Medardus? Das ist ja schön. Wenn man euch ansieht, merkt man, wie die Zeit vergeht und daß man auf den Großvater zusteuert.«
»Wenn ich mit Ihnen tauschen könnt', gäb' ich zwanzig Jahre drum. Ihre Erfolge! In der Kunst und im Leben!«
»Das ist die Stimme meines Medardus. Sie sind ein Schmeichler, junger Freund.«
»Nur ein Enthusiast. Darf ich mich zu Ihnen setzen? Ich möchte mit Ihnen anstoßen.«
»Wohl bekomm's. Also Sie streben jetzt auf dem Kontor des Herrn Papa?«
»Noch zwei Jahre. Dann geht's als Volontär nach Paris und nach London. Sie waren zuletzt in Italien, nicht wahr? Sind nun die Römerinnen wirklich so schön, wie man sagt?«
»Mein Junge, die Frauen sind überall dort am schönsten, wo sie unseren Sinnen so scheinen. Sie haben eine unbegrenzte Heimatsberechtigung. Darin liegt ihre Schönheit und ihre Gefährlichkeit. Verstanden?«
»Ich bin in der besten Lehre,« erwiderte der junge Mensch keck.
»Dann lassen Sie sich eins sagen: Man beleidigt die Frauen, wenn man über ihre Schönheit diskutiert. Man liebt sie, oder man liebt sie nicht. Damit ist man am Ende.«
»Und wenn man sie liebt?«
»Ist es immer noch zweierlei, wer sie liebt. Vergessen Sie das nicht. Guten Abend, Herr Terbroich.« Durch die Portiere lauschte die Frau des Hauses herein. »Geben Sie auch Lektionen in Ihrer – Menschenkenntnis, Herr Doktor?«
»Ich bin nicht so dreist, mehr als ein ewiger Schüler sein zu wollen, schöne Hausfrau.«
»Ah – schön – –? Daraus müßte man konsequenterweise nach Ihrer Methode folgern –«
»Sie haben gelauscht, gnädige Frau?«
»Ich besitze noch mehr Untugenden, Herr Doktor. Verachten Sie mich.«
»Ich bewundere Ihre Offenheit so sehr, daß –«
»Daß –?«
»Daß ich eine Absicht dahinter vermute.«
»Welche Absicht könnte das wohl sein? Mit Ihnen zu kokettieren? Mir von dem berühmten Manne ein wenig den Hof machen zu lassen? Ich würde, wie so viele, glücklich sein.«
»Ich pflege in dieser Beziehung selbständig vorzugehen, gnädige Frau.«
»Ich glaub's, Herr Doktor. Und das Siegen ist Ihnen zur zweiten Natur geworden.«
»Es muß Sie doch sehr interessieren, einen solchen Sieg zu sehen.«
»Alles, was von der Eva stammt, ist neugierig, Herr Doktor. Üben Sie Mitleid. Wir sind das inferiore Geschlecht.«
Otten biß sich auf die Lippe. »Sie wünschen?« fragte er kurz.
Sie lachte klingend auf. »Das stolze Mannestum bereits beleidigt?«
»Meine gnädige Frau,« sagte Otten mit einer Verbeugung, »ich bin mir wohl bewußt, daß im geselligen Kreise jeder nach seiner Begabung zur Unterhaltung beizutragen hat. Genügt Ihnen diese Unterhaltung, ich stehe zu Diensten, Ob Ihnen meine Begabung genügen wird – das hängt von Ihrer Gewöhnung ab.«
»Ich fürchte, Ihren Geschmack zu sehr zu beeinträchtigen,« meinte sie mit einem feinen, spöttischen Lächeln, knixte und zog sich durch die Portiere in den Salon zurück.
Otten stieg das Blut in die Schläfen. Was sollte das? Hatte er dieser Frau einen Anlaß gegeben? Wodurch? Durch sein saloppes Erscheinen etwa? Dadurch vielleicht, daß er die Aufmerksamkeit von ihr abgezogen hatte? Oder spielte sie die geistreiche Frau, die sich daran ergötzt, Männer schwach werden zu sehen, um unverwundet von dannen zu kommen? »Dazu diese zarten Schultern. Dieses viel verschweigende, nervöse Gesicht. Wahrhaftig, dieser infame Gegensatz ärgert mich am meisten.«
»Joseph,« sagte der Hausherr und trat mit gefülltem Glase zu ihm, »ich habe eine unverschämte Bitte.«
»Er tut's nicht,« rief Terbroich. »Die Wette ist gewonnen. Er singt nie, wo er eingeladen ist.«
Joseph Otten schüttelte den Ärger ab. Sich in die Ecke stellen zu lassen von der kleinen, mokanten Person? Das wäre das erste Mal. Singen oder zechen jetzt! Wohl denn: Singen!
Ohne Antwort zu geben, ohne sich umzublicken, schritt er durch den Salon in den leeren Musiksaal. Er schlug den Bechstein auf. Seine Hände griffen in die Tasten. Totenstill wurde es. Joseph Otten sang.
»Nach Frankreich zogen zwei Grenadier' ...«
Er sang sie nicht die Grenadiere, er lebte sie. Er ließ die Klagen des Müden von dem ungebrochenen Aufbegehren des alten Feldsoldaten verschlingen. Er ließ aus zerlumpten Kleidern heraus den Mann erstehen, der nur die Tat sucht.
»Was schiert mich Weib, was schiert mich Kind!«
Wie ein Hohnlachen fuhr es über die Hörer in Frack und Seidenrobe. – –
Er hatte geendet. Der Deckel klappte zu. Und langsam wandte sich Otten, öffnete, die Benommenheit der Hörer nutzend, die Tür zum Korridor und trat hinaus, um sich Hut und Mantel reichen zu lassen.
Neben ihm stand die Frau des Hauses.
»Sie kommen wieder.« Das klang wie ein Befehl.
»Gute Nacht, gnädige Frau. Sie haben zu viel Geist für einen Aventurier meines Schlages.«
»Reden Sie nicht.«
»Und – zu zarte Schultern.«
»Das gebe ich zu.« Und ihr Lachen klingelte ihm in den Ohren. »Gute Nacht.«
Er stieg die Treppe hinab, reichte dem Diener ein Trinkgeld und wanderte durch die nachtdunklen Straßen.
»Ich bin in Köln,« sprach er vor sich hin.
Er lachte hart auf.
Mit gefurchter Stirn schritt er weiter.
»Ein Narr wartet auf Antwort.«